Fremde Schwestern
Roman. Originalausgabe
Die Schwestern Franke und Lydia sind sich sehr nahe, doch dann kommt es zu einem Bruch. Dann steht die todkranke Lydia eines Tages mit ihrer kleinen Tochter Merle vor Frankas Tür. Franka nimmt Merle nur widerwillig bei sich auf, um sich um sie zu...
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Produktinformationen zu „Fremde Schwestern “
Die Schwestern Franke und Lydia sind sich sehr nahe, doch dann kommt es zu einem Bruch. Dann steht die todkranke Lydia eines Tages mit ihrer kleinen Tochter Merle vor Frankas Tür. Franka nimmt Merle nur widerwillig bei sich auf, um sich um sie zu kümmern - und dann flieht Lydia ans andere Ende der Welt.
Klappentext zu „Fremde Schwestern “
In ihrer Kindheit waren sich die Schwestern Franka und Lydia einmal sehr nah - bis es zum Bruch kam. Eines Tages steht Lydia jedoch todkrank mit ihrer kleinen Tochter Merle vor Frankas Tür. Widerwillig kümmert sich Franka um ihre Nichte, die die Frauen zwingt, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch dann flieht Lydia plötzlich ans andere Ende der Welt ...
Lese-Probe zu „Fremde Schwestern “
Fremde Schwestern von Renate AhrensPROLOG
Lydia hat den Eisring ganz für sich allein. Es ist kalt. Ich sehe ihren Atem. Sie läuft schnell, ihre Bewegungen fließen ineinander, geschmeidig und leicht. Jetzt dreht sie eine Pirouette und gleich darauf noch eine. Warum bin ich hier? Sie tanzt. Ich schaue zu. Es ist immer dasselbe. Plötzlich verliert sie das Gleichgewicht. Sie taumelt und stürzt, schlägt mit dem Hinterkopf auf. Ich schreie, will zu ihr und laufe gegen eine Wand aus Glas. Laufe hin und her. Wo endet die Glaswand? Sie endet nicht. Ich trommele mit den Fäusten gegen das Glas. Es lässt sich nicht zerschlagen. Lydia liegt reglos am Boden. Das Eis um ihren Kopf herum färbt sich dunkelrot.
1.
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Ich höre die Schritte winziger Wesen, Hunderte, Tausende. Sie kommen näher, immer näher. Mein Atem stockt, ich richte mich auf. Es ist dunkel, Jan rührt sich nicht. Plötzlich spüre ich einen kühlen Luftzug im Rücken, und da weiß ich, es ist Regen, der erste Regen seit fast zwei Monaten. Langsam gleite ich wieder unter meine Decke, lasse mich von dem Geräusch in den Schlaf zurücktragen. Später habe ich oft an diesen Moment gedacht, wie der Regen gleichförmig gegen die Fensterscheiben schlug und ich noch nichts ahnte von dem, was sich an diesem Tag ereignen würde.
