Gefangener der Sinne / Gestaltwandler Bd.5
Roman
Die Mediale Ashaya soll ein gefährliches Hirnimplantat entwickeln und flieht. Sie begegnet dem Werleoparden Dorian. Dessen Schwester wurde von einem Medialen getötet und er hat seither Rache geschworen. Doch seine Gefühle zu Ashaya bringen seinen Entschluss ins Wanken.
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Produktinformationen zu „Gefangener der Sinne / Gestaltwandler Bd.5 “
Die Mediale Ashaya soll ein gefährliches Hirnimplantat entwickeln und flieht. Sie begegnet dem Werleoparden Dorian. Dessen Schwester wurde von einem Medialen getötet und er hat seither Rache geschworen. Doch seine Gefühle zu Ashaya bringen seinen Entschluss ins Wanken.
Klappentext zu „Gefangener der Sinne / Gestaltwandler Bd.5 “
Nach außen hin ist Ashaya Aleine die perfekte Mediale: kühl, gelassen und emotionslos. Doch innerlich sind ihre Gefühle in Aufruhr. Sie wurde von ihrem Sohn getrennt und soll nun ein Hirnimplantat entwickeln, mit dem die Medialen versklavt werden können. Fieberhaft sucht sie nach einer Möglichkeit zu entkommen. Doch als ihr schließlich die Flucht gelingt, läuft sie dem Werleoparden Dorian direkt in die Arme. Dessen Schwester wurde einst von einem Medialen getötet, und seither hat er Rache geschworen. Doch seine aufkeimenden Gefühle für Ashaya bringen seinen Entschluss ins Wanken...
Lese-Probe zu „Gefangener der Sinne / Gestaltwandler Bd.5 “
Gefangener der Sinne von Nalini SinghWenn Du überleben willst, musst Du tiefer in Silentium verankert sein als der Rat, Dein Herz muss zu Eis werden, Dein Geist ein makelloses Prisma. Doch Du darfst eines nicht vergessen: Prismen brechen das Licht, verändern die Richtung des Bekannten und schaffen Splitter der Schönheit. Schaffen letztlich eine eigene Wahrheit. aus einem handgeschriebenen Brief, unterzeichnet mit ,,Iliana", Juni 2069 Die Aktion an sich war denkbar einfach. Der Scharfschütze hatte die genauen Koordinaten bekommen, wusste, an welcher Stelle der Wagen über die verschlafene Landstraße fahren würde, wie viele Personen sich in dem Fahrzeug befanden und wo das Kind saß. Den Informationen zufolge waren dem Kind die Augen verbunden worden, trotzdem gefiel dem Scharfschützen der Gedanke nicht, in Gegenwart eines unschuldigen Wesens zu töten. Doch wenn man das Kind den Händen seiner Entführer überließ, würde es unwissentlich zum Instrument des Bösen werden. Würde schließlich sterben. Der Schütze tötete nicht leichtfertig, aber wenn es um die Rettung eines Kindes ging, war er bereit, noch zu weit schlimmeren Mitteln zu greifen. ,,Los", flüsterte er, das Headset gab den Befehl an die Helfer auf der Straße weiter. Unvermittelt brach ein langsam fahrender Lastwagen auf der Gegenspur aus und rammte seitlich das Zielfahrzeug, stark genug, um es von der Straße zu drängen, aber dennoch so vorsichtig, dass niemand zu Schaden kam sie konnten es sich nicht leisten, das Kind zu verletzen. Mehr noch, sie wollten das Kind nicht verletzen. Doch der Schütze richtete seine ganze Aufmerksamkeit nicht auf das Kind, sondern ausschließlich auf das Ziel, das er im Visier hatte, als der Wagen am Straßenrand stehen blieb. Mit einem einzigen Schuss zerschmetterte er die
... mehr
Windschutzscheibe.
Zwei Sekunden später waren der Fahrer und sein Beifahrer tot, beide hatten ein Loch in der Stirn. Der Schütze hatte Spezialkugeln verwendet, die im Körper stecken blieben, um die Passagiere auf der Rückbank nicht zu gefährden. Sofort gingen die beiden hinteren Wagentüren auf, und zwei Männer sprangen heraus. Einer von ihnen sah hoch zum Versteck des Schützen in den ausladenden Ästen einer alten Kiefer. Der Scharfschütze spürte das Eindringen einer fremden Macht in seinen Kopf, aber der Mediale hatte seine telepathischen Kräfte zu spät eingesetzt. Er konnte die Kugel, die ihn im Hals traf, nicht mehr aufhalten. Seinen Helfer warf ein Treffer in der Brust zu Boden, noch bevor er den zweiten Schützen lokalisiert hatte. Der Scharfschütze war bereits mit der Waffe in der Hand auf dem Weg nach unten. Er hinterließ keine Spuren, aus denen jemand auf seine Identität hätte schließen können, und fasste auch den Wagen nicht an. ,,Konnten sie noch Alarm geben?", fragte er den unsichtbaren Beobachter. ,,Wahrscheinlich. Noch ist der Weg frei, aber wir sollten uns beeilen wenn der Rat Teleporter einsetzt, ist die Verstärkung bald da." Der Schütze sah in das Wageninnere. Auf dem Rücksitz saß ein kleiner, knapp viereinhalbjähriger Junge. Nicht nur seine Augen waren verbunden, in den Ohren steckten Stöpsel, und die Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt. Das Kind war beinahe von all seinen Sinnen abgeschnitten. Der Schütze knurrte und wurde wieder zu Dorian, die eisige Kontrolle verschwand, und der natürliche Beschützerinstinkt gewann die Oberhand. Obwohl er nicht die angeborene Fähigkeit besaß, sich in eine Raubkatze zu verwandeln, war der Leopard ein Teil von ihm. Und die gefühllose Behandlung eines wehrlosen Kindes weckte den Zorn des Tieres.
