Gefährliches Vermächtnis
Deutsche Erstausgabe
Dawns Großmutter Aurore ist gestorben. Mit gemischten Gefühlen fährt sie zur Testamentseröffnung. Sie würde Ben wiedersehen, ihre große Liebe, die an einem tödlichen Vorwurf zerbrach. Doch dann kommen noch mehr schreckliche Geheimnisse ans Licht.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gefährliches Vermächtnis “
Dawns Großmutter Aurore ist gestorben. Mit gemischten Gefühlen fährt sie zur Testamentseröffnung. Sie würde Ben wiedersehen, ihre große Liebe, die an einem tödlichen Vorwurf zerbrach. Doch dann kommen noch mehr schreckliche Geheimnisse ans Licht.
Klappentext zu „Gefährliches Vermächtnis “
Aurore Gerritsen ist tot. Mit eiserner Hand hat sie die Geschicke ihrer Familie gelenkt und lenkt sie immer noch! Mit gemischten Gefühlen fährt ihre Enkelin Dawn zur Testamentseröffnung: Auch der Journalist Ben Townsend wird anwesend sein, ihre große Liebe die zerbrach, weil er Dawn die Mitschuld an einem schrecklichen Tod gibt. Doch mehr als die Konfrontation mit Ben erwartet die junge Fotografin auf Grand Isle: Dunkle Geheimnisse werden enthüllt, ein vertuschter Mord kommt ans Tageslicht, es geht um die getrennten Welten von Schwarz und Weiß in den Südstaaten. Und während ein Hurrikan den Himmel verdunkelt, ahnt Dawn: Diesen Sturm können sie nicht alle überleben.
Aurore Gerritsen ist tot. Mit eiserner Hand hat sie die Geschicke ihrer Familie gelenkt - und lenkt sie immer noch! Mit gemischten Gefühlen fährt ihre Enkelin Dawn zur Testamentseröffnung: Auch der Journalist Ben Townsend wird anwesend sein, ihre große Liebe - die zerbrach, weil er Dawn die Mitschuld an einem schrecklichen Tod gibt. Doch mehr als die Konfrontation mit Ben erwartet die junge Fotografin auf Grand Isle: Dunkle Geheimnisse werden enthüllt, ein vertuschter Mord kommt ans Tageslicht, es geht um die getrennten Welten von Schwarz und Weiß in den Südstaaten. Und während ein Hurrikan den Himmel verdunkelt, ahnt Dawn: Diesen Sturm können sie nicht alle überleben.
Lese-Probe zu „Gefährliches Vermächtnis “
Gefährliches Vermächtnis von Emilie RichardsPROLOG
New Orleans, 1965
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Die schwüle Mailuft war getränkt mit dem Geruch nach getrockneten Rosenblättern, Vetiver und Tod. Es gab kein Entkommen. Aurore war gerade aufgewacht. Ihr graute davor, Luft zu holen. Noch beunruhigender war nur der Gedanke, dass sie schon wieder von Rafe geträumt hatte.
Rafe erschien ihr immer, wenn sie ihn am wenigsten erwartete. Es gab auch andere Geister, die sie im Traum verfolgten und in den Momenten, wenn sie darüber nachdachte, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Aber Rafe kam nur, wenn sie tief und fest schlief. Rafe, der Episoden aus ihrem Leben pflückte wie Wildblumen auf einer Sommerwiese und der sie ihr dann vor Augen hielt.
Aurore zwang sich, zu atmen, obwohl die Luft immer drückender zu werden schien. Sie hatte den Hausangestellten verboten, in diesem Teil des Hauses die Klimaanlage anzustellen. Man hatte die Fenster geschlossen, während sie schlief; vermutlich damit das Gekreische der Spottdrosseln draußen auf dem Magnolienbaum sie nicht weckte. Das Personal verstand einfach nicht, dass Aurore jeden wachen Moment als kostbares Geschenk betrachtete. Ein Geschenk, das nur alte Menschen wirklich zu schätzen wussten.
Aurore war alt, obwohl sie es jahrelang geleugnet hatte. Mit sechzig war sie davon überzeugt gewesen, dass Aktivität ein wirksames Mittel gegen das Altern war, und mit siebzig hatte sie geglaubt, sie könnte den Tod genauso hartnäckig ignorieren wie andere unerfreuliche Dinge des Lebens. Inzwischen war sie siebenundsiebzig, und der Tod lungerte schon seit Wochen in ihrem Schlafzimmer herum. Beim ersten Anzeichen von Schwäche würde er sich auf sie zu stürzen. Doch sie war noch nicht bereit zu sterben. Noch nicht. Es gab zu viele Geheimnisse, die darauf warteten, gelüftet zu werden.
Aurore hatte fast zu lange damit gewartet. Sie hätte ihre Familie schon vor Jahren zusammenrufen und wie eine herrische Matriarchin zwingen sollen, den Geschichten einer alten Frau zuzuhören. Sie hätten es nicht gewagt, sich ihrer Aufforderung zu widersetzen.
