Evermore - Der blaue Mond
Band 2
Ever ist glücklich. Endlich hat sie ihre große Liebe Damen gefunden und er wird für immer bei ihr bleiben. Denn ihre Liebe ist so unsterblich wie sie selbst. Doch dann scheint sich Damen irgendwie zu verändern: Er leidet...
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Produktinformationen zu „Evermore - Der blaue Mond “
Ever ist glücklich. Endlich hat sie ihre große Liebe Damen gefunden und er wird für immer bei ihr bleiben. Denn ihre Liebe ist so unsterblich wie sie selbst. Doch dann scheint sich Damen irgendwie zu verändern: Er leidet plötzlich an einer seltsamen Krankheit und er scheint sich mehr und mehr von Ever zu distanzieren. Sie weiß nicht mehr, was sie tun soll. Also reist sie ins geheimnisvolle Sommerland, um dort eine Lösung zu finden. Und dort wird sie vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt.
Lese-Probe zu „Evermore - Der blaue Mond “
Evermore - der blaue Mond von Alyson NoelEINS
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Mach die Augen zu und stell es dir vor. Siehst du's vor dir?« Ich nicke mit geschlossenen Augen.
»Stell sie dir genau hier vor, vor dir. Sieh es vor dir, die Form, die Beschaffenheit, die Farbe - hast du's?«
Ich lächele und halte das Bild in meinem Kopf fest.
»Gut. Und jetzt streck die Hand aus und berühre sie. Ertaste sie mit den Fingerspitzen, lass ihr Gewicht in deinen Handflächen ruhen, und dann bring alle deine Sinne zum Tragen - Sehen, Tasten, Riechen, Schmecken -, kannst du sie schmecken?«
Ich beiße mir auf die Lippe und unterdrücke ein Kichern.
»Hervorragend. Und jetzt verbinde das alles mit Fühlen. Glaub daran, dass das, was du dir vorstellst, genau vor dir existiert. Fühle es, sieh es, berühre es, schmecke es, akzeptiere es, manifestiere es!«, sagt er.
Also tue ich es. Ich tue all das. Und als er aufstöhnt, öffne ich die Augen, um es mir anzusehen.
»Ever.« Er schüttelt den Kopf. »Du solltest doch an eine Orange denken. Das hier ist was anderes.«
»Stimmt, er sieht nicht so saftig aus.« Ich lächele meine beiden Damens an - das Ebenbild, das ich vor mir manifestiert habe und die Version aus Fleisch und Blut neben mir. Beide sind gleich groß, dunkelhaarig und sehen so umwerfend gut aus, dass sie gar nicht wirklich zu sein scheinen.
»Was soll ich nur mit dir machen?«, fragt der echte Damen und versucht, eine verdrossene Miene aufzusetzen, was jedoch völlig misslingt. Seine Augen verraten ihn immer; in ihnen ist nichts anderes als Liebe zu lesen.
»Hm ...« Mein Blick wandert zwischen meinen beiden Freunden hin und her - einer echt, einer herbeigezaubert. »Ich denke, du könntest mich ganz einfach küssen. Oder wenn du zu viel zu tun hast, dann könnte ich auch ihn hier fragen, ob er das übernimmt. Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte.« Mit einer Geste zeige ich auf den manifestierten Damen und lache, als der lächelt und mir zuzwinkert, obwohl seine Umrisse verblassen und er bald verschwunden sein wird.
Der echte Damen jedoch lacht nicht. Er schüttelt nur abermals den Kopf und sagt: »Ever, bitte. Du musst das ernst nehmen. Es gibt so vieles, was ich dir beibringen muss.«
»Warum hast du's denn so eilig?« Achselzuckend schüttele ich mein Kissen auf und klopfe auf den freien Platz neben mir; ich hoffe, dass er zu mir kommt. »Ich dachte, wir haben nur Zeit und sonst gar nichts.« Ich lächele erneut. Und als er mich ansieht, wird mein ganzer Körper warm, und der Atem stockt in meiner Kehle. Und unwillkürlich frage ich mich, ob ich mich wohl jemals an seine verblüffende Schönheit gewöhnen werde - an seine glatte, bräunliche Haut, das braune, glänzende Haar, das vollendet geformte Gesicht und den schlanken, muskulösen Körper -, das vollkommene dunkle Yang zu meinem blassen, blonden Yin. »Ich glaube, du wirst feststellen, dass ich eine sehr eifrige Schülerin bin«, füge ich hinzu, und mein Blick begegnet seinen Augen - zwei Brunnen von unergründlicher Tiefe.
»Du bist wirklich unersättlich«, flüstert er und kommt auf mich zu, ebenso sehr von mir angezogen wie ich von ihm.
»Ich versuche nur, verlorene Zeit gutzumachen«, murmele ich, immer so versessen auf diese Augenblicke, auf die Gelegenheiten, wenn wir allein sind und ich ihn nicht mit jemand anderem teilen muss. Nicht einmal das Wissen, dass die gesamte Ewigkeit vor uns liegt, macht mich weniger gierig.
Er beugt sich vor, um mich zu küssen, und hat unseren Unterricht offensichtlich vergessen. Sämtliche Gedanken ans Manifestieren, ans Aus-der-Ferne-Sehen, an Telepathie - all dieser paranormale Kram wird von etwas sehr viel Unmittelbarerem verdrängt, als er mich rücklings in die Kissen drückt und meinen Körper mit dem seinen bedeckt; unsere Leiber verschlingen sich umeinander wie zwei Ranken, die die Wärme der Sonne genießen.
Seine Finger schlüpfen unter mein Top und gleiten dann über meinen Bauch bis zum Rand meines BHs, während ich die Augen schließe und flüstere: »Ich liebe dich.« Worte, die ich früher für mich behalten habe. Doch nachdem ich sie zum ersten Mal ausgesprochen habe, habe ich kaum noch etwas anderes gesagt.
Ich höre sein leises, gedämpftes Aufstöhnen, als er den Verschluss meines BHs öffnet, so mühelos, kein Herumfummeln, keinerlei Unbeholfenheit.
Jede Bewegung, die er macht, ist so anmutig, so vollkommen, so ...
Vielleicht zu vollkommen.
»Was ist denn los?«, fragt er, als ich ihn wegschiebe. Sein Atem geht in kurzen, flachen Stößen, während sein Blick den meinen sucht; um die Augen herum ist sein Gesicht angespannt und verschlossen, auf jene Art und Weise, an die ich mich schon gewöhnt habe.
»Gar nichts ist los.« Ich wende ihm den Rücken zu, ziehe mein Top zurecht und bin froh, dass ich die Lektion, meine Gedanken abzuschirmen, erfolgreich absolviert habe, denn das ist die einzige Art, die es mir erlaubt zu lügen.
