Fesseln der Sünde
Roman. Deutsche Erstausgabe
Der schöne Kriegsheld Gideon will die reiche Erbin Charis vor ihren skrupellosen Verfolgern schützen.
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Produktinformationen zu „Fesseln der Sünde “
Der schöne Kriegsheld Gideon will die reiche Erbin Charis vor ihren skrupellosen Verfolgern schützen.
Klappentext zu „Fesseln der Sünde “
Düstere Geheimnisse, sinnliches Verlangen, brennende LeidenschaftCharis Weston, die reichste Erbin des Königreichs, ist auf der Flucht vor ihren brutalen Stiefbrüdern, die sie zur Ehe mit einem verkommenen Lord zwingen wollen. Nur der Kriegsheld Gideon Trevithick hilft der jungen Erbin und macht ihr einen Heiratsantrag, um sie vor ihren skrupellosen Verfolgern zu schützen. Gideons Küsse wecken süßes Verlangen in Charis, und sie setzt alles daran, die finsteren Dämonen der Vergangenheit zu vertreiben, die ihren schönen Retter quälen ...
Düstere Geheimnisse, sinnliches Verlangen, brennende LeidenschaftCharis Weston, die reichste Erbin des Königreichs, ist auf der Flucht vor ihren brutalen Stiefbrüdern, die sie zur Ehe mit einem verkommenen Lord zwingen wollen. Nur der Kriegsheld Gideon Trevithick hilft der jungen Erbin und macht ihr einen Heiratsantrag, um sie vor ihren skrupellosen Verfolgern zu schützen. Gideons Küsse wecken süßes Verlangen in Charis, und sie setzt alles daran, die finsteren Dämonen der Vergangenheit zu vertreiben, die ihren schönen Retter quälen ...
Lese-Probe zu „Fesseln der Sünde “
Fesseln der Sünde von Anna Campbell1
Winchester, Anfang Februar 1821
»Ja, wen haben wir denn da?«
Die tiefe Stimme eines Mannes riss Charis aus ihrem
kurzen, vom Schmerz durchdrungenen Halbschlaf. Sie zuckte
zusammen und löste sich aus ihrer verkrampften Haltung.
Verwirrt versuchte sie sich darüber klar zu werden, warum
sie zitternd auf diesem stinkenden Stroh lag, anstatt sich in
ihrem Bett auf Holcombe zu räkeln.
Von rasenden Schmerzen geschüttelt, unterdrückte sie ein
unwillkürliches Stöhnen. Und einen Fluch, der ihrer ausgesprochenen
Dummheit galt.
Wie hatte sie bloß die Gefahr vergessen und dann auch
noch einschlafen können?
Doch als sie in den Pferdestall hinter dem großen Gasthof
gestolpert war, unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu
gehen, waren ihr die Augen vor Erschöpfung fast zugefallen.
Und dabei war sie längst nicht weit genug entfernt, um sich
in Sicherheit wähnen zu können.
Nein, das war sie ganz und gar nicht.
Der Schein der Laterne blendete ihre verschlafenen Augen
und ließ sie kaum mehr als eine große Gestalt erkennen,
die sich vor der Pferdebox abzeichnete. Sie unterdrückte die
aufsteigende Panik und mühte sich hoch, bis sie sich gegen
die rauen Holzbretter kauern konnte.
Sie bewegte ihren verletzten linken Arm und erstickte ein
Wimmern. Charis verschränkte ihre zitternden Hände vor
ihrem zerrissenen Oberteil. Das große fuchsfarbene Pferd,
das den größten Teil der Box einnahm, spürte ihre Angst und
bewegte sich unruhig.
... mehr
Als der Mann die Laterne hob, um die Ecke zu beleuchten,
in die Charis sich duckte, schreckte sie zurück. Hinter
dem gelben Lichtschein sah sie bedrohliche Schatten, die immer
dichter wurden und sich hinauf bis zu der abgeschrägten
Decke vervielfachten.
»Bitte, haben Sie keine Angst.« Der Fremde machte mit
einer schwarz behandschuhten Hand eine eigenartig abgehackt
wirkende Geste. »Ich tue Ihnen nichts.«
In seinem prächtigen Bariton schwang ehrliche Besorgnis
mit. Obwohl er keinen Schritt auf sie zumachte, ließ Charis'
lähmende Angst nicht nach. Ihre eigenen grausamen Erfahrungen
hatten sie gelehrt, dass Männer logen, auch wenn sie
samtweiche, gebildete Stimmen hatten.
Ein stechender Schmerz in ihrer Brust erinnerte sie daran,
dass sie keinen Atemzug mehr gemacht hatte, seit er sie
gefunden hatte. Die Luft, die sie in ihre leeren Lungenflügel
einsog, war schwer von Pferdedung, Heustaub und dem beißenden
Gestank ihrer eigenen Angst.
Sie drehte den Kopf und schaute sich den Mann richtig an.
Ihr stockte vor Erstaunen der Atem.
Er sah ausgesprochen schön aus.
Schön. Das war ein Wort, das ihr vorher noch nie im Zusammenhang
mit einem Mann in den Sinn gekommen war.
In diesem Fall aber fiel ihrem aufgewühlten Verstand keine
andere Bezeichnung ein.
Schönheit aber, so rein und vollkommen wie die dieses
Mannes, erschreckte sie, verkörperte sie doch genau jene elegante
Welt, die sie aufgeben musste, um zu überleben.
Trotz ihrer Angst widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit
seiner gut geschnittenen Stirn, den Wangenknochen und
der Kieferpartie und dann auch seiner geraden, vornehm geformten
Nase. Er war von der Sonne gebräunt, was für Februar
ungewöhnlich war.
Mit seinen ausgeprägten, unwiderstehlichen Gesichtszügen
und dem zerzausten Haar, das so schwarz wie das eines
Zigeuners war, sah er aus wie der Prinz aus einem Märchen.
Doch an Märchen glaubte Charis nicht mehr.
Hastig schaute sie sich in der engen Box um, doch der
Mann blockierte den einzigen Ausgang. Noch einmal verfluchte
sie im Stillen ihre eigene Dummheit. Mit ihrer unverletzten
Hand tastete sie den Boden nach einem Stein oder
verrosteten Nagel ab, irgendetwas, mit dem sie sich verteidigen
konnte. Ihre zitternden Finger fanden jedoch nichts als
stechendes Stroh.
Starren Blickes beobachtete sie, wie er die Laterne auf dem
Boden absetzte. Seine Bewegungen waren langsam und bedächtig,
offensichtlich sollten sie beruhigend wirken. Doch
wenn er nach ihr greifen wollte, hätte er nun beide Hände
frei. Sie straffte sich, bereit, sich ihren Weg hinaus kratzend
und um sich schlagend zu erkämpfen.
In der angespannten Stille hörte sie nichts außer ihrem rasselnden
Atmen. Noch nicht einmal das unablässige Heulen
des Windes. Der kräftige Fuchs bewegte sich wieder, wieherte
ängstlich und warf den Kopf gegen das Seil, mit dem er
zum Gang hin angebunden war.
Was nur, wenn das nervöse Tier in diesem beengten Raum
anfangen würde zu treten oder zu bocken? Die Hufe des
Pferdes waren riesig, ja, tödlich. Die Angst lag wie ein Stein
in ihrem Magen. Ihr Zufluchtsort erwies sich von Minute zu
Minute mehr als eine schlechte Wahl.
Warum, o Gott, hatte sie ihre Müdigkeit und die Schmer-
zen nicht einfach ignoriert und war weitergegangen? Selbst
eine Hecke hätte ihr sichereren Schutz geboten als dieser
Stall hier.
Der Mann betrat die Box, sein langer, bis zu den Knöcheln
reichender schwarzer Mantel umspielte seine Stiefel. Charis
wich zurück, bereit sich loszureißen, sollte er nach ihr greifen.
Noch einmal brach ihr der kalte Schweiß aus. Er war so
viel größer und stärker als sie.
Doch er griff nur beherzt nach dem Halfter des Tieres,
das dies, ohne sich zu widersetzen, geschehen ließ. »Ruhig,
Kahn.« Er streichelte die Nase des Wallachs, während seine
Stimme eine weiche, verführerische Melodie annahm. Der
Mann strahlte ein fast spürbares Selbstvertrauen aus. »Sie
müssen sich vor nichts fürchten.«
Die ausgewogene Mischung aus Autorität und Fürsorge in
seinem Ton hätte Charis beruhigen sollen. Stattdessen lief es
ihr jedoch vor Angst eiskalt den Rücken hinunter. Sie wusste
alles über Männer, die dachten, sie regierten die Welt. Sie
wusste, wie sie reagierten, wenn ihren Wünschen nicht entsprochen
wurde. Verstohlen suchte sie immer fieberhafter
nach einer Waffe.
