Frau Schick räumt auf
Ein herrlich komischer, vergnüglich-weiser und sehr charmanter Roman.
Nelly, 48, hat sich ihren Aufenthalt in Spanien ehrlich gesagt ein bisschen anders vorgestellt. Da lässt sie der feurige Javier, in den sie sich im...
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Produktinformationen zu „Frau Schick räumt auf “
Ein herrlich komischer, vergnüglich-weiser und sehr charmanter Roman.
Nelly, 48, hat sich ihren Aufenthalt in Spanien ehrlich gesagt ein bisschen anders vorgestellt. Da lässt sie der feurige Javier, in den sie sich im Internet verliebt hat, doch glatt mitten im Wald alleine sitzen. Mistkerl. Ein Glück gabelt Frau Schick, 83, sie auf. Die ist nämlich gerade mit ihrem Jaguar samt Chauffeur auf dem Jakobsweg unterwegs und ohnehin von ihren Mitpilgern angenervt. Da kommt ihr die liebeskranke Nelly gerade recht. So beginnt Frau Schick, in Nellys Leben Ordnung zu machen - und stellt fest, dass es auch in ihrem eigenen Leben so einiges zu sortieren gibt.
Lese-Probe zu „Frau Schick räumt auf “
Frau Schick räumt auf von Ellen Jacobi1.
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Der Jaguar schnurrt. Der Asphalt flimmert. Herrlich, diese Pyrenäen.
Wolfhart Herberger nimmt die Kurven der Passstraße in Adagio und Dreivierteltakt. Mal bergauf, mal bergab. Aus dem CD-Player perlen Klavierklänge. Der Sehnsuchtswalzer von Schubert. Nicht zu heiter, nicht zu schwer. Wundervolle Musik, wundervolles Wetter, wundervolle Fahrbahn. Wie von einem Bewegungstherapeuten entworfen, und frisch geteert ist sie auch.
Ganz anders als beim letzten Mal, als er sich zu Fuß und mit Rucksack hier heraufgeschnauft hat. Es ist Jahre her, dass er den Jakobsweg von Anfang bis Ende gegangen ist. Siebenundzwanzig, um genau zu sein. Damals war der Camino noch nicht Mode. Kein spiritueller Sonntagsspaziergang. Nur ein maroder Fuß- und Bußweg für ein überschaubares Grüppchen letzter Katholiken und erster New-Age-Jünger, für versprengte Forschungsreisende und Freaks. Und diesen Pass hier zwischen St. Jean Pierre le Port in Frankreich und Roncesvalles im spanischen Navarra nahmen nur Fanatiker unter die Füße.
Sie wandern mit der Aussicht auf achthundert weitere Kilometer durch Nordspanien, auf unwegsames Gelände und Wetterkapriolen, auf Kletter- und Schlitterpartien, auf Irrwege im Nebel und die linealgerade Folterstrecke durch das sengende Nichts der Meseta. Kein Reiseziel für Zimperliche, die ihr gesamtes Leben gern als sorgenfreies All-inclusive-Paket buchen und bei Regengefahr stornieren.
Wolfhart gönnt sich einen Anflug von Veteranenstolz und milder Melancholie. Er war fünfundzwanzig. Ein Globetrotter voll Tatendrang und Wissensdurst, nebenher wild verliebt, und zwar mehrfach. Seine Beziehungen waren so offen, dass es zog. Na, dieses Kapitel hat er mit seinen reifen zweiundfünfzig Jahren abgeschlossen.
Mit Frömmigkeit hatte er damals nicht viel im Sinn. Mit Ferien und Freizeit schon gar nicht, beides wird von Urlaubern gerne miteinander verwechselt. Frei haben oder zutiefst und in allem frei sein, das sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.
Der Jakobsweg ist immer noch eine Einladung, das zu begreifen. Wer sie missversteht, durchquert immerhin reizvolle Landstriche und darf seine körperlichen Grenzen austesten. So wie die wachsende Schar der rasenden Mountainbike-Pilger. Chacun a son goüt - jeder nach seinem Geschmack, da ist Herberger großzügig.
Er nimmt eine weitere Kehre. Hätte ihm vor siebenundzwanzig Jahren jemand prophezeit, dass er diese Strecke einmal im Jaguar und als Privatchauffeur einer »gnädigen Frau« angehen würde, hätte er demjenigen Prügel angedroht. Dabei ist Chauffeur gar kein schlechter Job, sondern geradezu vergnüglich.
Versonnen lächelt er das Armaturenbrett aus poliertem Wurzelholz an. Chauffeur. Das ist mal was anderes. Genau wie sein neuer Name und der silbrige Vollbart, den er sich zugelegt hat. Er wirft einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Sehr distinguiert, hervorragende Tarnung. Er erkennt sich selbst kaum wieder.
Wolfhart Herberger, wiederholt er stumm. Sein Mund zuckt kurz. Könnte sein, dass die Mission am Ende sogar Spaß macht, auch wenn ihr Ausgang ungewiss ist.
Seinen Vor- und Nachnamen hat er so abgewandelt, dass er sich damit noch gemeint fühlen kann und beides doch anders klingt. Aus dem seltenen althochdeutschen Eckehart hat er den nicht minder seltenen Wolfhart gemacht und aus »Gast« einen »Herberger«. Der neue Nachname passt zum Camino, ist aber eher eine Verneigung vor der Fußballtrainerlegende Sepp Herberger, dem Helden seiner Kindheit.
Als Wolfhart gefällt er sich ganz gut. Das klingt genau wie Eckehart - zu neudeutsch der »Schwertstarke« - ritterlich und kantig zugleich. Er hat als Junge nicht nur gern Konservendosen gegen Garagentore gekickt, sondern auch Sigurdhefte verschlungen, später dann die Artussagen und alle großen Heldenepen. Von Abenteuern hat er immer geträumt und nicht schlecht davon gelebt, auch wenn es phasenweise verdammt anstrengend war und mitunter lebensgefährlich.
Vielleicht sollte er sich, wenn diese Spaniengeschichte erledigt ist, auf Dauer einen zweiten Namen zulegen. Wäre finanziell nicht uninteressant. Er könnte sich dann endlich mit schweren Verbrechen, vielleicht sogar Morden beschäftigen. Das liegt ihm sicherlich. Herberger grinst verwegen. Nichts Blutrünstiges. Nein. Hübsche kleine, elegante, gut durchdachte Morde. Schmerzlos, aber äußerst raffiniert. Würde ihm guttun, zur Abwechslung mal mit der gebotenen intellektuellen Akribie und viel Fingerspitzengefühl Menschen ins Jenseits zu befördern, statt immer nur...
Im Fond des Wagens raschelt etwas. Ah, sie hat ihr kleines Nickerchen beendet.