Aber sie hatte gewartet. Aber jetzt, wo der Tod bereits seinen Anspruch auf sie erhob, konnte sie es nicht länger aufschieben. Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass es draußen bereits dunkel wurde. Sie hatte die Dämmerung immer als besonders friedvoll empfunden. Nun blieb ihr keine Zeit mehr, um innezuhalten. Niemals wieder.
Neben dem Bett raschelte die gestärkte Tracht einer ihrer Pflegerinnen. Aurore bemühte sich, sich verständlich zu machen. "Ist Spencer schon da?"
"Ja, Mrs Gerritsen."
Aurore, in deren Ohren die eigene Stimme rau und profan klang, war glücklich, dass man sie verstanden hatte. "Wie lange ist er schon hier?"
"Seit fast einer Stunde. Ich habe ihm gesagt, dass Sie geweckt werden wollten, aber er hat es nicht zugelassen."
"Er beschützt mich." Aurore befeuchtete den Mund mit der Zunge. "Wie immer." "Möchten Sie etwas Wasser?"
Aurore nickte. "Nur ein Schlückchen. Dann ... Spencer."
"Sind Sie sicher, dass Sie sich gut genug fühlen?"
"Wenn ich warten würde, bis ich mich besser fühlte ... würde ich ihn nie wiedersehen."
Die Schwester nickte, während sie Wasser aus einer Karaffe in ein Glas goss, das sie an Aurores Lippen führte. "Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich Mr St. Amant hole?"
"Die Fenster. Ich will nicht, dass sie ... wieder geschlossen werden. Nie mehr." "Ich öffne auch die Balkontüren."
Draußen zirpten die ersten Zikaden des Jahres. Die Luft traf feucht auf Aurores Haut. Für einen Augenblick war sie wieder siebzehn und stand im nebligen Dunst am Ufer des Mississippis. Sie beobachtete, wie Barkassen und Dampfer gegen die Strömung ankämpften, während sie darauf wartete, dass ihr Leben begann.
"Aurore."
Aurore blickte den Mann an, der seit fast fünfzig Jahren ihr Anwalt war. "Wie fühlst du dich, meine Liebe?", fragte Spencer.
"Alt. Es tut mir leid, dass ich alt bin."
Spencer ließ sich in dem Sessel nieder, den die Schwester neben das Bett geschoben hatte. "Tatsächlich? Ich erinnere mich noch gut an dich, als du jung warst."
"Du erinnerst dich an zu viele Dinge."
"Manchmal kommt es mir auch so vor." Er nahm ihre Hand. Seine Haut war trocken. Er zitterte, als er ihre Hand umschloss.
Ihre Gedanken schweiften ab, was inzwischen häufig geschah. Sie erinnerte sich an einen Tag in Spencers Büro in der Canal Street vor vielen Jahren. Das Büro gab es immer noch, obwohl Spencer längst im Rentenalter war. Aurore war froh, dass er seine Kanzlei noch nicht einem seiner jüngeren Partner übergeben hatte.
"Du warst so elegant", sagte sie, "und leidenschaftlich. Ich dachte, du würdest mich abweisen."
"Als du zum ersten Mal zu mir kamst?" Er lachte. "Du warst so blass. Und du hast diesen Hut getragen, der deine Stirn verdeckte. Ich fand dich bezaubernd!"
"Aber was du damals gehört hast, kann dir unmöglich gefallen haben."
"Es stand mir nicht zu, das zu beurteilen. Ich versprach dir, nichts von dem, was du mir anvertraust, je weiterzusagen. Und während wir uns unterhielten, spieltest du mit einer Kette aus hellen und dunklen Perlen."
"Hell und dunkel." Aurore lächelte. "Ich erinnere mich."
"Die Perlen verschwanden zwischen deinen Fingern wie ein Rosenkranz. Du bist lange in meiner Kanzlei geblieben. In der Zeit hättest du hundert Fürbitten sprechen können."
Sie sah ihn an. "Ich will, dass du ein neues Testament für mich aufsetzt, so wie wir es aufgeschrieben haben. Ich will ... dass du das alte Testament vernichtest."
Er drückte ihre Hände. "Hast du auch gründlich darüber nachgedacht, meine Liebe?"
"Ich denke an nichts anderes."
"Die Dinge könnten anders verlaufen, als du es dir wünschst. Sie könnten mehr Schaden anrichten als Gutes nach sich ziehen. Und zu guter Letzt könnten die Menschen, die du liebst, verletzt werden."
"Mein ganzes Leben ... hatte ich Angst, die Wahrheit zu sagen."
"Und nun hast du keine Angst mehr?"
"Jetzt habe ich noch mehr Angst." Er streichelte ihre Hand, und sie fuhr fort, bevor er sie unterbrechen konnte. "Aber trotzdem ... die Wahrheit würde niemals ans Licht kommen. Nun bekommen andere die Chance, so mutig zu sein ... wie ich es nie gewesen bin."
"Das ist ein mutiger Akt."
Ihre Gedanken wanderten zu den beiden Männern, die sie geliebt hatte. Rafe. Und Hugh, ihren Sohn. Zwei Männer, die wussten, was es bedeutete, mutig zu sein. "Nein. Das ist nicht mutig", widersprach sie. "Eher die letzte verzweifelte Handlung eines Feiglings."