Das Klingeln an meiner Wohnungstür lässt mich hochschrecken. Zwanzig nach sechs. Wer das denn sei, um diese Zeit, murmelt Jan. Ich fröstele, als ich aufstehe und mir den Bademantel überziehe. Es klingelt wieder, ein penetrantes, ununterbrochenes Klingeln. Ich reiße die Tür auf. Vor mir steht ein kleines Mädchen, durchnässt, in abgerissener Kleidung, ohne Schuhe. »Das hat aber lange gedauert«, sagt es und will an mir vorbei in die Wohnung schlüpfen. »Halt!« Ich schiebe die Tür ein Stück zu. »Wer bist du? Was willst du hier?« »Erkennst du Merle nicht wieder?«, fragt da eine singende Stimme von unten. Lydia. Ich schließe die Augen. Ein paar Sekunden lang fühle ich nichts als das schnelle Pochen in meinem Hals. »Freust du dich gar nicht?« Ich öffne die Augen und blicke in Lydias schmales Gesicht. Abgezehrt und blass sieht sie aus, fast so wie damals, als sie zum ersten Mal in die Klinik eingeliefert werden musste. Ihre nassen Haare hängen in langen Strähnen auf ihren Schultern. Sie trägt eine fleckige, hellrote Hose und ein verblichenes T-Shirt. Um den Mund hat sie den bekannten spöttischen Zug. »Es ist zwanzig nach sechs.« »Ich dachte, eine fleißige Drehbuchautorin wie du steht früh auf.« »Du weißt, dass ich nie früh aufstehe.« »Wer ist da?«, höre ich Jan fragen. Ich drehe mich um und sehe sein Gesicht in der halbgeöffneten Schlafzimmertür. »Meine Schwester und ihre Tochter.« Er zögert. Dann schließt er die Tür wieder. Ich überlege noch, ob ich ihm dafür dankbar bin oder nicht, als Merle verkündet, dass sie mal müsse. Tante Franka werde ihr bestimmt gerne zeigen, wo das Klo sei, antwortet Lydia. Ich will etwas entgegnen, doch da sind sie schon in meiner Wohnung, und ich laufe mit der nach Schweiß und saurer Milch riechenden Merle ins Badezimmer. Es kommt mir plötzlich sehr sauber vor, mit seinen weißen Kacheln, dem Glasregal und den großen Spiegeln. Bevor ich den Raum wieder verlassen kann, zieht Merle ihre Unterhose herunter. Ich starre auf dieses dreckige Stück Stoff. »Was ist?«, fragt Merle. Es könnte Lydias Kindergesicht sein, das mir da entgegenblickt, trotzig und traurig zugleich. Ich schlucke und gehe in den Flur zurück.
Dort steht Lydia, auf ihren Rucksack gestützt. Hinter ihr an der Wand die Radierung einer Flusslandschaft. Lydia hat sie als spießig bezeichnet, als ich sie damals, nach Mutters Tod, gekauft habe. Um ihre nackten Füße herum hat sich eine Pfütze gebildet. »Weißt du, was ich nicht verstehe?« Ich möchte sie an den Schultern packen und schütteln. Ein gedehntes Nein ist die Antwort. Ich kenne es, dieses Nein. Es interessiert sie nicht, was ich sage. »Wenn du dich so vernachlässigst, ist das deine Angelegenheit. Aber dass du deine Tochter verkommen lässt ...« »Nur kein Neid«, unterbricht sie mich. »Das hat mit Neid nichts zu tun.« »Willst du mir nicht wenigstens einen Tee anbieten und Merle ein Glas Milch?« Nein, das will ich nicht, hätte ich am liebsten geschrien. Doch anstatt zu schreien, balle ich nur die Hände zu Fäusten. »Und gegen ein Handtuch hätten wir auch nichts einzuwenden. Du siehst ja, wie nass wir sind. Ich denke, dass ich das von meiner Schwester verlangen kann, oder? Meiner einzigen Schwester.« Wortlos hole ich eines meiner alten Handtücher aus dem Wäscheschrank, reiche es Lydia, ohne sie anzusehen und gehe in die Küche, um Wasser in den Kessel laufen zu lassen. Ich gieße Milch in ein Glas und stelle einen Becher auf den
Tisch. »Ich nehme gern Kandiszucker.« Lydia lehnt in der Tür und lächelt mich an.