Khan, dieses dumme, gutgläubige Geschöpf, beruhigte
sich unter den gemurmelten, fürsorglichen Worten seines
Herrn. Wenn er schon den Namen des Tieres kannte, musste
der Mann wohl dessen Besitzer sein. Dass er kein Stallbursche
sein konnte, war selbst für einen Fremden offensichtlich.
Dafür zeugte sein Auftreten von einer viel zu großen,
selbstverständlichen Vornehmheit, und auch seine Kleidung
war zu gut.
Sie fand keine Waffe.
Sie müsste also ihren Weg zurück in die Freiheit im Laufschritt
erobern und hoffen, ihre steifen, müden Beine würden
sie tragen. Verstohlen schob sie sich hoch. Selbst diese
kleine Bewegung verursachte ihr höllische Schmerzen. Jeder
einzelne Muskel tat ihr weh, und der Arm brannte wie Feuer.
Sie biss sich auf die Zähne, um nicht laut zu wimmern.
»Es gibt keinen Grund zu fliehen.« Sein Blick wich nicht
von dem inzwischen lammfrommen Pferd.
»Doch, gibt es«, hörte sie sich selbst sagen, obwohl sie
beschlossen hatte, nichts zu erwidern. Durch ihr geschwollenes
Gesicht klang ihre Stimme ungewohnt rauchig, doch
ihre vornehme Sprache und Ausdrucksweise machten aus ihr
ein Objekt des Interesses. Ein bemerkenswertes, unvergessliches
Objekt.
Ein Ziel.
Unbeholfen bemühte sie sich, aufzustehen, um sich nicht
ganz so ausgeliefert zu fühlen. Dabei stieß sie gegen die
Bretterwand und unterdrückte einen gellenden Schrei. Sie
kämpfte gegen den schwindelerregenden Schmerz an und
hielt den pochenden Arm wiegend vor sich.
Ihre ungelenke, ruckartige Bewegung versetzte den
Fuchswallach in Angst. Er begann wieder zu tänzeln und zu
schnauben. Ihr Vater hatte sich mit Pferden gut ausgekannt,
und so war Charis sofort aufgefallen, dass Khan aus bester
Zucht stammte und edles Blut in seinen Adern floss.
Ganz wie der Mann, der noch immer den Kopf des Tieres
hielt.
»Ich weiß, dass Sie Angst haben.« Zuerst dachte sie, er
spräche zu Khan. Er widmete seine Aufmerksamkeit weiterhin
dem Pferd. »Ich weiß, dass Sie Hilfe brauchen.«
Hilfe, um sie dem Gesetz zu übergeben, dachte sie bitter.
»Warum sollte das Ihre Sorge sein? Sie sind ein Fremder.«
»Das stimmt. Doch wenn Sie sich die Box meines Pferdes
aussuchen, dann wählen Sie damit auch mich.«
»Das war reiner Zufall.«
Endlich schaute er sie direkt an. Es war sicherlich nur dem
heimtückischen Licht der Laterne zuzuschreiben, dass seine
Augen über diesen ausgeprägten Wangenknochen so dunkel
und glänzend leuchteten. »Das ganze Leben ist ein Zufall.«
Charis erschauerte unter seinem taxierenden, tiefschwarzen
Blick. Irgendwie schien dieser Moment bedeutungsvoll
zu sein, obwohl er es eigentlich gar nicht sein konnte. Sie
schüttelte das eigenartige, unheimliche Gefühl ab und reckte
das Kinn vor. Ihr reichten schon die Probleme im Hier
und Jetzt, sie musste sich nicht auch noch mit dem Metaphysischen
auseinandersetzen.
»Bitte treten Sie beiseite, mein Herr. Ich muss mich auf
den Weg machen.«
»Für eine Dame ist das Reisen ohne Begleitung eine äußerst
unsichere Angelegenheit.« Er rührte sich nicht von der
Stelle, und seine Stimme klang ruhig, doch blieb sie unerbittlich.
Als ob seinen mahnenden Worten Nachdruck verliehen
werden sollte, drang auf einmal das laute Gejohle eines Gelages
vom Gasthaus über den Hof. Die Schenke musste in
einer solch kalten Nacht voller Menschen sein. Das eiskalte
Wetter war einer der wenigen Glücksfälle für Charis, hatten
deshalb doch die Stallburschen ihre Posten verlassen und sich
ans wärmende Feuer begeben. Andernfalls hätten sie ihr Versteck
sofort entdeckt. Warum war dieser Fremde nicht wie
jeder andere Mensch mit Sinn und Verstand im Warmen geblieben,
anstatt in diesem riesigen Stall herumzuwandern?
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.« Wie in aller Welt
sollte sie bloß entkommen? Noch einmal schalt sie sich im
Stillen, nicht weitergegangen zu sein.
»Wollen Sie mir Ihre Geschichte nicht anvertrauen?« Er
sprach besänftigend auf sie ein. Seine Stimme klang fast so
wie in den Momenten, als er Khan beruhigt hatte. Und so
wie Khan spürte auch sie die heimtückische Verlockung
dieses wohlklingenden Baritons. »Sie sind offensichtlich in
Schwierigkeiten. Ich schwöre ...«
Er unterbrach seinen Satz abrupt und drehte den Kopf in
Richtung Haupteingang, der am Ende des langen Ganges lag.
Erst dann vernahm auch Charis das schlurfende Geräusch
herannahender Schritte. Was für ein unmenschlich scharfes
Gehör musste der Mann haben, diese über das knarrende
Dach und den pfeifenden Wind hinweg zu hören.
»Etwas nicht in Ordnung, Mylord?«, erklang aus ein paar
Metern Entfernung eine raue, männliche Stimme, von der sie
vermutete, sie gehörte einem Stallburschen.
Mylord? Sie hatte mit ihrer Vermutung hinsichtlich seines
gesellschaftlichen Ranges richtig gelegen. Mit einem verängstigten
Wimmern schlich Charis zurück in den Schatten,
während der Mann die Laterne so hielt, dass Dunkelheit sie
einhüllte. Dabei hörte sich das Rascheln des Strohes so laut
wie ein Gewehrschuss an.
»Guter Mann, ich schaue nur nach meinem Pferd.« Lässig
schlenderte er aus ihrem Blickfeld zu dem Neuankömmling.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die Stimme des Stallburschen
wurde deutlicher, während er herantrat.
Charis hielt den Atem an und kauerte sich, soweit wie
möglich vom Licht entfernt, in eine Ecke. Der Arm tat ihr
bei der Bewegung weh, doch achtete sie nicht weiter auf den
stechenden Schmerz.
»Nein. Es ist alles in Ordnung.«
Charis vergrub ihre feuchten Hände in den zerrissenen,
fleckigen Röcken ihres einstmals eleganten Tageskleides und
betete leise darum, unentdeckt zu bleiben. Ihr Herz schlug
wild gegen ihre Rippen. Sie wunderte sich, dass der Stallbursche
es nicht hörte und hereinkam, um der Sache nachzugehen.
»Auf jeden Fall ist es eine kalte Nacht für Mensch und
Tier.«
»Zu kalt, um draußen unterwegs zu sein.« Trotz des resoluten
Tonfalles seiner Stimme klang der Mann entspannt
und sorglos. »Such dir ein Plätzchen am Feuer und trink einen
Krug auf mich.«
Charis schob sich so weit wie möglich hinter Khans Kruppe,
behielt dabei aber seine todbringenden Hinterläufe immer
im Auge.
»Zu gütig von Ihnen, Mylord. Das mache ich sehr gerne.
« In der Antwort des Stallburschen schwang überraschte
Dankbarkeit mit. »Und Sie sind sich sicher, dass ich nicht
helfen kann?«
»Vollkommen sicher.« Die Stimme des Fremden ließ erkennen,
dass der Stallbursche entlassen war. Welche Münze
daraufhin auch immer ihren Besitzer wechselte, sie bewirkte,
dass seinem Wunsch sofort entsprochen wurde.
»N'abend, Mylord.«
Der Stallbursche trottete mit einer schier unerträglichen
Langsamkeit davon. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern,
bis der Fremde wieder am Eingang der Box erschien.
Er hob die Laterne an und sah Charis zitternd an der Rückwand
lehnen.
»Er ist weg.«
»Dem Himmel sei Dank.« Erleichtert stieß Charis den
Atem aus, den sie ihrem Gefühl nach für eine Stunde angehalten
hatte. Sie wusste nicht, warum der Mann ihr geholfen
hatte, sich zu verstecken. Es zählte allein, dass er es getan
hatte.
Mit einem besorgten Ausdruck in seinen bemerkenswerten
Gesichtszügen betrachtete er sie eingehend. »Sie können hier
nicht bleiben. Im Gasthof wimmelt es nur so von Menschen.
