Gefrorene Seelen
In der klirrenden Kälte des kanadischen Winters wird in einem Minenschacht, festgefroren in einem Eisblock, die grausig zugerichtete Leiche eines Mädchens gefunden. Und in der Provinzstadt Algonquin Bay sind noch drei weitere Teenager spurlos...
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In der klirrenden Kälte des kanadischen Winters wird in einem Minenschacht, festgefroren in einem Eisblock, die grausig zugerichtete Leiche eines Mädchens gefunden. Und in der Provinzstadt Algonquin Bay sind noch drei weitere Teenager spurlos verschwunden. Detective John Cardinal glaubt, dass ein perverser Serienkiller sein Unwesen treibt. Doch die Wahrheit ist noch viel erschreckender.
Gefrorene Seelen von Giles Blunt
LESEPROBE
ImMondlicht hatten die Schatten messerscharfe Konturen, die hin und her sprangenund zitterten, als sie sich näherten. Die Fahrzeuge kamen nacheinander an undparkten in einer Reihe. Das Licht der Scheinwerfer bildete zusammen einen langgezogenen weißen Wall. Dahinter nichts als Finsternis. Cardinal und die anderen versammelten sich auf dem Eis. Inihren langen schweren Mänteln und unförmigen wadenhohenSchneestiefeln sahen sie aus wie die Mitglieder einer Mondlandungsexpedition.Klamm vor Kälte traten sie von einem Fuß auf den anderen. Insgesamt waren sieacht: Cardinal und Delorme,Dr. Barnhouse, der Coroner,Arsenault und Collingwood,die Männer von der Spurensicherung, Larry Burke und Ken Szelagy,blau uniformierte Beamte im Streifendienst, und Jerry Commandavon der Ontario Provincial Police, der als Letzter ineinem Zivilfahrzeug angekommen war. Die Ontario ProvincialPolice, kurz OPP, war für die Sicherheit auf den Fernstraßen verantwortlich undversah alle polizeilichen Aufgaben in Gemeinden, die über keinen eigenenPolizeiposten verfügten. Sie hatte auch die polizeiliche Hoheit über die Seenund Indianerreservate, doch bei Jerry brauchte man Diskussionen über Fragen derZuständigkeit nicht zu fürchten. Alle acht hatten sich in einem unregelmäßigenHalbkreis aufgestellt und warfen im Scheinwerferlicht lange Schatten. Barnhouse sprach als Erster. »Sollten Sie nicht eineSchelle um den Hals tragen?« Das war seine Art, Cardinalzu begrüßen. »Ich habe gehört, Sie hätten den Aussatz.« »Schon wieder amAbklingen«, erwiderte Cardinal. Barnhousehatte das Temperament einer angriffslustigen Bulldogge. Mit seiner untersetztenGestalt und seinem breiten Rücken sah er eher wie ein Ringer aus. Obwohl odervielleicht gerade weil der Schwerpunkt seines Körpers so tief lag, hatte ereine sehr hohe Meinung von sich. Cardinal deutete mitdem Kopf auf den großen, hageren Mann am Rand des Halbkreises. »Kennen SieJerry Commanda?« »Ob ich ihn kenne? Bis zumErbrechen!«, bellte Barnhouse. »Mr. Commanda war früher bei der Stadtpolizei, bis er wieder demRuf der Wildnis folgte.« »Ich bin jetzt bei der OPP«, stellte Jerry sachlichfest. »Eine Leiche mitten im See bedeutet doch wohl, dass Sie eine Autopsieveranlassen werden, Doc, oder?« »Sie brauchen mir nicht zu sagen, was ich zutun habe. Wo ist n die Spürnase, die das Teil entdeckt hat?« Ken Szelagy trat vor. »Wir haben die Leiche nicht entdeckt. Einpaar Kinder sind drauf gestoßen, so gegen vier Uhr nachmittags. Larry Burke undich hatten Dienst, als der Anruf kam. Wir haben uns die Leiche angesehen, denFundort abgesperrt und die Zentrale benachrichtigt. McLeod hatte bei Gericht zutun, deshalb haben wir Detective Sergeant Dysonangerufen, und der hat vermutlich Detective Cardinal hinzugezogen.