Firmin
Ein Rattenleben. Sam Savage erzählt in diesem gefeierten Kultbuch die traurig-charmante Geschichte eines verkannten Außenseiters. Firmin wächst im Keller einer Bostoner Buchhandlung auf. Dort liest er sich Buch für Buch durch die Weltliteratur. Er entdeckt,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Firmin “
Ein Rattenleben. Sam Savage erzählt in diesem gefeierten Kultbuch die traurig-charmante Geschichte eines verkannten Außenseiters. Firmin wächst im Keller einer Bostoner Buchhandlung auf. Dort liest er sich Buch für Buch durch die Weltliteratur. Er entdeckt, wie spannend das Leben der Menschen ist, und macht sich auf, ihre Freundschaft zu suchen... »Firmin ist ein Buch, das für Leser geschrieben wurde, für Leute, die leidenschaftlich gern lesen und denen Bücher genauso real erscheinen wie die Wirklichkeit. Vielleicht realer.« (Donna Leon)
Klappentext zu „Firmin “
'Boston in den 60er Jahren. Im schäbigen Keller der Buchhandlung am Scollay Square wird Rattenjunge Firmin geboren. Er ist der Kleinste im Wurf und kommt immer zu kurz. Als der Hunger eines Tages zu schlimm wird, knabbert er die in den Regalen lagernden Bücher an. Eines nach dem anderen wird gefressen, bis Firmin entdeckt, dass auf dem Papier etwas steht, was ihn sein Elend vergessen lässt: Ob Lolita oder Ford Madox Ford, ob Moby Dick oder Cervantes, die Welt der Menschen verspricht Abenteuer und Liebe, Krieg und Frieden, kurz: alles, was eine Ratte nicht hat. Voller Neugier sucht Firmin die Freundschaft zu Buchhändler Norman. Als dieser einen Giftanschlag auf ihn verübt, muss Firmin einsehen, dass er in den Augen der Menschen wohl doch nichts weiter ist als ein lästiges Tier. Wie so oft im Leben zeigt sich aber gerade in den dunkelsten Stunden ein Licht am Ende des Tunnels. Sam Savages Roman erzählt von den Hoffnungen und Idealen der Beat-Generation und von der Fähigkeit, immer wieder aufzustehen, möge es noch so hart kommen.
Lese-Probe zu „Firmin “
Firmin – Ein Rattenleben von Sam Savage Kapitel I ... mehr
ICH HATTE MIR IMMER VORGESTELLT, dass meine Lebenserinnerungen, wenn ich sie jemals niederschreiben sollte, mit einem großartigen ersten Satz anfangen müssten: mit etwas Lyrischem wie Nabokovs »Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden« oder, falls Lyrik nicht so mein Ding ist, vielleicht mit etwas Aphoristischem wie Tolstois »Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich«. An solche Sätze erinnert man sich, wenn man alles andere in diesen Romanen schon längst vergessen hat. Den ersten Preis verdient meiner Meinung nach die Zeile, mit der Ford Madox Ford seinen berühmtesten Roman beginnt: »Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe.« Das habe ich bestimmt schon Dutzende von Malen gelesen, es haut mich aber immer wieder um. Ford Madox Ford war ein ganz Großer. Seit ich um mein Debüt als Schriftsteller kämpfe, habe ich mit keiner Problemstellung so mannhaft – jawohl, das ist der richtige Ausdruck: mannhaft – gekämpft wie mit der Frage nach dem großartigen ersten Satz. Ich dachte immer, wenn mir der gelingt, würde sich alles Weitere von selbst ergeben. Diesen ersten Satz stellte ich mir als eine Art Mutterschoß vor, in dem es vor ungeschriebenen Seiten nur so wimmelt, genialen Kleinodien, die ungeduldig das Licht der Welt erblicken wollen. Aus diesem Schoß würde die ganze Erzählung sozusagen hervorquellen. Kompletter Unsinn! Das Gegenteil ist richtig. Und das liegt nicht etwa daran, dass es keine großartigen ersten Sätze gibt. Lassen Sie sich zum Beispiel folgenden auf der Zunge zergehen: »Als das Telefon um drei Uhr nachts klingelte, wusste Morris Monk, noch bevor er den Hörer abnahm, dass der Anruf von einer Dame kam, und er wusste außerdem: Damen bedeuteten Probleme.