Geheimnisse
Roman
Joyce Carol Oates, die große Meisterin der amerikanischen Literatur, erzählt mitreißend von einer Frau, die von der Unterdrückten zur stillen Rebellin wird und auf intelligente Weise die Verhältnisse zu ihren Gunsten wendet: Rebecca ist eine erwachsene...
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Produktinformationen zu „Geheimnisse “
Klappentext zu „Geheimnisse “
Joyce Carol Oates, die große Meisterin der amerikanischen Literatur, erzählt mitreißend von einer Frau, die von der Unterdrückten zur stillen Rebellin wird und auf intelligente Weise die Verhältnisse zu ihren Gunsten wendet: Rebecca ist eine erwachsene Frau, als sie endlich ihr Glück findet. Hinter ihr liegt ein halbes Leben voller Abschiede. Weil sie Juden sind, flieht ihre Familie aus Deutschland. Ihre Eltern müssen ganz neu anfangen, doch werden sie nie frei. Nach einem Familiendrama trifft Rebecca einen Entschluss. Um mit allem zu brechen, erfindet sie sich neu. Ein Roman von epischer Größe - einfühlsam und packend."Ein grossartiges deutsch-amerikanisches Epos." Cosmopolitan
Lese-Probe zu „Geheimnisse “
Geheimnisse von Joyce Carol Oates3
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Eine Stimme in Rebeccas Ohr, barsch und dringlich: »Himmel, pass doch auf!«
Sie erwachte aus ihrer Benommenheit. Lachte nervös. Ihre rechte Hand, massig in dem Schutzhandschuh, war der Stanzmaschine gefährlich nahe gekommen.
Sie bedankte sich, bei wem auch immer. Wurde rot vor Verlegenheit und Unwillen. Verdammt, so ging das schon fast den ganzen Vormittag: Ihre Gedanken schweiften ab, sie verlor die Konzentration. Sie ging Risiken ein, so als sei sie neu in dem Job und wisse nicht, wie gefährlich der sein konnte.
Lärmende Maschinen. Stickige Luft. Heiß, nach verbranntem Gummi schmeckend. Unter der Arbeitskleidung, auf der Haut, Schweiß. Und in das Stampfen mischten sich neue, aufdringliche Laute, bei denen sie sich nicht darüber schlüssig wurde, ob sie hoffnungsvoll waren, verführerisch oder spöttisch: hazel jones hazel jones hazel jones.
Der Vorarbeiter kam vorbei. Nicht um mit Rebecca zu sprechen, sondern um sich ihr zu zeigen. Der Mistkerl, sie sah ihn.
Ihre Kollegen in der Fabrik wussten nicht viel von ihr. Nicht einmal Rita, die ihre Freundin war. Allerdings wussten sie womöglich, dass sie verheiratet war, manche vielleicht sogar, mit wem, denn der Name Niles Tignor war in einigen Vierteln von Chautauqua Falls durchaus bekannt. Doch von Rebecca wussten sie nur, dass die für sich blieb. Sie hatte eine eigensinnige Art, eine gewisse steife Würde. Sie ließ sich von niemandem etwas vormachen.
Auch dann nicht, wenn sie müde war bis zur Benommenheit, wacklig auf den Beinen und dringend auf die Toilette musste, sich lauwarmes Wasser ins Gesicht schaufeln. Es waren nicht nur die Frauen, denen in der Fabrik schwindlig wurde; das passierte auch Männern. Alten Hasen, die schon viele Jahre am Band standen.
In ihrer ersten Woche in der Fertigungshalle war Rebecca übel geworden von dem Geruch, dem schnellen Takt, dem Lärm. Lärm-Lärm-Lärm. In solchen Dezibel ist Lärm nicht mehr lediglich ein Geräusch, sondern etwas Körperliches und geht in die Eingeweide, als würde elektrischer Strom durch den Körper geleitet. Das macht Angst, das greift die Nerven an, immer stärker. Das Herz rast, um Schritt zu halten. Das Denken rast, kommt aber nirgendwohin. Man kann keinen zusammenhängenden Gedanken mehr fassen. Die Gedanken purzeln herum wie Perlen von einer zerrissenen Kette.