Er holte den starren, verängstigten Jungen aus dem Wagen und hielt ihn sanfter in den Armen, als man einem Scharfschützen zugetraut hätte. ,,Ich habe ihn." Aus dem Nichts tauchte ein weiterer Wagen auf. Ein schnittiges, silbernes Gefährt, eine ganz andere Kategorie als der nun verlassene Lastwagen, obwohl der Fahrer derselbe war. ,,Lass uns abhauen", sagte Clay und richtete den Blick seiner mattgrünen Augen nach vorn. Dorian glitt auf den Rücksitz, setzte die Maske ab und legte das Gewehr zur Seite, bevor er die Fesseln des Jungen mit dem Taschenmesser durchschnitt, das er stets bei sich trug. Plötzlich sah er Blut an seinen Fingern. Er zog die Hand schnell zurück, verletzte sich selbst dabei. Bei nochmaligem Hinsehen wurde ihm allerdings klar, dass er nicht etwa den Jungen unabsichtlich geschnitten hatte das Kind musste stundenlang an den Fesseln gezerrt haben. Seine Handgelenke waren wundgescheuert und nass von Blut. Dorian schluckte den Fluch hinunter, der ihm auf den Lippen lag, steckte das Messer in die Hosentasche und befreite den Jungen erst von den Ohrstöpseln und dann von der Augenbinde. Erstaunt sah er in blaugraue Augen, die in unerwartetem Kontrast zu dem dunklen Goldton seiner Haut standen, die beinahe wie antikes Geschmeide schimmerte. ,,Keenan." Der Junge sagte nichts, sein Gesicht blieb unnatürlich ruhig. Bereits in diesem Alter war er auf dem Weg in die Stille von Silentium, hatte gelernt, seine Gefühle zu unterdrücken und ein guter Medialenroboter zu sein. Aber abgesehen von dieser ruhigen Fassade war er noch viel zu jung, um die bodenlose Angst vor dem Gestaltwandler zu verbergen, der ihn gerade anblickte. Der stechende Geruch von Angstschweiß stieg Dorian in die Nase. Kinder sollten nicht gefesselt und als Geisel benutzt werden. Das war kein fairer Kampf. Der Wagen hielt noch einmal an. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich, und Judd stieg ein, ein Gewehr über der Schulter.
,,Wir müssen es jetzt tun, sonst finden sie seine Spur im Medialnet." Er legte ebenfalls die Maske ab und sah sie mit seinen kalten, braunen Augen an, strich aber sanft über das Gesicht des Jungen. ,,Keenan, wir müssen deine Verbindung zum Medialnet trennen." Der Junge wurde steif und lehnte sich an Dorian. ,,Nein." Dorian legte den Arm um den zarten, zerbrechlichen Körper. ,,Du musst tapfer sein. Deine Mutter will, dass du in Sicherheit bist." Die außergewöhnlichen Augen sahen zu ihm hoch. ,,Werdet ihr mich töten?" Dorian sah Judd an. ,,Wird es wehtun?" Ein kurzes Nicken. Dorian nahm Keenans Hand, das Blut aus seiner Wunde vermischte sich mit dem des Kindes. ,,Es wird verdammt wehtun, aber danach ist alles in Ordnung." Keenan sah ihn fassungslos an, und genau das hatte Dorian mit seinen offenen Worten beabsichtigt. Judd schloss die Augen. Der Mediale arbeitete mit allen Kräften daran, die Schilde des Jungen zu öffnen und in seinen Geist einzudringen, um Keenans Verbindung zum Medialnet zu trennen einem geistigen Netzwerk, in dem alle Medialen miteinander verbunden waren, ausgenommen natürlich die Abtrünnigen. Nur Sekunden später schrie der Junge auf, und es lag ein solcher Schmerz darin, dass Dorian Judd dafür hätte schlagen mögen. So plötzlich, wie er begonnen hatte, brach der Schrei ab, und Keenan sank bewusstlos in Dorians Arme. ,,Mein Gott", sagte Clay und bog auf eine stark befahrene Schnellstraße ein. ,,Ist alles in Ordnung mit dem Jungen? Tally bringt mich um, wenn er auch nur einen Kratzer abbekommen hat." Dorian strich dem Kind die Haare aus der Stirn. Sie waren ganz glatt, nicht gelockt wie die seiner Mutter. Er hatte sie zwar nur einmal durch das Zielfernrohr seines Gewehrs gesehen, und die Haare waren zu einem Zopf geflochten gewesen, aber er hatte sie trotzdem wiedererkannt. ,,Er atmet." ,,Nun", Judd zögerte, weiße Linien zogen sich um seinen Mund, ,,das ist seltsam." ,,Was denn?" Dorian zog die Jacke aus und deckte Keenan damit zu. ,,Ich sollte ihn in das Netzwerk unserer Familie holen." Judd rieb sich unwillkürlich die Schläfen und sah Keenan an.