« Oder diesen: »Unmittelbar bevor er von Gamels sadistischen Soldaten in Stücke gehauen wurde, überkam Colonel Benchley die Vision des kleinen weißen Hauses in Shropshire mit Mrs Benchley im Eingang und mit den Kindern.« Oder diesen: »Paris, London, Dschibuti, das kam ihm jetzt alles unwirklich vor, als er wieder vor den Überbleibseln eines Thanksgiving-Essens saß neben seiner Mutter, seinem Vater und diesem Blödmann Charles.« Sätze wie diese machen auf jeden Fall Eindruck. Sie sind so bedeutungsschwanger, ja, ich möchte sagen, so bedeutungsgeladen, dass sie schier platzen vor ganzen ungeschriebenen Kapiteln – noch ungeschrieben, aber doch vorhanden, schon da! Leider, leider waren sie in Wirklichkeit nichts als Seifenblasen, Trugbilder allesamt. Jeder dieser wundervollen, vielversprechenden Sätze war wie ein Geschenk in den Händen eines neugierigen Kindes, in der Schachtel bloß Schotter und Schmutz, doch wie verführerisch das rasselte! Das Kind denkt: Bonbons! Ich dachte, es sei Literatur. All diese Sätze – und noch viele, viele mehr – stellten sich keineswegs als Sprungbrett in den großen, ungeschriebenen Roman heraus, sondern als unüberwindliche Barriere. Sie waren einfach zu gut. Ich könnte ihnen niemals gerecht werden. Einige Autoren erreichen nie wieder das Niveau ihres ersten Romans. Ich konnte nie das Niveau meiner großartigen ersten Sätze halten. Und nun schauen Sie mich an. Wie habe ich das hier angefangen, mein Hauptwerk, mein Opus magnum? »Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Lebenserinnerungen, wenn ich sie jemals niederschreiben sollte …« »Wenn ich … jemals … sollte « – du liebe Güte! Ein klarer Fall von hoffnungslos.
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Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe. Sie fängt wie alle wahren Geschichten irgendwo an. Die Suche nach ihrem Anfang kommt dem Versuch gleich, die Quelle eines Flusses zu entdecken. Monatelang paddelst du unter sengender Sonne stromaufwärts, links und rechts ragen triefnasse Urwaldwände empor, durchweichte Landkarten lösen sich in deinen Händen auf. Falsche Hoffnungen, dichte Schwärme stechender und beißender Insekten sowie die Kapriolen deines Gedächtnisses machen dich fast wahnsinnig, und was hast du am Ende erreicht? Was ist die ultima Thule deiner ganzen lachhaften Entdeckungsreise? Ein Sumpfloch im Urwald, mehr nicht. Oder auf eine Geschichte übertragen: eine vollkommen belanglose Äußerung oder Handlung. Trotzdem, irgendwo an einer mehr oder weniger willkürlich ausgesuchten Stelle zwischen dem Sumpfloch und dem Meer sticht der Kartograf seinen Kompass ins Blatt, und genau da entspringt nun der Amazonas. Bei mir, dem Seelenkartografen, ist es genauso, wenn ich mich auf die Suche nach dem Anfang meiner Biografie mache. Also schließe ich die Augen und steche irgendwo hin. Ich mache die Augen wieder auf und erkenne einen flüchtigen Moment, durchbohrt von meiner Kompassnadel: »13. April 1961, 15:17 Uhr«. Ich kneife die Augen zusammen und stelle sie scharf. Zitternadel, wo zeigst du hin, wo ist das Kerlchen ohne Kinn? Und schon erscheine ich auf der Bildfläche – ich, wie ich früher mal ausgesehen habe. Zaghaft spähe ich über die Kante eines Balkons, man erkennt nur meine Nasenspitze und ein Auge. Dieser Balkon war ein günstiger Posten für einen Beobachter, einen heimlichen