»Habe ich nicht.« »Schade, dein Haushalt war immer so perfekt.« »Was hat Kandiszucker mit einem perfekten Haushalt zu tun?« »Zu ungesund?« »Du hast es erfasst.« In diesem Augenblick kommt Merle in die Küche gerannt und verlangt nach einem Wurstbrot. Ich deute auf die Spüle. Sie behauptet, ihre Hände bereits gewaschen zu haben. Als ich sie sehen will, höre ich Lydias scharfes Wieso. Ob ich ihrer Tochter etwa nicht glauben würde. »Was Sauberkeit angeht, glaube ich keinem von euch.« Sie rümpft die Nase und beginnt, Merles Haare trockenzureiben. »Du hast dich auch kein bisschen verändert.« »Ihr könnt gerne gleich wieder gehen.« »Nein!«, ruft Merle, »ich hab Hunger!« »Tante Franka hat sicher was Leckeres zu essen für dich«, sagt Lydia und schaut mich aus ihren halbgeöffneten Augen an. »Und wie du dir vielleicht denken kannst, esse ich auch gern eine Scheibe Brot, vielleicht mit Camembert oder gekochtem Schinken.«
Ihre Stimme hallt in meinen Ohren nach, als wolle sich dieser volle Klang in die Ohrwindungen einschmeicheln und dort festsetzen. Was hat sie bloß für eine schöne Stimme, deine Schwester, sagten die Lehrer immer voller Bewunderung. Daraus sollte sie später mal etwas machen. Natürlich hat sie nichts daraus gemacht. An die Spüle gelehnt, beobachte ich, wie Merle sich auf das Brot stürzt, es nicht mal mit Butter bestreicht, sondern nur etwas Salami auf die Scheibe legt und sie hinunterschlingt. Und auch Lydia kann ihr Camembertbrot gar nicht schnell genug essen. In wenigen Minuten haben sie sechs Scheiben verschlungen. »Wenn es dir nichts ausmacht, hätten wir gern noch mehr«, sagt Lydia und lächelt. Ich schneide vier weitere Scheiben ab. Gleichzeitig ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich lieber einem Penner ein Frühstück in meiner Küche servieren würde als Lydia und ihrer Tochter.
Wann sie zuletzt etwas gegessen hätten, frage ich schließlich. Das sei schon eine Ewigkeit her, stöhnt Merle. Zuletzt sei es etwas knapp gewesen, erklärt Lydia. »Wo kommt ihr überhaupt her?« »Aus Nepal!«, ruft Merle stolz. »Da gibt es riesige Berge.« Lydia lächelt. Es sei eine wunderbare, ganz und gar einzigartige Landschaft. Und dieses Licht. Ein Traum für eine Malerin. Ob sie von sich spreche?, frage ich. Ja, allerdings, entgegnet Lydia, auch wenn ich ihre Kunst nie verstanden hätte. Welche Kunst, frage ich. »Meine Mama malt tolle Bilder!«, ruft Merle. Ich hole tief Luft und beschließe, das Thema zu wechseln. Nepal sei eines der ärmsten Länder der Welt. Ich könne mir nicht vorstellen, wie sie dort gelebt hätten. Nein, das könne ich sicher nicht, sagt Lydia und lässt ihre Blicke über die Einbauküche aus Stahl, Glas und Marmor wandern, die ich mir ebenfalls nach Mutters Tod zugelegt habe und die noch immer wie neu aussieht. Sie habe im Laufe der Jahre gelernt, sich auf innere Werte zu besinnen, erklärt sie. Das sei gut für die Seele. Aber so eine wie ich, die fürs Fernsehen schreibe, habe vielleicht gar keine Seele mehr. Ich denke an Merle und frage mich, inwieweit es gut für die Seele ist, einen Schmutzlappen als Unterhose zu tragen. »Scheint dir nichts auszumachen«, sagt Lydia. »Auf deine Art von Seele kann ich verzichten.« »Bist du eine Hexe?«, fragt Merle misstrauisch. Lydia nimmt sie auf den Schoß und flüstert ihr etwas ins Ohr. Merle blickt erschrocken zu mir herüber. »Was ist?«, frage ich. Keine Antwort, nur dieses Starren, in dem jetzt auch etwas Feindseliges liegt. »Vor ein paar Jahren hast du mir mal eine Postkarte aus Südafrika geschrieben«, sage ich nach einer Weile. »Ich dachte, du freust dich über ein kleines Lebenszeichen.« »Du wolltest Oliven anbauen und hattest schon eine Farm in Aussicht.« »Wann waren wir in Südafrika?«, fragt Merle. »Das ist lange her. Du warst noch ganz klein.« »Und warum sind wir nicht geblieben?« »Weil wir mit Jeff zusammen sein wollten, und Jeff wollte nach Indien.«
»In Indien wart ihr auch?« Lydia nickt. »Drei Jahre lang.« »Da haben wir in einer kleinen Hütte gewohnt, und ich hatte ein Äffchen«, ruft Merle. »Indien ist schön.« »Hast du eine Zigarette für mich?«, fragt Lydia. »Nein, ich rauche schon lange nicht mehr.« Wieder schweigen wir alle drei. Lydia schenkt sich Tee nach, Merle malt mit dem Zeigefinger Kreise auf den Tisch, und ich blicke hinaus in den Regen.