»Halten Sie irgendwo da vorne an, Wohlfahrt.«
Wolfhart, zum Kreuzdonnerwetter noch mal!, schreit es in ihm. Keinesfalls WOHLFAHRT! So geht das nun schon seit sechs Wochen, obwohl er sie immer wieder korrigiert. Wohlfahrt! Wie klingt denn das? Nach Essen auf Rädern und Briefmarken. Dass er seinen Namen geändert hat, gibt ihr noch lange kein Recht, ihn zu verballhornen. Außerdem weiß sie ja gar nicht, dass er unter falscher Flagge segelt.
Er runzelt die Brauen. Oder ahnt sie etwas?
Nein, unmöglich. Die alte Dame hat ihn als Dr. Wolfhart Herberger und Chauffeur eingestellt. Seine Biografie als ewiger Taxifahrer mit Doktortitel hat sie fraglos akzeptiert. Ist schließlich keine Seltenheit mehr. Sie kann nichts von seiner wahren Identität wissen und schon gar nichts von den Absichten, die er mit dieser albernen Reise verbindet.
2.
Denk an Pamplona!
Nelly strafft die Schultern, stürmt die Stufen zum Düsseldorfer Finanzamt hinauf und öffnet beherzt die Schwingtür zum Foyer. Der Pförtner in der Panzerglasloge hebt flüchtig einen Blick von seiner Zeitung. Er trägt eine Brille mit halben Gläsern und sieht aus wie eine verdrossene Eule. Nelly ist technische Übersetzerin für Gebrauchsanweisungen und Montageanleitungen und hält viel auf ihr Talent, selbst Blicke dolmetschen zu können. Der des Pförtners sagt: »Willkommen bei den lebenden Toten.«
»Ein herrlicher Tag da draußen«, hält sie dagegen. »Kaum zu glauben, dass wir bald September haben.«
Vergeblich. Dieser Mann ist ein begnadeter Griesgram. Nelly muss es wissen. Sie gibt ihre Steuererklärungen seit über zehn Jahren bei ihm ab. Bislang wortlos, aber heute dient der Kerl als ultimativer Crashtest für ihre gute Laune.
Wie heißen noch die Puppen, die man dafür benutzt? Egal, der Pförtner ist der Testwagen, der sie und ihre gute Laune mit zweihundertzwanzig Stundenkilometern gegen die Wand fahren soll. Versuchsweise. Und sie ist ... Wie zum Teufel heißen die dämlichen Puppen? Ach ja, Dummies. Stopp!
Nelly legt eine gedankliche Vollbremsung hin. Dummies ist zwar Englisch und wird daher dammies gesprochen, klingt aber nach Idiotin. Und nein, das ist sie nicht! Nicht mehr, nie mehr. Besser sie nennt das Ganze eine Generalprobe. Genau! Ihre gute Laune muss bombenfest sitzen, bevor sie nachher auf Ricarda trifft. Ricarda ist seit Schultagen ihre beste Freundin und hat bislang nur eine vage Ahnung von der dramatischen Wende in Nellys Seelenleben, das jahrelang emotionales Sperrgebiet war. Ricarda wird natürlich alles wissen und analysieren wollen. Dummerweise ist sie nämlich Psychologin. Werbepsychologin, um genau zu sein. Menschen wie ihr kann man nichts vormachen, und Ricarda ist eine der Besten, wenn es darum geht, Menschen unerfüllbare Träume und Teesorten mit Namen wie »Oase des inneren Friedens« oder »Glücksmomente der Liebe« anzudrehen.
»Mach dir nichts vor, Nelly, die Illusion von Glück im Aufgussbeutel schmeckt den meisten Menschen besser als das anstrengende Bemühen, selbst dafür zu sorgen. Der Tee ist nicht zufällig ein Renner bei Frauen jenseits der vierzig. Sogar du trinkst ihn literweise, während du heimlich irgendwelchen Unsinn über Bestellungen beim Universum liest.«
Papperlapapp! Nellys Glück hängt längst nicht mehr am Faden eines Teebeutels. Das Universum hat geliefert. Jawohl! Und zwar etwas weit Besseres als Teebeutel. Einen Keller voll spanischem Wein - nicht zum Trinken, sondern um darüber zu schreiben - und zwei Wochen Pamplona ! Fürs Erste.
Ach, Pamplona!
Da wollte Nelly immer schon einmal hin, unter anderem, um ein Stück des Jakobswegs zu gehen. In Studententagen, um ein Abenteuer zu erleben, und kurz nach ihrer Scheidung, um in den Trümmern ihres Gefühlslebens nach einem verborgenen Bauplan und Sinn zu forschen und der Vergangenheit auf immer den Rücken zu kehren. Auf genau die Weise, die der legendäre Camino seit Jahrhunderten vorgibt: auf dem Hinweg immer dem Westen und damit dem Sonnenuntergang entgegen, um auf dem Rückweg der Sonne, dem Morgen und einer seelischen Wiedergeburt entgegenzulaufen.
Geklappt hat es mit dem Jakobsweg nie. Aber jetzt darf sie völlig unverhofft zumindest nach Pamplona. Außerdem hat sie jetzt eine Zukunft und muss sich nicht mehr mit Sinnfragen quälen. Wie aus dem Nichts ist die Vergangenheit vorbei und alles Schwere federleicht.
Zurück zur Generalprobe in Sachen gute Laune. Das Stück, das Nelly seit ein paar Wochen einstudiert - nein: in echt und in Farbe erlebt - hat den Titel Nellys wunderbare Reise ins Glück. Es ist eine aufregend neue Rolle für sie. Noch dazu eine Hauptrolle! Nelly will sie überzeugend geben, auch wenn die meisten Menschen und vor allem Ricarda das Ganze als Illusionskunst oder absurdes Theater bezeichnen würden - angesichts ihrer Finanzlage und dem, was man Lebenserfahrungen und Reife nennt.
Nun, die Finanzlage wird sich ab morgen entscheidend bessern, und alles andere auch. Zum Teufel mit der Lebenserfahrung! Man kann täglich neue sammeln. Auch der Pförtner.
»Sie Ärmster«, wendet Nelly sich entschlossen dem Mann im Glaskasten zu, der sie längst ins Land des Vergessens verabschiedet hat. Er behandelt sie, als sei sie so unsichtbar, wie sie sich in den letzten Jahren oft gefühlt hat. Damit ist endgültig Schluss. »Es muss schrecklich sein, bei so einem Sommerwetter in diesem Kabuff zu hocken.«
Das Gesicht des Mannes bleibt umwölkt. Ohne von der Zeitung aufzusehen, schubst er die Dokumentenschublade unter der Trennscheibe hervor. »Einfach reinlegen.«
Mich oder die Steuererklärung?, denkt Nelly. Sie sagt es aber nicht. Von Nelly, der Kratzbürste, hat sie sich dank Yoga und Meditation ebenfalls verabschiedet. Kurzes Ommm, dann versucht sie es weiter mit guter Laune, dem Wetter und positivem Denken: »Wenigstens sind die Abende noch recht lang, da hat man nach Feierabend noch etwas davon.«
»Für sechs Uhr ist Regen angesagt.« Als Miesepeter hat der Pförtner Routine.