Seufzend erhebt er sich vom Bett, verwehrt mir das Kribbeln seiner Berührung und die Hitze seines Blicks, als er vor mir auf und ab marschiert. Und als er endlich stehen bleibt und sich zu mir umdreht, presse ich die Lippen zusammen; ich weiß, was als Nächstes kommt. Das hatten wir alles schon.
»Ever, ich versuche doch nicht, dich zu drängen oder so. Wirklich nicht.« Besorgte Falten zeigen sich auf seiner Stirn. »Aber irgendwann musst du darüber hinwegkommen und akzeptieren, wer ich bin. Ich kann alles manifestieren, was du dir wünschst, dir telepathisch Gedanken und Bilder schicken, wenn wir nicht zusammen sind, mich von jetzt auf gleich mit dir ins Sommerland absetzen. Was ich aber nicht tun kann, ist, die Vergangenheit ändern. Die ist einfach so, wie sie ist.«
Ich starre auf den Boden, komme mir sehr klein und unbedeutend vor und schäme mich furchtbar. Es nervt mich, dass ich so unfähig bin, meine Eifersucht und meine Unsicherheit zu verbergen, dass sie so offensichtlich und leicht zu erkennen sind. Denn ganz gleich, was für einen mentalen Schutzschild ich auch errichte, es nützt nichts. Er hatte sechshundert Jahre lang Zeit, das Verhalten der Menschen zu studieren - mein Verhalten zu studieren -, und ich nur siebzehn.
»Lass mir ... Lass mir einfach noch ein bisschen Zeit, mich an all das zu gewöhnen«, sage ich und zupfe an einer ausgefransten Naht an meinem Kissenbezug herum. »Das ist doch alles erst ein paar Wochen her.« Ich zucke die Achseln und denke daran, wie ich vor weniger als drei Wochen seine Exfrau getötet habe, wie ich ihm gesagt habe, dass ich
ihn liebe und mein Schicksal als Unsterbliche besiegelt habe.
Mit zusammengepressten Lippen sieht er mich an; Zweifel sind in seinen Augen zu lesen. Und obwohl er nur einen Meter von mir entfernt ist, ist die Kluft, die uns trennt, so gewichtig und aufgeladen, dass sie sich anfühlt wie ein Ozean.
»Ich meine, in diesem Leben«, fügte ich hinzu, und meine Stimme wird hastiger, lauter, hofft, die Leere zu füllen und die Stimmung zu heben. »Und da ich mich ja an keins von den anderen erinnern kann, ist das hier das einzige, woran ich mich halten kann. Ich brauche einfach ein bisschen mehr Zeit, okay?« Ich lächele nervös, meine Lippen fühlen sich zittrig an, als ich sie ganz still halte. Und erleichtert atme ich aus, als er sich neben mich setzt und die Finger an meine Stirn legt, die Stelle sucht, wo früher meine Narbe war.
»Na ja, das ist genau das, was uns niemals ausgehen wird.« Er seufzt und streicht mit den Fingern an meinem Unterkiefer entlang, während er sich vorbeugt, um mich zu küssen. Seine Lippen legen eine Serie kleiner Pausen ein, von meiner Stirn zur Nase und zum Mund.
Und gerade als ich denke, dass er mich gleich wieder küssen wird, drückt er meine Hand und löst sich von mir, geht geradewegs auf die Tür zu und lässt an seiner statt eine wunderschöne rote Tulpe zurück.
ZWEI
Obwohl Damen auf die Sekunde genau spürt, wann meine Tante Sabine in unsere Straße einbiegt und sich dem
Haus nähert, ist das nicht der Grund, weshalb er gegangen ist.
Er ist meinetwegen gegangen.
Und zwar deshalb, weil er seit Hunderten von Jahren hinter mir herjagt und mich in allen meinen Inkarnationen aufgespürt hat, einzig und allein, damit wir zusammen sein können.
Nur waren wir nie zusammen.
Was bedeutet, dass es nie passiert ist.
Irgendwie ist jedes Mal, wenn wir gerade den nächsten Schritt tun und unsere Liebe vollziehen wollten, seine Exfrau Drina aufgetaucht und hat mich umgebracht.
Doch jetzt, da ich sie umgebracht habe, sie mit einem wohl platzierten, wenn auch zugegebenermaßen schwachen Schlag gegen ihr ziemlich angegriffenes Herzchakra eliminiert habe, gibt es nichts oder niemanden mehr, der uns im Weg stehen könnte.
Außer mir selbst.
Denn obwohl ich Damen mit meinem ganzen Wesen liebe und unbedingt den nächsten Schritt tun will, muss ich ständig an die letzten sechshundert Jahre denken.
Vor allem daran, wie er sie verbracht hat. (Laut eigener Aussage reichlich unkonventionell.)
Und mit wem. (Neben seiner Exfrau Drina war auch schon von vielen anderen die Rede.)
Und so ungern ich es auch zugebe, dieses Wissen macht mich etwas unsicher.
Okay, vielleicht auch sehr unsicher. Schließlich kann meine jämmerlich kurze Liste von Jungen, die ich geküsst habe, nicht im Entferntesten mit seinen Eroberungen aus sechs Jahrhunderten mithalten.
Und obwohl ich weiß, dass es albern ist, obwohl ich weiß, dass Damen mich schon seit Jahrhunderten liebt, sind Herz und Verstand eben nicht immer die besten Freunde.
In meinem Fall reden sie kaum noch miteinander.
Trotzdem schaffe ich es jedes Mal, wenn Damen vorbeikommt, um mich zu unterrichten, das Ganze zu einer ausgedehnten Knutschsitzung umzufunktionieren, bei der ich regelmäßig denke: Jetzt! Diesmal passiert es aber wirklich!
Nur um ihn dann wieder wegzustoßen wie die launischste Zicke.
Dabei ist es in Wirklichkeit genau so, wie er sagt. Er kann seine Vergangenheit nicht ändern, sie ist, wie sie ist. Wenn etwas einmal geschehen ist, kann man es nicht ungeschehen machen. Es gibt keine Rückspultaste. Kein Zurück.
In Wirklichkeit kann man immer nur weiter vorwärtsgehen.
Und genau das muss ich tun.
Den großen Sprung nach vorn wagen, ohne zu zögern und ohne auch nur einmal zurückzuschauen.
Einfach die Vergangenheit vergessen und meinen Weg in die Zukunft gehen.
Ich wünschte nur, es wäre wirklich so einfach.
»Ever?« Sabine kommt langsam die Treppe herauf, während ich hektisch durchs Zimmer renne und aufzuräumen versuche, ehe ich mich an meinen Schreibtisch setze und so tue, als würde ich arbeiten. »Bist du noch auf?«, fragt sie und steckt den Kopf herein. Und obwohl ihr Kostüm zerknittert ist, ihre Haare schlaff herunterhängen und ihre Augen leicht gerötet sind, hält sich ihre Aura wacker und glänzt in einem schönen Grünton.