Sie hatte Angst gehabt, sie könnte verrückt werden. Ihr Kopf würde zerspringen. Man musste schreien, um gehört zu werden, anderen ins Ohr schreien, und die schrien einem auch ins Ohr, ins Gesicht. Es war das rohe, pulsierende Ur-Leben. Persönlichkeiten oder seelische Feinheiten gab es hier nicht. Die zarte Seele eines Kin des wie Niley würde hier zerstört werden. An den Maschinen, in der Hölle der Fabrik befand man sich in einem seltsamen Urzustand des Lebens, der dem Herzschlag des natürlichen Lebens hohnsprach. Die Maschinen hatten ihren eigenen Rhythmus, ihr Wumm-wumm-wumm. Ihre Geräusche überlagerten sich mit den Geräuschen anderer Maschinen und löschten alle natürlichen Klänge aus. Die Maschinen kannten keine Worte, nur Lärm. Und dieser Lärm überwältigte. Seine Zusammensetzung war chaotisch, obwohl sich die Geräusche mechanisch wiederholten, in scheinbarer Regelmäßigkeit und Rhythmus. Es war die Nachahmung eines natürlichen Herzschlags. Und einige Maschinen, die komplizierteren, ahmten ein krudes menschliches Denken nach.
Das hielt sie nicht aus, sagte sich Rebecca.
Etwas anderes blieb ihr nicht übrig, sagte sie sich gefasster.
Tignor hatte Rebecca versprochen, sie würde als seine Frau nicht zu arbeiten brauchen. Er war ein stolzer Mann, schnell zu kränken. Er billigte es einerseits nicht, dass seine Frau in einer Fabrik arbeitete, gab ihr andererseits aber nicht mehr genug Geld, so dass ihr nichts anderes übrig blieb.
Seit dem Sommer kam Rebecca besser zurecht. Himmel, sie würde nie damit zurechtkommen!
Es war nur vorübergehend. Bis ...
Er hatte sie mit solcher Gewissheit angesehen! hazEL jonEs. Schien sie zu kennen. Nicht Rebecca in ihren schmutzstarrenden Sachen, sondern eine andere: darunter.
Er hatte ihr ins Herz gesehen. hazEL jonEs hazEL du bisT hazEL jonEs du bisT hazEL jonEs nichT wahr. In den langen Morgenstunden hazEL jonEs hazEL jonEs, einlullend, verführerisch wie die fl üsternde Stimme in Rebeccas Ohr, und bis zum Nachmittag war hazEL jonEs hazEL jonEs zu einem höhnischen Gedröhn geworden.
»Nein, bin ich nicht. Verflucht, lassen Sie mich in Frieden.«
Er setzte seine Brille ab. Mit den getönten Gläsern, der Zimperliche. Damit sie seine Augen sah. Er war so aufrichtig, hatte sie regelrecht angefleht. Die beschädigte Iris seines einen Auges, als sei da etwas ausgebrannt. Vielleicht war er auf dem Auge blind. Und lächelte sie hoffnungsvoll an.
»Als wäre ich jemand Besonderes. Hazel Jones.«
Rebecca wollte nicht über Hazel Jones nachdenken. Noch weniger wollte sie über den Mann mit dem Panamahut nachdenken. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschrien. Hätte gern noch einmal seinen Schock gesehen, als sie seine Visitenkarte zerriss. Diese Geste - genau richtig.
Aber warum: Warum verabscheute sie ihn?
Eins musste sie zugeben: Kultiviert war er. Ein Gentleman. Und ein Mann, der Bildung genossen hatte, der Geld besaß. Sie kannte sonst niemanden, der so war, hatte nie so jemanden gekannt. Und er hatte so dringlich auf sie eingeredet.
Er war gutherzig, er wollte etwas Gutes tun.
»Ging es ihm nur um Hazel Jones oder - vielleicht um mich?« Dich bedacht. In seinem Testament.
Erbe.
»Ich bin das nicht, verstehen Sie. Nicht die, für die Sie mich halten.«
Musst dich doch an mich erinnern, Dr. Hendricks' Sohn.
»Ich habe es Ihnen bereits gesagt, nein.«
Verflucht, sie hatte nein zu ihm gesagt, war von Anfang an aufrichtig gewesen. Aber er hatte nicht lockergelassen, hatte wie ein Dreijähriger darauf beharrt, dass nicht sein konnte, was doch war. Hatte weitergesprochen, als habe er ja gehört, obwohl sie nein gesagt hatte. So als blicke er in ihr Inneres, als kenne er sie so, wie sie sich selbst nicht kannte.
»Mister, ich habe es Ihnen bereits gesagt. Ich bin nicht sie.«
So müde! Am späten Nachmittag, da kann man leicht einen Unfall haben. Sogar die Altgedienten. Man erschlafft, wird müde. SICHERHEIT ZUERST!-Plakate, die kein Mensch mehr anschaut, so vertraut sind sie. 10 HINWEISE ZUR SICHERHEIT. Einer davon lautet: SIE IHREN BLICK BITTE STETS AUF DIE ARBEIT.