»Unmöglich. Der Himmel ist von unendlichem Blau«, widerspricht Nelly tapfer. Gut, das klingt ein wenig zu lyrisch für den Alltagsgebrauch und erst recht für den Pförtner.
»Tatsächlich«, brummt er. Immerhin hebt er seinen Blick und lässt ihn zu den nikotingelben Gardinen wandern, die ihn wahrscheinlich an die glücklichen Zeiten vor dem Rauchverbot erinnern. Sie filtern das Licht der Augustsonne zu einem schmutzigen Grau. Demonstrativ vertieft er sich wieder in die balkendicke Zeitungsschlagzeile.
Es scheint sich um finstere Neuigkeiten zu handeln. Auf diese hat Nelly jedoch überhaupt keine Lust. Sie will nicht vom allgemeinen Jammer angesteckt werden. Trotzdem kneift Nelly die Augen zusammen und buchstabiert die auf dem Kopf stehenden Buchstaben: »TV-Star beschimpft ZDF-Traumschiff als Mumienschlepper und schwimmenden Rentnerknast.« Unterzeile: »Sind wir mit sechzig plus zu alt für Romantik und Glück?«
Dafür ist man nie zu alt, auch nicht mit vierzig plus, findet Nelly.
»Und das sagst ausgerechnet du?«, mischt sich Ricarda in ihre Gedanken. »Bist du nicht die Frau, der ich mal ein Jahresabo für Parship geschenkt habe, das sie nach drei Wochen entnervt gekündigt hat?«
»Da war kein Mann für mich bei.«
»Bei mehr als einer Million männlicher Teilnehmer auf Liebessuche ist keiner für dich dabei? Mein Gott, wie anspruchsvoll kann man noch sein?«
»Ich hasse es, wenn man Sehnsucht und Gefühle für Geschäfte missbraucht. Noch dazu im Internet. Ich bin nicht anspruchsvoll. Ich bin romantisch.«
»Ihr Romantiker seid eine verdammt grausame Spezies. Alle real existierenden Menschen sind in euren Augen minderbemittelte Trottel, die eurer Einzigartigkeit nicht würdig sind. Aber wenn dir das Internet nicht passt - warum versuchst du es dann nicht endlich mit der Realität und deinem Nachbarn? Der arme Ferdinand Fellmann sitzt seit drei Jahren regelmäßig auf deinem Sofa, um dir seine Liebe in tausendundeiner Variante zu verschweigen.«
»Ach der ... « Fellmann ist so romantisch wie Rheumawäsche oder ihr jährlicher Rentenbescheid.
»Das ist kein Grund, den armen Kerl wie eine Nachttischlampe zu behandeln! Schön, dass es sie gibt, und wenn es mal ein bisschen düster in deinem Leben wird, knipst du sie an.«
»Ferdinand hat in meinem Schlafzimmer nicht einmal als Nachttischlampe etwas zu suchen.«
»Dann sag ihm das deutlich, und erlöse ihn von allem Übel und für den Rest der Frauenwelt. Ein Mann wie Ferdinand ist zu kostbar und zu selten, um als Dekomobiliar eines unbelehrbaren Frauenzimmers zu verstauben.«
Nelly unterdrückt einen Seufzer und flüchtet sich zurück in Gegenwart und Finanzamt. Gegen Ricarda gewinnt sie nicht einmal in ihrem eigenen Kopf ein Duell. Sie nestelt ihre Einkommensteuererklärung aus ihrer Aktentasche, wiegt den grässlich amtsbraunen C-4-Umschlag kurz in der Hand und fühlt Panik aufsteigen. Ihre uralte Ich-ende-arm-und-vereinsamt-unter-der-Brücke-Phobie. Ommm ! Denk an Pamplona, Nelly, macht sie sich selbst Mut. Pamplona ! Genau.
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben! Ach, Hesse. Und außerdem: Wo Not ist, wächst das Rettende auch ... Hölderlin! Versonnen lächelnd schiebt sie den Umschlag in die Dokumentenschublade, als handele es sich um eine Gewinnbenachrichtigung und nicht um ihre vorläufige Bankrotterklärung.
Guter, alter Hölderlin, wunderbarer Hesse. So weise und heilsam. Überhaupt: Gedichte. Soll ich denn einen Sommertag dich nennen, dich, der an Herrlichkeit ihn überglänzt? Shakespeare - ein Gigant der Liebeslyrik. Warum nur hat sie nach dem Studium aufgehört, Gedichte zu lesen?
»Weil dein wahres Leben wenig mit Lyrik zu tun hatte, schon gar nicht in Sachen Liebe«, zerraspelt Ricardas Reibeisenstimme ihren Ausflug in die Dichtkunst. Ricarda besitzt keinen Sinn für die Poesie des Herzens und überdies den zersetzenden Charme von Salzsäure.
Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, shananananana, summt es trotzig in Nelly. Es klingt ein bisschen wie Ricarda nach einer Flasche Prosecco. Das ist zwar nicht gerade Shakespeare und schon gar nicht Nellys Musikgeschmack, aber trotzdem irgendwie wahr. Vielleicht sollte sie Ricarda, wenn sie nachher wegen der Blumen und des Briefkastenschlüssels vorbeikommt, tatsächlich dieses Lied vorsingen, anstatt sich in die sinnlose Rechtfertigung ihrer genauen Reiseziele in Pamplona zu verstricken. Oder soll sie einfach behaupten, sie gehe jetzt endlich den Jakobsweg? Nein, das wäre feige, und außerdem müsste sie sich dann etwas über Spiritualität aus dem Supermarkt anhören und darüber, dass das Leben keine Wundertüte ist. Besser, sie bleibt bei der Wahrheit, und die hat mit Wein und einem Winzer, aber nichts mit Wallfahrten zu tun.
Statt Prosecco wird sie gleich jedenfalls einen Cava aufmachen. Einen Cava mit feinster, anhaltender Perlage im Mund und einer überaus lebendigen Nase voll Brot- und Hefearomen, mit knackiger Zitrusfrucht am Gaumen und einem auf der Zunge tanzenden Nachklang spanischer Zeder. Dieses Getränk hat keine Süße, hinter der es sich verstecken muss. Cava Tosantos wird aus allerbesten Grundweinen im traditionellen Rüttelverfahren hergestellt. Ein Brut nature von einzigartiger Noblesse. Klingt doch schon ganz gut für eine technische Übersetzerin, die Jahre ihres Lebens an extern gekühlten Abgasrückführungen, verrippten Kurbelgehäusen und Turbodieselmotoren für Traktoren herumgetüftelt hat. Landmaschinen sind komplizierter als Luxuslimousinen und weit weniger beflügelnd als Sekt. Vorbei! Heute fängt ein neues Leben an. Deine Liebe ist schuld daran ... shananananana!