»Ich habe nur gerade noch eine Hausaufgabe fertig gemacht«, sage ich und schiebe mein Notebook beiseite, als hätte ich es benutzt.
»Hast du was gegessen?« Sie lehnt sich gegen den Türrahmen und kneift argwöhnisch die Augen zusammen, während ihre Aura nach mir ausgreift - der tragbare Lügendetektor, den sie, ohne es zu wissen, stets mit sich herumträgt.
»Natürlich«, antworte ich. Ich nicke, lächele und tue mein Möglichstes, um ehrlich zu wirken, doch in Wahrheit fühlt sich meine Mimik falsch an.
Ich hasse es, lügen zu müssen. Vor allem bei Sabine. Nach allem, was sie für mich getan hat. Schließlich hat sie mich doch nach dem Unfall aufgenommen, bei dem meine ganze Familie ums Leben gekommen ist. Das hätte sie nicht tun müssen. Auch wenn sie meine einzige überlebende Verwandte ist, hätte sie ja trotzdem Nein sagen können. Und glaubt mir, die Hälfte der Zeit wünscht sie sich wahrscheinlich, sie hätte es getan. Ihr Leben war wesentlich unkomplizierter, bevor ich gekommen bin.
»Ich meinte noch etwas anderes als dieses rote Getränk.« Sie nickt zu der Flasche auf meinem Schreibtisch hin, der schillernden roten Flüssigkeit mit dem merkwürdigen bitteren Geschmack, den ich inzwischen nicht einmal mehr ansatzweise so eklig finde wie früher. Das ist gut, denn laut Damen werde ich das Zeug bis in alle Ewigkeit schlürfen. Es ist nicht so, dass ich kein richtiges Essen mehr vertrage, ich habe nur einfach keine Lust mehr darauf. Mein Unsterblichkeitssaft liefert mir sämtliche Nährstoffe, die ich brauche. Und ganz egal, wie viel oder wie wenig ich trinke, ich bin immer satt.
Trotzdem weiß ich, was sie denkt. Nicht nur weil ich alle ihre Gedanken lesen kann, sondern weil ich das Gleiche über Damen dachte. Ich habe mich früher richtig über ihn geärgert, wenn er in seinem Essen herumgestochert und nur so getan hat, als würde er essen. Natürlich nur, bis ich sein Geheimnis herausgefunden hatte.
»Ich, ähm, hab vorhin was gegessen«, sage ich schließlich, wobei ich mich bemühe, weder die Lippen aufeinander-zupressen noch den Blick abzuwenden noch zusammenzuzucken - alles, womit ich mich normalerweise todsicher verrate. »Mit Miles und Haven«, füge ich hinzu, in der Hoffnung, damit das Fehlen schmutzigen Geschirrs erklären zu können, obwohl ich weiß, dass es unklug ist, zu viele Details zu nennen, als würde man ein rotes Leuchtschild mit der Aufschrift »Achtung, Lügner!« schwenken. Ganz zu schweigen davon, dass Sabine als Anwältin, genauer gesagt, eine der Top-Prozessanwältinnen in ihrer Kanzlei, unfassbar gut darin ist, Schwindler zu entlarven, auch wenn sie diese Gabe meist nur im Berufsleben einsetzt. In ihrem Privat leben neigt sie eher zur Leichtgläubigkeit.
Außer heute. Heute kauft sie mir kein Wort ab. Stattdessen sieht sie mich nur an. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagt sie.
»Mir geht's gut«, versichere ich ihr nickend und lächelnd, damit sie es mir abnimmt. »Ehrlich. Ich habe gute Noten, ich komme prima mit meinen Freunden aus, Damen und ich sind ...« Ich halte inne, als mir aufgeht, dass ich noch nie mit ihr über meine Beziehung gesprochen, sie nie richtig definiert und eigentlich alles so ziemlich für mich behalten habe. Und jetzt, da ich damit angefangen habe, weiß ich nicht, wie ich weiterreden soll.
Ich meine, uns als Freund und Freundin zu bezeichnen, klingt so banal und unangemessen, wenn man unsere Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte in Betracht zieht, weil uns doch unsere gemeinsame Geschichte zu so viel mehr als dem macht. Trotzdem werde ich uns nicht öffentlich als ewige Liebende oder Seelenverwandte ausrufen - der Kitschfaktor wäre einfach zu hoch. Und eigentlich möchte ich das Ganze am liebsten gar nicht definieren. Zurzeit bin ich sowieso schon verwirrt genug. Außerdem - was soll ich ihr schon sagen? Dass wir uns seit Jahrhunderten lieben, übers Knutschen aber noch nicht hinausgekommen sind?
»Also, mit Damen und mir - das läuft richtig gut«, sage ich schließlich und schlucke, weil ich gut statt super gesagt habe, was das erste wahre Wort sein könnte, das ich den ganzen Tag von mir gegeben habe.
»Dann war er also hier.« Sabine stellt ihre braunlederne Aktentasche auf den Fußboden und sieht mich an. Uns ist beiden bewusst, wie arglos ich in ihre professionelle Anwältinnen-Falle getappt bin.
Ich nicke und versetze mir innerlich selbst einen Fußtritt, weil ich darauf bestanden habe, uns bei mir zu treffen, statt bei ihm, was er eigentlich wollte.
»Dachte mir doch, dass ich sein Auto vorbeifahren gesehen habe.« Sie richtet den Blick auf mein unordentliches Bett mit den kreuz und quer herumliegenden Kissen und der zerdrückten Steppdecke, und als sie mich erneut ansieht, zucke ich unwillkürlich zusammen, vor allem, als ich ahne, was sie gleich sagen wird.
»Ever.« Sie seufzt. »Es tut mir leid, dass ich nicht so viel zu Hause bin und wir nicht mehr Zeit zusammen verbringen können. Aber auch wenn es so aussieht, als müssten wir den richtigen Umgang miteinander noch üben, sollst du wissen, dass ich für dich da bin. Wenn du je das Gefühl hast, mit jemandem sprechen zu müssen - ich höre dir zu.«
Ich presse die Lippen zusammen und nicke. Obwohl ich weiß, dass sie noch nicht fertig ist, hoffe ich, dass es bald vorbei ist, wenn ich nur ruhig bleibe.
»Wahrscheinlich denkst du, ich bin zu alt, um zu verstehen, was du gerade durchmachst, aber ich erinnere mich gut daran, wie es bei mir in deinem Alter war. Wie groß der ständige Druck sein kann, sich mit Models und Schauspielerinnen und anderen unmöglichen Bildern zu messen, die du im Fernsehen siehst.«
Ich weiche ihrem Blick aus und schärfe mir ein, nicht zu heftig zu reagieren und es mit meiner Verteidigung nicht zu übertreiben, da es wesentlich einfacher ist, wenn sie bei mir nur Essstörungen vermutet.