« »Den talentierten Mr. Cardinal«, murmelte Barnhousevieldeutig. Dann fuhr er fort: »Machen wir uns zunächst mit Taschenlampen andie Arbeit. Ich möchte nicht, dass durch das Aufstellen von Scheinwerfern undso nem Zeug hier irgendetwas verändert wird.« Ermarschierte auf die Felsen zu. Cardinal wollte etwassagen, doch Jerry Commanda hatte den gleichenGedanken und kam ihm zuvor: »Aber bitte im Gänsemarsch, Jungs.« »Ich bin keinJunge«, bemerkte Kollegin Delorme unter ihrer Kapuzehervor. »Na ja«, grummelte Jerry. »Im Moment kommt der kleine Unterschied nichtso gut raus.« Barnhouse bedeutete Burke und Szelagy voranzugehen, und in den folgenden Minuten war nurdas Knirschen von Stiefeln auf dem vereisten Boden zu hören. Die Kälte biss Cardinal ins Gesicht. Hinter den Felsen, am Ufer des Sees,war das Glitzern einer fernen Lichterkette zu erkennen - das Chippewa-Reservat, Jerry CommandasRevier. Szelagy und Burke warteten am Maschendrahtzaun,der den Eingang zum Schacht umgab, auf die anderen. Delormestupste Cardinal mit ihrem gepolsterten Ellbogen an.Sie zeigte auf einen Gegenstand etwa einen Meter vom Gatter entfernt. »Leute,habt ihr das Schloss da angerührt?«, fragte Cardinaldie beiden Polizisten. »Es war schon so«, beteuerte Szelagy.»Wir haben uns gedacht, dass wirs lieber so lassen.« Und Burke ergänzte: »DieKinder sagen, das Schloss war schon aufgebrochen.« Delormeholte eine Plastiktüte aus ihrer Tasche, doch Arsenault,der als Spurensicherungsexperte auf alles vorbereitet war, reichte ihr einekleine Papiertüte. »Nehmen Sie lieber das hier. Alles, was nass geworden ist,verändert sich in Plastik.« Cardinal war froh, dasses gleich passiert war und jemand anderes seine Kollegin noch rechtzeitiggestoppt hatte. Delorme war eine gute Ermittlerin;und darum war sie bei der Sonderermittlung gut aufgehoben. Durch minutiöseRecherchen hatte sie es ganz allein geschafft, einen Ex-Bürgermeister undmehrere Ratsmitglieder hinter Gitter zu bringen. Doch das hatte nichts mitSpurensicherung zu tun. Von nun an würde sie sich aufs Zuschauen beschränken,und das war Cardinal ganz recht. Einer nach demanderen schlüpften sie unter das Absperrband hindurch und folgten dann Burkeund Szelagy zum Schachteingang. Szelagyzeigte auf ein paar lose Bretter. »Vorsicht - hier gehts gut einen halbenMeter abwärts, darunter ist blankes Eis.« Im Schachteingang verdichtete sichder Schein ihrer Taschenlampen am Boden zu einer unruhigen Lache aus Licht.Durch die Ritzen der Bretterwände heulte der Wind, als ginge es darum, einenBühneneffekt zu produzieren. »Mein Gott«, sagte Delormemit ernster Stimme. Wie die anderen auch, hatte sie bereits Verkehrstote, hinund wieder Selbstmörder und zahlreiche Ertrunkene gesehen - doch das war keinVergleich zu dem, was sich hier ihren Blicken bot. Alle zitterten vor Kälte,aber eine große Stille senkte sich über sie, als ob sie beteten, und sicherlichtaten das auch einige. Auch Cardinals Verstand schiendem Anblick entfliehen zu wollen - zurück in die Vergangenheit, mit derErinnerung an das Klassenfoto, auf dem eine lächelnde Katie Pinezu sehen war, und nach vorn, in die Zukunft, bei dem Gedanken, wie er es ihrerMutter beibringen sollte. Dr. Barnhouse begann ingemessenem Tonfall: »Wir haben hier die gefrorenen Überreste eines jugendlichen- verdammt.« Er klopfte heftig auf das Diktiergerät in seiner behandschuhtenRechten. »Das Ding macht bei Frost immer Ärger.« Er räusperte sich und setztenoch einmal an, diesmal weniger feierlich. »Wir haben hier die Überreste einesjugendlichen menschlichen Körpers - wegen fortgeschrittener Verwesung undTierfraß ist eine eindeutige Geschlechtsbestimmung zum gegenwärtigen Zeitpunktnicht möglich. Der Oberkörper ist unbekleidet, die untere Körperhälfteteilweise von Blue Jeans bedeckt, der rechte Arm fehlt, ebenso der linke Fuß.Das Gesicht ist durch Aasfresser bis zur Unkenntlichkeit entstellt. DerUnterkiefer fehlt. Mein Gott«, sagte er dann, »es ist ja noch ein Kind.