,,Aber er ist ... irgendwo anders hingegangen. Da er noch am Leben ist, nehme ich an, er hat sich dem geheimen Netzwerk der DarkRiver-Leoparden angeschlossen von dem ich eigentlich nichts wissen darf." Dorian schüttelte den Kopf. ,,Unmöglich." Medialengehirne waren anders als die der Menschen oder der Gestaltwandler sie brauchten das Biofeedback eines geistigen Netzwerks. Trennte man diese Verbindung, trat beinahe augenblicklich der Tod ein. Deshalb waren Abtrünnige äußerst dünn gesät. Judds Familie Lauren hatte es nur geschafft, indem sie selbst ein kleines Netzwerk aufgebaut hatte. Mit ihren geistigen Gaben konnten sie das sogenannte Laurennetz weiterführen und neue Mitglieder aufnehmen. Aber das Sternennetz, das Netz der Leoparden, war ganz anders. ,,Er kann unmöglich in unser Netz gelangt sein." Dorian runzelte die Stirn. ,,Es ist ein Gebilde der Gestaltwandler." Durch Loyalität entstanden, nicht aus Notwendigkeit, gewährte es nur einer ausgewählten Schar Zutritt den Wächtern der Leoparden, die ihrem Alphatier Lucas die Treue geschworen hatten, und deren Gefährtinnen. Judd zuckte die Achseln und lehnte sich zurück. ,,Vielleicht hat der Junge ja Gestaltwandlerblut." ,,Wenn es dafür reichte, könnte er sich auch verwandeln", stellte Clay fest. ,,Außerdem spürt mein Tier nichts Animalisches in ihm. Er ist ein Medialer." ,,Mag sein, aber sobald ihm der Zugang zum Medialnet versperrt war, ist sein Bewusstsein zu Dorian gewandert. Ich kann euer Netzwerk nicht sehen, aber ich vermute, dass er mit dir verbunden ist." Er nickte Dorian zu. ,,Und über dich dann mit eurem Netz. Ich könnte versuchen, auch diese Verbindung zu trennen", fuhr er mit offensichtlichem Widerwillen fort, ,,und ihn mit Gewalt in unser Netz zwingen, aber das wäre nur noch ein weiteres Trauma." Dorian sah den Jungen an und spürte, wie der Leopard in ihm sich schützend über das Kind kauerte. ,,Dann bleibt er wohl bei uns. Willkommen bei den DarkRiver-Leoparden, Keenan Aleine." Etliche Kilometer entfernt, in einem Laboratorium unter der Erde, schwankte Ashaya Aleine, ein verheerender geistiger Schlag hatte sie getroffen.
Ihr Sohn war fort und eine Verbindung abgeschnitten, von der sie nichts geahnt hatte. Entweder war Keenan tot oder ... Sie dachte an die erste der beiden Nachrichten, die sie letzte Woche durch den Müllschlucker des Labors nach draußen geschmuggelt hatte; Leute, deren Loyalität eher ihr als dem tyrannischen Rat galt, hatten sie einem menschlichen Wesen namens Talin McKade übermittelt. Ich rufe meine Schuldner auf. Wenn alles gut gegangen war, hatten es Talin McKade und ihre Freunde geschafft. Ashaya ging in Gedanken zurück zu jener Nacht vor zwei Monaten, als sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um einen Jugendlichen und ein kleines Mädchen aus den tödlichen Fängen des Labors zu befreien bevor sie auch noch den völkermörderischen Experimenten eines anderen Wissenschaftlers zum Opfer gefallen waren. Auf ihrem Weg zurück zum Labor hatte der namenlose Scharfschütze sie aufgespürt, dessen Stimme so kalt wie die eines medialen Auftragskillers war. ,,Meine Waffe ist auf Ihre Schläfe gerichtet, und ich verfehle nie mein Ziel." ,,Ich habe zwei Unschuldige gerettet. Sie werden mich nicht töten." Sie hatte sich eingebildet, ein Lachen zu hören, war sich aber nicht sicher gewesen. ,,Was verlangen Sie als Gegenleistung?" ,,Sie sind ein Mann. Also können Sie nicht Talin McKade sein." ,,Ich bin ein Freund von ihr. Sie hat noch andere. Und wir stehen für unsere Schulden gerade."
,,Sie können sie begleichen", hatte sie gesagt, ,,indem Sie meinen Sohn entführen." Ihre Nachricht hatte die Dinge ins Rollen gebracht. Sie hatte jeden Gefallen eingefordert, den man ihr schuldete, und geistige Schilde aufgestellt, um Keenan vor einer erneuten Entführung durch das Medialnet zu bewahren. Aber jetzt war er fort daran bestand kein Zweifel mehr. Und außerhalb des Medialnet konnte kein Medialer überleben. Ihr fiel ein, dass zum Rudel der DarkRiver-Leoparden auch zwei Mediale gehörten, die sehr wohl überlebt hatten. Waren die Freunde von Talin McKade vielleicht Raubkatzen? Das war eine reine Vermutung, sie hatte nichts, um sie zu stützen oder nachzuprüfen. Sie war vollkommen abgeschottet, verfügte weder über eine geistige noch eine elektronische Verbindung nach draußen, ihr Internet-Zugang war gesperrt, ihr Zugriff auf die Weiten des Medialnet wurde von Telepathen unter der Leitung von Ming LeBon überwacht. Daher würde sie, die sonst niemandem traute, sich auf das Wort des Scharfschützen verlassen müssen, dass Keenan in Sicherheit gebracht werden würde. Ihr Kopf brummte immer noch von der Durchtrennung der unerklärlichen Verbindung, und sie saß noch einige Zeit wie erstarrt da, ehe sie sich wieder gefangen hatte. Niemand durfte erfahren, dass sie etwas gespürt hatte, dass sie wusste, dass sich ihr Sohn nicht mehr im Medialnet befand. Dabei konnte sie das gar nicht wissen. Jeder Mediale war vollkommen autonom. Selbst in den dunklen Weiten des Netzwerks, in der jedes geistige Wesen als leuchtender Stern ohne die Einschränkungen seines Körpers existierte, verbargen sie sich hinter Unmengen von Schilden und blieben getrennt voneinander. Es gab weder unscharfe Grenzen noch Verbindungen von Bewusstsein zu Bewusstsein.