»Wie bitte?«, dringt dumpf die Stimme des Pförtners durch die Sprechlöcher in der Scheibe.
Mist! Jürgen Marcus summt nicht mehr nur in ihr herum, sondern aus ihr heraus. »Oh, Sie habe ich natürlich nicht gemeint. Ich singe nur gern«, windet Nelly sich heraus.
»Wir sind hier nicht im Kölner Musical Dome.«
Wenigstens hat sie den richtigen Ton getroffen, um den Mann von seiner Zeitung abzulenken. Er zieht mit einem wütenden Ruck die Dokumentenschublade zu sich hin und greift nach Nellys Umschlag. »Gute Laune, hm? Haben wir hier selten, und wenn, dann ist sie meist vorgetäuscht. Neues Leben, pah! «
Verdammt, ihr ist mehr als nur das »Shananananana« rausgerutscht. In letzter Zeit schalten sich ihre stummen Selbstgespräche manchmal auf Laut. Sie redet oder flucht, ohne es zu merken.
»Solange du nicht mehrstimmig bellst, bewegt sich das im normalneurotischen Bereich«, behauptet Ricarda. Für solche Sätze muss man sie einfach lieben. »Berufstätige Singlemütter, die viel zu tun haben und oft allein sind, reden gern mit ihrer Waschmaschine, andere vertrauen sich dem Toaster an. Ältere Frauen bevorzugen Hunde. Kein Grund also zur Sorge, solange du dir selbst ein angenehmer Gesprächspartner bist. Das Leben der meisten Menschen findet ohnehin nur in ihrem Kopf statt und hat mit der Realität wenig zu tun.«
Als Psychologin muss Ricarda das wissen, aber dass Nelly versehentlich im Finanzamt singt - noch dazu ein Lied von Jürgen Marcus -, das fände sie vielleicht doch therapiebedürftig.
»Na, dann wollen wir uns das mal näher anschauen!« Der Pförtner studiert zur Strafe für ihre Gesangseinlage mit amtlicher Miene den Umschlag, anstatt ihn lediglich mit dem Eingangsstempel zu versehen und im Postkorb abzulegen. Will er die Adressanschrift auf Fehler prüfen? Gut, dann also einmal Folter ä la Finanzamt, seufzt Nelly stumm. Jedem seine Berufskrankheit.
Dieser Griesgram sieht aus wie die verhungernde Birkenfeige hinter ihm. Geschieht ihm recht, wenn er demnächst durch ein Callcenter ersetzt wird, das einen in der musikalischen Warteschleife verhungern lässt. Der Pförtner und seine Birkenfeige gehen dann gemeinsam in Rente und kompostieren auf dem Sofa mit Blick auf eine Schrankwand in Buchenimitat vor sich hin, während im Fernsehen das Traumschiff untergeht. Am besten mit Nellys Exmann Jörg an Bord. Der ist Schauspieler und hat kürzlich in einer Folge einen Gastauftritt als graumelierter Conf´erencier und singender Frauenversteher gehabt. Das ist Lichtjahre entfernt von seinen früheren Ambitionen, Deutschlands Antwort auf Bruno Ganz oder der neue Brandauer zu werden. Fehlt nur noch, dass Jörg im Dschungelcamp gedämpfte Känguruhoden verspeist.
Stopp, halt und ommm !, warnt sich Nelly. Das war gehässig. Vielleicht ist sie ja bloß neidisch, weil sie in einem früheren Leben Theaterdramaturgin war, dann Sitcom-Drehbücher verfasst und von einer Filmkarriere geträumt hat, letztlich aber bei Dieselmotoren und Traktorvergasern gelandet ist. Nach Beckys Geburt ist ihr das Händchen für Pointen und Lacher abhanden-gekommen. Jörg hielt Becky für einen Unfall, sie hielt Becky für den größten denkbaren Glücksfall. Jörg, der König aller Narzissten, ging davon aus, dass die Pflege, Ernährung und Finanzierung von Baby Becky, dem Familienglück und ihm selbst in Nellys Verantwortung fiel, während er sich seiner Schauspielkarriere widmen musste, die es damals allerdings nicht gab.
Jörg hatte eine sehr eigenwillige Definition von weiblicher Emanzipation, denn diese sollte vor allem ihm zugutekommen, und tatsächlich hat Nelly es eine Weile mit dem in den Neunzigerjahren grassierenden Superfrauensyndrom versucht: »Ich wuppe Mann, Kind, Küche und Karriere in Korsett und Stöckelschuhen!« Heute weiß sie: Das war ein ganz dummer Fehler, noch dazu ein freiwilliger.
Jörg hat seine total erschöpfte Superfrau bei der Scheidung ganz emanzipiert auf Unterhalt verklagt und zu diesem Zweck Becky und die Rolle des Hausmanns kurzfristig und per Anwalt für sich beansprucht. Damit Nelly mehr arbeiten könne. Und obwohl es ihr fast das Herz zerrissen hat, ist sie damals Ricardas Rat gefolgt, hat auf gerichtliches Gezerre verzichtet und Jörg die Babypflege auf Probe vollständig überlassen. Mit dem erwünschten Ergebnis: Sie bekam Becky zurück, nachdem Jörg drei Monate lang weiblichen Beifall für die demonstrativen Leiden eines verlassenen Vaters, für Windelwechseln in Damentoiletten und publikumswirksame Spielplatzbetreuung im Park genossen hatte. Dann dämmerte es Jörg, dass selbst ein Mann dafür kein Goldenes Bambi kassieren wird. Es sei denn, er spielt die Rolle nicht im wahren Leben, sondern in einer Kinokomödie, die sich nicht ums Windelwechseln, sondern um das unverhoffte neue Liebesglück mit einer hinreißenden Singlemama dreht.
Am Ende hat er es also vorgezogen, ohne Nellys freundliche finanzielle Unterstützung und ein Kleinkind Karriere zu machen. Ein Entschluss, der dadurch befördert wurde, dass Werbefachfrau Ricarda einen französischen Unterhosendesigner überreden konnte, Jörg zu seinem Wäschemodell zu machen. »Mr. Sexy Slip« war ein so durchschlagender Erfolg, dass Werbefilme folgten und ein halbnackter Kurzauftritt mit Gesangseinlage in einem internationalen Kinofilm. Der brachte Jörg - wenn auch nur in Deutschland - den Beinamen »kommender Hollywoodstar« ein. Das ist er nun seit dreizehn Jahren. Ohne merkliche Fortschritte in Richtung Hollywood, aber mit einer Dauerkarte für B-Promi-Partys, Vorabendserien, Musicalrollen, Gastauftritte auf dem Traumschiff und im Tatort, in Talkshowrunden und Jurorenj obs bei Castingshows.