Sie können sich glücklich schätzen, so lange unbehelligt ge-
blieben zu sein. Kommen Sie wenigstens so weit heraus, dass
ich Sie sehen kann.«
»Ich will nicht ...«, begann sie unsicher. Obwohl der Mann
keinen Versuch unternahm, sie aus der Box herauszuziehen,
presste sie sich gegen die Bretter. Die Bewegung rief bei ihren
verkrampften Muskeln erneut Schmerzen hervor.
Der Mann trat beiseite, um ihr zu zeigen, dass er keine
Gefahr bedeutete. Endlich war der Weg frei für sie, um die
Beine in die Hand nehmen zu können.
Sie zögerte.
Sie biss sich auf ihre Unterlippe, wünschte sich dann
aber sofort, es nicht getan zu haben, als das aufgesprungene
Fleisch anfing zu stechen. Der Fremde hatte recht. Wie groß
waren ihre Chancen, weiter als über den Hof des Gasthauses
zu kommen? So nah an ihrem Zuhause würde sie sicherlich
erkannt werden.
Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, verschwand die
Wachsamkeit aus seinen Augen. »Ich heiße Gideon.«
Selbst als Charis an Khan vorbei in den Gang humpelte,
blieb sie weiterhin auf Flucht eingestellt, sollte dieser Mann -
Gideon - sich ihr nähern. Seine Haltung jedoch wirkte entspannt,
und er ließ ihr genügend Raum. Zitternd atmete sie
ein und prüfte so ihre geprellten Rippen. Mit jeder Sekunde,
in der er sie nicht anfasste, fühlte sie sich sicherer.
»Sie sind verletzt.« Er klang ruhig, doch in seinen Augen
flammte ein dunkles Zornesfeuer auf, während er sie mit
einem kurzen, schweifenden Blick von Kopf bis Fuß betrachtete.
Sie war sich bewusst, wie eine heruntergekommene
Schlampe aussehen zu müssen. Die Schamesröte kroch ihr
den Hals hoch, und sie hob die rechte Hand, um ihr zerfetztes
Oberteil zu umklammern. Hubert, ihr Stiefbruder,
hatte es zerrissen, als er sie festgehalten hatte. Nun klaffte
der Ausschnitt auseinander und gab den Blick auf den Spitzenrand
ihres Unterkleides frei.
Ihr Gesicht fühlte sich an, als wäre es von tausend Wespen
gestochen worden. Ihr blaues Kleid war zerrissen und
schmutzig und für diese eisige Nacht vollkommen ungeeignet.
Ihre Arme, die unter den Flügelärmeln hervorragten,
waren übersät von Kratzern und Blutergüssen. Zeugnisse
der erlittenen Schläge und ihrer wilden Flucht durch die
Felder und Wälder. Ihr Haar sah wie ein verfilztes Vogelnest
aus. Die meisten Haarnadeln hatten sich gelöst, als sie sich
den Weg durch die Hecken um Holcombe herum erkämpft
hatte.
Bevor Gideon ihr Fragen stellen oder, noch schlimmer,
sein Mitleid zum Ausdruck bringen konnte, das unter seiner
Empörung wie ein Geist lauerte, setzte sie zu der von ihr
vorbereiteten Geschichte an. »Ich war auf dem Weg zu meiner
Tante nach Portsmouth ... als mich Wegelagerer überfielen.
«
Dieses verfluchte, verräterische Stocken. Lügen waren ihr
noch nie leicht über die Lippen gekommen. Er würde ihr
kein Wort glauben. Was bedeutete, dass das Spiel für sie aus
und vorbei war.
Gespannt und atemlos wartete sie darauf, von ihm als
Heuchlerin und Ausreißerin beschimpft zu werden, doch er
riss sich lediglich den Mantel von den Schultern und trat näher.
Voller Angst wich sie mit schnellen, stolpernden Schritten
zurück, bis sie gegen einen dicken Pfosten stieß. Der Aufprall
fuhr wie ein gezackter Blitz durch ihren Arm, und sie
erstickte einen Schrei. Sie beugte sich unwillkürlich etwas
vor, und er ergriff die Gelegenheit, ihr den Mantel über die
zitternden Schultern zu legen.
»Hier.« Er trat wieder zurück.
Langsam ließ ihre panische Angst nach, und sie richtete
sich unter der Last des Mantels auf, durch dessen Wärme sie
sich wieder mehr wie ein Mensch fühlte. Sie ging in dem riesigen
Kleidungsstück, das auf dem Boden schleifte, fast unter.
Der Stoff roch angenehm nach frischer Luft, aber auch
sauber und leicht nach Moschus, was auf seinen Besitzer zurückzuführen
sein musste.
Er war klug genug, sie nicht zu bedrängen. Dennoch blieb
sie weiterhin nervös und war sich seiner stattlichen Größe
und des muskulösen, schlanken Körpers, der nun in einem
schwarzen Jackett, einem weißen Hemd und braunen Kniehosen
steckte, unter denen sich wunderbar lange, starke Beine
abzeichneten, bewusst. Von den blank polierten Stiefeln
bis hin zu dem einfachen, weißen Halstuch zeugte seine Kleidung
von höchster Qualität.
»Da...danke«, sagte sie durch ihre klappernden Zähne.
Sie unterdrückte stechende Tränen und hielt die herrlich
mollig warmen Falten des Wollmantels wie einen Schild umklammert.
Komisch, doch sein freundliches Verhalten erwies
sich als die größte Bedrohung ihrer angeschlagenen Nerven.
»Wie heißen Sie?«
Ihr den Mantel gegeben zu haben schien im Gegenzug irgendeine
Geste des Vertrauens zu verlangen.
»Sarah Watson«, antwortete sie widerwillig und bediente
sich des Namens der mürrischen Gesellschafterin ihrer
Großtante in Bath. Sie erinnerte sich an ihre guten Manieren
und machte einen steifen Knicks.
Er kam ihr mit einer weiteren dieser eigenartigen, angedeuteten
Gesten zuvor. Der Blick seiner dunklen Augen
blieb auf sie gerichtet. »Darf ich Sie zu einer Freundin oder
Verwandten nach Winchester begleiten, Miss Watson? Dieser
Stall ist kein sicherer Ort.«
Sie war, verdammt noch mal, nirgendwo sicher. Tief in ihrem
Bauch stieg die Angst wieder hoch, als sie daran dachte,
was passieren würde, wenn ihre Stiefbrüder sie wieder einfingen.
»Ich bin ... ich komme nicht aus diesem Teil des Landes,
Sir. Ich stamme aus Carlisle.« Sie nannte den Namen der am
weitest entfernt liegenden Stadt, die ihr einfiel, ohne dabei
die Grenze nach Schottland zu überschreiten. Sie straffte ihre
wackligen Beine, die unter ihr nachzugeben drohten, und
schaute ihn mit einem Blick an, der ihm zu verstehen gab,
ihre Geschichte bloß nicht anzuzweifeln.
Seine Miene war ausdruckslos, aber sie wusste, er würde
ihre Antworten auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen.
»Das ist für eine Dame, so ganz allein auf sich gestellt, eine
lange Reise. Haben Sie nicht wenigstens ein Dienstmädchen
als Begleitung dabei?«
Sie verstrickte sich mit jedem Moment tiefer in ein Netz
von Lügen. Aber was für eine andere Wahl hatte sie? Gäbe
sie ihre Identität preis, würde jeder gesetzestreue Bürger sie
den Behörden übergeben.
Trotzdem ging ihr die Antwort schwer über die Lippen.
»Mir ist mein Dienstmädchen davongelaufen, als wir in London
in eine andere Kutsche stiegen.«
»Sie sind wahrlich vom Pech verfolgt, Miss Watson.«
Lag in seiner Antwort ein Hauch von Ironie? Sein Gesichtsausdruck
zeugte weiterhin von höflichem Interesse. Sie
entschloss sich, seine Bemerkung für bare Münze zu nehmen.
»Das war ein furchtbarer Tag, in der Tat.« Zumindest
das war wahr. »Alles, was ich mir jetzt wünsche, ist so bald
wie möglich das Haus meiner Tante zu erreichen.«
»Sie sind weit weg von Portsmouth.«
Wusste sie das nicht? Sie hatte kaum mehr als ein paar
Meilen geschafft, und schon wurde ihr Durchhaltevermö-
gen derart auf die Probe gestellt. Sie hatte kein Geld, um
in einer Kutsche mitzufahren, und selbst wenn, könnte sie
die Fahrt aus Furcht, erkannt zu werden, nicht wagen. Einmal
mehr holte sie die schier unüberwindbare Aufgabe ein,
die sie sich gestellt hatte. Doch dann erinnerte sie sich an
das, was sie auf Holcombe erwartete. »Ich werde es schon
schaffen.«
»Wie denn?«, fragte er sie mit einer ersten Spur an Strenge
in der Stimme. »Sie sind zum Umfallen müde.«
Als sie ihre eigenen Zweifel mit einem solchen Nachdruck
formuliert hörte, wurde die Verzweiflung in ihr noch größer.