Während sie miteinander schwiegen, brach die Nacht herein. Schließlich fragte er: "Kann ich morgen noch einmal herkommen, um zu sehen, ob du deine Meinung geändert hast?"
"Nein. Bitte tu mir den Gefallen, Spencer, und tu, was wir besprochen haben. Wirst du nach ... Grand Isle runterfahren?"
"Ich werde tun, was immer du willst." Er führte ihre Hand an die Lippen und küsste sie. "Ich habe Dawns Adresse. Sie lebt in England und fotografiert für ein New Yorker Magazin. Ich könnte sie bitten, nach Hause zu kommen."
Einen Augenblick lang war Aurore versucht, Ja zu sagen. Um Dawn noch einmal wiederzusehen, sie ein letztes Mal zu berühren. Und um ihre Enkelin in alle Geheimnisse einzuweihen, so wie Dawn sie auch immer in alle ihre Kindergeheimnisse eingeweiht hatte.
Alle.
Aurore konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Sie war tatsächlich so feige, wie sie behauptet hatte. "Nein. Es ist das Beste, sie nicht nach Hause zu holen, bevor ..." "Ich verstehe."
"Es gibt noch so vieles, das ich tun müsste."
Spencer erhob sich. "Dann schicke ich ihr und den anderen deinen Brief ... wenn es sein muss."
"Ja. Die Briefe." Aurore dachte an die Briefe, die sie diktiert hatte. Und daran, wie viele Leben sie verändern würden.
"Du bist müde. Und du hast noch einen anderen Besucher."
Aurore fragte nicht, wer dieser Besucher war. Sie konnte an Spencers Tonfall erkennen, dass es jemand war, auf den sie sich freute.
Aurore schloss die Augen, als Spencer das Zimmer verließ. Das Zirpen der Zikaden verstärkte sich. Die Abendluft roch nach süßen Oliven und den ersten Magnolien. Ihr Duft überdeckte den Geruch von Alter und Tod.
Als sie Schritte hörte, fehlte ihr die Kraft, die Augen noch ein weiteres Mal zu öffnen. Eine feste, starke Hand griff nach ihrer Hand und sie spürte warme Lippen an ihrer Wange.
"Phillip ... ", flüsterte sie.
"Du brauchst nichts zu sagen, Aurore. Ich bleibe ein Weilchen bei dir. Ruh dich einfach aus."
Die Stimme gehörte Phillip, aber einen Moment lang erschien es Aurore so, als ob Rafe an ihrem Bett säße. In diesem Augenblick fühlte sie sich nicht mehr alt, sondern wieder jung. Ihr Leben lag noch vor ihr, und sie hatte noch keine schwerwiegenden Entscheidungen getroffen. Während sie sich den Träumen hingab, summte Phillip eines der Lieder, mit denen seine Mutter berühmt geworden war. Aurore schlief ein.
1. KAPITEL
September 1965
Der junge Mann, den Dawn am Stadtrand von New Orleans aufgegabelt hatte, sah aus wie ein Rumtreiber, genau wie viele Studenten, die in jenem Sommer durch die Welt reisten. Seine Haare waren ungewaschen, seine Kleidung war ein Mix aus Rockstar und Zirkusartist. Immerhin war er wenigstens nicht so käseweiß wie diese verrückten Liverpooler Beatles oder so braun gebrannt wie diese kalifornischen Beach Boys. Im letzten Jahr war sie mehr als genügend Männern dieser Sorte begegnet. Sie tourten häufig mit Rockbands durch Europa.
Ihr Anhalter hatte Sommersprossen und Augen dunkel wie Honig. Er nannte Ortsnamen wie Biloxi und Gulfport. Und als er sie das erste Mal "Ma'am" nannte, hätte sie ihn am liebsten zum nächsten Deich geschleppt und es ihn so lange stöhnen lassen, bis sie wirklich begriffen hätte, dass sie wieder zurück im tiefen Süden war.
Doch sie schleppte ihn nirgendwohin. Sie erinnerte sich nicht mal an seinen Namen. Dawn war mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, um ernsthaft an Sex zu denken. Und sie suchte auch nicht nach Liebe. Nach drei prägenden Studienjahren in Berkeley hatte sie es aufgegeben, an Liebe, an Religion oder an ein Happy End zu glauben.
Glücklicherweise schien der Anhalter auch nicht auf der Suche nach Liebe zu sein. Er interessierte sich mehr für alles Essbare im Handschuhfach und den Stand der Tachonadel. Nach ihrer spontanen Gefühlsaufwallung vergaß sie fast, dass er in ihrem Auto saß, bis sie den Fehler beging, das Radio lauter zu stellen. Es war fünf nach halb eins, und die Nachrichten waren fast vorbei.
"Senator Ferris Lee Gerritsen, Vorstand von Gulf Coast Shipping mit Sitz in New Orleans, kündigte heute an, dass das Unternehmen der Stadt einen Teil seiner Ländereien am Fluss zur Verfügung stellen wird. Dort soll zum Gedenken an Henry und Aurore Gerritsen, die Eltern des Senators, ein Park errichtet werden. Mrs Gerritsen, Enkelin des Gründers der Reederei, verstarb letzte Woche. Senator Gerritsen ist das einzige noch lebende Kind des Paares. Sein Bruder, Pater Hugh Gerritsen, kam letzten Sommer bei einer Bürgerrechtsdemonstration in Bonne Chance ums Leben. Der Senator wird allen Voraussagen nach 1968 für das Amt des Gouverneurs kandidieren."