Seit ich vor einiger Zeit von der Schule suspendiert worden bin, hat mich Sabine noch genauer beobachtet als zuvor, und seit sie kürzlich mit einem Stapel Ratgeberbücher nach Hause kam - angefangen bei: Wie man in gestörten Zeiten wie diesen einen gesunden Teenager aufzieht, bis hin zu: Ihr Teenager und die Medien (und was Sie dagegen tun können!), ist es noch unendlich viel schlimmer geworden. Sie hat die kummervollsten Verhaltensprobleme von Teenagern mit Leuchtstift hervorgehoben und dann mich unter die Lupe genommen und nach Symptomen gesucht.
»Aber du sollst wissen, dass du ein sehr hübsches Mädchen bist, wesentlich hübscher, als ich es in deinem Alter war, und dass es nicht nur ein völlig unsinniges und unerreichbares Ziel ist, wenn du hungerst, um mit all diesen klapperdürren Promis mithalten zu können, die ihr halbes Leben in Entzugskliniken zubringen, sondern dass es dich letzten Endes auch krankmachen wird.« Sie wirft mir einen viel sagenden Blick zu und bemüht sich verzweifelt, mich mit ihren Worten zu erreichen. »Du musst wissen, dass du perfekt bist, so wie du bist, und es mir wehtut, dich so zu erleben. Falls es sich aber um Damen dreht, so kann ich nur sagen, dass ...«
»Ich bin nicht magersüchtig.«
Sie sieht mich an.
»Ich habe keine Bulimie, und ich mache auch keine verrückte Diät. Ich hungere nicht, ich versuche nicht, in Größe 32 zu passen, und ich will auch nicht wie eine von den Olsen-Zwillingen aussehen. Ehrlich, Sabine, mache ich den Eindruck, als ob ich am Verhungern wäre?« Ich stehe auf, damit sie mich ungehindert in all meiner Enge-Jeans-Herrlichkeit betrachten kann, denn ich habe eher das Gefühl, dass ich ganz und gar nicht am Verhungern bin. Ganz im Gegenteil, irgendwie nehme ich permanent zu.
Sie mustert mich. Und zwar eingehend. Sie fängt oben an meinem Kopf an und lässt den Blick bis hinunter zu meinen Zehen wandern, ehe er an meinen nackten Knöcheln hängenbleibt. Da meine Lieblingsjeans zu kurz ist, blieb mir nichts anderes übrig, als sie hochzukrempeln.
»Ich dachte nur ...« Sie zuckt die Achseln, da sie nicht weiß, was sie sagen soll, nun, da die vorgelegten Beweise so eindeutig auf ein »Nicht schuldig« hindeuten. »Weil ich dich überhaupt nicht mehr essen sehe und du immer nur dieses rote Zeug trinkst ...«
»Und da hast du einfach angenommen, ich wäre von der jugendlichen Komasäuferin schlagartig zur magersüchtigen Hungerkünstlerin übergegangen?« Ich lache, damit sie weiß, dass ich nicht beleidigt bin - ein bisschen verärgert vielleicht, aber mehr über mich als über sie. Ich hätte es besser vortäuschen sollen. Ich hätte wenigstens so tun sollen, als würde ich etwas essen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Ich lächele. »Ehrlich. Und nur um Missverständnissen vorzubeugen - ich habe weder vor, mit Drogen, Ritzen, Branding, Ziernarben oder Extrempiercing zu experimentieren noch mit sonst irgendetwas anzufangen, was es diese Woche in die Top Ten der Verhaltensauffälligkeiten bei Teenagern geschafft hat. Und nur der Vollständigkeit halber - dass ich dieses rote Zeug trinke, hat nichts damit zu tun, dünn wie ein Model sein oder Damen gefallen zu wollen. Es schmeckt mir einfach, weiter nichts. Außerdem weiß ich zufällig, dass Damen mich liebt und mich genauso akzeptiert, wie ich ...« Ich halte inne, als mir auffällt, dass ich gerade ein ganz neues, anderes Thema angeschnitten habe, das ich nicht weiter vertiefen will. Und noch ehe sie die Worte gefunden hat, die sich in ihrem Kopf zu formen beginnen, halte ich eine Hand in die Höhe und erkläre: »Und nein, das habe ich nicht gemeint. Damen und ich ...« Gehen miteinander, treffen uns, sind ein Paar, sind eng befreundet, auf ewig vereint. »Also, wir sind zusammen. Du weißt schon, fest, als Paar. Aber wir schlafen nicht miteinander.«
Noch nicht.
Sie sieht mich an, und ihre Miene ist so gequält und beklommen, wie ich mich tief drinnen fühle. Keine von uns möchte diesem Thema auf den Grund gehen, doch im Gegensatz zu mir hat sie das Gefühl, es sei ihre Pf icht.
»Ever, ich habe nicht gemeint ...«, beginnt sie. Doch dann sieht sie mich an, ich sehe sie an, und sie beschließt achselzuckend, es einfach gut sein zu lassen, da wir beide wissen, dass sie genau das gemeint hat.
Ich bin so erleichtert, dass es vorüber ist und ich relativ ungeschoren davongekommen bin, dass es mich kalt erwischt, als sie weiterspricht. »Ja, und da dir offenbar wirklich etwas an diesem jungen Mann liegt, finde ich, dass ich ihn kennen lernen sollte. Lass uns doch bald einmal zusammen essen gehen. Wie wäre es gleich dieses Wochenende?«
Dieses Wochenende?
Ich schlucke schwer, denn ich weiß genau, worauf sie aus ist; sie möchte nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Bei einem Abendessen hat sie die ideale Gelegenheit, mich einen ganzen Teller voller Essen verputzen zu sehen, während sie sich Damen vornehmen und ihn nach Herzenslust ausquetschen kann.
»Hm, das klingt gut, nur ist am Freitag die Premiere von Miles' Theaterstück.« Ich ringe darum, meine Stimme ruhig und gelassen klingen zu lassen. »Und hinterher gibt es noch eine Party, die wahrscheinlich ganz schön lange dauern wird, also ...«
Sie nickt, ohne den Blick von mir zu wenden, der so unheimlich und wissend ist, dass ich ins Schwitzen komme.
»Also wird es wahrscheinlich nichts werden«, schließe ich in dem Wissen, dass ich es irgendwann über mich ergehen lassen muss, aber hoffentlich lieber später als früher. Ich meine, ich liebe Sabine, und ich liebe Damen. Ich bin mir nur nicht sicher, dass ich sie zusammen lieben werde, vor allem dann, wenn das Verhör beginnt.