Es herbstet, hätte Mutter an einem solchen Morgen verkündet und dann entschlossen die Lippen zusammengepresst. Lydia und ich haben als Kinder immer gegen diese Bemerkung protestiert, weil Herbst das Ende der Kniestrümpfe bedeutete und uns beiden nichts verhasster war, als nach einem langen Sommer in die dunklen, kratzenden Strumpfhosen gesteckt zu werden. Mutter beendete jede Diskussion mit den Worten: Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr mir noch dankbar sein. Welche junge Frau plagt sich schon gern mit Blasenentzündungen? Ich merke, dass ich auch hungrig bin. Gleichzeitig ekelt mich die Vorstellung, mit Lydia und Merle an einem Tisch zu sitzen. Ich werde später, wenn die beiden weg sind, in Ruhe mit Jan frühstücken. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich niemals an einer Blasenentzündung gelitten, obwohl ich unzählige Male auf der Schultoilette die Strumpfhosen gegen Kniestrümpfe eingetauscht habe. Lydia jedoch ließ, mit oder ohne Strumpfhosen, keine Krankheit aus, weshalb Mutters Vorsicht eigentlich ihr und nicht mir galt. Ich nahm es Mutter übel, dass sie für Lydia und mich dieselben Verbote verhängte, aber noch mehr nahm ich es Lydia übel, dass sie so kränklich war und sich deshalb immer alles um sie drehte. »Wohnt der Typ hier, mit dem du vorhin gesprochen hast?«, fragt Lydia plötzlich in die Stille hinein. »Wieso?« »Ist dir die Frage zu indiskret?« »Es geht dich nichts an, wie ich lebe.« »Vielleicht doch. Merle und ich stellen uns vor, ein paar Wochen bei dir zu wohnen.« Wie bitte? Mir bricht der Schweiß aus. »Merle ist gerade sieben geworden. Es wird Zeit, dass sie in die Schule kommt.« »Da hast du allerdings recht. Miete dir eine Wohnung und melde Merle in einer Grundschule an.« »Wir haben kein Geld, um eine Wohnung zu mieten«, sagt Merle und zieht weiter ihre Fingerkreise. »Wenn deine Mutter ihr Erbe nicht in Südafrika, Indien und sonst wo auf den Kopf gehauen hätte, wäre sie jetzt in der Lage, für euch eine Wohnung zu mieten.« »Auf deine Moralpredigt kann ich verzichten«, sagt Lydia und steht auf.
»Wie wär's, wenn du dir zur Abwechslung mal einen Job suchen würdest?« »Mama kann nicht arbeiten!«, ruft Merle. »Mama ist krank!« »Krank? Wie praktisch. Vor allem, wenn man eine Schwester hat, die Geld verdient und bei der man einfach so auftauchen kann und hoffen, dass sie einen durchfüttern wird.« »Komm, wir gehen«, sagt Lydia und greift nach Merles Hand. »Wohin?« »Das werden wir schon sehen. Hier sind wir nicht willkommen. « Merle wirft mir einen wütenden Blick zu. »Wenn Mama stirbt, bist du schuld.« Ich schlage vor, zum Sozialamt zu fahren, um herauszufinden, was es für Unterkünfte gibt. Irgendwo würden sie sicher was finden. Lydia schweigt und öffnet die Tür. Dann dreht sie sich noch einmal zu mir um. »Ich würde an deiner Stelle mal darüber nachdenken, warum du so zynisch, so verbittert geworden bist. Ein Mensch wie du kann nicht glücklich sein. Auch wenn du dich hier mit noch so viel Komfort umgeben hast.« Ich will die Tür hinter ihnen schließen, als Lydias Beine plötzlich nachgeben und sie in sich zusammensackt.