»Was sein muss, muss sein.«
Sie presste die Lippen zusammen. Ihre mürrische Antwort
beeindruckte ihn genauso wenig wie sie selbst. »Wenn Sie
mir gestatten, biete ich Ihnen an, Sie mitzunehmen.«
Charis wich zurück, als er versuchte, sie zu berühren. Es
schien zu schön, um wahr zu sein. Die Möglichkeit, nach
Portsmouth zu gelangen, war ein Geschenk des Himmels.
Ihre Stiefbrüder würden ihr bestimmt schon auf den Fersen
sein. Wenn sie mit diesem Fremden mitginge, könnte sie Boden
gutmachen. Und nicht nur das; ihre Stiefbrüder würden
darüber hinaus nur nach einer jungen Frau fragen, die alleine
reiste.
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.« Ihre Worte
sollten endgültig klingen, doch ihre Verletzungen ließen sie
schleppend und undeutlich sprechen.
»Meine Reise geht ohnehin in Richtung Süden.« Sein Gesichtsausdruck
wurde düster. »Das Gebot der Ritterlichkeit
verbietet mir, eine Frau dem Wohlwollen der Schurken zu
überlassen, denen sie auf der Straße begegnen könnte.«
Trotz schlechter körperlicher Verfassung und aufkeimender
Angst musste Charis grimmig lachen. Sie machte
eine abweisende Geste mit ihrer unverletzten Hand. »Ritter-
lichkeit ist selbst in den allerbesten Zeiten eine Eigenschaft,
auf die man sich nicht verlassen sollte.«
»Sie haben mein Wort als Ehrenmann, dass Ihnen bei
mir nichts passiert, Miss Watson«, erwiderte er, ohne zu lächeln.
Sie hatte in letzter Zeit so viele Lügen gehört, dass sie einfach
davon ausgehen musste, dass alles, was aus dem Mund
eines Mannes kam, gelogen war. Doch eigenartigerweise
glaubte sie ihm, als er ihr sein Wort gab.
Mein Gott, wenn dieser Mann sie vergewaltigen wollte,
hätte er es bestimmt inzwischen schon getan. Alle ihre Sinne
hielten ihn für dieses Hirngespinst.
Einen wahren Ehrenmann.
Oder war sie einfach nur von seinem bemerkenswerten
Aussehen geblendet? Sie war schutzlos und erschöpft. Unaufhörlicher
Schmerz vernebelte ihre Sinne. Sie fürchtete um
ihr Leben.
Die Pause zog sich und ging über in eine angespannte Stille.
Hätte er versucht, sie zu überreden, sie wäre ohne wenn
und aber gegangen. Doch er ließ ihr Zeit, sich zu entscheiden.
Nur an seinen gestrafften Schultern unter der hervorragend
geschnittenen Jacke war zu erkennen, dass ihre Antwort
ihm nicht gleichgültig war und er sie mit Spannung erwartete.
Schließlich seufzte sie. Es klang nach Einverständnis.
Angst schnürte ihr die Kehle zu, aber ihre Verzweiflung war
stärker. Während sie sich fragte, ob sie sich gerade auf die
Seite des Teufels geschlagen hatte, nickte sie kurz. »Dann
nehme ich Ihre Hilfe dankend an.«
»Zuallererst aber bringen wir Sie zu einem Arzt.«
Einen kurzen Moment lang hatte sich ihre laut pochende
Furcht in ein entfernt klingendes Trommeln verwandelt. Die
Möglichkeit zur Flucht hatte ihr zugewinkt wie das rettende
Boot einem ertrinkenden Menschen. Nun erinnerten seine
Worte sie daran, dass das rettende Ufer noch nicht erreicht
war. Und vielleicht würde sie es auch nicht erreichen, außer
mit viel Glück und Verstand.
Jeder Arzt in Winchester würde sie sofort erkennen. Sie
schüttelte abweisend den Kopf. »Ich brauche keinen Arzt.
Meine Verletzungen sind nicht so schlimm, wie sie aussehen.
«
Sie wartete auf einen Einwand, doch es kam keiner. »In
Ordnung. Kein Arzt.«
Erleichtert sackte sie zusammen, obwohl sie versuchte,
ihre heftige Reaktion zu verbergen. Anscheinend war sie
auf den unglaublichsten Ehrenmann des Landes gestoßen.
Bisher nahm er ihre Geschichte für bare Münze, ohne einen
Moment daran zu zweifeln.
Eigenartig, sie hatte ihn nicht für einen Dummkopf gehalten.
Aus diesen wachsamen, dunklen Augen sprach Intelligenz.
Vielleicht war er einfach nur naiv. Noch ein Grund mehr,
mit ihm zu gehen. So würde sie ihm ohne Schwierigkeiten in
Portsmouth entwischen können.
Was sie danach machen würde, lag noch völlig im Dunkeln.
Sie besaß weder Geld noch hatte sie Freunde. Zumindest
nicht solche, die sie der Gefahr einer Verfolgung aussetzen
könnte. Ihre Stiefbrüder hatten bereits ihre einzige nahe
Verwandte, ihre Großtante, so sehr in Angst und Schrecken
versetzt, dass sie sie ihnen ausgehändigt hatte. Sie trug ein
goldenes Medaillon und den Perlenring ihrer Mutter, nichts
davon war sehr wertvoll. Irgendwo musste sie sich in den
nächsten drei Wochen verstecken. Das erdrückende Dilemma,
in dem sie sich befand, ließ sie erschauern.
Eins nach dem anderen. Sie vertrieb ihre Verzagtheit. Zuerst
musste sie unerkannt aus Winchester herauskommen.
»Gideon.«
Es war die Stimme eines Mannes, die da aus Richtung der
Stalltür kam. Charis schreckte auf, sah noch einmal nach ihren
Verletzungen und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht
wich. Ihr Retter streckte die Hände aus, hielt dann
aber mitten in der Bewegung inne, um sie nicht zu berühren.
»Seien Sie unbesorgt. Er ist ein Freund.«
Da war sie wieder, diese ihm angeborene Autorität. Charis
blieb dort stehen, wo sie war, obwohl ihr das Herz bis zum
Hals schlug und der kalte Schweiß ausbrach.
»Ich bin hier«, rief Gideon, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden.
Ein weiterer Mann, so groß wie ihr Retter, schlank, dunkel
und offensichtlich ausländischer Herkunft, obwohl er vornehme,
maßgeschneiderte Kleidung aus London trug, spazierte
ins Blickfeld. »Wen hast du denn da?«
»Miss Watson, das ist Akash. Akash, darf ich dir Miss Sarah
Watson vorstellen. Sie ist überfallen worden und braucht
Hilfe.«
Akashs glänzende braune Augen ruhten auf Charis. Sie wartete
darauf, dass er sie nach ihrer fadenscheinigen Geschichte
fragte. Doch nach einer Pause zog er nur eine fein geschwungene,
schwarze Augenbraue in Richtung Gideon hoch.
»Ich gehe davon aus, wir bleiben hier nicht über Nacht?«
Seine Stimme klang durch und durch englisch, obwohl er
aussah, als sei er einem arabischen Märchen entsprungen.
»Du weißt, dass ich eilig nach Penrhyn muss.«
»In der Tat«, sagte er mit neutralem Ton.
»Ja, über Portsmouth.«
»Es war mir schon immer ein dringender Wunsch, Portsmouth
kennenzulernen.« Die Aussicht, der Kälte trotzen zu
müssen, um einer Fremden zu helfen, ließ Akash vollkommen
ungerührt. Zu ungerührt.
Plötzlich fühlte sich Charis ganz und gar nicht mehr sicher.
Sich in die Hände zweier ihr unbekannter Männer zu
begeben war die Krönung an Dummheit. Dass sie ihrer dünnen
Geschichte so schnell Glauben geschenkt hatten, schien
eher verdächtig als beruhigend zu sein.
Mit zittrigen Beinen ging sie zurück zu Khan, der sanft in
ihr Ohr wieherte. »Ich darf mich Ihnen und Ihrer Gutmütigkeit
nicht aufdrängen. Ich werde mich alleine auf den Weg
zu meiner Tante machen.«
»Kein Ehrenmann würde einen solchen Plan gutheißen,
Miss Watson.« Gideon hörte sich unnachgiebig an.
So konnte sie auch klingen. »Trotzdem werde ich gehen.«
Gideon lächelte kurz zu seinem Begleiter hinüber. Einen
kurzen Moment lang erstrahlte sein Gesicht vor Vergnügen.