So war es nicht immer gewesen nach den Berichten, die sie während ihrer Studienzeit in frühen Quellen gefunden hatte, hatte das Medialnet anfangs die emotionalen Verbindungen aller Beteiligten gespiegelt. Silentium hatte diese Verbindungen aus Zuneigung oder Blutsverwandtschaft getrennt und eine Welt der Isolation geschaffen jedenfalls war das die allgemein akzeptierte Ansicht. Ashaya hatte immer gewusst, dass es eine Lüge war. Amaras wegen. Und jetzt auch Keenans wegen. Keenan und Amara. Ihre beiden Schwächen, das doppelschneidige Schwert, das Tag und Nacht über ihr hing. Nur ein einziger Fehler, und es würde auf sie niederfahren. Hinter ihr ging die Tür auf. ,,Ja, bitte?", fragte sie ruhig, obwohl ihr Geist von Erinnerungen überflutet wurde, die normalerweise hinter einer undurchdringlichen Wand versteckt waren. ,,Ratsherr LeBon hat angerufen." Ashaya wandte sich zu der schlanken, blonden Frau um. ,,Vielen Dank." Ekaterina nickte und verschwand. Sie hüteten sich davor, innerhalb dieser vier Wände verräterische Worte auszutauschen. Zu viele Augen ruhten auf ihnen. Zu viele Ohren hörten mit. Ashaya stellte den hellen Monitor auf Kommunikationsmodus und nahm den Anruf an. Sie selbst konnte nicht mehr nach draußen telefonieren. Nach der Flucht der Kinder hatte man die völlige Abschottung des Labors beschlossen, obwohl die beiden offiziell als tot galten Ashayas Händen zum Opfer gefallen. Doch Ming war misstrauisch, das wusste sie. Um sie zu quälen, hatte er sie in dieses Grab aus Kunststoffbeton eingeschlossen; viele Tonnen Erde lagen über ihr, und er wusste, dass sie aufgrund eines psychologischen Defekts den Gedanken nicht ertragen konnte, lebendig begraben zu sein. ,,Ratsherr", sagte sie, als Mings Gesicht auf dem Bildschirm erschien, die nachtschwarzen Augen des Kardinalmedialen sie anblickten. ,,Was kann ich für Sie tun?" ,,Ihr Sohn sollte Sie in dieser Woche besuchen." Ashaya konzentrierte sich darauf, ihren Puls normal schlagen zu lassen sie spürte noch Nachwirkungen über die plötzliche Trennung von Keenan.
Um ihren Plan auszuführen, musste sie kalt wie Eis bleiben, tiefer in Silentium sinken als der Rat selbst. ,,Das ist Teil der Vereinbarungen." ,,Der Besuch wird sich verzögern." ,,Warum?" Ihre Macht war zwar sehr beschränkt, aber sie befand sich auch nicht völlig in Mings Gewalt er wusste genauso gut wie sie, dass sie die einzige M-Mediale war, die Programm 1 fertigstellen konnte. ,,Der biologische Vater des Kindes hat einen Antrag auf eine spezielle Ausbildung gestellt. Ihm ist stattgegeben worden." Ashaya wusste genau, dass Zie Zen einen solchen Schritt niemals getan hätte, ohne sich vorher mit ihr abzusprechen. Aber dieses Wissen sagte ihr leider nicht, ob Keenan tot oder noch am Leben war. ,,Die Verzögerung wird meine Ausbildung des Jungen schwieriger gestalten." ,,Die Entscheidung ist bereits gefallen." Mings Augen wurden ganz schwarz, die wenigen weißen Sterne verschwanden völlig. ,,Sie sollten sich auf Ihre Forschungen konzentrieren. In den letzten beiden Monaten hat es keine nennenswerten Fortschritte gegeben." Zwei Monate. Acht Wochen. Sechsundfünfzig Tage. So viel Zeit war seit der Flucht der beiden Kinder vergangen ... seitdem war sie in diesem Implantationslabor lebendig begraben. ,,Ich habe das Problem der statischen Störungen gelöst", erinnerte sie Ming, während sie die bedrohlich wachsende Enge in ihrer Brust wahrnahm eine Stressreaktion. Keenans plötzliches Verschwinden hatte Risse in ihrer geistigen Rüstung hinterlassen. ,,Kein Implantat kann funktionieren, wenn es permanent mit den Gedanken anderer bombardiert wird." Der Rat hatte vor, das Medialnet in ein großes kollektives Gehirn zu verwandeln, ohne Abgrenzung voneinander. Dann würde es keine Abtrünnigen mehr geben, nur noch ein einziges, einheitliches Denken.
Aber eine solche reine Konformität war nicht erstrebenswert. Einfacher gesagt, ein kollektives Gehirn war nur lebensfähig mit einer Königin an der Spitze. Weshalb man Ashaya angewiesen hatte, unterschiedlich ausgerüstete Implantate zu entwickeln. Die am höchsten entwickelten würden ihren Trägern eine vollkommene Kontrolle über alle anderen Individuen verschaffen, sie würden sogar in jeden Kopf des kollektiven Gehirns eindringen und die anderen wie Marionetten in jede Richtung lenken können. Eine Privatsphäre gab es dann nicht mehr, abweichende Meinungen wären ein Ding der Unmöglichkeit. Ming nickte kurz. ,,Ihr Erfolg bei den statischen Störungen war wirklich beeindruckend, kann aber die fehlenden Fortschritte seitdem nicht kompensieren." ,,Bei allem Respekt", sagte Ashaya, ,,da kann ich Ihnen leider nicht zustimmen. Bislang hat niemand auch nur ansatzweise etwas Ähnliches geschafft. Theoretisch wurde die Eliminierung der statischen Störungen immer als unlösbares Problem angesehen." Ashayas Gedanken überschlugen sich, während sie einen weiteren vorsichtigen Schritt auf dem straff gespannten Seil machte. Wagte sie sich zu weit vor, würde Ming sie ohne Zögern töten. War sie zu zaghaft, würde er das als Schwäche auslegen und über ihre Fähigkeiten auch ohne ihre Zustimmung verfügen. ,,Ich kann den Prozess beschleunigen, wenn Sie wollen.