»Mama!« Merle wirft sich über ihre Mutter und rüttelt an ihrer Schulter. »Mama, steh auf!« Im ersten Moment denke ich, dass Lydia nur simuliert, so wie früher, wenn sie eine Ohnmacht vortäuschte, um nicht in die Schule zu müssen. Dann sehe ich Blut zwischen ihren Lippen. Und Merle sieht es auch.
Copyright © 2011 bei Knaur Taschenbuch, ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Ich höre die Schritte winziger Wesen, Hunderte, Tausende. Sie kommen näher, immer näher. Mein Atem stockt, ich richte mich auf. Es ist dunkel, Jan rührt sich nicht. Plötzlich spüre ich einen kühlen Luftzug im Rücken, und da weiß ich, es ist Regen, der erste Regen seit fast zwei Monaten. Langsam gleite ich wieder unter meine Decke, lasse mich von dem Geräusch in den Schlaf zurücktragen. Später habe ich oft an diesen Moment gedacht, wie der Regen gleichförmig gegen die Fensterscheiben schlug und ich noch nichts ahnte von dem, was sich an diesem Tag ereignen würde.
Das Klingeln an meiner Wohnungstür lässt mich hochschrecken. Zwanzig nach sechs. Wer das denn sei, um diese Zeit, murmelt Jan. Ich fröstele, als ich aufstehe und mir den Bademantel überziehe. Es klingelt wieder, ein penetrantes, ununterbrochenes Klingeln. Ich reiße die Tür auf. Vor mir steht ein kleines Mädchen, durchnässt, in abgerissener Kleidung, ohne Schuhe. »Das hat aber lange gedauert«, sagt es und will an mir vorbei in die Wohnung schlüpfen. »Halt!« Ich schiebe die Tür ein Stück zu. »Wer bist du? Was willst du hier?« »Erkennst du Merle nicht wieder?«, fragt da eine singende Stimme von unten. Lydia. Ich schließe die Augen. Ein paar Sekunden lang fühle ich nichts als das schnelle Pochen in meinem Hals. »Freust du dich gar nicht?« Ich öffne die Augen und blicke in Lydias schmales Gesicht. Abgezehrt und blass sieht sie aus, fast so wie damals, als sie zum ersten Mal in die Klinik eingeliefert werden musste. Ihre nassen Haare hängen in langen Strähnen auf ihren Schultern. Sie trägt eine fleckige, hellrote Hose und ein verblichenes T-Shirt. Um den Mund hat sie den bekannten spöttischen Zug. »Es ist zwanzig nach sechs.« »Ich dachte, eine fleißige Drehbuchautorin wie du steht früh auf.« »Du weißt, dass ich nie früh aufstehe.« »Wer ist da?«, höre ich Jan fragen. Ich drehe mich um und sehe sein Gesicht in der halbgeöffneten Schlafzimmertür. »Meine Schwester und ihre Tochter.« Er zögert. Dann schließt er die Tür wieder. Ich überlege noch, ob ich ihm dafür dankbar bin oder nicht, als Merle verkündet, dass sie mal müsse. Tante Franka werde ihr bestimmt gerne zeigen, wo das Klo sei, antwortet Lydia. Ich will etwas entgegnen, doch da sind sie schon in meiner Wohnung, und ich laufe mit der nach Schweiß und saurer Milch riechenden Merle ins Badezimmer. Es kommt mir plötzlich sehr sauber vor, mit seinen weißen Kacheln, dem Glasregal und den großen Spiegeln. Bevor ich den Raum wieder verlassen kann, zieht Merle ihre Unterhose herunter. Ich starre auf dieses dreckige Stück Stoff. »Was ist?«, fragt Merle. Es könnte Lydias Kindergesicht sein, das mir da entgegenblickt, trotzig und traurig zugleich. Ich schlucke und gehe in den Flur zurück.