« Cardinal glaubte ein Beben in BarnhousesStimme zu erkennen; seiner eigenen hätte er auch nicht getraut. Und das lagnicht allein an der Verwesung - alle hatten in dieser Hinsicht schonSchlimmeres gesehen. Es war die Tatsache, dass die Überreste in einemrechteckigen, vielleicht zwanzig Zentimeter dicken Eisblock steckten. LeereAugenhöhlen starrten durch das Eis hinauf in die Dunkelheit über ihren Köpfen.Ein Auge war herausgerissen worden und lag festgefroren über der Schulter desOpfers; von dem anderen fehlte jede Spur. »Haare - schwarz, schulterlang - sindvom Schädel gelöst; das Becken weist vorn Furchungen auf, was vielleicht aufweibliches Geschlecht deutet - aber ohne Untersuchung, die im gegenwärtigengefrorenen Zustand nicht möglich ist, kann hierüber nichts Genaueres gesagtwerden.« Jerry Commanda leuchtete mit seinerTaschenlampe erst hinauf zu dem Bretterdach, dann wieder hinunter auf denBetonboden zu ihren Füßen. »Das Dach ist schon lange undicht. Man kann das Eisda oben sehen.« Andere richteten ihre Lampe ebenfalls nach oben undbetrachteten die Eiszapfen zwischen den Brettern. Schatten huschten über dieleeren Augenhöhlen. »Im Dezember gab es drei warme Tage, an denen alles zutauen begann«, fuhr Jerry fort. »Die Leiche liegt wahrscheinlich über einem Abfluss;als das Eis geschmolzen ist, hat sich die Senke mit Wasser gefüllt. Dann fielendie Temperaturen wieder, und alles fror fest.« »Als ob sie in Bernsteineingeschlossen wäre«, bemerkte Delorme. Barnhouse sprach weiter. »Keine Kleidung an der Leiche oderin ihrer Nähe, abgesehen von Jeans, die - aber das habe ich schon gesagt, oder?Ja, ich bin mir sicher. Erhebliche Gewebszerstörungen in der Unterleibsregion,die Eingeweide und die meisten Organe fehlen. Ob dies auf Verletzungen vorEintritt des Todes oder auf postmortalen Tierfraßzurückzuführen ist, kann nicht festgestellt werden. Teile der Lunge sindsichtbar, obere Lungenlappen auf beiden Seiten.« »Katie Pine«,sagte Cardinal. Er hatte es nicht laut sagen wollen.Er wusste, dass eine Reaktion nicht ausbleiben würde, und tatsächlich kam siemit aller Schärfe. »Sie wollen uns doch wohl nicht weismachen, dass Sie dasarme Mädchen anhand des Fotos aus dem Schuljahrbuch erkennen. Ehe nicht derOberkiefer mit Befunden aus zahnärztlichen Unterlagen verglichen ist, kann voneiner Identifizierung keine Rede sein.« »Danke, Doktor«, sagte Cardinal leise. »Es besteht wirklich kein Anlass zuSarkasmus, Detective. Ob Sie nun wieder imMorddezernat arbeiten oder nicht, sarkastische Bemerkungen lasse ich mir nichtbieten.« Barnhouse richtete seinen finsteren Blicknochmals auf die Leiche zu seinen Füßen.
© DroemerKnaur
Übersetzung:Reinhard Tiffert
Autoren-Porträt von Giles Blunt
Giles Blunt, geboren 1952, wuchs in North Bay in derkanadischen Provinz Ontario auf und studierte an der Universität TorontoEnglische Literatur. 1980 ging er nach New York City, wo er sich zunächstals Streetworker, Gerichtsdiener und Barkeeper durchschlug. Heute lebt erwieder in Toronto und ist freier Schriftsteller und Drehbuchautor. GefroreneSeelen war sein internationaler Durchbruch als Thrillerautor.
- Autor: Giles Blunt
- 2004, 448 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Reinhard Tiffert
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426627914
- ISBN-13: 9783426627914
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