Aber wenn die Implantate dann versagen, sollten Sie nicht mir die Schuld geben. Ich möchte, dass das schriftlich festgehalten wird." ,,Wollen Sie mich denn zum Feind, Ashaya?" Ming stellte diese Frage ganz leise, fast tonlos, und doch legte sich die Drohung dahinter wie ein dunkler Schatten auf ihren Geist. Ließ Ming bereits seine geistigen Muskeln spielen? Da er ein Kardinalmedialer mit besonderen Fähigkeiten im geistigen Zweikampf war, war das mehr als wahrscheinlich. Mit einem einzigen Gedanken konnte er ihr Gehirn in Brei verwandeln. Wenn sie ein Mensch oder Gestaltwandler gewesen wäre, hätte Ashaya vielleicht Furcht empfunden. Aber sie war eine Mediale, von Geburt an konditioniert, nichts zu empfinden.
© 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Zwei Sekunden später waren der Fahrer und sein Beifahrer tot, beide hatten ein Loch in der Stirn. Der Schütze hatte Spezialkugeln verwendet, die im Körper stecken blieben, um die Passagiere auf der Rückbank nicht zu gefährden. Sofort gingen die beiden hinteren Wagentüren auf, und zwei Männer sprangen heraus. Einer von ihnen sah hoch zum Versteck des Schützen in den ausladenden Ästen einer alten Kiefer. Der Scharfschütze spürte das Eindringen einer fremden Macht in seinen Kopf, aber der Mediale hatte seine telepathischen Kräfte zu spät eingesetzt. Er konnte die Kugel, die ihn im Hals traf, nicht mehr aufhalten. Seinen Helfer warf ein Treffer in der Brust zu Boden, noch bevor er den zweiten Schützen lokalisiert hatte. Der Scharfschütze war bereits mit der Waffe in der Hand auf dem Weg nach unten. Er hinterließ keine Spuren, aus denen jemand auf seine Identität hätte schließen können, und fasste auch den Wagen nicht an. ,,Konnten sie noch Alarm geben?", fragte er den unsichtbaren Beobachter. ,,Wahrscheinlich. Noch ist der Weg frei, aber wir sollten uns beeilen wenn der Rat Teleporter einsetzt, ist die Verstärkung bald da." Der Schütze sah in das Wageninnere. Auf dem Rücksitz saß ein kleiner, knapp viereinhalbjähriger Junge. Nicht nur seine Augen waren verbunden, in den Ohren steckten Stöpsel, und die Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt. Das Kind war beinahe von all seinen Sinnen abgeschnitten. Der Schütze knurrte und wurde wieder zu Dorian, die eisige Kontrolle verschwand, und der natürliche Beschützerinstinkt gewann die Oberhand. Obwohl er nicht die angeborene Fähigkeit besaß, sich in eine Raubkatze zu verwandeln, war der Leopard ein Teil von ihm. Und die gefühllose Behandlung eines wehrlosen Kindes weckte den Zorn des Tieres.
Er holte den starren, verängstigten Jungen aus dem Wagen und hielt ihn sanfter in den Armen, als man einem Scharfschützen zugetraut hätte. ,,Ich habe ihn." Aus dem Nichts tauchte ein weiterer Wagen auf. Ein schnittiges, silbernes Gefährt, eine ganz andere Kategorie als der nun verlassene Lastwagen, obwohl der Fahrer derselbe war. ,,Lass uns abhauen", sagte Clay und richtete den Blick seiner mattgrünen Augen nach vorn. Dorian glitt auf den Rücksitz, setzte die Maske ab und legte das Gewehr zur Seite, bevor er die Fesseln des Jungen mit dem Taschenmesser durchschnitt, das er stets bei sich trug. Plötzlich sah er Blut an seinen Fingern. Er zog die Hand schnell zurück, verletzte sich selbst dabei. Bei nochmaligem Hinsehen wurde ihm allerdings klar, dass er nicht etwa den Jungen unabsichtlich geschnitten hatte das Kind musste stundenlang an den Fesseln gezerrt haben. Seine Handgelenke waren wundgescheuert und nass von Blut. Dorian schluckte den Fluch hinunter, der ihm auf den Lippen lag, steckte das Messer in die Hosentasche und befreite den Jungen erst von den Ohrstöpseln und dann von der Augenbinde. Erstaunt sah er in blaugraue Augen, die in unerwartetem Kontrast zu dem dunklen Goldton seiner Haut standen, die beinahe wie antikes Geschmeide schimmerte. ,,Keenan." Der Junge sagte nichts, sein Gesicht blieb unnatürlich ruhig. Bereits in diesem Alter war er auf dem Weg in die Stille von Silentium, hatte gelernt, seine Gefühle zu unterdrücken und ein guter Medialenroboter zu sein. Aber abgesehen von dieser ruhigen Fassade war er noch viel zu jung, um die bodenlose Angst vor dem Gestaltwandler zu verbergen, der ihn gerade anblickte. Der stechende Geruch von Angstschweiß stieg Dorian in die Nase. Kinder sollten nicht gefesselt und als Geisel benutzt werden. Das war kein fairer Kampf. Der Wagen hielt noch einmal an. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich, und Judd stieg ein, ein Gewehr über der Schulter.