Wenn Rebecca unter der Schutzbrille allmählich die Augen zu Tränen begannen und sie Dinge sah wie unter Wasser, war das ein Warnzeichen, dass sie im Begriff war, im Stehen einzuschlafen. Aber es war so ... so ermüdend. Wie bei Niley, wenn der einschlief, wenn ihm die Lider zufielen. Es war ja auch zum Staunen, dass Menschen genauso einschlafen wie Tiere. Was ist das Individuelle im Menschen, und wo geht es beim Einschlafen hin? Nileys Vater Tignor schlief immer so tief, und manchmal kam sein Atem in so seltsam erratischen Stößen, dass sie fürchtete, er hörte womöglich ganz zu atmen auf und sein großes Herz pumpte nicht weiter - und was dann? Tignor hatte sie in einer »Ziviltrauung« in Niagara Falls geheiratet. Siebzehn Jahre alt war sie da gewesen. Irgendwo, zwischen seinen Sachen verlegt, war die Eheurkunde.
»Ja. Ich bin Mrs. Niles Tignor. Die Heirat war echt.«
Rebecca riss schnell den Kopf hoch. Wo war sie ...?
Sie bohrte die Zeigefinger unter die Schutzbrille, wischte sich über die Augen. Musste dafür aber erst ihre Schutzhandschuhe ausziehen. So unhandlich! Sie hätte weinen mögen vor Enttäuschung ... Schmerz. Oder man hat es dir gesagt. Ich urteile nicht. Er beobachtete sie von der Tür aus, sprach mit einem ihrer Vorgesetzten über sie. Aus den Augenwinkeln sah sie ihn; sie würde nicht rübersehen und sie damit wissen lassen, dass sie sie wahrnahm. Er trug cremefarbene Kleidung und den Panamahut. Andere warfen fragende Blicke in seine Richtung. War wohl einer der Besitzer. Einer der Investoren. Kein Manager, wie fürs Büro war er nicht gekleidet. Und Arzt war er außerdem...
Warum hatte Rebecca seine Visitenkarte zerrissen! Das Bösartige in ihr, sie schlug ihrem Totengräber-Vater nach. Sie schämte sich, als ihr einfiel, wie schockiert er über sie gewesen war, wie gekränkt.
Trotzdem: Er urteilte nicht.
»Aufwachen, Mädchen, du solltest die Augen aufmachen.«
Wieder wäre Rebecca beinahe eingeschlafen. Wäre beinahe mit der Hand in die Maschine geraten, diesmal mit der linken.
Sie lächelte bei dem verrückten Einfall: Die Finger der linken Hand würden einem nicht so sehr fehlen. Sie war Rechtshänderin.
Sie wusste: Der Mann mit dem Panamahut war nicht in der Fabrik. Sie hatte, verschwommen und aus dem Augenwinkel, bestimmt den Fabrikdirektor gesehen. Einen Mann, ungefähr gleich groß und gleich alt, der an den meisten Tagen ein kurzärmeliges weißes Hemd anhatte. Keine Fliege um und erst recht keinen Panamahut auf dem Kopf.
Nach der Arbeit meinte sie ihn noch einmal zu »sehen«. Auf der anderen Straßenseite, unter der Markise der Schuhreparatur. Schnell wandte sie sich ab und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Er ist nicht da. Tignor nicht und er jetzt auch nicht.«
Niemand sah sie: Sie vergewisserte sich.
Sie suchte nach Schnipseln der von ihr zerrissenen Visitenkarte Hendricks. Auf dem Treidelpfad fand sie ein paar kleine Papierfetzen. War sich aber nicht sicher, was das war. Der Aufdruck war verschwommen, war verloren.
»Auch gut. Ich will es gar nicht wissen.«
Diesmal drückte sie, ihrer selbst überdrüssig, die Schnipsel zu einem Kügelchen zusammen und warf es in den Kanal, wo es auf dem dunklen Wasser hüpfte und schwamm wie ein Wasserkäfer.
Der Sonntag ging vorbei, und Tignor rief nicht an.
Um das unruhige Kind abzulenken, begann sie ihm die Geschichte von dem Mann auf dem Weg am Kanal zu erzählen. Dem Mann mit dem Panamahut.
»Dieser Mann, dieser fremde Mensch, ist mir auf dem Weg nachgegangen, und rate mal, Niley, was er zu mir gesagt hat.«
Mamis Stimme klang hell, munter. Wenn man sie mit Kreide zeichnen sollte, müsste man ein kühnes, ins Rot gehende Sonnengelb malen.
Niley hörte gespannt zu, unsicher, ob er lächeln sollte. War das eine schöne Geschichte oder eine Geschichte, über die er sich Sorgen machen musste?