Das alles ist für dich kein Grund, so ein Griesgram wie dieser Pförtner zu sein!, ruft Nelly sich zur Ordnung. Pech nur, dass die schlechte Laune des Pförtners ihre schlechte Laune anzieht wie Bildschirme den Staub.
Aber halt, sie hat doch gute! Und Pam-plo-na. Olé! »Was?«, schreckt der Pförtner sie auf.
»Nichts, ich denke nur an Pamplona.«
»Das wäre ja wohl Spanien, oder? Wir sind hier aber in Düsseldorf, junge Frau.«
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Jaguar schnurrt. Der Asphalt flimmert. Herrlich, diese Pyrenäen.
Wolfhart Herberger nimmt die Kurven der Passstraße in Adagio und Dreivierteltakt. Mal bergauf, mal bergab. Aus dem CD-Player perlen Klavierklänge. Der Sehnsuchtswalzer von Schubert. Nicht zu heiter, nicht zu schwer. Wundervolle Musik, wundervolles Wetter, wundervolle Fahrbahn. Wie von einem Bewegungstherapeuten entworfen, und frisch geteert ist sie auch.
Ganz anders als beim letzten Mal, als er sich zu Fuß und mit Rucksack hier heraufgeschnauft hat. Es ist Jahre her, dass er den Jakobsweg von Anfang bis Ende gegangen ist. Siebenundzwanzig, um genau zu sein. Damals war der Camino noch nicht Mode. Kein spiritueller Sonntagsspaziergang. Nur ein maroder Fuß- und Bußweg für ein überschaubares Grüppchen letzter Katholiken und erster New-Age-Jünger, für versprengte Forschungsreisende und Freaks. Und diesen Pass hier zwischen St. Jean Pierre le Port in Frankreich und Roncesvalles im spanischen Navarra nahmen nur Fanatiker unter die Füße.
Sie wandern mit der Aussicht auf achthundert weitere Kilometer durch Nordspanien, auf unwegsames Gelände und Wetterkapriolen, auf Kletter- und Schlitterpartien, auf Irrwege im Nebel und die linealgerade Folterstrecke durch das sengende Nichts der Meseta. Kein Reiseziel für Zimperliche, die ihr gesamtes Leben gern als sorgenfreies All-inclusive-Paket buchen und bei Regengefahr stornieren.
Wolfhart gönnt sich einen Anflug von Veteranenstolz und milder Melancholie. Er war fünfundzwanzig. Ein Globetrotter voll Tatendrang und Wissensdurst, nebenher wild verliebt, und zwar mehrfach. Seine Beziehungen waren so offen, dass es zog. Na, dieses Kapitel hat er mit seinen reifen zweiundfünfzig Jahren abgeschlossen.
Mit Frömmigkeit hatte er damals nicht viel im Sinn. Mit Ferien und Freizeit schon gar nicht, beides wird von Urlaubern gerne miteinander verwechselt. Frei haben oder zutiefst und in allem frei sein, das sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.
Der Jakobsweg ist immer noch eine Einladung, das zu begreifen. Wer sie missversteht, durchquert immerhin reizvolle Landstriche und darf seine körperlichen Grenzen austesten. So wie die wachsende Schar der rasenden Mountainbike-Pilger. Chacun a son goüt - jeder nach seinem Geschmack, da ist Herberger großzügig.
Er nimmt eine weitere Kehre. Hätte ihm vor siebenundzwanzig Jahren jemand prophezeit, dass er diese Strecke einmal im Jaguar und als Privatchauffeur einer »gnädigen Frau« angehen würde, hätte er demjenigen Prügel angedroht. Dabei ist Chauffeur gar kein schlechter Job, sondern geradezu vergnüglich.
Versonnen lächelt er das Armaturenbrett aus poliertem Wurzelholz an. Chauffeur. Das ist mal was anderes. Genau wie sein neuer Name und der silbrige Vollbart, den er sich zugelegt hat. Er wirft einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Sehr distinguiert, hervorragende Tarnung. Er erkennt sich selbst kaum wieder.
Wolfhart Herberger, wiederholt er stumm. Sein Mund zuckt kurz. Könnte sein, dass die Mission am Ende sogar Spaß macht, auch wenn ihr Ausgang ungewiss ist.
Seinen Vor- und Nachnamen hat er so abgewandelt, dass er sich damit noch gemeint fühlen kann und beides doch anders klingt. Aus dem seltenen althochdeutschen Eckehart hat er den nicht minder seltenen Wolfhart gemacht und aus »Gast« einen »Herberger«. Der neue Nachname passt zum Camino, ist aber eher eine Verneigung vor der Fußballtrainerlegende Sepp Herberger, dem Helden seiner Kindheit.
Als Wolfhart gefällt er sich ganz gut. Das klingt genau wie Eckehart - zu neudeutsch der »Schwertstarke« - ritterlich und kantig zugleich. Er hat als Junge nicht nur gern Konservendosen gegen Garagentore gekickt, sondern auch Sigurdhefte verschlungen, später dann die Artussagen und alle großen Heldenepen. Von Abenteuern hat er immer geträumt und nicht schlecht davon gelebt, auch wenn es phasenweise verdammt anstrengend war und mitunter lebensgefährlich.
Vielleicht sollte er sich, wenn diese Spaniengeschichte erledigt ist, auf Dauer einen zweiten Namen zulegen. Wäre finanziell nicht uninteressant. Er könnte sich dann endlich mit schweren Verbrechen, vielleicht sogar Morden beschäftigen. Das liegt ihm sicherlich. Herberger grinst verwegen. Nichts Blutrünstiges. Nein. Hübsche kleine, elegante, gut durchdachte Morde. Schmerzlos, aber äußerst raffiniert. Würde ihm guttun, zur Abwechslung mal mit der gebotenen intellektuellen Akribie und viel Fingerspitzengefühl Menschen ins Jenseits zu befördern, statt immer nur...
Im Fond des Wagens raschelt etwas. Ah, sie hat ihr kleines Nickerchen beendet.
»Halten Sie irgendwo da vorne an, Wohlfahrt.«
Wolfhart, zum Kreuzdonnerwetter noch mal!, schreit es in ihm. Keinesfalls WOHLFAHRT! So geht das nun schon seit sechs Wochen, obwohl er sie immer wieder korrigiert. Wohlfahrt! Wie klingt denn das? Nach Essen auf Rädern und Briefmarken. Dass er seinen Namen geändert hat, gibt ihr noch lange kein Recht, ihn zu verballhornen. Außerdem weiß sie ja gar nicht, dass er unter falscher Flagge segelt.
Er runzelt die Brauen. Oder ahnt sie etwas?
Nein, unmöglich. Die alte Dame hat ihn als Dr. Wolfhart Herberger und Chauffeur eingestellt. Seine Biografie als ewiger Taxifahrer mit Doktortitel hat sie fraglos akzeptiert. Ist schließlich keine Seltenheit mehr. Sie kann nichts von seiner wahren Identität wissen und schon gar nichts von den Absichten, die er mit dieser albernen Reise verbindet.