Sie mustert mich noch einmal kurz, ehe sie nickt und sich abwendet. Und gerade als ich erleichtert ausatme, sieht sie sich um und sagt noch etwas. »Tja, Freitag geht dann natürlich nicht, aber damit bleibt immer noch der Samstag. Würdest du Damen bitten, um acht Uhr hier zu sein?«
Übersetzung: Ariane Böckler
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Mach die Augen zu und stell es dir vor. Siehst du's vor dir?« Ich nicke mit geschlossenen Augen.
»Stell sie dir genau hier vor, vor dir. Sieh es vor dir, die Form, die Beschaffenheit, die Farbe - hast du's?«
Ich lächele und halte das Bild in meinem Kopf fest.
»Gut. Und jetzt streck die Hand aus und berühre sie. Ertaste sie mit den Fingerspitzen, lass ihr Gewicht in deinen Handflächen ruhen, und dann bring alle deine Sinne zum Tragen - Sehen, Tasten, Riechen, Schmecken -, kannst du sie schmecken?«
Ich beiße mir auf die Lippe und unterdrücke ein Kichern.
»Hervorragend. Und jetzt verbinde das alles mit Fühlen. Glaub daran, dass das, was du dir vorstellst, genau vor dir existiert. Fühle es, sieh es, berühre es, schmecke es, akzeptiere es, manifestiere es!«, sagt er.
Also tue ich es. Ich tue all das. Und als er aufstöhnt, öffne ich die Augen, um es mir anzusehen.
»Ever.« Er schüttelt den Kopf. »Du solltest doch an eine Orange denken. Das hier ist was anderes.«
»Stimmt, er sieht nicht so saftig aus.« Ich lächele meine beiden Damens an - das Ebenbild, das ich vor mir manifestiert habe und die Version aus Fleisch und Blut neben mir. Beide sind gleich groß, dunkelhaarig und sehen so umwerfend gut aus, dass sie gar nicht wirklich zu sein scheinen.
»Was soll ich nur mit dir machen?«, fragt der echte Damen und versucht, eine verdrossene Miene aufzusetzen, was jedoch völlig misslingt. Seine Augen verraten ihn immer; in ihnen ist nichts anderes als Liebe zu lesen.
»Hm ...« Mein Blick wandert zwischen meinen beiden Freunden hin und her - einer echt, einer herbeigezaubert. »Ich denke, du könntest mich ganz einfach küssen. Oder wenn du zu viel zu tun hast, dann könnte ich auch ihn hier fragen, ob er das übernimmt. Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte.« Mit einer Geste zeige ich auf den manifestierten Damen und lache, als der lächelt und mir zuzwinkert, obwohl seine Umrisse verblassen und er bald verschwunden sein wird.
Der echte Damen jedoch lacht nicht. Er schüttelt nur abermals den Kopf und sagt: »Ever, bitte. Du musst das ernst nehmen. Es gibt so vieles, was ich dir beibringen muss.«
»Warum hast du's denn so eilig?« Achselzuckend schüttele ich mein Kissen auf und klopfe auf den freien Platz neben mir; ich hoffe, dass er zu mir kommt. »Ich dachte, wir haben nur Zeit und sonst gar nichts.« Ich lächele erneut. Und als er mich ansieht, wird mein ganzer Körper warm, und der Atem stockt in meiner Kehle. Und unwillkürlich frage ich mich, ob ich mich wohl jemals an seine verblüffende Schönheit gewöhnen werde - an seine glatte, bräunliche Haut, das braune, glänzende Haar, das vollendet geformte Gesicht und den schlanken, muskulösen Körper -, das vollkommene dunkle Yang zu meinem blassen, blonden Yin. »Ich glaube, du wirst feststellen, dass ich eine sehr eifrige Schülerin bin«, füge ich hinzu, und mein Blick begegnet seinen Augen - zwei Brunnen von unergründlicher Tiefe.
»Du bist wirklich unersättlich«, flüstert er und kommt auf mich zu, ebenso sehr von mir angezogen wie ich von ihm.
»Ich versuche nur, verlorene Zeit gutzumachen«, murmele ich, immer so versessen auf diese Augenblicke, auf die Gelegenheiten, wenn wir allein sind und ich ihn nicht mit jemand anderem teilen muss. Nicht einmal das Wissen, dass die gesamte Ewigkeit vor uns liegt, macht mich weniger gierig.
Er beugt sich vor, um mich zu küssen, und hat unseren Unterricht offensichtlich vergessen. Sämtliche Gedanken ans Manifestieren, ans Aus-der-Ferne-Sehen, an Telepathie - all dieser paranormale Kram wird von etwas sehr viel Unmittelbarerem verdrängt, als er mich rücklings in die Kissen drückt und meinen Körper mit dem seinen bedeckt; unsere Leiber verschlingen sich umeinander wie zwei Ranken, die die Wärme der Sonne genießen.
Seine Finger schlüpfen unter mein Top und gleiten dann über meinen Bauch bis zum Rand meines BHs, während ich die Augen schließe und flüstere: »Ich liebe dich.« Worte, die ich früher für mich behalten habe. Doch nachdem ich sie zum ersten Mal ausgesprochen habe, habe ich kaum noch etwas anderes gesagt.
Ich höre sein leises, gedämpftes Aufstöhnen, als er den Verschluss meines BHs öffnet, so mühelos, kein Herumfummeln, keinerlei Unbeholfenheit.
Jede Bewegung, die er macht, ist so anmutig, so vollkommen, so ...
Vielleicht zu vollkommen.
»Was ist denn los?«, fragt er, als ich ihn wegschiebe. Sein Atem geht in kurzen, flachen Stößen, während sein Blick den meinen sucht; um die Augen herum ist sein Gesicht angespannt und verschlossen, auf jene Art und Weise, an die ich mich schon gewöhnt habe.
»Gar nichts ist los.« Ich wende ihm den Rücken zu, ziehe mein Top zurecht und bin froh, dass ich die Lektion, meine Gedanken abzuschirmen, erfolgreich absolviert habe, denn das ist die einzige Art, die es mir erlaubt zu lügen.
Seufzend erhebt er sich vom Bett, verwehrt mir das Kribbeln seiner Berührung und die Hitze seines Blicks, als er vor mir auf und ab marschiert. Und als er endlich stehen bleibt und sich zu mir umdreht, presse ich die Lippen zusammen; ich weiß, was als Nächstes kommt. Das hatten wir alles schon.