Dort steht Lydia, auf ihren Rucksack gestützt. Hinter ihr an der Wand die Radierung einer Flusslandschaft. Lydia hat sie als spießig bezeichnet, als ich sie damals, nach Mutters Tod, gekauft habe. Um ihre nackten Füße herum hat sich eine Pfütze gebildet. »Weißt du, was ich nicht verstehe?« Ich möchte sie an den Schultern packen und schütteln. Ein gedehntes Nein ist die Antwort. Ich kenne es, dieses Nein. Es interessiert sie nicht, was ich sage. »Wenn du dich so vernachlässigst, ist das deine Angelegenheit. Aber dass du deine Tochter verkommen lässt ...« »Nur kein Neid«, unterbricht sie mich. »Das hat mit Neid nichts zu tun.« »Willst du mir nicht wenigstens einen Tee anbieten und Merle ein Glas Milch?« Nein, das will ich nicht, hätte ich am liebsten geschrien. Doch anstatt zu schreien, balle ich nur die Hände zu Fäusten. »Und gegen ein Handtuch hätten wir auch nichts einzuwenden. Du siehst ja, wie nass wir sind. Ich denke, dass ich das von meiner Schwester verlangen kann, oder? Meiner einzigen Schwester.« Wortlos hole ich eines meiner alten Handtücher aus dem Wäscheschrank, reiche es Lydia, ohne sie anzusehen und gehe in die Küche, um Wasser in den Kessel laufen zu lassen. Ich gieße Milch in ein Glas und stelle einen Becher auf den
Tisch. »Ich nehme gern Kandiszucker.« Lydia lehnt in der Tür und lächelt mich an.
»Habe ich nicht.« »Schade, dein Haushalt war immer so perfekt.« »Was hat Kandiszucker mit einem perfekten Haushalt zu tun?« »Zu ungesund?« »Du hast es erfasst.« In diesem Augenblick kommt Merle in die Küche gerannt und verlangt nach einem Wurstbrot. Ich deute auf die Spüle. Sie behauptet, ihre Hände bereits gewaschen zu haben. Als ich sie sehen will, höre ich Lydias scharfes Wieso. Ob ich ihrer Tochter etwa nicht glauben würde. »Was Sauberkeit angeht, glaube ich keinem von euch.« Sie rümpft die Nase und beginnt, Merles Haare trockenzureiben. »Du hast dich auch kein bisschen verändert.« »Ihr könnt gerne gleich wieder gehen.« »Nein!«, ruft Merle, »ich hab Hunger!« »Tante Franka hat sicher was Leckeres zu essen für dich«, sagt Lydia und schaut mich aus ihren halbgeöffneten Augen an. »Und wie du dir vielleicht denken kannst, esse ich auch gern eine Scheibe Brot, vielleicht mit Camembert oder gekochtem Schinken.«
Ihre Stimme hallt in meinen Ohren nach, als wolle sich dieser volle Klang in die Ohrwindungen einschmeicheln und dort festsetzen. Was hat sie bloß für eine schöne Stimme, deine Schwester, sagten die Lehrer immer voller Bewunderung. Daraus sollte sie später mal etwas machen. Natürlich hat sie nichts daraus gemacht. An die Spüle gelehnt, beobachte ich, wie Merle sich auf das Brot stürzt, es nicht mal mit Butter bestreicht, sondern nur etwas Salami auf die Scheibe legt und sie hinunterschlingt. Und auch Lydia kann ihr Camembertbrot gar nicht schnell genug essen. In wenigen Minuten haben sie sechs Scheiben verschlungen. »Wenn es dir nichts ausmacht, hätten wir gern noch mehr«, sagt Lydia und lächelt. Ich schneide vier weitere Scheiben ab. Gleichzeitig ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich lieber einem Penner ein Frühstück in meiner Küche servieren würde als Lydia und ihrer Tochter.