Obwohl die Sonne bereits am Horizont versank, griff Dawn nach ihrer Sonnenbrille, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen geschossen waren. Als sie sich zurücklehnte, spürte sie auf einmal eine warme Hand auf ihrem Oberschenkel. Ihr Anhalter betrachtete sie mit demselben Gesichtsausdruck, der vor Kurzem noch ihren Twinkies gegolten hatte. Dawn ahnte, was er sah: eine langbeinige junge Frau mit kunstvoll bemalten blauen Augen. Einen Glücksfall mit Vermögen.
Er lächelte, während er die Hand nach oben wandern ließ. "Du heißt doch Gerritsen, oder? Bist du mit ihm verwandt?"
"Du verschwendest deine Zeit", sagte sie.
"Ich hab gerade nichts anderes zu tun."
Dawn fuhr rechts ran. Es nieselte und der Wetterbericht hatte noch mehr Regen vorhergesagt. Das änderte jedoch nichts an ihrem Entschluss. "Es wird Zeit, dir eine neue Mitfahrgelegenheit zu suchen."
"Hey, komm schon! Du ahnst ja nicht, wie ich dir die restliche Fahrt versüßen könnte."
"Entschuldigung, aber meine Vorstellungskraft ist besser, als du denkst."
Fluchend zog er die Hand zurück und schnappte sich seinem Rucksack.
Als sie weiterfuhr, geriet sie ins Grübeln, was sie um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Ihr Ausflug nach Grand Isle war keine Vergnügungsreise; sie kam wegen ihrer Großmutter, Aurore Le Danois Gerritsen. Sie hatte auf dem Totenbett verfügt, dass das Testament vor der versammelten Familie im Sommerhaus verlesen werden sollte. Das war ein Befehl.
Das letzte Mal, als Dawn die Strecke zwischen Grand Isle und New Orleans gefahren war, hatte sie ihren Führerschein gerade erst ein lang Jahr gehabt. Der Süden Louisianas war ein ständiger Dialog von Wasser und Land, und manchmal verwischten sich die Grenzen. Sie flog über das Land und pflügte durchs Wasser. Ihre Großmutter saß neben ihr und unterhielt sich mit ihr, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie von einer der unzähligen Hängebrücken in den düsteren Bayou Lafourche hätten stürzen können. Erst als Aurore danach ins Cottage humpelte, wurde Dawn klar, dass sie die ganze Zeit auf unsichtbare Gas- und Bremspedale getreten hatte.
Diese Erinnerung schnürte ihr unerwartet die Kehle zu. Der Tod ihrer Großmutter hatte sie zwar nicht überrascht, aber sie war trotzdem nicht darauf vorbereitet. Wie hätte sie auch ahnen können, dass mit Aurores ein großes Stück ihrer eigenen Identität verschwinden würde? Aurore Gerritsen hatte Dawns Leben geprägt.
Ein anderer Teil von Dawn war schon mit dem Tod ihres Onkels verschwunden. Im Radio war Hugh Gerritsens Tod nur am Rande erwähnt worden; wie eine Nachricht von vorgestern. Doch für Dawn war er noch sehr präsent. Ihr Onkel galt als umstrittene Persönlichkeit in Louisiana; ein Mann, der all die Tugenden praktizierte, die die katholische Kirche predigte. Onkel Hugh war der Mann, der ihre guten Seiten erkannt und ihr beigebracht hatte, sie ebenso zu sehen.
Zwei Tode innerhalb von zwei Jahren. Die einzigen Gerritsens, die sie je verstanden hatten, waren nun fort. Wer blieb nun übrig? Wer würde sie nun bedingungslos lieben? Sie drehte das Radio auf und zwang sich, eine Nummer von Smokey Robinson and The Miracles mitzusingen.
Eine Stunde später überquerte sie die letzte Brücke. Die Insel war alles andere als elegant, aber die Luft auf Grand Isle war so frisch wie in den Bergen und der Sand so fein wie Puderzucker. Jeden Sommer hatte Dawn hier Aurore Gesellschaft geleistet. Und Aurore hatte ihr jeden Sommer die Familiengeschichte der Gerritsens erzählt.
Heute war es windig und die Brandung gewaltig. Trotzdem ließen sich die Angler nicht abschrecken. Orkan Betsy zog von Florida herüber, aber noch glaubte niemand, dass er diesen Teil Louisianas wirklich heimsuchen würde. Falls doch, würden die Inselbewohner ihre Häuser verriegeln, alle Habseligkeiten in Autos verladen und zurückkehren, noch bevor die Evakuierung wieder aufgehoben wäre.
Die Straße, die zum Cottage der Gerritsens führte, war mit einer frischen Ladung Austernschalen aufgeschüttet worden. Das Cottage selbst wirkte wie eine Insel. Aus wettergegerbten Zypressen im traditionellen kreolischen Stil erbaut und umgeben von wild wachsendem Oleander, Jasmin und Myrten, schmiegte es sich in die Landschaft wie die knorrigen alten Wassereichen, die es umgaben. Selbst der von ihrer Großmutter entworfene Anbau sah aus, als wäre er schon immer dort gewesen.