»Ever, ich versuche doch nicht, dich zu drängen oder so. Wirklich nicht.« Besorgte Falten zeigen sich auf seiner Stirn. »Aber irgendwann musst du darüber hinwegkommen und akzeptieren, wer ich bin. Ich kann alles manifestieren, was du dir wünschst, dir telepathisch Gedanken und Bilder schicken, wenn wir nicht zusammen sind, mich von jetzt auf gleich mit dir ins Sommerland absetzen. Was ich aber nicht tun kann, ist, die Vergangenheit ändern. Die ist einfach so, wie sie ist.«
Ich starre auf den Boden, komme mir sehr klein und unbedeutend vor und schäme mich furchtbar. Es nervt mich, dass ich so unfähig bin, meine Eifersucht und meine Unsicherheit zu verbergen, dass sie so offensichtlich und leicht zu erkennen sind. Denn ganz gleich, was für einen mentalen Schutzschild ich auch errichte, es nützt nichts. Er hatte sechshundert Jahre lang Zeit, das Verhalten der Menschen zu studieren - mein Verhalten zu studieren -, und ich nur siebzehn.
»Lass mir ... Lass mir einfach noch ein bisschen Zeit, mich an all das zu gewöhnen«, sage ich und zupfe an einer ausgefransten Naht an meinem Kissenbezug herum. »Das ist doch alles erst ein paar Wochen her.« Ich zucke die Achseln und denke daran, wie ich vor weniger als drei Wochen seine Exfrau getötet habe, wie ich ihm gesagt habe, dass ich
ihn liebe und mein Schicksal als Unsterbliche besiegelt habe.
Mit zusammengepressten Lippen sieht er mich an; Zweifel sind in seinen Augen zu lesen. Und obwohl er nur einen Meter von mir entfernt ist, ist die Kluft, die uns trennt, so gewichtig und aufgeladen, dass sie sich anfühlt wie ein Ozean.
»Ich meine, in diesem Leben«, fügte ich hinzu, und meine Stimme wird hastiger, lauter, hofft, die Leere zu füllen und die Stimmung zu heben. »Und da ich mich ja an keins von den anderen erinnern kann, ist das hier das einzige, woran ich mich halten kann. Ich brauche einfach ein bisschen mehr Zeit, okay?« Ich lächele nervös, meine Lippen fühlen sich zittrig an, als ich sie ganz still halte. Und erleichtert atme ich aus, als er sich neben mich setzt und die Finger an meine Stirn legt, die Stelle sucht, wo früher meine Narbe war.
»Na ja, das ist genau das, was uns niemals ausgehen wird.« Er seufzt und streicht mit den Fingern an meinem Unterkiefer entlang, während er sich vorbeugt, um mich zu küssen. Seine Lippen legen eine Serie kleiner Pausen ein, von meiner Stirn zur Nase und zum Mund.
Und gerade als ich denke, dass er mich gleich wieder küssen wird, drückt er meine Hand und löst sich von mir, geht geradewegs auf die Tür zu und lässt an seiner statt eine wunderschöne rote Tulpe zurück.
ZWEI
Obwohl Damen auf die Sekunde genau spürt, wann meine Tante Sabine in unsere Straße einbiegt und sich dem
Haus nähert, ist das nicht der Grund, weshalb er gegangen ist.
Er ist meinetwegen gegangen.
Und zwar deshalb, weil er seit Hunderten von Jahren hinter mir herjagt und mich in allen meinen Inkarnationen aufgespürt hat, einzig und allein, damit wir zusammen sein können.
Nur waren wir nie zusammen.
Was bedeutet, dass es nie passiert ist.
Irgendwie ist jedes Mal, wenn wir gerade den nächsten Schritt tun und unsere Liebe vollziehen wollten, seine Exfrau Drina aufgetaucht und hat mich umgebracht.
Doch jetzt, da ich sie umgebracht habe, sie mit einem wohl platzierten, wenn auch zugegebenermaßen schwachen Schlag gegen ihr ziemlich angegriffenes Herzchakra eliminiert habe, gibt es nichts oder niemanden mehr, der uns im Weg stehen könnte.
Außer mir selbst.
Denn obwohl ich Damen mit meinem ganzen Wesen liebe und unbedingt den nächsten Schritt tun will, muss ich ständig an die letzten sechshundert Jahre denken.
Vor allem daran, wie er sie verbracht hat. (Laut eigener Aussage reichlich unkonventionell.)
Und mit wem. (Neben seiner Exfrau Drina war auch schon von vielen anderen die Rede.)
Und so ungern ich es auch zugebe, dieses Wissen macht mich etwas unsicher.
Okay, vielleicht auch sehr unsicher. Schließlich kann meine jämmerlich kurze Liste von Jungen, die ich geküsst habe, nicht im Entferntesten mit seinen Eroberungen aus sechs Jahrhunderten mithalten.
Und obwohl ich weiß, dass es albern ist, obwohl ich weiß, dass Damen mich schon seit Jahrhunderten liebt, sind Herz und Verstand eben nicht immer die besten Freunde.
In meinem Fall reden sie kaum noch miteinander.
Trotzdem schaffe ich es jedes Mal, wenn Damen vorbeikommt, um mich zu unterrichten, das Ganze zu einer ausgedehnten Knutschsitzung umzufunktionieren, bei der ich regelmäßig denke: Jetzt! Diesmal passiert es aber wirklich!
Nur um ihn dann wieder wegzustoßen wie die launischste Zicke.
Dabei ist es in Wirklichkeit genau so, wie er sagt. Er kann seine Vergangenheit nicht ändern, sie ist, wie sie ist. Wenn etwas einmal geschehen ist, kann man es nicht ungeschehen machen. Es gibt keine Rückspultaste. Kein Zurück.
In Wirklichkeit kann man immer nur weiter vorwärtsgehen.
Und genau das muss ich tun.
Den großen Sprung nach vorn wagen, ohne zu zögern und ohne auch nur einmal zurückzuschauen.
Einfach die Vergangenheit vergessen und meinen Weg in die Zukunft gehen.
Ich wünschte nur, es wäre wirklich so einfach.
»Ever?« Sabine kommt langsam die Treppe herauf, während ich hektisch durchs Zimmer renne und aufzuräumen versuche, ehe ich mich an meinen Schreibtisch setze und so tue, als würde ich arbeiten. »Bist du noch auf?«, fragt sie und steckt den Kopf herein. Und obwohl ihr Kostüm zerknittert ist, ihre Haare schlaff herunterhängen und ihre Augen leicht gerötet sind, hält sich ihre Aura wacker und glänzt in einem schönen Grünton.
»Ich habe nur gerade noch eine Hausaufgabe fertig gemacht«, sage ich und schiebe mein Notebook beiseite, als hätte ich es benutzt.
»Hast du was gegessen?« Sie lehnt sich gegen den Türrahmen und kneift argwöhnisch die Augen zusammen, während ihre Aura nach mir ausgreift - der tragbare Lügendetektor, den sie, ohne es zu wissen, stets mit sich herumträgt.
»Natürlich«, antworte ich. Ich nicke, lächele und tue mein Möglichstes, um ehrlich zu wirken, doch in Wahrheit fühlt sich meine Mimik falsch an.