Wann sie zuletzt etwas gegessen hätten, frage ich schließlich. Das sei schon eine Ewigkeit her, stöhnt Merle. Zuletzt sei es etwas knapp gewesen, erklärt Lydia. »Wo kommt ihr überhaupt her?« »Aus Nepal!«, ruft Merle stolz. »Da gibt es riesige Berge.« Lydia lächelt. Es sei eine wunderbare, ganz und gar einzigartige Landschaft. Und dieses Licht. Ein Traum für eine Malerin. Ob sie von sich spreche?, frage ich. Ja, allerdings, entgegnet Lydia, auch wenn ich ihre Kunst nie verstanden hätte. Welche Kunst, frage ich. »Meine Mama malt tolle Bilder!«, ruft Merle. Ich hole tief Luft und beschließe, das Thema zu wechseln. Nepal sei eines der ärmsten Länder der Welt. Ich könne mir nicht vorstellen, wie sie dort gelebt hätten. Nein, das könne ich sicher nicht, sagt Lydia und lässt ihre Blicke über die Einbauküche aus Stahl, Glas und Marmor wandern, die ich mir ebenfalls nach Mutters Tod zugelegt habe und die noch immer wie neu aussieht. Sie habe im Laufe der Jahre gelernt, sich auf innere Werte zu besinnen, erklärt sie. Das sei gut für die Seele. Aber so eine wie ich, die fürs Fernsehen schreibe, habe vielleicht gar keine Seele mehr. Ich denke an Merle und frage mich, inwieweit es gut für die Seele ist, einen Schmutzlappen als Unterhose zu tragen. »Scheint dir nichts auszumachen«, sagt Lydia. »Auf deine Art von Seele kann ich verzichten.« »Bist du eine Hexe?«, fragt Merle misstrauisch. Lydia nimmt sie auf den Schoß und flüstert ihr etwas ins Ohr. Merle blickt erschrocken zu mir herüber. »Was ist?«, frage ich. Keine Antwort, nur dieses Starren, in dem jetzt auch etwas Feindseliges liegt. »Vor ein paar Jahren hast du mir mal eine Postkarte aus Südafrika geschrieben«, sage ich nach einer Weile. »Ich dachte, du freust dich über ein kleines Lebenszeichen.« »Du wolltest Oliven anbauen und hattest schon eine Farm in Aussicht.« »Wann waren wir in Südafrika?«, fragt Merle. »Das ist lange her. Du warst noch ganz klein.« »Und warum sind wir nicht geblieben?« »Weil wir mit Jeff zusammen sein wollten, und Jeff wollte nach Indien.«
»In Indien wart ihr auch?« Lydia nickt. »Drei Jahre lang.« »Da haben wir in einer kleinen Hütte gewohnt, und ich hatte ein Äffchen«, ruft Merle. »Indien ist schön.« »Hast du eine Zigarette für mich?«, fragt Lydia. »Nein, ich rauche schon lange nicht mehr.« Wieder schweigen wir alle drei. Lydia schenkt sich Tee nach, Merle malt mit dem Zeigefinger Kreise auf den Tisch, und ich blicke hinaus in den Regen.