2.
Denk an Pamplona!
Nelly strafft die Schultern, stürmt die Stufen zum Düsseldorfer Finanzamt hinauf und öffnet beherzt die Schwingtür zum Foyer. Der Pförtner in der Panzerglasloge hebt flüchtig einen Blick von seiner Zeitung. Er trägt eine Brille mit halben Gläsern und sieht aus wie eine verdrossene Eule. Nelly ist technische Übersetzerin für Gebrauchsanweisungen und Montageanleitungen und hält viel auf ihr Talent, selbst Blicke dolmetschen zu können. Der des Pförtners sagt: »Willkommen bei den lebenden Toten.«
»Ein herrlicher Tag da draußen«, hält sie dagegen. »Kaum zu glauben, dass wir bald September haben.«
Vergeblich. Dieser Mann ist ein begnadeter Griesgram. Nelly muss es wissen. Sie gibt ihre Steuererklärungen seit über zehn Jahren bei ihm ab. Bislang wortlos, aber heute dient der Kerl als ultimativer Crashtest für ihre gute Laune.
Wie heißen noch die Puppen, die man dafür benutzt? Egal, der Pförtner ist der Testwagen, der sie und ihre gute Laune mit zweihundertzwanzig Stundenkilometern gegen die Wand fahren soll. Versuchsweise. Und sie ist ... Wie zum Teufel heißen die dämlichen Puppen? Ach ja, Dummies. Stopp!
Nelly legt eine gedankliche Vollbremsung hin. Dummies ist zwar Englisch und wird daher dammies gesprochen, klingt aber nach Idiotin. Und nein, das ist sie nicht! Nicht mehr, nie mehr. Besser sie nennt das Ganze eine Generalprobe. Genau! Ihre gute Laune muss bombenfest sitzen, bevor sie nachher auf Ricarda trifft. Ricarda ist seit Schultagen ihre beste Freundin und hat bislang nur eine vage Ahnung von der dramatischen Wende in Nellys Seelenleben, das jahrelang emotionales Sperrgebiet war. Ricarda wird natürlich alles wissen und analysieren wollen. Dummerweise ist sie nämlich Psychologin. Werbepsychologin, um genau zu sein. Menschen wie ihr kann man nichts vormachen, und Ricarda ist eine der Besten, wenn es darum geht, Menschen unerfüllbare Träume und Teesorten mit Namen wie »Oase des inneren Friedens« oder »Glücksmomente der Liebe« anzudrehen.
»Mach dir nichts vor, Nelly, die Illusion von Glück im Aufgussbeutel schmeckt den meisten Menschen besser als das anstrengende Bemühen, selbst dafür zu sorgen. Der Tee ist nicht zufällig ein Renner bei Frauen jenseits der vierzig. Sogar du trinkst ihn literweise, während du heimlich irgendwelchen Unsinn über Bestellungen beim Universum liest.«
Papperlapapp! Nellys Glück hängt längst nicht mehr am Faden eines Teebeutels. Das Universum hat geliefert. Jawohl! Und zwar etwas weit Besseres als Teebeutel. Einen Keller voll spanischem Wein - nicht zum Trinken, sondern um darüber zu schreiben - und zwei Wochen Pamplona ! Fürs Erste.
Ach, Pamplona!
Da wollte Nelly immer schon einmal hin, unter anderem, um ein Stück des Jakobswegs zu gehen. In Studententagen, um ein Abenteuer zu erleben, und kurz nach ihrer Scheidung, um in den Trümmern ihres Gefühlslebens nach einem verborgenen Bauplan und Sinn zu forschen und der Vergangenheit auf immer den Rücken zu kehren. Auf genau die Weise, die der legendäre Camino seit Jahrhunderten vorgibt: auf dem Hinweg immer dem Westen und damit dem Sonnenuntergang entgegen, um auf dem Rückweg der Sonne, dem Morgen und einer seelischen Wiedergeburt entgegenzulaufen.
Geklappt hat es mit dem Jakobsweg nie. Aber jetzt darf sie völlig unverhofft zumindest nach Pamplona. Außerdem hat sie jetzt eine Zukunft und muss sich nicht mehr mit Sinnfragen quälen. Wie aus dem Nichts ist die Vergangenheit vorbei und alles Schwere federleicht.
Zurück zur Generalprobe in Sachen gute Laune. Das Stück, das Nelly seit ein paar Wochen einstudiert - nein: in echt und in Farbe erlebt - hat den Titel Nellys wunderbare Reise ins Glück. Es ist eine aufregend neue Rolle für sie. Noch dazu eine Hauptrolle! Nelly will sie überzeugend geben, auch wenn die meisten Menschen und vor allem Ricarda das Ganze als Illusionskunst oder absurdes Theater bezeichnen würden - angesichts ihrer Finanzlage und dem, was man Lebenserfahrungen und Reife nennt.
Nun, die Finanzlage wird sich ab morgen entscheidend bessern, und alles andere auch. Zum Teufel mit der Lebenserfahrung! Man kann täglich neue sammeln. Auch der Pförtner.
»Sie Ärmster«, wendet Nelly sich entschlossen dem Mann im Glaskasten zu, der sie längst ins Land des Vergessens verabschiedet hat. Er behandelt sie, als sei sie so unsichtbar, wie sie sich in den letzten Jahren oft gefühlt hat. Damit ist endgültig Schluss. »Es muss schrecklich sein, bei so einem Sommerwetter in diesem Kabuff zu hocken.«
Das Gesicht des Mannes bleibt umwölkt. Ohne von der Zeitung aufzusehen, schubst er die Dokumentenschublade unter der Trennscheibe hervor. »Einfach reinlegen.«
Mich oder die Steuererklärung?, denkt Nelly. Sie sagt es aber nicht. Von Nelly, der Kratzbürste, hat sie sich dank Yoga und Meditation ebenfalls verabschiedet. Kurzes Ommm, dann versucht sie es weiter mit guter Laune, dem Wetter und positivem Denken: »Wenigstens sind die Abende noch recht lang, da hat man nach Feierabend noch etwas davon.«
»Für sechs Uhr ist Regen angesagt.« Als Miesepeter hat der Pförtner Routine.
»Unmöglich. Der Himmel ist von unendlichem Blau«, widerspricht Nelly tapfer. Gut, das klingt ein wenig zu lyrisch für den Alltagsgebrauch und erst recht für den Pförtner.
»Tatsächlich«, brummt er. Immerhin hebt er seinen Blick und lässt ihn zu den nikotingelben Gardinen wandern, die ihn wahrscheinlich an die glücklichen Zeiten vor dem Rauchverbot erinnern. Sie filtern das Licht der Augustsonne zu einem schmutzigen Grau. Demonstrativ vertieft er sich wieder in die balkendicke Zeitungsschlagzeile.