Dawn bemerkte die frischen Spurrillen und fragte sich, ob ihre Eltern schon eingetroffen waren. Sie hatte sie weder aus London noch vom Flughafen aus angerufen, weil sie sicher war, dass sie von ihr erwartet hätten, gemeinsam mit ihnen nach Grand Isle zu fahren. Doch Dawn benötigte Zeit, um sich an die Rückkehr nach Louisiana zu gewöhnen. Sie war jetzt dreiundzwanzig und zu alt, um sich von ihrer Familie vereinnahmen zu lassen. Deshalb brauchte sie diese Extrazeit, um sich zu wappnen.
...
Übersetzung: Barbara Minden
© MIRA Taschenbuch
Die schwüle Mailuft war getränkt mit dem Geruch nach getrockneten Rosenblättern, Vetiver und Tod. Es gab kein Entkommen. Aurore war gerade aufgewacht. Ihr graute davor, Luft zu holen. Noch beunruhigender war nur der Gedanke, dass sie schon wieder von Rafe geträumt hatte.
Rafe erschien ihr immer, wenn sie ihn am wenigsten erwartete. Es gab auch andere Geister, die sie im Traum verfolgten und in den Momenten, wenn sie darüber nachdachte, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Aber Rafe kam nur, wenn sie tief und fest schlief. Rafe, der Episoden aus ihrem Leben pflückte wie Wildblumen auf einer Sommerwiese und der sie ihr dann vor Augen hielt.
Aurore zwang sich, zu atmen, obwohl die Luft immer drückender zu werden schien. Sie hatte den Hausangestellten verboten, in diesem Teil des Hauses die Klimaanlage anzustellen. Man hatte die Fenster geschlossen, während sie schlief; vermutlich damit das Gekreische der Spottdrosseln draußen auf dem Magnolienbaum sie nicht weckte. Das Personal verstand einfach nicht, dass Aurore jeden wachen Moment als kostbares Geschenk betrachtete. Ein Geschenk, das nur alte Menschen wirklich zu schätzen wussten.
Aurore war alt, obwohl sie es jahrelang geleugnet hatte. Mit sechzig war sie davon überzeugt gewesen, dass Aktivität ein wirksames Mittel gegen das Altern war, und mit siebzig hatte sie geglaubt, sie könnte den Tod genauso hartnäckig ignorieren wie andere unerfreuliche Dinge des Lebens. Inzwischen war sie siebenundsiebzig, und der Tod lungerte schon seit Wochen in ihrem Schlafzimmer herum. Beim ersten Anzeichen von Schwäche würde er sich auf sie zu stürzen. Doch sie war noch nicht bereit zu sterben. Noch nicht. Es gab zu viele Geheimnisse, die darauf warteten, gelüftet zu werden.
Aurore hatte fast zu lange damit gewartet. Sie hätte ihre Familie schon vor Jahren zusammenrufen und wie eine herrische Matriarchin zwingen sollen, den Geschichten einer alten Frau zuzuhören. Sie hätten es nicht gewagt, sich ihrer Aufforderung zu widersetzen.
Aber sie hatte gewartet. Aber jetzt, wo der Tod bereits seinen Anspruch auf sie erhob, konnte sie es nicht länger aufschieben. Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass es draußen bereits dunkel wurde. Sie hatte die Dämmerung immer als besonders friedvoll empfunden. Nun blieb ihr keine Zeit mehr, um innezuhalten. Niemals wieder.
Neben dem Bett raschelte die gestärkte Tracht einer ihrer Pflegerinnen. Aurore bemühte sich, sich verständlich zu machen. "Ist Spencer schon da?"
"Ja, Mrs Gerritsen."
Aurore, in deren Ohren die eigene Stimme rau und profan klang, war glücklich, dass man sie verstanden hatte. "Wie lange ist er schon hier?"
"Seit fast einer Stunde. Ich habe ihm gesagt, dass Sie geweckt werden wollten, aber er hat es nicht zugelassen."
"Er beschützt mich." Aurore befeuchtete den Mund mit der Zunge. "Wie immer." "Möchten Sie etwas Wasser?"
Aurore nickte. "Nur ein Schlückchen. Dann ... Spencer."
"Sind Sie sicher, dass Sie sich gut genug fühlen?"
"Wenn ich warten würde, bis ich mich besser fühlte ... würde ich ihn nie wiedersehen."
Die Schwester nickte, während sie Wasser aus einer Karaffe in ein Glas goss, das sie an Aurores Lippen führte. "Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich Mr St. Amant hole?"
"Die Fenster. Ich will nicht, dass sie ... wieder geschlossen werden. Nie mehr." "Ich öffne auch die Balkontüren."
Draußen zirpten die ersten Zikaden des Jahres. Die Luft traf feucht auf Aurores Haut. Für einen Augenblick war sie wieder siebzehn und stand im nebligen Dunst am Ufer des Mississippis. Sie beobachtete, wie Barkassen und Dampfer gegen die Strömung ankämpften, während sie darauf wartete, dass ihr Leben begann.