»Mami, was denn für ein Mann?«
»Bloß ein Mann eben, Niley. Wir kennen den nicht: ein Fremder. Aber -«
»F-emder -?«
»Ein Fremder. Das bedeutet, jemand, den wir nicht kennen, verstehst du? Ein Mann, den wir nicht kennen.«
Niley schaute sich bange im Zimmer um. (Seinem kleinen Zimmerchen mit dem schrägem Dach, das sich zu Rebeccas Schlafzimmer öffnete.) Hektisch blinzelnd schielte er zum Fenster. Es war Nacht, das einzelne Fenster warf nur verschwommen das unterseeisch blaue Innere des Raums zurück.
»Hier ist er nicht, Niley. Hab keine Angst. Er ist fort. Aber ich glaube, das ist ein netter Mann. Ein freundlicher Mann. Er möchte mein Freund sein. Unser Freund. Er hatte eine spezielle Nachricht für mich.«
Aber Niley hatte sich immer noch nicht beruhigt und schielte hierhin und dahin. Um seine Aufmerksamkeit zu finden, musste Mami ihn an den kleinen Schultern packen und festhalten.
Er war aber auch ein zappeliger kleiner Aal! Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt. Hätte ihn am liebsten fest umarmt und beschützt.
»Mami? Wo denn?«
»Auf dem Weg am Kanal, Schatz. Als ich von der Arbeit nach Hause gegangen bin, um dich bei Mrs. Meltzer abzuholen.« »Heute, Mami?«
»Nicht heute, Niley. Ein andermal.«
Es war später als sonst, und das Kind war noch nicht im Bett. Schon zehn Uhr, und Rebecca hatte ihn nur dadurch zum Anziehen seines Schlafanzugs gekriegt, dass sie ein Spiel daraus machte. Sie zog ihm seine Sachen und die Schuhe aus, während er passiv dalag, ohne sich zu sträuben. Es sei ein schwieriger Tag gewesen, hatte Edna Meltzer Rebecca gegenüber geklagt. An einer zarten Stelle sah Rebecca an der Stirn ihres Sohnes einen Nerv pulsieren.
Sie küsste den Nerv. Erzählte ihre Geschichte weiter. Sie war sehr müde.
Niley war so zappelig gewesen, dass sie ihn nicht in der großen Wanne hätte baden können. Mami musste ihn mühsam mit dem Waschlappen waschen, und nicht mal das klappte richtig. Niley war sogar fürs Vorlesen zu zappelig. Nur das Radio konnte ihn trösten, das verfluchte Radio, das Rebecca am liebsten zum Fenster hinausgeworfen hätte.
»Ein Mann, ein sehr netter Mann. Ein Mann mit einem Panamahut -«
»Was, Mami? Ein Bananenhut?«
Niley lachte ungläubig. Rebecca lachte mit.
Warum um alles in der Welt hatte sie angefangen, diese Geschichte zu erzählen? Um einen Dreijährigen zu beeindrucken? Aus der Schachtel mit der Malkreide zog sie eine schwarze Kreide und zeichnete ein Strichmännchen, und auf den albernen runden Kopf des Strichmännchens zeichnete sie mit der gelben Kreide einen Bananenhut. Die Banane war unverhältnismäßig groß für den Kopf des Strichmännchens und stand aufrecht. Niley kicherte und hüpfte und zappelte vor Vergnügen. Er schnappte sich die Kreidestücke und zeichnete sein eigenes Strichmännchen mit einem schrägsitzenden Bananenhut.
»Für Daddy. Bananenhut.«
»Daddy trägt keinen Hut, Schätzchen.«
»Warum nicht? Warum trägt Daddy keinen Hut?«
»Tja, wir können Daddy ja einen Hut machen. Einen Bananenhut. Wir können Daddy einen Bananenhut basteln.«
Sie lachten zusammen, planten Daddys Bananenhut. Rebecca machte den kindlichen Unsinn mit, es konnte ja wohl nicht schaden. Was Kinder sich so alles ausdenken! - Mrs. Meltzer schüttelte den Kopf, und man wusste nicht genau, ob sie amüsiert war oder beunruhigt. Rebecca lächelte, schüttelte ebenfalls den Kopf. Sie machte sich Sorgen, dass Niley sich eventuell nicht wie andere Kinder entwickelte. Sein Gehirn arbeitete anscheinend ruckartig wie ein Fließband. Die Spanne seiner Aufmerksamkeit war nur kurz, aber sehr intensiv. Man konnte nicht darauf hoff en, dass er einen Gedankengang oder eine Äußerung bis zu ihrem Ende verfolgte. Für Geschichten, die länger dauerten als ein paar Sekunden, fehlte Niley die Geduld. Es sei denn, man zwang dem Jungen seinen Willen auf, wie es Rebecca manchmal aus Verärgerung tat. Ansonsten führte er einen über Stock und Stein. Ein wahrer Wirbelsturm abgebrochener Gedanken, Fetzen falsch verstandener Wörter. Bei solchen Gelegenheiten meinte Rebecca in dem hitzigen kleinen Hirn des Kindes unterzugehen, als sei sie das winzige Figürchen einer Erwachsenen, eingesperrt in einem Kinderkopf.