wie mich. Von da oben konnte ich den gesamten Laden überblicken, ohne dass mich jemand von unten hätte entdecken können. An dem Tag war der Laden voll, es waren mehr Kunden da als gewöhnlich an Werktagen, ihr Gemurmel erfüllte angenehm den Raum. Es war ein schöner Nachmittag im Frühling, und einige der Leute da unten waren vermutlich ein bisschen bummeln gegangen mit etwas Zeit und ohne Ziel, als ihre Aufmerksamkeit von einem großformatigen, handgemalten Plakat im Schaufenster des Ladens angezogen wurde: 30% RABATT AUF JEDEN EINKAUF ÜBER 20 DOLLAR. Damals verstand ich davon noch nichts, ich meine davon, davon,
was diese Kunden in den Laden gelockt hatte, weil ich ja vom Tauschwert des Geldes noch nichts wusste. Überhaupt brauchen der Balkon, der Laden, die Kundschaft, ja, sogar der Frühling so viele Erklärungen und Exkurse, dass darunter der Erzählfluss leiden würde, den ich mir lieber rasant vorstelle. Ich bin offensichtlich zu weit gegangen – in meiner Begeisterung, die ganze Geschichte in Gang zu setzen, bin ich über das Ziel hinausgeschossen. Wir wissen vielleicht nie, wann und wo eine Geschichte anfängt, aber manchmal können wir doch sagen, wo sie mit Sicherheit nicht beginnt, da nämlich, wo der Wasserlauf bereits Fluss ist.
Ich schließe die Augen und steche wieder irgendwo hin. Wieder zittert die Kompassnadel. Ich entfalte den flüchtigen Augenblick und stecke vorsichtig dessen Flügel auf dem Tisch fest: »9. November 1960, 1:42 Uhr«. Es war nasskalt auf dem Scollay Square in Boston, und die arme unerfahrene Flo – die ich schon bald Mam nennen würde – hatte in der Cornhill im Keller eines Ladens Unterschlupf gefunden. In Todesangst hatte sie es fertiggebracht, sich in den äußersten Winkel eines breiten Spalts zwischen einem Metallrohr und der Betonmauer zu quetschen, wo sie nun zusammengekauert
hockte und vor Furcht und Kälte zitterte.
Von der höher gelegenen Straße her konnte sie hören, wie Geschrei und Gelächter über den Scollay Square hinweghallte. Diesmal hätten die sie fast erwischt – fünf Burschen in Matrosenanzügen, die herumtrampelten, kickten und brüllten wie die Verrückten. Sie war im Zickzack erst hierhin geflitzt, dann dorthin, um die Kerle zu täuschen, und in der Hoffnung, dass sie sich gegenseitig umrennen würden. Aber dann war eine blank geputzte Schuhspitze gegen ihre Rippen geknallt und hatte sie quer über den Gehweg durch die Luft geschleudert. Wie sie sich retten konnte?
So, wie wir uns alle immer retten. Durch ein Wunder: Dunkelheit, Regen, eine angelehnte Haustür oder der verknackste Fuß eines Verfolgers. Verfolgen und Entkommen in Amerikas Städten. In wilder Panik hatte sie es fertiggebracht, sich irgendwie um das gebogene Metallding herumzuschlängeln und dahinter zu verstecken, wo sie nur ein schwacher Lichtschimmer aus dem Keller erreichte. Und da blieb sie nun lange sitzen, ohne sich zu rühren. Um den Schmerz an den Rippen zu lindern, schloss sie die Augen und konzentrierte ihre Gedanken auf die köstliche Wärme, die langsam ihren ganzen Körper durchflutete. Das Metallding strahlte eine wohlige Wärme aus. Seine emaillierte Glätte fühlte sich weich an, sie schmiegte ihren zitternden Körper daran. Vielleicht schlief sie ein. Ich bin mir sogar sicher: Sie schlief dort und wachte erfrischt auf. Nicht lange, und sie wird sich voller Angst und Bangen aus ihrer Höhle hervorgewagt und in den Kellerraum hineingetraut haben. Eine schwach summende Neonröhre hing da an zwei verdrehten Kabeln unter der Decke und tauchte ihre ganze Umgebung in ein bläuliches Flimmern. Sagte