"Aurore."
Aurore blickte den Mann an, der seit fast fünfzig Jahren ihr Anwalt war. "Wie fühlst du dich, meine Liebe?", fragte Spencer.
"Alt. Es tut mir leid, dass ich alt bin."
Spencer ließ sich in dem Sessel nieder, den die Schwester neben das Bett geschoben hatte. "Tatsächlich? Ich erinnere mich noch gut an dich, als du jung warst."
"Du erinnerst dich an zu viele Dinge."
"Manchmal kommt es mir auch so vor." Er nahm ihre Hand. Seine Haut war trocken. Er zitterte, als er ihre Hand umschloss.
Ihre Gedanken schweiften ab, was inzwischen häufig geschah. Sie erinnerte sich an einen Tag in Spencers Büro in der Canal Street vor vielen Jahren. Das Büro gab es immer noch, obwohl Spencer längst im Rentenalter war. Aurore war froh, dass er seine Kanzlei noch nicht einem seiner jüngeren Partner übergeben hatte.
"Du warst so elegant", sagte sie, "und leidenschaftlich. Ich dachte, du würdest mich abweisen."
"Als du zum ersten Mal zu mir kamst?" Er lachte. "Du warst so blass. Und du hast diesen Hut getragen, der deine Stirn verdeckte. Ich fand dich bezaubernd!"
"Aber was du damals gehört hast, kann dir unmöglich gefallen haben."
"Es stand mir nicht zu, das zu beurteilen. Ich versprach dir, nichts von dem, was du mir anvertraust, je weiterzusagen. Und während wir uns unterhielten, spieltest du mit einer Kette aus hellen und dunklen Perlen."
"Hell und dunkel." Aurore lächelte. "Ich erinnere mich."
"Die Perlen verschwanden zwischen deinen Fingern wie ein Rosenkranz. Du bist lange in meiner Kanzlei geblieben. In der Zeit hättest du hundert Fürbitten sprechen können."
Sie sah ihn an. "Ich will, dass du ein neues Testament für mich aufsetzt, so wie wir es aufgeschrieben haben. Ich will ... dass du das alte Testament vernichtest."
Er drückte ihre Hände. "Hast du auch gründlich darüber nachgedacht, meine Liebe?"
"Ich denke an nichts anderes."
"Die Dinge könnten anders verlaufen, als du es dir wünschst. Sie könnten mehr Schaden anrichten als Gutes nach sich ziehen. Und zu guter Letzt könnten die Menschen, die du liebst, verletzt werden."
"Mein ganzes Leben ... hatte ich Angst, die Wahrheit zu sagen."
"Und nun hast du keine Angst mehr?"
"Jetzt habe ich noch mehr Angst." Er streichelte ihre Hand, und sie fuhr fort, bevor er sie unterbrechen konnte. "Aber trotzdem ... die Wahrheit würde niemals ans Licht kommen. Nun bekommen andere die Chance, so mutig zu sein ... wie ich es nie gewesen bin."
"Das ist ein mutiger Akt."
Ihre Gedanken wanderten zu den beiden Männern, die sie geliebt hatte. Rafe. Und Hugh, ihren Sohn. Zwei Männer, die wussten, was es bedeutete, mutig zu sein. "Nein. Das ist nicht mutig", widersprach sie. "Eher die letzte verzweifelte Handlung eines Feiglings."
Während sie miteinander schwiegen, brach die Nacht herein. Schließlich fragte er: "Kann ich morgen noch einmal herkommen, um zu sehen, ob du deine Meinung geändert hast?"
"Nein. Bitte tu mir den Gefallen, Spencer, und tu, was wir besprochen haben. Wirst du nach ... Grand Isle runterfahren?"
"Ich werde tun, was immer du willst." Er führte ihre Hand an die Lippen und küsste sie. "Ich habe Dawns Adresse. Sie lebt in England und fotografiert für ein New Yorker Magazin. Ich könnte sie bitten, nach Hause zu kommen."
Einen Augenblick lang war Aurore versucht, Ja zu sagen. Um Dawn noch einmal wiederzusehen, sie ein letztes Mal zu berühren. Und um ihre Enkelin in alle Geheimnisse einzuweihen, so wie Dawn sie auch immer in alle ihre Kindergeheimnisse eingeweiht hatte.
Alle.
Aurore konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Sie war tatsächlich so feige, wie sie behauptet hatte. "Nein. Es ist das Beste, sie nicht nach Hause zu holen, bevor ..." "Ich verstehe."
"Es gibt noch so vieles, das ich tun müsste."
Spencer erhob sich. "Dann schicke ich ihr und den anderen deinen Brief ... wenn es sein muss."
"Ja. Die Briefe." Aurore dachte an die Briefe, die sie diktiert hatte. Und daran, wie viele Leben sie verändern würden.
"Du bist müde. Und du hast noch einen anderen Besucher."
Aurore fragte nicht, wer dieser Besucher war. Sie konnte an Spencers Tonfall erkennen, dass es jemand war, auf den sie sich freute.