,,Wir müssen es jetzt tun, sonst finden sie seine Spur im Medialnet." Er legte ebenfalls die Maske ab und sah sie mit seinen kalten, braunen Augen an, strich aber sanft über das Gesicht des Jungen. ,,Keenan, wir müssen deine Verbindung zum Medialnet trennen." Der Junge wurde steif und lehnte sich an Dorian. ,,Nein." Dorian legte den Arm um den zarten, zerbrechlichen Körper. ,,Du musst tapfer sein. Deine Mutter will, dass du in Sicherheit bist." Die außergewöhnlichen Augen sahen zu ihm hoch. ,,Werdet ihr mich töten?" Dorian sah Judd an. ,,Wird es wehtun?" Ein kurzes Nicken. Dorian nahm Keenans Hand, das Blut aus seiner Wunde vermischte sich mit dem des Kindes. ,,Es wird verdammt wehtun, aber danach ist alles in Ordnung." Keenan sah ihn fassungslos an, und genau das hatte Dorian mit seinen offenen Worten beabsichtigt. Judd schloss die Augen. Der Mediale arbeitete mit allen Kräften daran, die Schilde des Jungen zu öffnen und in seinen Geist einzudringen, um Keenans Verbindung zum Medialnet zu trennen einem geistigen Netzwerk, in dem alle Medialen miteinander verbunden waren, ausgenommen natürlich die Abtrünnigen. Nur Sekunden später schrie der Junge auf, und es lag ein solcher Schmerz darin, dass Dorian Judd dafür hätte schlagen mögen. So plötzlich, wie er begonnen hatte, brach der Schrei ab, und Keenan sank bewusstlos in Dorians Arme. ,,Mein Gott", sagte Clay und bog auf eine stark befahrene Schnellstraße ein. ,,Ist alles in Ordnung mit dem Jungen? Tally bringt mich um, wenn er auch nur einen Kratzer abbekommen hat." Dorian strich dem Kind die Haare aus der Stirn. Sie waren ganz glatt, nicht gelockt wie die seiner Mutter. Er hatte sie zwar nur einmal durch das Zielfernrohr seines Gewehrs gesehen, und die Haare waren zu einem Zopf geflochten gewesen, aber er hatte sie trotzdem wiedererkannt. ,,Er atmet." ,,Nun", Judd zögerte, weiße Linien zogen sich um seinen Mund, ,,das ist seltsam." ,,Was denn?" Dorian zog die Jacke aus und deckte Keenan damit zu. ,,Ich sollte ihn in das Netzwerk unserer Familie holen." Judd rieb sich unwillkürlich die Schläfen und sah Keenan an.
,,Aber er ist ... irgendwo anders hingegangen. Da er noch am Leben ist, nehme ich an, er hat sich dem geheimen Netzwerk der DarkRiver-Leoparden angeschlossen von dem ich eigentlich nichts wissen darf." Dorian schüttelte den Kopf. ,,Unmöglich." Medialengehirne waren anders als die der Menschen oder der Gestaltwandler sie brauchten das Biofeedback eines geistigen Netzwerks. Trennte man diese Verbindung, trat beinahe augenblicklich der Tod ein. Deshalb waren Abtrünnige äußerst dünn gesät. Judds Familie Lauren hatte es nur geschafft, indem sie selbst ein kleines Netzwerk aufgebaut hatte. Mit ihren geistigen Gaben konnten sie das sogenannte Laurennetz weiterführen und neue Mitglieder aufnehmen. Aber das Sternennetz, das Netz der Leoparden, war ganz anders. ,,Er kann unmöglich in unser Netz gelangt sein." Dorian runzelte die Stirn. ,,Es ist ein Gebilde der Gestaltwandler." Durch Loyalität entstanden, nicht aus Notwendigkeit, gewährte es nur einer ausgewählten Schar Zutritt den Wächtern der Leoparden, die ihrem Alphatier Lucas die Treue geschworen hatten, und deren Gefährtinnen. Judd zuckte die Achseln und lehnte sich zurück. ,,Vielleicht hat der Junge ja Gestaltwandlerblut." ,,Wenn es dafür reichte, könnte er sich auch verwandeln", stellte Clay fest. ,,Außerdem spürt mein Tier nichts Animalisches in ihm. Er ist ein Medialer." ,,Mag sein, aber sobald ihm der Zugang zum Medialnet versperrt war, ist sein Bewusstsein zu Dorian gewandert. Ich kann euer Netzwerk nicht sehen, aber ich vermute, dass er mit dir verbunden ist." Er nickte Dorian zu. ,,Und über dich dann mit eurem Netz. Ich könnte versuchen, auch diese Verbindung zu trennen", fuhr er mit offensichtlichem Widerwillen fort, ,,und ihn mit Gewalt in unser Netz zwingen, aber das wäre nur noch ein weiteres Trauma." Dorian sah den Jungen an und spürte, wie der Leopard in ihm sich schützend über das Kind kauerte. ,,Dann bleibt er wohl bei uns. Willkommen bei den DarkRiver-Leoparden, Keenan Aleine." Etliche Kilometer entfernt, in einem Laboratorium unter der Erde, schwankte Ashaya Aleine, ein verheerender geistiger Schlag hatte sie getroffen.