ich »ihre Umgebung«? Dass ich nicht lache. Meine Umgebung! Denn rings um sie herum, wohin sie auch blickte, gab es nichts als Bücher. An jeder Wand standen bis unter die Decke reichende unlackierte Holzregale, vollgestellt mit Büchern, Reihe um Reihe. In der Mitte verlief ein etwa brusthoher Raumteiler, auf beiden Seiten ebenfalls vollgestopfte Regale. Bücher meist größeren Formats lagen quer über die Buchreihen gequetscht. Andere wuchsen in zikkuratartigen Stufentürmen aus dem Boden oder lagen in wackligen Stapeln oder rutschenden Haufen oben auf dem Raumteiler. Dieser warme, muffige Ort, an dem sie Zuflucht gefunden hatte, war ein Büchermausoleum, ein Museum vergessener Kostbarkeiten, ein Friedhof der Ungelesenen und der Unlesbaren. Alte Schwarten mit Ledereinband, aufgeplatzt und angeschimmelt, standen Rücken an Rücken zwischen Ramschware neueren Datums, bei der die vergilbten Seiten an den Rändern schon braun und brüchig wurden. Da gab es satteltaschenweise Wildwestromane von Zane Grey, kistenweise düstere Predigtsammlungen, veraltete Lexika, Memoiren aus dem Ersten Weltkrieg, Streitschriften gegen den New Deal, Ratgeber für die Moderne Frau. Aber Flo hatte natürlich keine Ahnung, dass das, was sie da vor sich sah, Bücher waren. Abenteuer auf dem Planeten Erde. Ich male mir gern aus, wie sie auf diese befremdliche Landschaft blickt – ihr liebes, abgespanntes Gesicht, ihre stämmige, nein: ihre rundliche Figur, ihre glitzernden, verschreckten Augen und die entzückende Art, wie sie ihre Nase rümpft. Manchmal lege ich ihr einfach nur so ein kleines blaues Tuch um und knote es unter dem Kinn zusammen – ein bezaubernder Anblick. Meine Mam!
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Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe. Sie fängt wie alle wahren Geschichten irgendwo an. Die Suche nach ihrem Anfang kommt dem Versuch gleich, die Quelle eines Flusses zu entdecken. Monatelang paddelst du unter sengender Sonne stromaufwärts, links und rechts ragen triefnasse Urwaldwände empor, durchweichte Landkarten lösen sich in deinen Händen auf. Falsche Hoffnungen, dichte Schwärme stechender und beißender Insekten sowie die Kapriolen deines Gedächtnisses machen dich fast wahnsinnig, und was hast du am Ende erreicht? Was ist die ultima Thule deiner ganzen lachhaften Entdeckungsreise? Ein Sumpfloch im Urwald, mehr nicht. Oder auf eine Geschichte übertragen: eine vollkommen belanglose Äußerung oder Handlung. Trotzdem, irgendwo an einer mehr oder weniger willkürlich ausgesuchten Stelle zwischen dem Sumpfloch und dem Meer sticht der Kartograf seinen Kompass ins Blatt, und genau da entspringt nun der Amazonas. Bei mir, dem Seelenkartografen, ist es genauso, wenn ich mich auf die Suche nach dem Anfang meiner Biografie mache. Also schließe ich die Augen und steche irgendwo hin. Ich mache die Augen wieder auf und erkenne einen flüchtigen Moment, durchbohrt von meiner Kompassnadel: »13. April 1961, 15:17 Uhr«. Ich kneife die Augen zusammen und stelle sie scharf. Zitternadel, wo zeigst du hin, wo ist das Kerlchen ohne Kinn? Und schon erscheine ich auf der Bildfläche – ich, wie ich früher mal ausgesehen habe. Zaghaft spähe ich über die Kante eines Balkons, man erkennt nur meine Nasenspitze und ein Auge. Dieser Balkon war ein günstiger Posten für einen Beobachter, einen heimlichen wie mich. Von da oben konnte ich den gesamten Laden überblicken, ohne dass mich jemand von unten hätte entdecken können. An dem Tag war der Laden voll, es waren mehr Kunden da als gewöhnlich an Werktagen, ihr Gemurmel erfüllte angenehm den Raum. Es war ein schöner Nachmittag im Frühling, und einige der Leute da unten waren vermutlich ein bisschen bummeln gegangen mit etwas Zeit und ohne Ziel, als ihre Aufmerksamkeit von einem großformatigen, handgemalten Plakat im Schaufenster des Ladens angezogen wurde: 30% RABATT AUF JEDEN EINKAUF ÜBER 20 DOLLAR. Damals verstand ich davon noch nichts, ich meine davon, davon,