Aurore schloss die Augen, als Spencer das Zimmer verließ. Das Zirpen der Zikaden verstärkte sich. Die Abendluft roch nach süßen Oliven und den ersten Magnolien. Ihr Duft überdeckte den Geruch von Alter und Tod.
Als sie Schritte hörte, fehlte ihr die Kraft, die Augen noch ein weiteres Mal zu öffnen. Eine feste, starke Hand griff nach ihrer Hand und sie spürte warme Lippen an ihrer Wange.
"Phillip ... ", flüsterte sie.
"Du brauchst nichts zu sagen, Aurore. Ich bleibe ein Weilchen bei dir. Ruh dich einfach aus."
Die Stimme gehörte Phillip, aber einen Moment lang erschien es Aurore so, als ob Rafe an ihrem Bett säße. In diesem Augenblick fühlte sie sich nicht mehr alt, sondern wieder jung. Ihr Leben lag noch vor ihr, und sie hatte noch keine schwerwiegenden Entscheidungen getroffen. Während sie sich den Träumen hingab, summte Phillip eines der Lieder, mit denen seine Mutter berühmt geworden war. Aurore schlief ein.
1. KAPITEL
September 1965
Der junge Mann, den Dawn am Stadtrand von New Orleans aufgegabelt hatte, sah aus wie ein Rumtreiber, genau wie viele Studenten, die in jenem Sommer durch die Welt reisten. Seine Haare waren ungewaschen, seine Kleidung war ein Mix aus Rockstar und Zirkusartist. Immerhin war er wenigstens nicht so käseweiß wie diese verrückten Liverpooler Beatles oder so braun gebrannt wie diese kalifornischen Beach Boys. Im letzten Jahr war sie mehr als genügend Männern dieser Sorte begegnet. Sie tourten häufig mit Rockbands durch Europa.
Ihr Anhalter hatte Sommersprossen und Augen dunkel wie Honig. Er nannte Ortsnamen wie Biloxi und Gulfport. Und als er sie das erste Mal "Ma'am" nannte, hätte sie ihn am liebsten zum nächsten Deich geschleppt und es ihn so lange stöhnen lassen, bis sie wirklich begriffen hätte, dass sie wieder zurück im tiefen Süden war.
Doch sie schleppte ihn nirgendwohin. Sie erinnerte sich nicht mal an seinen Namen. Dawn war mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, um ernsthaft an Sex zu denken. Und sie suchte auch nicht nach Liebe. Nach drei prägenden Studienjahren in Berkeley hatte sie es aufgegeben, an Liebe, an Religion oder an ein Happy End zu glauben.
Glücklicherweise schien der Anhalter auch nicht auf der Suche nach Liebe zu sein. Er interessierte sich mehr für alles Essbare im Handschuhfach und den Stand der Tachonadel. Nach ihrer spontanen Gefühlsaufwallung vergaß sie fast, dass er in ihrem Auto saß, bis sie den Fehler beging, das Radio lauter zu stellen. Es war fünf nach halb eins, und die Nachrichten waren fast vorbei.
"Senator Ferris Lee Gerritsen, Vorstand von Gulf Coast Shipping mit Sitz in New Orleans, kündigte heute an, dass das Unternehmen der Stadt einen Teil seiner Ländereien am Fluss zur Verfügung stellen wird. Dort soll zum Gedenken an Henry und Aurore Gerritsen, die Eltern des Senators, ein Park errichtet werden. Mrs Gerritsen, Enkelin des Gründers der Reederei, verstarb letzte Woche. Senator Gerritsen ist das einzige noch lebende Kind des Paares. Sein Bruder, Pater Hugh Gerritsen, kam letzten Sommer bei einer Bürgerrechtsdemonstration in Bonne Chance ums Leben. Der Senator wird allen Voraussagen nach 1968 für das Amt des Gouverneurs kandidieren."
Obwohl die Sonne bereits am Horizont versank, griff Dawn nach ihrer Sonnenbrille, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen geschossen waren. Als sie sich zurücklehnte, spürte sie auf einmal eine warme Hand auf ihrem Oberschenkel. Ihr Anhalter betrachtete sie mit demselben Gesichtsausdruck, der vor Kurzem noch ihren Twinkies gegolten hatte. Dawn ahnte, was er sah: eine langbeinige junge Frau mit kunstvoll bemalten blauen Augen. Einen Glücksfall mit Vermögen.
Er lächelte, während er die Hand nach oben wandern ließ. "Du heißt doch Gerritsen, oder? Bist du mit ihm verwandt?"
"Du verschwendest deine Zeit", sagte sie.
"Ich hab gerade nichts anderes zu tun."
Dawn fuhr rechts ran. Es nieselte und der Wetterbericht hatte noch mehr Regen vorhergesagt. Das änderte jedoch nichts an ihrem Entschluss. "Es wird Zeit, dir eine neue Mitfahrgelegenheit zu suchen."
"Hey, komm schon! Du ahnst ja nicht, wie ich dir die restliche Fahrt versüßen könnte."
"Entschuldigung, aber meine Vorstellungskraft ist besser, als du denkst."
Fluchend zog er die Hand zurück und schnappte sich seinem Rucksack.