Ihr Sohn war fort und eine Verbindung abgeschnitten, von der sie nichts geahnt hatte. Entweder war Keenan tot oder ... Sie dachte an die erste der beiden Nachrichten, die sie letzte Woche durch den Müllschlucker des Labors nach draußen geschmuggelt hatte; Leute, deren Loyalität eher ihr als dem tyrannischen Rat galt, hatten sie einem menschlichen Wesen namens Talin McKade übermittelt. Ich rufe meine Schuldner auf. Wenn alles gut gegangen war, hatten es Talin McKade und ihre Freunde geschafft. Ashaya ging in Gedanken zurück zu jener Nacht vor zwei Monaten, als sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um einen Jugendlichen und ein kleines Mädchen aus den tödlichen Fängen des Labors zu befreien bevor sie auch noch den völkermörderischen Experimenten eines anderen Wissenschaftlers zum Opfer gefallen waren. Auf ihrem Weg zurück zum Labor hatte der namenlose Scharfschütze sie aufgespürt, dessen Stimme so kalt wie die eines medialen Auftragskillers war. ,,Meine Waffe ist auf Ihre Schläfe gerichtet, und ich verfehle nie mein Ziel." ,,Ich habe zwei Unschuldige gerettet. Sie werden mich nicht töten." Sie hatte sich eingebildet, ein Lachen zu hören, war sich aber nicht sicher gewesen. ,,Was verlangen Sie als Gegenleistung?" ,,Sie sind ein Mann. Also können Sie nicht Talin McKade sein." ,,Ich bin ein Freund von ihr. Sie hat noch andere. Und wir stehen für unsere Schulden gerade."
,,Sie können sie begleichen", hatte sie gesagt, ,,indem Sie meinen Sohn entführen." Ihre Nachricht hatte die Dinge ins Rollen gebracht. Sie hatte jeden Gefallen eingefordert, den man ihr schuldete, und geistige Schilde aufgestellt, um Keenan vor einer erneuten Entführung durch das Medialnet zu bewahren. Aber jetzt war er fort daran bestand kein Zweifel mehr. Und außerhalb des Medialnet konnte kein Medialer überleben. Ihr fiel ein, dass zum Rudel der DarkRiver-Leoparden auch zwei Mediale gehörten, die sehr wohl überlebt hatten. Waren die Freunde von Talin McKade vielleicht Raubkatzen? Das war eine reine Vermutung, sie hatte nichts, um sie zu stützen oder nachzuprüfen. Sie war vollkommen abgeschottet, verfügte weder über eine geistige noch eine elektronische Verbindung nach draußen, ihr Internet-Zugang war gesperrt, ihr Zugriff auf die Weiten des Medialnet wurde von Telepathen unter der Leitung von Ming LeBon überwacht. Daher würde sie, die sonst niemandem traute, sich auf das Wort des Scharfschützen verlassen müssen, dass Keenan in Sicherheit gebracht werden würde. Ihr Kopf brummte immer noch von der Durchtrennung der unerklärlichen Verbindung, und sie saß noch einige Zeit wie erstarrt da, ehe sie sich wieder gefangen hatte. Niemand durfte erfahren, dass sie etwas gespürt hatte, dass sie wusste, dass sich ihr Sohn nicht mehr im Medialnet befand. Dabei konnte sie das gar nicht wissen. Jeder Mediale war vollkommen autonom. Selbst in den dunklen Weiten des Netzwerks, in der jedes geistige Wesen als leuchtender Stern ohne die Einschränkungen seines Körpers existierte, verbargen sie sich hinter Unmengen von Schilden und blieben getrennt voneinander. Es gab weder unscharfe Grenzen noch Verbindungen von Bewusstsein zu Bewusstsein.
So war es nicht immer gewesen nach den Berichten, die sie während ihrer Studienzeit in frühen Quellen gefunden hatte, hatte das Medialnet anfangs die emotionalen Verbindungen aller Beteiligten gespiegelt. Silentium hatte diese Verbindungen aus Zuneigung oder Blutsverwandtschaft getrennt und eine Welt der Isolation geschaffen jedenfalls war das die allgemein akzeptierte Ansicht. Ashaya hatte immer gewusst, dass es eine Lüge war. Amaras wegen. Und jetzt auch Keenans wegen. Keenan und Amara. Ihre beiden Schwächen, das doppelschneidige Schwert, das Tag und Nacht über ihr hing. Nur ein einziger Fehler, und es würde auf sie niederfahren. Hinter ihr ging die Tür auf. ,,Ja, bitte?", fragte sie ruhig, obwohl ihr Geist von Erinnerungen überflutet wurde, die normalerweise hinter einer undurchdringlichen Wand versteckt waren. ,,Ratsherr LeBon hat angerufen." Ashaya wandte sich zu der schlanken, blonden Frau um. ,,Vielen Dank." Ekaterina nickte und verschwand. Sie hüteten sich davor, innerhalb dieser vier Wände verräterische Worte auszutauschen. Zu viele Augen ruhten auf ihnen. Zu viele Ohren hörten mit. Ashaya stellte den hellen Monitor auf Kommunikationsmodus und nahm den Anruf an. Sie selbst konnte nicht mehr nach draußen telefonieren. Nach der Flucht der Kinder hatte man die völlige Abschottung des Labors beschlossen, obwohl die beiden offiziell als tot galten Ashayas Händen zum Opfer gefallen. Doch Ming war misstrauisch, das wusste sie. Um sie zu quälen, hatte er sie in dieses Grab aus Kunststoffbeton eingeschlossen; viele Tonnen Erde lagen über ihr, und er wusste, dass sie aufgrund eines psychologischen Defekts den Gedanken nicht ertragen konnte, lebendig begraben zu sein. ,,Ratsherr", sagte sie, als Mings Gesicht auf dem Bildschirm erschien, die nachtschwarzen Augen des Kardinalmedialen sie anblickten. ,,Was kann ich für Sie tun?" ,,Ihr Sohn sollte Sie in dieser Woche besuchen." Ashaya konzentrierte sich darauf, ihren Puls normal schlagen zu lassen sie spürte noch Nachwirkungen über die plötzliche Trennung von Keenan.