Es scheint sich um finstere Neuigkeiten zu handeln. Auf diese hat Nelly jedoch überhaupt keine Lust. Sie will nicht vom allgemeinen Jammer angesteckt werden. Trotzdem kneift Nelly die Augen zusammen und buchstabiert die auf dem Kopf stehenden Buchstaben: »TV-Star beschimpft ZDF-Traumschiff als Mumienschlepper und schwimmenden Rentnerknast.« Unterzeile: »Sind wir mit sechzig plus zu alt für Romantik und Glück?«
Dafür ist man nie zu alt, auch nicht mit vierzig plus, findet Nelly.
»Und das sagst ausgerechnet du?«, mischt sich Ricarda in ihre Gedanken. »Bist du nicht die Frau, der ich mal ein Jahresabo für Parship geschenkt habe, das sie nach drei Wochen entnervt gekündigt hat?«
»Da war kein Mann für mich bei.«
»Bei mehr als einer Million männlicher Teilnehmer auf Liebessuche ist keiner für dich dabei? Mein Gott, wie anspruchsvoll kann man noch sein?«
»Ich hasse es, wenn man Sehnsucht und Gefühle für Geschäfte missbraucht. Noch dazu im Internet. Ich bin nicht anspruchsvoll. Ich bin romantisch.«
»Ihr Romantiker seid eine verdammt grausame Spezies. Alle real existierenden Menschen sind in euren Augen minderbemittelte Trottel, die eurer Einzigartigkeit nicht würdig sind. Aber wenn dir das Internet nicht passt - warum versuchst du es dann nicht endlich mit der Realität und deinem Nachbarn? Der arme Ferdinand Fellmann sitzt seit drei Jahren regelmäßig auf deinem Sofa, um dir seine Liebe in tausendundeiner Variante zu verschweigen.«
»Ach der ... « Fellmann ist so romantisch wie Rheumawäsche oder ihr jährlicher Rentenbescheid.
»Das ist kein Grund, den armen Kerl wie eine Nachttischlampe zu behandeln! Schön, dass es sie gibt, und wenn es mal ein bisschen düster in deinem Leben wird, knipst du sie an.«
»Ferdinand hat in meinem Schlafzimmer nicht einmal als Nachttischlampe etwas zu suchen.«
»Dann sag ihm das deutlich, und erlöse ihn von allem Übel und für den Rest der Frauenwelt. Ein Mann wie Ferdinand ist zu kostbar und zu selten, um als Dekomobiliar eines unbelehrbaren Frauenzimmers zu verstauben.«
Nelly unterdrückt einen Seufzer und flüchtet sich zurück in Gegenwart und Finanzamt. Gegen Ricarda gewinnt sie nicht einmal in ihrem eigenen Kopf ein Duell. Sie nestelt ihre Einkommensteuererklärung aus ihrer Aktentasche, wiegt den grässlich amtsbraunen C-4-Umschlag kurz in der Hand und fühlt Panik aufsteigen. Ihre uralte Ich-ende-arm-und-vereinsamt-unter-der-Brücke-Phobie. Ommm ! Denk an Pamplona, Nelly, macht sie sich selbst Mut. Pamplona ! Genau.
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben! Ach, Hesse. Und außerdem: Wo Not ist, wächst das Rettende auch ... Hölderlin! Versonnen lächelnd schiebt sie den Umschlag in die Dokumentenschublade, als handele es sich um eine Gewinnbenachrichtigung und nicht um ihre vorläufige Bankrotterklärung.
Guter, alter Hölderlin, wunderbarer Hesse. So weise und heilsam. Überhaupt: Gedichte. Soll ich denn einen Sommertag dich nennen, dich, der an Herrlichkeit ihn überglänzt? Shakespeare - ein Gigant der Liebeslyrik. Warum nur hat sie nach dem Studium aufgehört, Gedichte zu lesen?
»Weil dein wahres Leben wenig mit Lyrik zu tun hatte, schon gar nicht in Sachen Liebe«, zerraspelt Ricardas Reibeisenstimme ihren Ausflug in die Dichtkunst. Ricarda besitzt keinen Sinn für die Poesie des Herzens und überdies den zersetzenden Charme von Salzsäure.
Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, shananananana, summt es trotzig in Nelly. Es klingt ein bisschen wie Ricarda nach einer Flasche Prosecco. Das ist zwar nicht gerade Shakespeare und schon gar nicht Nellys Musikgeschmack, aber trotzdem irgendwie wahr. Vielleicht sollte sie Ricarda, wenn sie nachher wegen der Blumen und des Briefkastenschlüssels vorbeikommt, tatsächlich dieses Lied vorsingen, anstatt sich in die sinnlose Rechtfertigung ihrer genauen Reiseziele in Pamplona zu verstricken. Oder soll sie einfach behaupten, sie gehe jetzt endlich den Jakobsweg? Nein, das wäre feige, und außerdem müsste sie sich dann etwas über Spiritualität aus dem Supermarkt anhören und darüber, dass das Leben keine Wundertüte ist. Besser, sie bleibt bei der Wahrheit, und die hat mit Wein und einem Winzer, aber nichts mit Wallfahrten zu tun.
Statt Prosecco wird sie gleich jedenfalls einen Cava aufmachen. Einen Cava mit feinster, anhaltender Perlage im Mund und einer überaus lebendigen Nase voll Brot- und Hefearomen, mit knackiger Zitrusfrucht am Gaumen und einem auf der Zunge tanzenden Nachklang spanischer Zeder. Dieses Getränk hat keine Süße, hinter der es sich verstecken muss. Cava Tosantos wird aus allerbesten Grundweinen im traditionellen Rüttelverfahren hergestellt. Ein Brut nature von einzigartiger Noblesse. Klingt doch schon ganz gut für eine technische Übersetzerin, die Jahre ihres Lebens an extern gekühlten Abgasrückführungen, verrippten Kurbelgehäusen und Turbodieselmotoren für Traktoren herumgetüftelt hat. Landmaschinen sind komplizierter als Luxuslimousinen und weit weniger beflügelnd als Sekt. Vorbei! Heute fängt ein neues Leben an. Deine Liebe ist schuld daran ... shananananana!
»Wie bitte?«, dringt dumpf die Stimme des Pförtners durch die Sprechlöcher in der Scheibe.
Mist! Jürgen Marcus summt nicht mehr nur in ihr herum, sondern aus ihr heraus. »Oh, Sie habe ich natürlich nicht gemeint. Ich singe nur gern«, windet Nelly sich heraus.