was diese Kunden in den Laden gelockt hatte, weil ich ja vom Tauschwert des Geldes noch nichts wusste. Überhaupt brauchen der Balkon, der Laden, die Kundschaft, ja, sogar der Frühling so viele Erklärungen und Exkurse, dass darunter der Erzählfluss leiden würde, den ich mir lieber rasant vorstelle. Ich bin offensichtlich zu weit gegangen – in meiner Begeisterung, die ganze Geschichte in Gang zu setzen, bin ich über das Ziel hinausgeschossen. Wir wissen vielleicht nie, wann und wo eine Geschichte anfängt, aber manchmal können wir doch sagen, wo sie mit Sicherheit nicht beginnt, da nämlich, wo der Wasserlauf bereits Fluss ist.
Ich schließe die Augen und steche wieder irgendwo hin. Wieder zittert die Kompassnadel. Ich entfalte den flüchtigen Augenblick und stecke vorsichtig dessen Flügel auf dem Tisch fest: »9. November 1960, 1:42 Uhr«. Es war nasskalt auf dem Scollay Square in Boston, und die arme unerfahrene Flo – die ich schon bald Mam nennen würde – hatte in der Cornhill im Keller eines Ladens Unterschlupf gefunden. In Todesangst hatte sie es fertiggebracht, sich in den äußersten Winkel eines breiten Spalts zwischen einem Metallrohr und der Betonmauer zu quetschen, wo sie nun zusammengekauert
hockte und vor Furcht und Kälte zitterte.
Von der höher gelegenen Straße her konnte sie hören, wie Geschrei und Gelächter über den Scollay Square hinweghallte. Diesmal hätten die sie fast erwischt – fünf Burschen in Matrosenanzügen, die herumtrampelten, kickten und brüllten wie die Verrückten. Sie war im Zickzack erst hierhin geflitzt, dann dorthin, um die Kerle zu täuschen, und in der Hoffnung, dass sie sich gegenseitig umrennen würden. Aber dann war eine blank geputzte Schuhspitze gegen ihre Rippen geknallt und hatte sie quer über den Gehweg durch die Luft geschleudert. Wie sie sich retten konnte?
So, wie wir uns alle immer retten. Durch ein Wunder: Dunkelheit, Regen, eine angelehnte Haustür oder der verknackste Fuß eines Verfolgers. Verfolgen und Entkommen in Amerikas Städten. In wilder Panik hatte sie es fertiggebracht, sich irgendwie um das gebogene Metallding herumzuschlängeln und dahinter zu verstecken, wo sie nur ein schwacher Lichtschimmer aus dem Keller erreichte. Und da blieb sie nun lange sitzen, ohne sich zu rühren. Um den Schmerz an den Rippen zu lindern, schloss sie die Augen und konzentrierte ihre Gedanken auf die köstliche Wärme, die langsam ihren ganzen Körper durchflutete. Das Metallding strahlte eine wohlige Wärme aus. Seine emaillierte Glätte fühlte sich weich an, sie schmiegte ihren zitternden Körper daran. Vielleicht schlief sie ein. Ich bin mir sogar sicher: Sie schlief dort und wachte erfrischt auf. Nicht lange, und sie wird sich voller Angst und Bangen aus ihrer Höhle hervorgewagt und in den Kellerraum hineingetraut haben. Eine schwach summende Neonröhre hing da an zwei verdrehten Kabeln unter der Decke und tauchte ihre ganze Umgebung in ein bläuliches Flimmern. Sagte ich »ihre Umgebung«? Dass ich nicht lache. Meine Umgebung! Denn rings um sie herum, wohin sie auch blickte, gab es nichts als Bücher. An jeder Wand standen bis unter die Decke reichende unlackierte