Sie hatte unbedingt Mutter sein wollen. Und so war sie Mutter. Sie hatte unbedingt Niles Tignors Frau sein wollen. Und so war sie Niles Tignors Frau.
Diese unabweisbaren Tatsachen wollte sie dem Mann mit dem Panamahut erklären, der sie mit leisem, wehem Lächeln ansah. Er war so kurzsichtig, dass man den wie Schaum auf Wasser liegenden feinen Schleier über seinen Augen förmlich zu sehen meinte. Sein graublondes, so eigenartig liegendes Haar. Mimikfältchen, tief in sein Gesicht eingegraben, das ein altes und zugleich junges Gesicht war, welk und dabei seltsam jungenhaft, hoffnungsvoll. Er war höflich, das sah man, ein Gentleman. Er war zwar überzeugt, dass die schmuddelige junge Frau in den Fabrikkleidern ihn anlog, redete aber trotzdem flehentlich auf sie ein.
Ein Mann der Wissenschaft und der Vernunft.
Nehmen Sie wenigstens meine Karte.
Falls Sie es sich doch noch ...
Im Telefonbuch für das Greater Chautauqua Valley schlug sie unter Jones nach. Es gab elf Personen dieses Namens, allesamt Männer, oder Initialen, die für einen Mann oder für eine Frau stehen konnten. Keine einzige Frau dieses Namens. Kein einziger Eintrag, der H. Jones gelautet hätte.
Das überraschte sie nicht. Denn offensichtlich hatte Byron Hendricks selbst mehrmals im Telefonbuch nachgesehen. Er hatte bestimmt einige dieser Joneses angerufen, als er seine Hazel Jones suchte.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Eine Stimme in Rebeccas Ohr, barsch und dringlich: »Himmel, pass doch auf!«
Sie erwachte aus ihrer Benommenheit. Lachte nervös. Ihre rechte Hand, massig in dem Schutzhandschuh, war der Stanzmaschine gefährlich nahe gekommen.
Sie bedankte sich, bei wem auch immer. Wurde rot vor Verlegenheit und Unwillen. Verdammt, so ging das schon fast den ganzen Vormittag: Ihre Gedanken schweiften ab, sie verlor die Konzentration. Sie ging Risiken ein, so als sei sie neu in dem Job und wisse nicht, wie gefährlich der sein konnte.
Lärmende Maschinen. Stickige Luft. Heiß, nach verbranntem Gummi schmeckend. Unter der Arbeitskleidung, auf der Haut, Schweiß. Und in das Stampfen mischten sich neue, aufdringliche Laute, bei denen sie sich nicht darüber schlüssig wurde, ob sie hoffnungsvoll waren, verführerisch oder spöttisch: hazel jones hazel jones hazel jones.
Der Vorarbeiter kam vorbei. Nicht um mit Rebecca zu sprechen, sondern um sich ihr zu zeigen. Der Mistkerl, sie sah ihn.
Ihre Kollegen in der Fabrik wussten nicht viel von ihr. Nicht einmal Rita, die ihre Freundin war. Allerdings wussten sie womöglich, dass sie verheiratet war, manche vielleicht sogar, mit wem, denn der Name Niles Tignor war in einigen Vierteln von Chautauqua Falls durchaus bekannt. Doch von Rebecca wussten sie nur, dass die für sich blieb. Sie hatte eine eigensinnige Art, eine gewisse steife Würde. Sie ließ sich von niemandem etwas vormachen.
Auch dann nicht, wenn sie müde war bis zur Benommenheit, wacklig auf den Beinen und dringend auf die Toilette musste, sich lauwarmes Wasser ins Gesicht schaufeln. Es waren nicht nur die Frauen, denen in der Fabrik schwindlig wurde; das passierte auch Männern. Alten Hasen, die schon viele Jahre am Band standen.
In ihrer ersten Woche in der Fertigungshalle war Rebecca übel geworden von dem Geruch, dem schnellen Takt, dem Lärm. Lärm-Lärm-Lärm. In solchen Dezibel ist Lärm nicht mehr lediglich ein Geräusch, sondern etwas Körperliches und geht in die Eingeweide, als würde elektrischer Strom durch den Körper geleitet. Das macht Angst, das greift die Nerven an, immer stärker. Das Herz rast, um Schritt zu halten. Das Denken rast, kommt aber nirgendwohin. Man kann keinen zusammenhängenden Gedanken mehr fassen. Die Gedanken purzeln herum wie Perlen von einer zerrissenen Kette.