Es herbstet, hätte Mutter an einem solchen Morgen verkündet und dann entschlossen die Lippen zusammengepresst. Lydia und ich haben als Kinder immer gegen diese Bemerkung protestiert, weil Herbst das Ende der Kniestrümpfe bedeutete und uns beiden nichts verhasster war, als nach einem langen Sommer in die dunklen, kratzenden Strumpfhosen gesteckt zu werden. Mutter beendete jede Diskussion mit den Worten: Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr mir noch dankbar sein. Welche junge Frau plagt sich schon gern mit Blasenentzündungen? Ich merke, dass ich auch hungrig bin. Gleichzeitig ekelt mich die Vorstellung, mit Lydia und Merle an einem Tisch zu sitzen. Ich werde später, wenn die beiden weg sind, in Ruhe mit Jan frühstücken. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich niemals an einer Blasenentzündung gelitten, obwohl ich unzählige Male auf der Schultoilette die Strumpfhosen gegen Kniestrümpfe eingetauscht habe. Lydia jedoch ließ, mit oder ohne Strumpfhosen, keine Krankheit aus, weshalb Mutters Vorsicht eigentlich ihr und nicht mir galt. Ich nahm es Mutter übel, dass sie für Lydia und mich dieselben Verbote verhängte, aber noch mehr nahm ich es Lydia übel, dass sie so kränklich war und sich deshalb immer alles um sie drehte. »Wohnt der Typ hier, mit dem du vorhin gesprochen hast?«, fragt Lydia plötzlich in die Stille hinein. »Wieso?« »Ist dir die Frage zu indiskret?« »Es geht dich nichts an, wie ich lebe.« »Vielleicht doch. Merle und ich stellen uns vor, ein paar Wochen bei dir zu wohnen.« Wie bitte? Mir bricht der Schweiß aus. »Merle ist gerade sieben geworden. Es wird Zeit, dass sie in die Schule kommt.« »Da hast du allerdings recht. Miete dir eine Wohnung und melde Merle in einer Grundschule an.« »Wir haben kein Geld, um eine Wohnung zu mieten«, sagt Merle und zieht weiter ihre Fingerkreise. »Wenn deine Mutter ihr Erbe nicht in Südafrika, Indien und sonst wo auf den Kopf gehauen hätte, wäre sie jetzt in der Lage, für euch eine Wohnung zu mieten.« »Auf deine Moralpredigt kann ich verzichten«, sagt Lydia und steht auf.
»Wie wär's, wenn du dir zur Abwechslung mal einen Job suchen würdest?« »Mama kann nicht arbeiten!«, ruft Merle. »Mama ist krank!« »Krank? Wie praktisch. Vor allem, wenn man eine Schwester hat, die Geld verdient und bei der man einfach so auftauchen kann und hoffen, dass sie einen durchfüttern wird.« »Komm, wir gehen«, sagt Lydia und greift nach Merles Hand. »Wohin?« »Das werden wir schon sehen. Hier sind wir nicht willkommen. « Merle wirft mir einen wütenden Blick zu. »Wenn Mama stirbt, bist du schuld.« Ich schlage vor, zum Sozialamt zu fahren, um herauszufinden, was es für Unterkünfte gibt. Irgendwo würden sie sicher was finden. Lydia schweigt und öffnet die Tür. Dann dreht sie sich noch einmal zu mir um. »Ich würde an deiner Stelle mal darüber nachdenken, warum du so zynisch, so verbittert geworden bist. Ein Mensch wie du kann nicht glücklich sein. Auch wenn du dich hier mit noch so viel Komfort umgeben hast.« Ich will die Tür hinter ihnen schließen, als Lydias Beine plötzlich nachgeben und sie in sich zusammensackt.
»Mama!« Merle wirft sich über ihre Mutter und rüttelt an ihrer Schulter. »Mama, steh auf!« Im ersten Moment denke ich, dass Lydia nur simuliert, so wie früher, wenn sie eine Ohnmacht vortäuschte, um nicht in die Schule zu müssen. Dann sehe ich Blut zwischen ihren Lippen. Und Merle sieht es auch.
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Autoren-Porträt von Renate Ahrens
Renate Ahrens wurde 1955 in Herford geboren, studierte Anglistik und Romanistik und war einige Jahre als Lehrerin tätig, bevor sie 1986 als freie Autorin zu arbeiten begann. Sie schreibt Romane, Kinderbücher und Theaterstücke. Nach Lebensstationen in Frankreich, Südafrika, Italien und Irland lebt sie heute mit ihrem Mann in Hamburg. Renate Ahrens ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Renate Ahrens
- 2011, 9. Aufl., 304 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426508060
- ISBN-13: 9783426508060
- Erscheinungsdatum: 28.03.2011
Rezension zu „Fremde Schwestern “
"In einfühlsamer Sprache erzählt Renate Ahrens eine Geschichte, die berührt." Freundin 20110629
Pressezitat
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