Um ihren Plan auszuführen, musste sie kalt wie Eis bleiben, tiefer in Silentium sinken als der Rat selbst. ,,Das ist Teil der Vereinbarungen." ,,Der Besuch wird sich verzögern." ,,Warum?" Ihre Macht war zwar sehr beschränkt, aber sie befand sich auch nicht völlig in Mings Gewalt er wusste genauso gut wie sie, dass sie die einzige M-Mediale war, die Programm 1 fertigstellen konnte. ,,Der biologische Vater des Kindes hat einen Antrag auf eine spezielle Ausbildung gestellt. Ihm ist stattgegeben worden." Ashaya wusste genau, dass Zie Zen einen solchen Schritt niemals getan hätte, ohne sich vorher mit ihr abzusprechen. Aber dieses Wissen sagte ihr leider nicht, ob Keenan tot oder noch am Leben war. ,,Die Verzögerung wird meine Ausbildung des Jungen schwieriger gestalten." ,,Die Entscheidung ist bereits gefallen." Mings Augen wurden ganz schwarz, die wenigen weißen Sterne verschwanden völlig. ,,Sie sollten sich auf Ihre Forschungen konzentrieren. In den letzten beiden Monaten hat es keine nennenswerten Fortschritte gegeben." Zwei Monate. Acht Wochen. Sechsundfünfzig Tage. So viel Zeit war seit der Flucht der beiden Kinder vergangen ... seitdem war sie in diesem Implantationslabor lebendig begraben. ,,Ich habe das Problem der statischen Störungen gelöst", erinnerte sie Ming, während sie die bedrohlich wachsende Enge in ihrer Brust wahrnahm eine Stressreaktion. Keenans plötzliches Verschwinden hatte Risse in ihrer geistigen Rüstung hinterlassen. ,,Kein Implantat kann funktionieren, wenn es permanent mit den Gedanken anderer bombardiert wird." Der Rat hatte vor, das Medialnet in ein großes kollektives Gehirn zu verwandeln, ohne Abgrenzung voneinander. Dann würde es keine Abtrünnigen mehr geben, nur noch ein einziges, einheitliches Denken.
Aber eine solche reine Konformität war nicht erstrebenswert. Einfacher gesagt, ein kollektives Gehirn war nur lebensfähig mit einer Königin an der Spitze. Weshalb man Ashaya angewiesen hatte, unterschiedlich ausgerüstete Implantate zu entwickeln. Die am höchsten entwickelten würden ihren Trägern eine vollkommene Kontrolle über alle anderen Individuen verschaffen, sie würden sogar in jeden Kopf des kollektiven Gehirns eindringen und die anderen wie Marionetten in jede Richtung lenken können. Eine Privatsphäre gab es dann nicht mehr, abweichende Meinungen wären ein Ding der Unmöglichkeit. Ming nickte kurz. ,,Ihr Erfolg bei den statischen Störungen war wirklich beeindruckend, kann aber die fehlenden Fortschritte seitdem nicht kompensieren." ,,Bei allem Respekt", sagte Ashaya, ,,da kann ich Ihnen leider nicht zustimmen. Bislang hat niemand auch nur ansatzweise etwas Ähnliches geschafft. Theoretisch wurde die Eliminierung der statischen Störungen immer als unlösbares Problem angesehen." Ashayas Gedanken überschlugen sich, während sie einen weiteren vorsichtigen Schritt auf dem straff gespannten Seil machte. Wagte sie sich zu weit vor, würde Ming sie ohne Zögern töten. War sie zu zaghaft, würde er das als Schwäche auslegen und über ihre Fähigkeiten auch ohne ihre Zustimmung verfügen. ,,Ich kann den Prozess beschleunigen, wenn Sie wollen.
Aber wenn die Implantate dann versagen, sollten Sie nicht mir die Schuld geben. Ich möchte, dass das schriftlich festgehalten wird." ,,Wollen Sie mich denn zum Feind, Ashaya?" Ming stellte diese Frage ganz leise, fast tonlos, und doch legte sich die Drohung dahinter wie ein dunkler Schatten auf ihren Geist. Ließ Ming bereits seine geistigen Muskeln spielen? Da er ein Kardinalmedialer mit besonderen Fähigkeiten im geistigen Zweikampf war, war das mehr als wahrscheinlich. Mit einem einzigen Gedanken konnte er ihr Gehirn in Brei verwandeln. Wenn sie ein Mensch oder Gestaltwandler gewesen wäre, hätte Ashaya vielleicht Furcht empfunden. Aber sie war eine Mediale, von Geburt an konditioniert, nichts zu empfinden.
© 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Nalini Singh
Nalini Singh wurde auf den Fidschi-Inseln geboren und ist in Neuseeland aufgewachsen. Nach verschiedenen Tätigkeiten begann sie 2003 eine Karriere als Autorin von Liebesromanen. Mit ihrer Gestaltwandlerserie feiert sie international große Erfolge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nalini Singh
- Altersempfehlung: Ab 16 Jahre
- 2010, 5. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Nora Lachmann
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802582721
- ISBN-13: 9783802582721
- Erscheinungsdatum: 09.03.2010
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