Holzregale, vollgestellt mit Büchern, Reihe um Reihe. In der Mitte verlief ein etwa brusthoher Raumteiler, auf beiden Seiten ebenfalls vollgestopfte Regale. Bücher meist größeren Formats lagen quer über die Buchreihen gequetscht. Andere wuchsen in zikkuratartigen Stufentürmen aus dem Boden oder lagen in wackligen Stapeln oder rutschenden Haufen oben auf dem Raumteiler. Dieser warme, muffige Ort, an dem sie Zuflucht gefunden hatte, war ein Büchermausoleum, ein Museum vergessener Kostbarkeiten, ein Friedhof der Ungelesenen und der Unlesbaren. Alte Schwarten mit Ledereinband, aufgeplatzt und angeschimmelt, standen Rücken an Rücken zwischen Ramschware neueren Datums, bei der die vergilbten Seiten an den Rändern schon braun und brüchig wurden. Da gab es satteltaschenweise Wildwestromane von Zane Grey, kistenweise düstere Predigtsammlungen, veraltete Lexika, Memoiren aus dem Ersten Weltkrieg, Streitschriften gegen den New Deal, Ratgeber für die Moderne Frau. Aber Flo hatte natürlich keine Ahnung, dass das, was sie da vor sich sah, Bücher waren. Abenteuer auf dem Planeten Erde. Ich male mir gern aus, wie sie auf diese befremdliche Landschaft blickt – ihr liebes, abgespanntes Gesicht, ihre stämmige, nein: ihre rundliche Figur, ihre glitzernden, verschreckten Augen und die entzückende Art, wie sie ihre Nase rümpft. Manchmal lege ich ihr einfach nur so ein kleines blaues Tuch um und knote es unter dem Kinn zusammen – ein bezaubernder Anblick. Meine Mam!
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Autoren-Porträt von Sam Savage
Sam Savage wurde in South Carolina geboren und lebt heute in Madison, Wisconsin. Er promovierte in Philosophie, unterrichtete auch kurzfristig, arbeitete als Tischler, Fischer, Drucker und reparierte Fahrräder.Susanne Aeckerle, geb. 1942 in Lindau/Bodensee. 1975 Mitbegründerin des ersten deutschen Frauenbuchladens in München. Später Geschäftsführerin eines Schallplattenvertriebs und Herausgeberin einer Frauenmusikzeitschrift. Von 1981-90 Redakteurin und Chefin vom Dienst bei der Zeitschrift ''Emma'. Sie lebt heute als Übersetzerin, Herausgeberin und freie Lektorin in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sam Savage
- 2009, 208 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übers. v.Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol, Hermann Gieselbusch u. a.
- Übersetzer: Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 354860921X
- ISBN-13: 9783548609218
Rezension zu „Firmin “
»Sam Savage erzählt eine Geschichte über Außenseiter und Ausgeschlossene, über Erniedrigungen und Selbstzweifel, über Kunst als einen Weg, diese zu überwinden, aber auch über Größenwahn und eitle Prätention. Weil Savage dabei nie kitschig wird und sehr deutlich macht, dass manches im Leben noch nicht mal einer Ratte zumutbar, sondern schlicht und einfach eine Riesengemeinheit ist, deshalb ist hier nebenbei große Kunst entstanden.« Denis Scheck/ARD Druckfrisch/07.12.08»Ich garantiere, auch wenn Sie keine Ratten mögen - am Ende ist Firmin ihr Freund.« Dieter Schneider/RBB Antenne Brandenburg/19.12.2008
»Sie mögen keine Ratten? Firmin werden Sie lieben!« 11.08.08/ Heim & Welt
»Originell und zutiefst berührend« 08.08.08/ Hörzu
»Ein erfülltes Rattenleben möchte man sagen, tragisch und komisch zugleich. Vor allem aber: eine Verneigung vor der Literatur ... Schöneres kann man nicht schreiben übers Lesen« 21.08.08/ NDR Kultur (HF)
»Eine charmante Story über Hoffnungen, Ideale - und einenreizenden Außenseiter« 09 / 2008 Maxi
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