Seine dunklen Augen funkelten, kleine Falten bildeten sich
auf seinen Wangen und um die Augen, und gerade, weiße
Zähne blitzten auf.
Charis' Herz hörte mit einem Ruck auf zu schlagen, um
dann unberechenbar zu rasen. Trotz der Angst, der Schmerzen
und des Misstrauens sehnte sie sich törichterweise nach
nichts anderem, als ihn wieder lächeln zu sehen.
Sie anlächeln zu sehen.
»Ich glaube, Akash, du hast dem jungen Ding Angst eingejagt.«
Sie überging Akashs leises Lachen und schaute Gideon mit
finsterem Blick an. »Ich muss doch sehr bitten, Sir. Ich bin
kein junges Ding.«
»Würden Sie sich besser fühlen, wenn ich Ihnen das hier
gäbe?«
Sie schaute nach unten und sah, dass er ihr eine kleine Duellpistole
reichte. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er in
seine Jacke gegriffen hatte.
Die Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel »Captive of Sin« bei Avon Books,
an imprint of HarperCollinsPublishers, New York
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe August 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2009 by Anna Campbell
Copyright © 2010 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe
Random House, München
Published by Arrangement with Karen Schwartz.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München,
unter Verwendung eines Motivs von Pino Daeni
via Agentur Schlück GmbH
Redaktion: Barbara Müller
LH . Herstellung: sam
Satz: DTP Service Apel, Hannover
eISBN 978-3-641-03927-1
www.blanvalet.de
Als der Mann die Laterne hob, um die Ecke zu beleuchten,
in die Charis sich duckte, schreckte sie zurück. Hinter
dem gelben Lichtschein sah sie bedrohliche Schatten, die immer
dichter wurden und sich hinauf bis zu der abgeschrägten
Decke vervielfachten.
»Bitte, haben Sie keine Angst.« Der Fremde machte mit
einer schwarz behandschuhten Hand eine eigenartig abgehackt
wirkende Geste. »Ich tue Ihnen nichts.«
In seinem prächtigen Bariton schwang ehrliche Besorgnis
mit. Obwohl er keinen Schritt auf sie zumachte, ließ Charis'
lähmende Angst nicht nach. Ihre eigenen grausamen Erfahrungen
hatten sie gelehrt, dass Männer logen, auch wenn sie
samtweiche, gebildete Stimmen hatten.
Ein stechender Schmerz in ihrer Brust erinnerte sie daran,
dass sie keinen Atemzug mehr gemacht hatte, seit er sie
gefunden hatte. Die Luft, die sie in ihre leeren Lungenflügel
einsog, war schwer von Pferdedung, Heustaub und dem beißenden
Gestank ihrer eigenen Angst.
Sie drehte den Kopf und schaute sich den Mann richtig an.
Ihr stockte vor Erstaunen der Atem.
Er sah ausgesprochen schön aus.
Schön. Das war ein Wort, das ihr vorher noch nie im Zusammenhang
mit einem Mann in den Sinn gekommen war.
In diesem Fall aber fiel ihrem aufgewühlten Verstand keine
andere Bezeichnung ein.
Schönheit aber, so rein und vollkommen wie die dieses
Mannes, erschreckte sie, verkörperte sie doch genau jene elegante
Welt, die sie aufgeben musste, um zu überleben.
Trotz ihrer Angst widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit
seiner gut geschnittenen Stirn, den Wangenknochen und
der Kieferpartie und dann auch seiner geraden, vornehm geformten
Nase. Er war von der Sonne gebräunt, was für Februar
ungewöhnlich war.
Mit seinen ausgeprägten, unwiderstehlichen Gesichtszügen
und dem zerzausten Haar, das so schwarz wie das eines
Zigeuners war, sah er aus wie der Prinz aus einem Märchen.
Doch an Märchen glaubte Charis nicht mehr.
Hastig schaute sie sich in der engen Box um, doch der
Mann blockierte den einzigen Ausgang. Noch einmal verfluchte
sie im Stillen ihre eigene Dummheit. Mit ihrer unverletzten
Hand tastete sie den Boden nach einem Stein oder
verrosteten Nagel ab, irgendetwas, mit dem sie sich verteidigen
konnte. Ihre zitternden Finger fanden jedoch nichts als
stechendes Stroh.
Starren Blickes beobachtete sie, wie er die Laterne auf dem
Boden absetzte. Seine Bewegungen waren langsam und bedächtig,
offensichtlich sollten sie beruhigend wirken. Doch
wenn er nach ihr greifen wollte, hätte er nun beide Hände
frei. Sie straffte sich, bereit, sich ihren Weg hinaus kratzend
und um sich schlagend zu erkämpfen.
In der angespannten Stille hörte sie nichts außer ihrem rasselnden
Atmen. Noch nicht einmal das unablässige Heulen
des Windes. Der kräftige Fuchs bewegte sich wieder, wieherte
ängstlich und warf den Kopf gegen das Seil, mit dem er
zum Gang hin angebunden war.
Was nur, wenn das nervöse Tier in diesem beengten Raum
anfangen würde zu treten oder zu bocken? Die Hufe des
Pferdes waren riesig, ja, tödlich. Die Angst lag wie ein Stein
in ihrem Magen. Ihr Zufluchtsort erwies sich von Minute zu
Minute mehr als eine schlechte Wahl.
Warum, o Gott, hatte sie ihre Müdigkeit und die Schmer-
zen nicht einfach ignoriert und war weitergegangen? Selbst
eine Hecke hätte ihr sichereren Schutz geboten als dieser
Stall hier.
Der Mann betrat die Box, sein langer, bis zu den Knöcheln
reichender schwarzer Mantel umspielte seine Stiefel. Charis
wich zurück, bereit sich loszureißen, sollte er nach ihr greifen.
Noch einmal brach ihr der kalte Schweiß aus. Er war so
viel größer und stärker als sie.
Doch er griff nur beherzt nach dem Halfter des Tieres,
das dies, ohne sich zu widersetzen, geschehen ließ. »Ruhig,
Kahn.« Er streichelte die Nase des Wallachs, während seine
Stimme eine weiche, verführerische Melodie annahm. Der
Mann strahlte ein fast spürbares Selbstvertrauen aus. »Sie
müssen sich vor nichts fürchten.«
Die ausgewogene Mischung aus Autorität und Fürsorge in
seinem Ton hätte Charis beruhigen sollen. Stattdessen lief es
ihr jedoch vor Angst eiskalt den Rücken hinunter. Sie wusste
alles über Männer, die dachten, sie regierten die Welt. Sie
wusste, wie sie reagierten, wenn ihren Wünschen nicht entsprochen
wurde. Verstohlen suchte sie immer fieberhafter
nach einer Waffe.
Khan, dieses dumme, gutgläubige Geschöpf, beruhigte
sich unter den gemurmelten, fürsorglichen Worten seines
Herrn. Wenn er schon den Namen des Tieres kannte, musste
der Mann wohl dessen Besitzer sein. Dass er kein Stallbursche
sein konnte, war selbst für einen Fremden offensichtlich.
Dafür zeugte sein Auftreten von einer viel zu großen,
selbstverständlichen Vornehmheit, und auch seine Kleidung
war zu gut.
Sie fand keine Waffe.
Sie müsste also ihren Weg zurück in die Freiheit im Laufschritt
erobern und hoffen, ihre steifen, müden Beine würden
sie tragen. Verstohlen schob sie sich hoch. Selbst diese
kleine Bewegung verursachte ihr höllische Schmerzen. Jeder
einzelne Muskel tat ihr weh, und der Arm brannte wie Feuer.
Sie biss sich auf die Zähne, um nicht laut zu wimmern.
»Es gibt keinen Grund zu fliehen.« Sein Blick wich nicht
von dem inzwischen lammfrommen Pferd.
»Doch, gibt es«, hörte sie sich selbst sagen, obwohl sie
beschlossen hatte, nichts zu erwidern. Durch ihr geschwollenes
Gesicht klang ihre Stimme ungewohnt rauchig, doch
ihre vornehme Sprache und Ausdrucksweise machten aus ihr
ein Objekt des Interesses. Ein bemerkenswertes, unvergessliches
Objekt.
Ein Ziel.
Unbeholfen bemühte sie sich, aufzustehen, um sich nicht
ganz so ausgeliefert zu fühlen. Dabei stieß sie gegen die
Bretterwand und unterdrückte einen gellenden Schrei. Sie
kämpfte gegen den schwindelerregenden Schmerz an und
hielt den pochenden Arm wiegend vor sich.
Ihre ungelenke, ruckartige Bewegung versetzte den
Fuchswallach in Angst. Er begann wieder zu tänzeln und zu
schnauben. Ihr Vater hatte sich mit Pferden gut ausgekannt,
und so war Charis sofort aufgefallen, dass Khan aus bester
Zucht stammte und edles Blut in seinen Adern floss.