Sie hatte Angst gehabt, sie könnte verrückt werden. Ihr Kopf würde zerspringen. Man musste schreien, um gehört zu werden, anderen ins Ohr schreien, und die schrien einem auch ins Ohr, ins Gesicht. Es war das rohe, pulsierende Ur-Leben. Persönlichkeiten oder seelische Feinheiten gab es hier nicht. Die zarte Seele eines Kin des wie Niley würde hier zerstört werden. An den Maschinen, in der Hölle der Fabrik befand man sich in einem seltsamen Urzustand des Lebens, der dem Herzschlag des natürlichen Lebens hohnsprach. Die Maschinen hatten ihren eigenen Rhythmus, ihr Wumm-wumm-wumm. Ihre Geräusche überlagerten sich mit den Geräuschen anderer Maschinen und löschten alle natürlichen Klänge aus. Die Maschinen kannten keine Worte, nur Lärm. Und dieser Lärm überwältigte. Seine Zusammensetzung war chaotisch, obwohl sich die Geräusche mechanisch wiederholten, in scheinbarer Regelmäßigkeit und Rhythmus. Es war die Nachahmung eines natürlichen Herzschlags. Und einige Maschinen, die komplizierteren, ahmten ein krudes menschliches Denken nach.
Das hielt sie nicht aus, sagte sich Rebecca.
Etwas anderes blieb ihr nicht übrig, sagte sie sich gefasster.
Tignor hatte Rebecca versprochen, sie würde als seine Frau nicht zu arbeiten brauchen. Er war ein stolzer Mann, schnell zu kränken. Er billigte es einerseits nicht, dass seine Frau in einer Fabrik arbeitete, gab ihr andererseits aber nicht mehr genug Geld, so dass ihr nichts anderes übrig blieb.
Seit dem Sommer kam Rebecca besser zurecht. Himmel, sie würde nie damit zurechtkommen!
Es war nur vorübergehend. Bis ...
Er hatte sie mit solcher Gewissheit angesehen! hazEL jonEs. Schien sie zu kennen. Nicht Rebecca in ihren schmutzstarrenden Sachen, sondern eine andere: darunter.
Er hatte ihr ins Herz gesehen. hazEL jonEs hazEL du bisT hazEL jonEs du bisT hazEL jonEs nichT wahr. In den langen Morgenstunden hazEL jonEs hazEL jonEs, einlullend, verführerisch wie die fl üsternde Stimme in Rebeccas Ohr, und bis zum Nachmittag war hazEL jonEs hazEL jonEs zu einem höhnischen Gedröhn geworden.
»Nein, bin ich nicht. Verflucht, lassen Sie mich in Frieden.«
Er setzte seine Brille ab. Mit den getönten Gläsern, der Zimperliche. Damit sie seine Augen sah. Er war so aufrichtig, hatte sie regelrecht angefleht. Die beschädigte Iris seines einen Auges, als sei da etwas ausgebrannt. Vielleicht war er auf dem Auge blind. Und lächelte sie hoffnungsvoll an.
»Als wäre ich jemand Besonderes. Hazel Jones.«
Rebecca wollte nicht über Hazel Jones nachdenken. Noch weniger wollte sie über den Mann mit dem Panamahut nachdenken. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschrien. Hätte gern noch einmal seinen Schock gesehen, als sie seine Visitenkarte zerriss. Diese Geste - genau richtig.
Aber warum: Warum verabscheute sie ihn?
Eins musste sie zugeben: Kultiviert war er. Ein Gentleman. Und ein Mann, der Bildung genossen hatte, der Geld besaß. Sie kannte sonst niemanden, der so war, hatte nie so jemanden gekannt. Und er hatte so dringlich auf sie eingeredet.
Er war gutherzig, er wollte etwas Gutes tun.
»Ging es ihm nur um Hazel Jones oder - vielleicht um mich?« Dich bedacht. In seinem Testament.
Erbe.
»Ich bin das nicht, verstehen Sie. Nicht die, für die Sie mich halten.«
Musst dich doch an mich erinnern, Dr. Hendricks' Sohn.
»Ich habe es Ihnen bereits gesagt, nein.«
Verflucht, sie hatte nein zu ihm gesagt, war von Anfang an aufrichtig gewesen. Aber er hatte nicht lockergelassen, hatte wie ein Dreijähriger darauf beharrt, dass nicht sein konnte, was doch war. Hatte weitergesprochen, als habe er ja gehört, obwohl sie nein gesagt hatte. So als blicke er in ihr Inneres, als kenne er sie so, wie sie sich selbst nicht kannte.
»Mister, ich habe es Ihnen bereits gesagt. Ich bin nicht sie.«
So müde! Am späten Nachmittag, da kann man leicht einen Unfall haben. Sogar die Altgedienten. Man erschlafft, wird müde. SICHERHEIT ZUERST!-Plakate, die kein Mensch mehr anschaut, so vertraut sind sie. 10 HINWEISE ZUR SICHERHEIT. Einer davon lautet: SIE IHREN BLICK BITTE STETS AUF DIE ARBEIT.