Ich hasse es, lügen zu müssen. Vor allem bei Sabine. Nach allem, was sie für mich getan hat. Schließlich hat sie mich doch nach dem Unfall aufgenommen, bei dem meine ganze Familie ums Leben gekommen ist. Das hätte sie nicht tun müssen. Auch wenn sie meine einzige überlebende Verwandte ist, hätte sie ja trotzdem Nein sagen können. Und glaubt mir, die Hälfte der Zeit wünscht sie sich wahrscheinlich, sie hätte es getan. Ihr Leben war wesentlich unkomplizierter, bevor ich gekommen bin.
»Ich meinte noch etwas anderes als dieses rote Getränk.« Sie nickt zu der Flasche auf meinem Schreibtisch hin, der schillernden roten Flüssigkeit mit dem merkwürdigen bitteren Geschmack, den ich inzwischen nicht einmal mehr ansatzweise so eklig finde wie früher. Das ist gut, denn laut Damen werde ich das Zeug bis in alle Ewigkeit schlürfen. Es ist nicht so, dass ich kein richtiges Essen mehr vertrage, ich habe nur einfach keine Lust mehr darauf. Mein Unsterblichkeitssaft liefert mir sämtliche Nährstoffe, die ich brauche. Und ganz egal, wie viel oder wie wenig ich trinke, ich bin immer satt.
Trotzdem weiß ich, was sie denkt. Nicht nur weil ich alle ihre Gedanken lesen kann, sondern weil ich das Gleiche über Damen dachte. Ich habe mich früher richtig über ihn geärgert, wenn er in seinem Essen herumgestochert und nur so getan hat, als würde er essen. Natürlich nur, bis ich sein Geheimnis herausgefunden hatte.
»Ich, ähm, hab vorhin was gegessen«, sage ich schließlich, wobei ich mich bemühe, weder die Lippen aufeinander-zupressen noch den Blick abzuwenden noch zusammenzuzucken - alles, womit ich mich normalerweise todsicher verrate. »Mit Miles und Haven«, füge ich hinzu, in der Hoffnung, damit das Fehlen schmutzigen Geschirrs erklären zu können, obwohl ich weiß, dass es unklug ist, zu viele Details zu nennen, als würde man ein rotes Leuchtschild mit der Aufschrift »Achtung, Lügner!« schwenken. Ganz zu schweigen davon, dass Sabine als Anwältin, genauer gesagt, eine der Top-Prozessanwältinnen in ihrer Kanzlei, unfassbar gut darin ist, Schwindler zu entlarven, auch wenn sie diese Gabe meist nur im Berufsleben einsetzt. In ihrem Privat leben neigt sie eher zur Leichtgläubigkeit.
Außer heute. Heute kauft sie mir kein Wort ab. Stattdessen sieht sie mich nur an. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagt sie.
»Mir geht's gut«, versichere ich ihr nickend und lächelnd, damit sie es mir abnimmt. »Ehrlich. Ich habe gute Noten, ich komme prima mit meinen Freunden aus, Damen und ich sind ...« Ich halte inne, als mir aufgeht, dass ich noch nie mit ihr über meine Beziehung gesprochen, sie nie richtig definiert und eigentlich alles so ziemlich für mich behalten habe. Und jetzt, da ich damit angefangen habe, weiß ich nicht, wie ich weiterreden soll.
Ich meine, uns als Freund und Freundin zu bezeichnen, klingt so banal und unangemessen, wenn man unsere Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte in Betracht zieht, weil uns doch unsere gemeinsame Geschichte zu so viel mehr als dem macht. Trotzdem werde ich uns nicht öffentlich als ewige Liebende oder Seelenverwandte ausrufen - der Kitschfaktor wäre einfach zu hoch. Und eigentlich möchte ich das Ganze am liebsten gar nicht definieren. Zurzeit bin ich sowieso schon verwirrt genug. Außerdem - was soll ich ihr schon sagen? Dass wir uns seit Jahrhunderten lieben, übers Knutschen aber noch nicht hinausgekommen sind?
»Also, mit Damen und mir - das läuft richtig gut«, sage ich schließlich und schlucke, weil ich gut statt super gesagt habe, was das erste wahre Wort sein könnte, das ich den ganzen Tag von mir gegeben habe.
»Dann war er also hier.« Sabine stellt ihre braunlederne Aktentasche auf den Fußboden und sieht mich an. Uns ist beiden bewusst, wie arglos ich in ihre professionelle Anwältinnen-Falle getappt bin.
Ich nicke und versetze mir innerlich selbst einen Fußtritt, weil ich darauf bestanden habe, uns bei mir zu treffen, statt bei ihm, was er eigentlich wollte.
»Dachte mir doch, dass ich sein Auto vorbeifahren gesehen habe.« Sie richtet den Blick auf mein unordentliches Bett mit den kreuz und quer herumliegenden Kissen und der zerdrückten Steppdecke, und als sie mich erneut ansieht, zucke ich unwillkürlich zusammen, vor allem, als ich ahne, was sie gleich sagen wird.
»Ever.« Sie seufzt. »Es tut mir leid, dass ich nicht so viel zu Hause bin und wir nicht mehr Zeit zusammen verbringen können. Aber auch wenn es so aussieht, als müssten wir den richtigen Umgang miteinander noch üben, sollst du wissen, dass ich für dich da bin. Wenn du je das Gefühl hast, mit jemandem sprechen zu müssen - ich höre dir zu.«
Ich presse die Lippen zusammen und nicke. Obwohl ich weiß, dass sie noch nicht fertig ist, hoffe ich, dass es bald vorbei ist, wenn ich nur ruhig bleibe.
»Wahrscheinlich denkst du, ich bin zu alt, um zu verstehen, was du gerade durchmachst, aber ich erinnere mich gut daran, wie es bei mir in deinem Alter war. Wie groß der ständige Druck sein kann, sich mit Models und Schauspielerinnen und anderen unmöglichen Bildern zu messen, die du im Fernsehen siehst.«
Ich weiche ihrem Blick aus und schärfe mir ein, nicht zu heftig zu reagieren und es mit meiner Verteidigung nicht zu übertreiben, da es wesentlich einfacher ist, wenn sie bei mir nur Essstörungen vermutet.
Seit ich vor einiger Zeit von der Schule suspendiert worden bin, hat mich Sabine noch genauer beobachtet als zuvor, und seit sie kürzlich mit einem Stapel Ratgeberbücher nach Hause kam - angefangen bei: Wie man in gestörten Zeiten wie diesen einen gesunden Teenager aufzieht, bis hin zu: Ihr Teenager und die Medien (und was Sie dagegen tun können!), ist es noch unendlich viel schlimmer geworden. Sie hat die kummervollsten Verhaltensprobleme von Teenagern mit Leuchtstift hervorgehoben und dann mich unter die Lupe genommen und nach Symptomen gesucht.