»Wir sind hier nicht im Kölner Musical Dome.«
Wenigstens hat sie den richtigen Ton getroffen, um den Mann von seiner Zeitung abzulenken. Er zieht mit einem wütenden Ruck die Dokumentenschublade zu sich hin und greift nach Nellys Umschlag. »Gute Laune, hm? Haben wir hier selten, und wenn, dann ist sie meist vorgetäuscht. Neues Leben, pah! «
Verdammt, ihr ist mehr als nur das »Shananananana« rausgerutscht. In letzter Zeit schalten sich ihre stummen Selbstgespräche manchmal auf Laut. Sie redet oder flucht, ohne es zu merken.
»Solange du nicht mehrstimmig bellst, bewegt sich das im normalneurotischen Bereich«, behauptet Ricarda. Für solche Sätze muss man sie einfach lieben. »Berufstätige Singlemütter, die viel zu tun haben und oft allein sind, reden gern mit ihrer Waschmaschine, andere vertrauen sich dem Toaster an. Ältere Frauen bevorzugen Hunde. Kein Grund also zur Sorge, solange du dir selbst ein angenehmer Gesprächspartner bist. Das Leben der meisten Menschen findet ohnehin nur in ihrem Kopf statt und hat mit der Realität wenig zu tun.«
Als Psychologin muss Ricarda das wissen, aber dass Nelly versehentlich im Finanzamt singt - noch dazu ein Lied von Jürgen Marcus -, das fände sie vielleicht doch therapiebedürftig.
»Na, dann wollen wir uns das mal näher anschauen!« Der Pförtner studiert zur Strafe für ihre Gesangseinlage mit amtlicher Miene den Umschlag, anstatt ihn lediglich mit dem Eingangsstempel zu versehen und im Postkorb abzulegen. Will er die Adressanschrift auf Fehler prüfen? Gut, dann also einmal Folter ä la Finanzamt, seufzt Nelly stumm. Jedem seine Berufskrankheit.
Dieser Griesgram sieht aus wie die verhungernde Birkenfeige hinter ihm. Geschieht ihm recht, wenn er demnächst durch ein Callcenter ersetzt wird, das einen in der musikalischen Warteschleife verhungern lässt. Der Pförtner und seine Birkenfeige gehen dann gemeinsam in Rente und kompostieren auf dem Sofa mit Blick auf eine Schrankwand in Buchenimitat vor sich hin, während im Fernsehen das Traumschiff untergeht. Am besten mit Nellys Exmann Jörg an Bord. Der ist Schauspieler und hat kürzlich in einer Folge einen Gastauftritt als graumelierter Conf´erencier und singender Frauenversteher gehabt. Das ist Lichtjahre entfernt von seinen früheren Ambitionen, Deutschlands Antwort auf Bruno Ganz oder der neue Brandauer zu werden. Fehlt nur noch, dass Jörg im Dschungelcamp gedämpfte Känguruhoden verspeist.
Stopp, halt und ommm !, warnt sich Nelly. Das war gehässig. Vielleicht ist sie ja bloß neidisch, weil sie in einem früheren Leben Theaterdramaturgin war, dann Sitcom-Drehbücher verfasst und von einer Filmkarriere geträumt hat, letztlich aber bei Dieselmotoren und Traktorvergasern gelandet ist. Nach Beckys Geburt ist ihr das Händchen für Pointen und Lacher abhanden-gekommen. Jörg hielt Becky für einen Unfall, sie hielt Becky für den größten denkbaren Glücksfall. Jörg, der König aller Narzissten, ging davon aus, dass die Pflege, Ernährung und Finanzierung von Baby Becky, dem Familienglück und ihm selbst in Nellys Verantwortung fiel, während er sich seiner Schauspielkarriere widmen musste, die es damals allerdings nicht gab.
Jörg hatte eine sehr eigenwillige Definition von weiblicher Emanzipation, denn diese sollte vor allem ihm zugutekommen, und tatsächlich hat Nelly es eine Weile mit dem in den Neunzigerjahren grassierenden Superfrauensyndrom versucht: »Ich wuppe Mann, Kind, Küche und Karriere in Korsett und Stöckelschuhen!« Heute weiß sie: Das war ein ganz dummer Fehler, noch dazu ein freiwilliger.
Jörg hat seine total erschöpfte Superfrau bei der Scheidung ganz emanzipiert auf Unterhalt verklagt und zu diesem Zweck Becky und die Rolle des Hausmanns kurzfristig und per Anwalt für sich beansprucht. Damit Nelly mehr arbeiten könne. Und obwohl es ihr fast das Herz zerrissen hat, ist sie damals Ricardas Rat gefolgt, hat auf gerichtliches Gezerre verzichtet und Jörg die Babypflege auf Probe vollständig überlassen. Mit dem erwünschten Ergebnis: Sie bekam Becky zurück, nachdem Jörg drei Monate lang weiblichen Beifall für die demonstrativen Leiden eines verlassenen Vaters, für Windelwechseln in Damentoiletten und publikumswirksame Spielplatzbetreuung im Park genossen hatte. Dann dämmerte es Jörg, dass selbst ein Mann dafür kein Goldenes Bambi kassieren wird. Es sei denn, er spielt die Rolle nicht im wahren Leben, sondern in einer Kinokomödie, die sich nicht ums Windelwechseln, sondern um das unverhoffte neue Liebesglück mit einer hinreißenden Singlemama dreht.
Am Ende hat er es also vorgezogen, ohne Nellys freundliche finanzielle Unterstützung und ein Kleinkind Karriere zu machen. Ein Entschluss, der dadurch befördert wurde, dass Werbefachfrau Ricarda einen französischen Unterhosendesigner überreden konnte, Jörg zu seinem Wäschemodell zu machen. »Mr. Sexy Slip« war ein so durchschlagender Erfolg, dass Werbefilme folgten und ein halbnackter Kurzauftritt mit Gesangseinlage in einem internationalen Kinofilm. Der brachte Jörg - wenn auch nur in Deutschland - den Beinamen »kommender Hollywoodstar« ein. Das ist er nun seit dreizehn Jahren. Ohne merkliche Fortschritte in Richtung Hollywood, aber mit einer Dauerkarte für B-Promi-Partys, Vorabendserien, Musicalrollen, Gastauftritte auf dem Traumschiff und im Tatort, in Talkshowrunden und Jurorenj obs bei Castingshows.
Das alles ist für dich kein Grund, so ein Griesgram wie dieser Pförtner zu sein!, ruft Nelly sich zur Ordnung. Pech nur, dass die schlechte Laune des Pförtners ihre schlechte Laune anzieht wie Bildschirme den Staub.
Aber halt, sie hat doch gute! Und Pam-plo-na. Olé! »Was?«, schreckt der Pförtner sie auf.
»Nichts, ich denke nur an Pamplona.«
»Das wäre ja wohl Spanien, oder? Wir sind hier aber in Düsseldorf, junge Frau.«
...
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Ellen Jacobi
Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Köln.Bibliographische Angaben
- Autor: Ellen Jacobi
- 560 Seiten, Maße: 15 x 21,9 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009795
- ISBN-13: 9783868009798
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