Ganz wie der Mann, der noch immer den Kopf des Tieres
hielt.
»Ich weiß, dass Sie Angst haben.« Zuerst dachte sie, er
spräche zu Khan. Er widmete seine Aufmerksamkeit weiterhin
dem Pferd. »Ich weiß, dass Sie Hilfe brauchen.«
Hilfe, um sie dem Gesetz zu übergeben, dachte sie bitter.
»Warum sollte das Ihre Sorge sein? Sie sind ein Fremder.«
»Das stimmt. Doch wenn Sie sich die Box meines Pferdes
aussuchen, dann wählen Sie damit auch mich.«
»Das war reiner Zufall.«
Endlich schaute er sie direkt an. Es war sicherlich nur dem
heimtückischen Licht der Laterne zuzuschreiben, dass seine
Augen über diesen ausgeprägten Wangenknochen so dunkel
und glänzend leuchteten. »Das ganze Leben ist ein Zufall.«
Charis erschauerte unter seinem taxierenden, tiefschwarzen
Blick. Irgendwie schien dieser Moment bedeutungsvoll
zu sein, obwohl er es eigentlich gar nicht sein konnte. Sie
schüttelte das eigenartige, unheimliche Gefühl ab und reckte
das Kinn vor. Ihr reichten schon die Probleme im Hier
und Jetzt, sie musste sich nicht auch noch mit dem Metaphysischen
auseinandersetzen.
»Bitte treten Sie beiseite, mein Herr. Ich muss mich auf
den Weg machen.«
»Für eine Dame ist das Reisen ohne Begleitung eine äußerst
unsichere Angelegenheit.« Er rührte sich nicht von der
Stelle, und seine Stimme klang ruhig, doch blieb sie unerbittlich.
Als ob seinen mahnenden Worten Nachdruck verliehen
werden sollte, drang auf einmal das laute Gejohle eines Gelages
vom Gasthaus über den Hof. Die Schenke musste in
einer solch kalten Nacht voller Menschen sein. Das eiskalte
Wetter war einer der wenigen Glücksfälle für Charis, hatten
deshalb doch die Stallburschen ihre Posten verlassen und sich
ans wärmende Feuer begeben. Andernfalls hätten sie ihr Versteck
sofort entdeckt. Warum war dieser Fremde nicht wie
jeder andere Mensch mit Sinn und Verstand im Warmen geblieben,
anstatt in diesem riesigen Stall herumzuwandern?
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.« Wie in aller Welt
sollte sie bloß entkommen? Noch einmal schalt sie sich im
Stillen, nicht weitergegangen zu sein.
»Wollen Sie mir Ihre Geschichte nicht anvertrauen?« Er
sprach besänftigend auf sie ein. Seine Stimme klang fast so
wie in den Momenten, als er Khan beruhigt hatte. Und so
wie Khan spürte auch sie die heimtückische Verlockung
dieses wohlklingenden Baritons. »Sie sind offensichtlich in
Schwierigkeiten. Ich schwöre ...«
Er unterbrach seinen Satz abrupt und drehte den Kopf in
Richtung Haupteingang, der am Ende des langen Ganges lag.
Erst dann vernahm auch Charis das schlurfende Geräusch
herannahender Schritte. Was für ein unmenschlich scharfes
Gehör musste der Mann haben, diese über das knarrende
Dach und den pfeifenden Wind hinweg zu hören.
»Etwas nicht in Ordnung, Mylord?«, erklang aus ein paar
Metern Entfernung eine raue, männliche Stimme, von der sie
vermutete, sie gehörte einem Stallburschen.
Mylord? Sie hatte mit ihrer Vermutung hinsichtlich seines
gesellschaftlichen Ranges richtig gelegen. Mit einem verängstigten
Wimmern schlich Charis zurück in den Schatten,
während der Mann die Laterne so hielt, dass Dunkelheit sie
einhüllte. Dabei hörte sich das Rascheln des Strohes so laut
wie ein Gewehrschuss an.
»Guter Mann, ich schaue nur nach meinem Pferd.« Lässig
schlenderte er aus ihrem Blickfeld zu dem Neuankömmling.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die Stimme des Stallburschen
wurde deutlicher, während er herantrat.
Charis hielt den Atem an und kauerte sich, soweit wie
möglich vom Licht entfernt, in eine Ecke. Der Arm tat ihr
bei der Bewegung weh, doch achtete sie nicht weiter auf den
stechenden Schmerz.
»Nein. Es ist alles in Ordnung.«
Charis vergrub ihre feuchten Hände in den zerrissenen,
fleckigen Röcken ihres einstmals eleganten Tageskleides und
betete leise darum, unentdeckt zu bleiben. Ihr Herz schlug
wild gegen ihre Rippen. Sie wunderte sich, dass der Stallbursche
es nicht hörte und hereinkam, um der Sache nachzugehen.
»Auf jeden Fall ist es eine kalte Nacht für Mensch und
Tier.«
»Zu kalt, um draußen unterwegs zu sein.« Trotz des resoluten
Tonfalles seiner Stimme klang der Mann entspannt
und sorglos. »Such dir ein Plätzchen am Feuer und trink einen
Krug auf mich.«
Charis schob sich so weit wie möglich hinter Khans Kruppe,
behielt dabei aber seine todbringenden Hinterläufe immer
im Auge.
»Zu gütig von Ihnen, Mylord. Das mache ich sehr gerne.
« In der Antwort des Stallburschen schwang überraschte
Dankbarkeit mit. »Und Sie sind sich sicher, dass ich nicht
helfen kann?«
»Vollkommen sicher.« Die Stimme des Fremden ließ erkennen,
dass der Stallbursche entlassen war. Welche Münze
daraufhin auch immer ihren Besitzer wechselte, sie bewirkte,
dass seinem Wunsch sofort entsprochen wurde.
»N'abend, Mylord.«
Der Stallbursche trottete mit einer schier unerträglichen
Langsamkeit davon. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern,
bis der Fremde wieder am Eingang der Box erschien.
Er hob die Laterne an und sah Charis zitternd an der Rückwand
lehnen.
»Er ist weg.«
»Dem Himmel sei Dank.« Erleichtert stieß Charis den
Atem aus, den sie ihrem Gefühl nach für eine Stunde angehalten
hatte. Sie wusste nicht, warum der Mann ihr geholfen
hatte, sich zu verstecken. Es zählte allein, dass er es getan
hatte.
Mit einem besorgten Ausdruck in seinen bemerkenswerten
Gesichtszügen betrachtete er sie eingehend. »Sie können hier
nicht bleiben. Im Gasthof wimmelt es nur so von Menschen.
Sie können sich glücklich schätzen, so lange unbehelligt ge-
blieben zu sein. Kommen Sie wenigstens so weit heraus, dass
ich Sie sehen kann.«
»Ich will nicht ...«, begann sie unsicher. Obwohl der Mann
keinen Versuch unternahm, sie aus der Box herauszuziehen,
presste sie sich gegen die Bretter. Die Bewegung rief bei ihren
verkrampften Muskeln erneut Schmerzen hervor.
Der Mann trat beiseite, um ihr zu zeigen, dass er keine
Gefahr bedeutete. Endlich war der Weg frei für sie, um die
Beine in die Hand nehmen zu können.
Sie zögerte.
Sie biss sich auf ihre Unterlippe, wünschte sich dann
aber sofort, es nicht getan zu haben, als das aufgesprungene
Fleisch anfing zu stechen. Der Fremde hatte recht. Wie groß
waren ihre Chancen, weiter als über den Hof des Gasthauses
zu kommen? So nah an ihrem Zuhause würde sie sicherlich
erkannt werden.
Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, verschwand die
Wachsamkeit aus seinen Augen. »Ich heiße Gideon.«
Selbst als Charis an Khan vorbei in den Gang humpelte,
blieb sie weiterhin auf Flucht eingestellt, sollte dieser Mann -
Gideon - sich ihr nähern. Seine Haltung jedoch wirkte entspannt,
und er ließ ihr genügend Raum. Zitternd atmete sie
ein und prüfte so ihre geprellten Rippen. Mit jeder Sekunde,
in der er sie nicht anfasste, fühlte sie sich sicherer.
»Sie sind verletzt.« Er klang ruhig, doch in seinen Augen
flammte ein dunkles Zornesfeuer auf, während er sie mit
einem kurzen, schweifenden Blick von Kopf bis Fuß betrachtete.
Sie war sich bewusst, wie eine heruntergekommene
Schlampe aussehen zu müssen. Die Schamesröte kroch ihr
den Hals hoch, und sie hob die rechte Hand, um ihr zerfetztes
Oberteil zu umklammern. Hubert, ihr Stiefbruder,
hatte es zerrissen, als er sie festgehalten hatte. Nun klaffte
der Ausschnitt auseinander und gab den Blick auf den Spitzenrand
ihres Unterkleides frei.