»Aber du sollst wissen, dass du ein sehr hübsches Mädchen bist, wesentlich hübscher, als ich es in deinem Alter war, und dass es nicht nur ein völlig unsinniges und unerreichbares Ziel ist, wenn du hungerst, um mit all diesen klapperdürren Promis mithalten zu können, die ihr halbes Leben in Entzugskliniken zubringen, sondern dass es dich letzten Endes auch krankmachen wird.« Sie wirft mir einen viel sagenden Blick zu und bemüht sich verzweifelt, mich mit ihren Worten zu erreichen. »Du musst wissen, dass du perfekt bist, so wie du bist, und es mir wehtut, dich so zu erleben. Falls es sich aber um Damen dreht, so kann ich nur sagen, dass ...«
»Ich bin nicht magersüchtig.«
Sie sieht mich an.
»Ich habe keine Bulimie, und ich mache auch keine verrückte Diät. Ich hungere nicht, ich versuche nicht, in Größe 32 zu passen, und ich will auch nicht wie eine von den Olsen-Zwillingen aussehen. Ehrlich, Sabine, mache ich den Eindruck, als ob ich am Verhungern wäre?« Ich stehe auf, damit sie mich ungehindert in all meiner Enge-Jeans-Herrlichkeit betrachten kann, denn ich habe eher das Gefühl, dass ich ganz und gar nicht am Verhungern bin. Ganz im Gegenteil, irgendwie nehme ich permanent zu.
Sie mustert mich. Und zwar eingehend. Sie fängt oben an meinem Kopf an und lässt den Blick bis hinunter zu meinen Zehen wandern, ehe er an meinen nackten Knöcheln hängenbleibt. Da meine Lieblingsjeans zu kurz ist, blieb mir nichts anderes übrig, als sie hochzukrempeln.
»Ich dachte nur ...« Sie zuckt die Achseln, da sie nicht weiß, was sie sagen soll, nun, da die vorgelegten Beweise so eindeutig auf ein »Nicht schuldig« hindeuten. »Weil ich dich überhaupt nicht mehr essen sehe und du immer nur dieses rote Zeug trinkst ...«
»Und da hast du einfach angenommen, ich wäre von der jugendlichen Komasäuferin schlagartig zur magersüchtigen Hungerkünstlerin übergegangen?« Ich lache, damit sie weiß, dass ich nicht beleidigt bin - ein bisschen verärgert vielleicht, aber mehr über mich als über sie. Ich hätte es besser vortäuschen sollen. Ich hätte wenigstens so tun sollen, als würde ich etwas essen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Ich lächele. »Ehrlich. Und nur um Missverständnissen vorzubeugen - ich habe weder vor, mit Drogen, Ritzen, Branding, Ziernarben oder Extrempiercing zu experimentieren noch mit sonst irgendetwas anzufangen, was es diese Woche in die Top Ten der Verhaltensauffälligkeiten bei Teenagern geschafft hat. Und nur der Vollständigkeit halber - dass ich dieses rote Zeug trinke, hat nichts damit zu tun, dünn wie ein Model sein oder Damen gefallen zu wollen. Es schmeckt mir einfach, weiter nichts. Außerdem weiß ich zufällig, dass Damen mich liebt und mich genauso akzeptiert, wie ich ...« Ich halte inne, als mir auffällt, dass ich gerade ein ganz neues, anderes Thema angeschnitten habe, das ich nicht weiter vertiefen will. Und noch ehe sie die Worte gefunden hat, die sich in ihrem Kopf zu formen beginnen, halte ich eine Hand in die Höhe und erkläre: »Und nein, das habe ich nicht gemeint. Damen und ich ...« Gehen miteinander, treffen uns, sind ein Paar, sind eng befreundet, auf ewig vereint. »Also, wir sind zusammen. Du weißt schon, fest, als Paar. Aber wir schlafen nicht miteinander.«
Noch nicht.
Sie sieht mich an, und ihre Miene ist so gequält und beklommen, wie ich mich tief drinnen fühle. Keine von uns möchte diesem Thema auf den Grund gehen, doch im Gegensatz zu mir hat sie das Gefühl, es sei ihre Pf icht.
»Ever, ich habe nicht gemeint ...«, beginnt sie. Doch dann sieht sie mich an, ich sehe sie an, und sie beschließt achselzuckend, es einfach gut sein zu lassen, da wir beide wissen, dass sie genau das gemeint hat.
Ich bin so erleichtert, dass es vorüber ist und ich relativ ungeschoren davongekommen bin, dass es mich kalt erwischt, als sie weiterspricht. »Ja, und da dir offenbar wirklich etwas an diesem jungen Mann liegt, finde ich, dass ich ihn kennen lernen sollte. Lass uns doch bald einmal zusammen essen gehen. Wie wäre es gleich dieses Wochenende?«
Dieses Wochenende?
Ich schlucke schwer, denn ich weiß genau, worauf sie aus ist; sie möchte nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Bei einem Abendessen hat sie die ideale Gelegenheit, mich einen ganzen Teller voller Essen verputzen zu sehen, während sie sich Damen vornehmen und ihn nach Herzenslust ausquetschen kann.
»Hm, das klingt gut, nur ist am Freitag die Premiere von Miles' Theaterstück.« Ich ringe darum, meine Stimme ruhig und gelassen klingen zu lassen. »Und hinterher gibt es noch eine Party, die wahrscheinlich ganz schön lange dauern wird, also ...«
Sie nickt, ohne den Blick von mir zu wenden, der so unheimlich und wissend ist, dass ich ins Schwitzen komme.
»Also wird es wahrscheinlich nichts werden«, schließe ich in dem Wissen, dass ich es irgendwann über mich ergehen lassen muss, aber hoffentlich lieber später als früher. Ich meine, ich liebe Sabine, und ich liebe Damen. Ich bin mir nur nicht sicher, dass ich sie zusammen lieben werde, vor allem dann, wenn das Verhör beginnt.
Sie mustert mich noch einmal kurz, ehe sie nickt und sich abwendet. Und gerade als ich erleichtert ausatme, sieht sie sich um und sagt noch etwas. »Tja, Freitag geht dann natürlich nicht, aber damit bleibt immer noch der Samstag. Würdest du Damen bitten, um acht Uhr hier zu sein?«
Übersetzung: Ariane Böckler
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Alyson Noël
Alyson Noël ist eine preisgekrönte Autorin, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat. Mit ihrer auf inzwischen sechs Teile angelegten Serie »Evermore« stürmte sie auf Anhieb nicht nur die internationalen sondern auch die deutschen Bestsellerlisten und eroberte unzählige Leserinnenherzen. Die Übersetzungsrechte für ihre Bücher wurden bisher in 35 Länder verkauft und auch die Filmrechte schnell vergeben. Alyson Noël lebt in Laguna Beach, Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alyson Noël
- 380 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004564
- ISBN-13: 9783868004564
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