Wenn Rebecca unter der Schutzbrille allmählich die Augen zu Tränen begannen und sie Dinge sah wie unter Wasser, war das ein Warnzeichen, dass sie im Begriff war, im Stehen einzuschlafen. Aber es war so ... so ermüdend. Wie bei Niley, wenn der einschlief, wenn ihm die Lider zufielen. Es war ja auch zum Staunen, dass Menschen genauso einschlafen wie Tiere. Was ist das Individuelle im Menschen, und wo geht es beim Einschlafen hin? Nileys Vater Tignor schlief immer so tief, und manchmal kam sein Atem in so seltsam erratischen Stößen, dass sie fürchtete, er hörte womöglich ganz zu atmen auf und sein großes Herz pumpte nicht weiter - und was dann? Tignor hatte sie in einer »Ziviltrauung« in Niagara Falls geheiratet. Siebzehn Jahre alt war sie da gewesen. Irgendwo, zwischen seinen Sachen verlegt, war die Eheurkunde.
»Ja. Ich bin Mrs. Niles Tignor. Die Heirat war echt.«
Rebecca riss schnell den Kopf hoch. Wo war sie ...?
Sie bohrte die Zeigefinger unter die Schutzbrille, wischte sich über die Augen. Musste dafür aber erst ihre Schutzhandschuhe ausziehen. So unhandlich! Sie hätte weinen mögen vor Enttäuschung ... Schmerz. Oder man hat es dir gesagt. Ich urteile nicht. Er beobachtete sie von der Tür aus, sprach mit einem ihrer Vorgesetzten über sie. Aus den Augenwinkeln sah sie ihn; sie würde nicht rübersehen und sie damit wissen lassen, dass sie sie wahrnahm. Er trug cremefarbene Kleidung und den Panamahut. Andere warfen fragende Blicke in seine Richtung. War wohl einer der Besitzer. Einer der Investoren. Kein Manager, wie fürs Büro war er nicht gekleidet. Und Arzt war er außerdem...
Warum hatte Rebecca seine Visitenkarte zerrissen! Das Bösartige in ihr, sie schlug ihrem Totengräber-Vater nach. Sie schämte sich, als ihr einfiel, wie schockiert er über sie gewesen war, wie gekränkt.
Trotzdem: Er urteilte nicht.
»Aufwachen, Mädchen, du solltest die Augen aufmachen.«
Wieder wäre Rebecca beinahe eingeschlafen. Wäre beinahe mit der Hand in die Maschine geraten, diesmal mit der linken.
Sie lächelte bei dem verrückten Einfall: Die Finger der linken Hand würden einem nicht so sehr fehlen. Sie war Rechtshänderin.
Sie wusste: Der Mann mit dem Panamahut war nicht in der Fabrik. Sie hatte, verschwommen und aus dem Augenwinkel, bestimmt den Fabrikdirektor gesehen. Einen Mann, ungefähr gleich groß und gleich alt, der an den meisten Tagen ein kurzärmeliges weißes Hemd anhatte. Keine Fliege um und erst recht keinen Panamahut auf dem Kopf.
Nach der Arbeit meinte sie ihn noch einmal zu »sehen«. Auf der anderen Straßenseite, unter der Markise der Schuhreparatur. Schnell wandte sie sich ab und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Er ist nicht da. Tignor nicht und er jetzt auch nicht.«
Niemand sah sie: Sie vergewisserte sich.
Sie suchte nach Schnipseln der von ihr zerrissenen Visitenkarte Hendricks. Auf dem Treidelpfad fand sie ein paar kleine Papierfetzen. War sich aber nicht sicher, was das war. Der Aufdruck war verschwommen, war verloren.
»Auch gut. Ich will es gar nicht wissen.«
Diesmal drückte sie, ihrer selbst überdrüssig, die Schnipsel zu einem Kügelchen zusammen und warf es in den Kanal, wo es auf dem dunklen Wasser hüpfte und schwamm wie ein Wasserkäfer.
Der Sonntag ging vorbei, und Tignor rief nicht an.
Um das unruhige Kind abzulenken, begann sie ihm die Geschichte von dem Mann auf dem Weg am Kanal zu erzählen. Dem Mann mit dem Panamahut.
»Dieser Mann, dieser fremde Mensch, ist mir auf dem Weg nachgegangen, und rate mal, Niley, was er zu mir gesagt hat.«
Mamis Stimme klang hell, munter. Wenn man sie mit Kreide zeichnen sollte, müsste man ein kühnes, ins Rot gehende Sonnengelb malen.