Ihr Gesicht fühlte sich an, als wäre es von tausend Wespen
gestochen worden. Ihr blaues Kleid war zerrissen und
schmutzig und für diese eisige Nacht vollkommen ungeeignet.
Ihre Arme, die unter den Flügelärmeln hervorragten,
waren übersät von Kratzern und Blutergüssen. Zeugnisse
der erlittenen Schläge und ihrer wilden Flucht durch die
Felder und Wälder. Ihr Haar sah wie ein verfilztes Vogelnest
aus. Die meisten Haarnadeln hatten sich gelöst, als sie sich
den Weg durch die Hecken um Holcombe herum erkämpft
hatte.
Bevor Gideon ihr Fragen stellen oder, noch schlimmer,
sein Mitleid zum Ausdruck bringen konnte, das unter seiner
Empörung wie ein Geist lauerte, setzte sie zu der von ihr
vorbereiteten Geschichte an. »Ich war auf dem Weg zu meiner
Tante nach Portsmouth ... als mich Wegelagerer überfielen.
«
Dieses verfluchte, verräterische Stocken. Lügen waren ihr
noch nie leicht über die Lippen gekommen. Er würde ihr
kein Wort glauben. Was bedeutete, dass das Spiel für sie aus
und vorbei war.
Gespannt und atemlos wartete sie darauf, von ihm als
Heuchlerin und Ausreißerin beschimpft zu werden, doch er
riss sich lediglich den Mantel von den Schultern und trat näher.
Voller Angst wich sie mit schnellen, stolpernden Schritten
zurück, bis sie gegen einen dicken Pfosten stieß. Der Aufprall
fuhr wie ein gezackter Blitz durch ihren Arm, und sie
erstickte einen Schrei. Sie beugte sich unwillkürlich etwas
vor, und er ergriff die Gelegenheit, ihr den Mantel über die
zitternden Schultern zu legen.
»Hier.« Er trat wieder zurück.
Langsam ließ ihre panische Angst nach, und sie richtete
sich unter der Last des Mantels auf, durch dessen Wärme sie
sich wieder mehr wie ein Mensch fühlte. Sie ging in dem riesigen
Kleidungsstück, das auf dem Boden schleifte, fast unter.
Der Stoff roch angenehm nach frischer Luft, aber auch
sauber und leicht nach Moschus, was auf seinen Besitzer zurückzuführen
sein musste.
Er war klug genug, sie nicht zu bedrängen. Dennoch blieb
sie weiterhin nervös und war sich seiner stattlichen Größe
und des muskulösen, schlanken Körpers, der nun in einem
schwarzen Jackett, einem weißen Hemd und braunen Kniehosen
steckte, unter denen sich wunderbar lange, starke Beine
abzeichneten, bewusst. Von den blank polierten Stiefeln
bis hin zu dem einfachen, weißen Halstuch zeugte seine Kleidung
von höchster Qualität.
»Da...danke«, sagte sie durch ihre klappernden Zähne.
Sie unterdrückte stechende Tränen und hielt die herrlich
mollig warmen Falten des Wollmantels wie einen Schild umklammert.
Komisch, doch sein freundliches Verhalten erwies
sich als die größte Bedrohung ihrer angeschlagenen Nerven.
»Wie heißen Sie?«
Ihr den Mantel gegeben zu haben schien im Gegenzug irgendeine
Geste des Vertrauens zu verlangen.
»Sarah Watson«, antwortete sie widerwillig und bediente
sich des Namens der mürrischen Gesellschafterin ihrer
Großtante in Bath. Sie erinnerte sich an ihre guten Manieren
und machte einen steifen Knicks.
Er kam ihr mit einer weiteren dieser eigenartigen, angedeuteten
Gesten zuvor. Der Blick seiner dunklen Augen
blieb auf sie gerichtet. »Darf ich Sie zu einer Freundin oder
Verwandten nach Winchester begleiten, Miss Watson? Dieser
Stall ist kein sicherer Ort.«
Sie war, verdammt noch mal, nirgendwo sicher. Tief in ihrem
Bauch stieg die Angst wieder hoch, als sie daran dachte,
was passieren würde, wenn ihre Stiefbrüder sie wieder einfingen.
»Ich bin ... ich komme nicht aus diesem Teil des Landes,
Sir. Ich stamme aus Carlisle.« Sie nannte den Namen der am
weitest entfernt liegenden Stadt, die ihr einfiel, ohne dabei
die Grenze nach Schottland zu überschreiten. Sie straffte ihre
wackligen Beine, die unter ihr nachzugeben drohten, und
schaute ihn mit einem Blick an, der ihm zu verstehen gab,
ihre Geschichte bloß nicht anzuzweifeln.
Seine Miene war ausdruckslos, aber sie wusste, er würde
ihre Antworten auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen.
»Das ist für eine Dame, so ganz allein auf sich gestellt, eine
lange Reise. Haben Sie nicht wenigstens ein Dienstmädchen
als Begleitung dabei?«
Sie verstrickte sich mit jedem Moment tiefer in ein Netz
von Lügen. Aber was für eine andere Wahl hatte sie? Gäbe
sie ihre Identität preis, würde jeder gesetzestreue Bürger sie
den Behörden übergeben.
Trotzdem ging ihr die Antwort schwer über die Lippen.
»Mir ist mein Dienstmädchen davongelaufen, als wir in London
in eine andere Kutsche stiegen.«
»Sie sind wahrlich vom Pech verfolgt, Miss Watson.«
Lag in seiner Antwort ein Hauch von Ironie? Sein Gesichtsausdruck
zeugte weiterhin von höflichem Interesse. Sie
entschloss sich, seine Bemerkung für bare Münze zu nehmen.
»Das war ein furchtbarer Tag, in der Tat.« Zumindest
das war wahr. »Alles, was ich mir jetzt wünsche, ist so bald
wie möglich das Haus meiner Tante zu erreichen.«
»Sie sind weit weg von Portsmouth.«
Wusste sie das nicht? Sie hatte kaum mehr als ein paar
Meilen geschafft, und schon wurde ihr Durchhaltevermö-
gen derart auf die Probe gestellt. Sie hatte kein Geld, um
in einer Kutsche mitzufahren, und selbst wenn, könnte sie
die Fahrt aus Furcht, erkannt zu werden, nicht wagen. Einmal
mehr holte sie die schier unüberwindbare Aufgabe ein,
die sie sich gestellt hatte. Doch dann erinnerte sie sich an
das, was sie auf Holcombe erwartete. »Ich werde es schon
schaffen.«
»Wie denn?«, fragte er sie mit einer ersten Spur an Strenge
in der Stimme. »Sie sind zum Umfallen müde.«
Als sie ihre eigenen Zweifel mit einem solchen Nachdruck
formuliert hörte, wurde die Verzweiflung in ihr noch größer.
»Was sein muss, muss sein.«
Sie presste die Lippen zusammen. Ihre mürrische Antwort
beeindruckte ihn genauso wenig wie sie selbst. »Wenn Sie
mir gestatten, biete ich Ihnen an, Sie mitzunehmen.«
Charis wich zurück, als er versuchte, sie zu berühren. Es
schien zu schön, um wahr zu sein. Die Möglichkeit, nach
Portsmouth zu gelangen, war ein Geschenk des Himmels.
Ihre Stiefbrüder würden ihr bestimmt schon auf den Fersen
sein. Wenn sie mit diesem Fremden mitginge, könnte sie Boden
gutmachen. Und nicht nur das; ihre Stiefbrüder würden
darüber hinaus nur nach einer jungen Frau fragen, die alleine
reiste.
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.« Ihre Worte
sollten endgültig klingen, doch ihre Verletzungen ließen sie
schleppend und undeutlich sprechen.
»Meine Reise geht ohnehin in Richtung Süden.« Sein Gesichtsausdruck
wurde düster. »Das Gebot der Ritterlichkeit
verbietet mir, eine Frau dem Wohlwollen der Schurken zu
überlassen, denen sie auf der Straße begegnen könnte.«
Trotz schlechter körperlicher Verfassung und aufkeimender
Angst musste Charis grimmig lachen. Sie machte
eine abweisende Geste mit ihrer unverletzten Hand. »Ritter-
lichkeit ist selbst in den allerbesten Zeiten eine Eigenschaft,
auf die man sich nicht verlassen sollte.«
»Sie haben mein Wort als Ehrenmann, dass Ihnen bei
mir nichts passiert, Miss Watson«, erwiderte er, ohne zu lächeln.
Sie hatte in letzter Zeit so viele Lügen gehört, dass sie einfach
davon ausgehen musste, dass alles, was aus dem Mund
eines Mannes kam, gelogen war. Doch eigenartigerweise
glaubte sie ihm, als er ihr sein Wort gab.