Als sie weiterfuhr, geriet sie ins Grübeln, was sie um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Ihr Ausflug nach Grand Isle war keine Vergnügungsreise; sie kam wegen ihrer Großmutter, Aurore Le Danois Gerritsen. Sie hatte auf dem Totenbett verfügt, dass das Testament vor der versammelten Familie im Sommerhaus verlesen werden sollte. Das war ein Befehl.
Das letzte Mal, als Dawn die Strecke zwischen Grand Isle und New Orleans gefahren war, hatte sie ihren Führerschein gerade erst ein lang Jahr gehabt. Der Süden Louisianas war ein ständiger Dialog von Wasser und Land, und manchmal verwischten sich die Grenzen. Sie flog über das Land und pflügte durchs Wasser. Ihre Großmutter saß neben ihr und unterhielt sich mit ihr, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie von einer der unzähligen Hängebrücken in den düsteren Bayou Lafourche hätten stürzen können. Erst als Aurore danach ins Cottage humpelte, wurde Dawn klar, dass sie die ganze Zeit auf unsichtbare Gas- und Bremspedale getreten hatte.
Diese Erinnerung schnürte ihr unerwartet die Kehle zu. Der Tod ihrer Großmutter hatte sie zwar nicht überrascht, aber sie war trotzdem nicht darauf vorbereitet. Wie hätte sie auch ahnen können, dass mit Aurores ein großes Stück ihrer eigenen Identität verschwinden würde? Aurore Gerritsen hatte Dawns Leben geprägt.
Ein anderer Teil von Dawn war schon mit dem Tod ihres Onkels verschwunden. Im Radio war Hugh Gerritsens Tod nur am Rande erwähnt worden; wie eine Nachricht von vorgestern. Doch für Dawn war er noch sehr präsent. Ihr Onkel galt als umstrittene Persönlichkeit in Louisiana; ein Mann, der all die Tugenden praktizierte, die die katholische Kirche predigte. Onkel Hugh war der Mann, der ihre guten Seiten erkannt und ihr beigebracht hatte, sie ebenso zu sehen.
Zwei Tode innerhalb von zwei Jahren. Die einzigen Gerritsens, die sie je verstanden hatten, waren nun fort. Wer blieb nun übrig? Wer würde sie nun bedingungslos lieben? Sie drehte das Radio auf und zwang sich, eine Nummer von Smokey Robinson and The Miracles mitzusingen.
Eine Stunde später überquerte sie die letzte Brücke. Die Insel war alles andere als elegant, aber die Luft auf Grand Isle war so frisch wie in den Bergen und der Sand so fein wie Puderzucker. Jeden Sommer hatte Dawn hier Aurore Gesellschaft geleistet. Und Aurore hatte ihr jeden Sommer die Familiengeschichte der Gerritsens erzählt.
Heute war es windig und die Brandung gewaltig. Trotzdem ließen sich die Angler nicht abschrecken. Orkan Betsy zog von Florida herüber, aber noch glaubte niemand, dass er diesen Teil Louisianas wirklich heimsuchen würde. Falls doch, würden die Inselbewohner ihre Häuser verriegeln, alle Habseligkeiten in Autos verladen und zurückkehren, noch bevor die Evakuierung wieder aufgehoben wäre.
Die Straße, die zum Cottage der Gerritsens führte, war mit einer frischen Ladung Austernschalen aufgeschüttet worden. Das Cottage selbst wirkte wie eine Insel. Aus wettergegerbten Zypressen im traditionellen kreolischen Stil erbaut und umgeben von wild wachsendem Oleander, Jasmin und Myrten, schmiegte es sich in die Landschaft wie die knorrigen alten Wassereichen, die es umgaben. Selbst der von ihrer Großmutter entworfene Anbau sah aus, als wäre er schon immer dort gewesen.
Dawn bemerkte die frischen Spurrillen und fragte sich, ob ihre Eltern schon eingetroffen waren. Sie hatte sie weder aus London noch vom Flughafen aus angerufen, weil sie sicher war, dass sie von ihr erwartet hätten, gemeinsam mit ihnen nach Grand Isle zu fahren. Doch Dawn benötigte Zeit, um sich an die Rückkehr nach Louisiana zu gewöhnen. Sie war jetzt dreiundzwanzig und zu alt, um sich von ihrer Familie vereinnahmen zu lassen. Deshalb brauchte sie diese Extrazeit, um sich zu wappnen.
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Übersetzung: Barbara Minden
© MIRA Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Emilie Richards
Bevor Emilie Richards mit dem Schreiben begann, studierte sie Psychologie. In ihren preisgekrönten, spannenden Romanen zeigt sie sich als fundierte Kennerin der menschlichen Seele. Nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in Australien wohnt die erfolgreiche Autorin heute mit ihrem Mann, einem Pfarrer, in North Virginia.
Bibliographische Angaben
- Autor: Emilie Richards
- 2012, 460 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Barbara Minden
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 386278312X
- ISBN-13: 9783862783120
Rezension zu „Gefährliches Vermächtnis “
"Vielschichtig mit farbigen Beschreibungen und einem untrüglichen Gespür für Spannung, Romantik und Leidenschaft!" - Library Journal"Emilie Richards besitzt die herausragende Fähigkeit eindringlicher Charakterstudien."- Publishers Weekly
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