Mein Gott, wenn dieser Mann sie vergewaltigen wollte,
hätte er es bestimmt inzwischen schon getan. Alle ihre Sinne
hielten ihn für dieses Hirngespinst.
Einen wahren Ehrenmann.
Oder war sie einfach nur von seinem bemerkenswerten
Aussehen geblendet? Sie war schutzlos und erschöpft. Unaufhörlicher
Schmerz vernebelte ihre Sinne. Sie fürchtete um
ihr Leben.
Die Pause zog sich und ging über in eine angespannte Stille.
Hätte er versucht, sie zu überreden, sie wäre ohne wenn
und aber gegangen. Doch er ließ ihr Zeit, sich zu entscheiden.
Nur an seinen gestrafften Schultern unter der hervorragend
geschnittenen Jacke war zu erkennen, dass ihre Antwort
ihm nicht gleichgültig war und er sie mit Spannung erwartete.
Schließlich seufzte sie. Es klang nach Einverständnis.
Angst schnürte ihr die Kehle zu, aber ihre Verzweiflung war
stärker. Während sie sich fragte, ob sie sich gerade auf die
Seite des Teufels geschlagen hatte, nickte sie kurz. »Dann
nehme ich Ihre Hilfe dankend an.«
»Zuallererst aber bringen wir Sie zu einem Arzt.«
Einen kurzen Moment lang hatte sich ihre laut pochende
Furcht in ein entfernt klingendes Trommeln verwandelt. Die
Möglichkeit zur Flucht hatte ihr zugewinkt wie das rettende
Boot einem ertrinkenden Menschen. Nun erinnerten seine
Worte sie daran, dass das rettende Ufer noch nicht erreicht
war. Und vielleicht würde sie es auch nicht erreichen, außer
mit viel Glück und Verstand.
Jeder Arzt in Winchester würde sie sofort erkennen. Sie
schüttelte abweisend den Kopf. »Ich brauche keinen Arzt.
Meine Verletzungen sind nicht so schlimm, wie sie aussehen.
«
Sie wartete auf einen Einwand, doch es kam keiner. »In
Ordnung. Kein Arzt.«
Erleichtert sackte sie zusammen, obwohl sie versuchte,
ihre heftige Reaktion zu verbergen. Anscheinend war sie
auf den unglaublichsten Ehrenmann des Landes gestoßen.
Bisher nahm er ihre Geschichte für bare Münze, ohne einen
Moment daran zu zweifeln.
Eigenartig, sie hatte ihn nicht für einen Dummkopf gehalten.
Aus diesen wachsamen, dunklen Augen sprach Intelligenz.
Vielleicht war er einfach nur naiv. Noch ein Grund mehr,
mit ihm zu gehen. So würde sie ihm ohne Schwierigkeiten in
Portsmouth entwischen können.
Was sie danach machen würde, lag noch völlig im Dunkeln.
Sie besaß weder Geld noch hatte sie Freunde. Zumindest
nicht solche, die sie der Gefahr einer Verfolgung aussetzen
könnte. Ihre Stiefbrüder hatten bereits ihre einzige nahe
Verwandte, ihre Großtante, so sehr in Angst und Schrecken
versetzt, dass sie sie ihnen ausgehändigt hatte. Sie trug ein
goldenes Medaillon und den Perlenring ihrer Mutter, nichts
davon war sehr wertvoll. Irgendwo musste sie sich in den
nächsten drei Wochen verstecken. Das erdrückende Dilemma,
in dem sie sich befand, ließ sie erschauern.
Eins nach dem anderen. Sie vertrieb ihre Verzagtheit. Zuerst
musste sie unerkannt aus Winchester herauskommen.
»Gideon.«
Es war die Stimme eines Mannes, die da aus Richtung der
Stalltür kam. Charis schreckte auf, sah noch einmal nach ihren
Verletzungen und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht
wich. Ihr Retter streckte die Hände aus, hielt dann
aber mitten in der Bewegung inne, um sie nicht zu berühren.
»Seien Sie unbesorgt. Er ist ein Freund.«
Da war sie wieder, diese ihm angeborene Autorität. Charis
blieb dort stehen, wo sie war, obwohl ihr das Herz bis zum
Hals schlug und der kalte Schweiß ausbrach.
»Ich bin hier«, rief Gideon, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden.
Ein weiterer Mann, so groß wie ihr Retter, schlank, dunkel
und offensichtlich ausländischer Herkunft, obwohl er vornehme,
maßgeschneiderte Kleidung aus London trug, spazierte
ins Blickfeld. »Wen hast du denn da?«
»Miss Watson, das ist Akash. Akash, darf ich dir Miss Sarah
Watson vorstellen. Sie ist überfallen worden und braucht
Hilfe.«
Akashs glänzende braune Augen ruhten auf Charis. Sie wartete
darauf, dass er sie nach ihrer fadenscheinigen Geschichte
fragte. Doch nach einer Pause zog er nur eine fein geschwungene,
schwarze Augenbraue in Richtung Gideon hoch.
»Ich gehe davon aus, wir bleiben hier nicht über Nacht?«
Seine Stimme klang durch und durch englisch, obwohl er
aussah, als sei er einem arabischen Märchen entsprungen.
»Du weißt, dass ich eilig nach Penrhyn muss.«
»In der Tat«, sagte er mit neutralem Ton.
»Ja, über Portsmouth.«
»Es war mir schon immer ein dringender Wunsch, Portsmouth
kennenzulernen.« Die Aussicht, der Kälte trotzen zu
müssen, um einer Fremden zu helfen, ließ Akash vollkommen
ungerührt. Zu ungerührt.
Plötzlich fühlte sich Charis ganz und gar nicht mehr sicher.
Sich in die Hände zweier ihr unbekannter Männer zu
begeben war die Krönung an Dummheit. Dass sie ihrer dünnen
Geschichte so schnell Glauben geschenkt hatten, schien
eher verdächtig als beruhigend zu sein.
Mit zittrigen Beinen ging sie zurück zu Khan, der sanft in
ihr Ohr wieherte. »Ich darf mich Ihnen und Ihrer Gutmütigkeit
nicht aufdrängen. Ich werde mich alleine auf den Weg
zu meiner Tante machen.«
»Kein Ehrenmann würde einen solchen Plan gutheißen,
Miss Watson.« Gideon hörte sich unnachgiebig an.
So konnte sie auch klingen. »Trotzdem werde ich gehen.«
Gideon lächelte kurz zu seinem Begleiter hinüber. Einen
kurzen Moment lang erstrahlte sein Gesicht vor Vergnügen.
Seine dunklen Augen funkelten, kleine Falten bildeten sich
auf seinen Wangen und um die Augen, und gerade, weiße
Zähne blitzten auf.
Charis' Herz hörte mit einem Ruck auf zu schlagen, um
dann unberechenbar zu rasen. Trotz der Angst, der Schmerzen
und des Misstrauens sehnte sie sich törichterweise nach
nichts anderem, als ihn wieder lächeln zu sehen.
Sie anlächeln zu sehen.
»Ich glaube, Akash, du hast dem jungen Ding Angst eingejagt.«
Sie überging Akashs leises Lachen und schaute Gideon mit
finsterem Blick an. »Ich muss doch sehr bitten, Sir. Ich bin
kein junges Ding.«
»Würden Sie sich besser fühlen, wenn ich Ihnen das hier
gäbe?«
Sie schaute nach unten und sah, dass er ihr eine kleine Duellpistole
reichte. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er in
seine Jacke gegriffen hatte.
Die Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel »Captive of Sin« bei Avon Books,
an imprint of HarperCollinsPublishers, New York
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe August 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2009 by Anna Campbell
Copyright © 2010 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe
Random House, München
Published by Arrangement with Karen Schwartz.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München,
unter Verwendung eines Motivs von Pino Daeni
via Agentur Schlück GmbH
Redaktion: Barbara Müller
LH . Herstellung: sam
Satz: DTP Service Apel, Hannover
eISBN 978-3-641-03927-1
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Autoren-Porträt von Anna Campbell
Anna Campbell wurde in Brisbane, Australien, geboren. Aufgewachsen auf einer Avocado-Farm, war ihr liebstes Hobby als Kind das Lesen. Schon während der Schulzeit begann sie zudem, eifrig zu schreiben. In den vergangenen Jahren verfasste sie eine beträchtliche Anzahl von unveröffentlichten historischen Romanen und Kurzgeschichten, doch erst mit dem Liebesroman Rebellische Küsse gelang ihr der weltweite Durchbruch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anna Campbell
- 2010, 477 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Irene Eisenhut
- Übersetzer: Irene Eisenhut
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442375452
- ISBN-13: 9783442375455
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