Niley hörte gespannt zu, unsicher, ob er lächeln sollte. War das eine schöne Geschichte oder eine Geschichte, über die er sich Sorgen machen musste?
»Mami, was denn für ein Mann?«
»Bloß ein Mann eben, Niley. Wir kennen den nicht: ein Fremder. Aber -«
»F-emder -?«
»Ein Fremder. Das bedeutet, jemand, den wir nicht kennen, verstehst du? Ein Mann, den wir nicht kennen.«
Niley schaute sich bange im Zimmer um. (Seinem kleinen Zimmerchen mit dem schrägem Dach, das sich zu Rebeccas Schlafzimmer öffnete.) Hektisch blinzelnd schielte er zum Fenster. Es war Nacht, das einzelne Fenster warf nur verschwommen das unterseeisch blaue Innere des Raums zurück.
»Hier ist er nicht, Niley. Hab keine Angst. Er ist fort. Aber ich glaube, das ist ein netter Mann. Ein freundlicher Mann. Er möchte mein Freund sein. Unser Freund. Er hatte eine spezielle Nachricht für mich.«
Aber Niley hatte sich immer noch nicht beruhigt und schielte hierhin und dahin. Um seine Aufmerksamkeit zu finden, musste Mami ihn an den kleinen Schultern packen und festhalten.
Er war aber auch ein zappeliger kleiner Aal! Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt. Hätte ihn am liebsten fest umarmt und beschützt.
»Mami? Wo denn?«
»Auf dem Weg am Kanal, Schatz. Als ich von der Arbeit nach Hause gegangen bin, um dich bei Mrs. Meltzer abzuholen.« »Heute, Mami?«
»Nicht heute, Niley. Ein andermal.«
Es war später als sonst, und das Kind war noch nicht im Bett. Schon zehn Uhr, und Rebecca hatte ihn nur dadurch zum Anziehen seines Schlafanzugs gekriegt, dass sie ein Spiel daraus machte. Sie zog ihm seine Sachen und die Schuhe aus, während er passiv dalag, ohne sich zu sträuben. Es sei ein schwieriger Tag gewesen, hatte Edna Meltzer Rebecca gegenüber geklagt. An einer zarten Stelle sah Rebecca an der Stirn ihres Sohnes einen Nerv pulsieren.
Sie küsste den Nerv. Erzählte ihre Geschichte weiter. Sie war sehr müde.
Niley war so zappelig gewesen, dass sie ihn nicht in der großen Wanne hätte baden können. Mami musste ihn mühsam mit dem Waschlappen waschen, und nicht mal das klappte richtig. Niley war sogar fürs Vorlesen zu zappelig. Nur das Radio konnte ihn trösten, das verfluchte Radio, das Rebecca am liebsten zum Fenster hinausgeworfen hätte.
»Ein Mann, ein sehr netter Mann. Ein Mann mit einem Panamahut -«
»Was, Mami? Ein Bananenhut?«
Niley lachte ungläubig. Rebecca lachte mit.
Warum um alles in der Welt hatte sie angefangen, diese Geschichte zu erzählen? Um einen Dreijährigen zu beeindrucken? Aus der Schachtel mit der Malkreide zog sie eine schwarze Kreide und zeichnete ein Strichmännchen, und auf den albernen runden Kopf des Strichmännchens zeichnete sie mit der gelben Kreide einen Bananenhut. Die Banane war unverhältnismäßig groß für den Kopf des Strichmännchens und stand aufrecht. Niley kicherte und hüpfte und zappelte vor Vergnügen. Er schnappte sich die Kreidestücke und zeichnete sein eigenes Strichmännchen mit einem schrägsitzenden Bananenhut.
»Für Daddy. Bananenhut.«
»Daddy trägt keinen Hut, Schätzchen.«
»Warum nicht? Warum trägt Daddy keinen Hut?«
»Tja, wir können Daddy ja einen Hut machen. Einen Bananenhut. Wir können Daddy einen Bananenhut basteln.«
Sie lachten zusammen, planten Daddys Bananenhut. Rebecca machte den kindlichen Unsinn mit, es konnte ja wohl nicht schaden. Was Kinder sich so alles ausdenken! - Mrs. Meltzer schüttelte den Kopf, und man wusste nicht genau, ob sie amüsiert war oder beunruhigt. Rebecca lächelte, schüttelte ebenfalls den Kopf. Sie machte sich Sorgen, dass Niley sich eventuell nicht wie andere Kinder entwickelte. Sein Gehirn arbeitete anscheinend ruckartig wie ein Fließband. Die Spanne seiner Aufmerksamkeit war nur kurz, aber sehr intensiv. Man konnte nicht darauf hoff en, dass er einen Gedankengang oder eine Äußerung bis zu ihrem Ende verfolgte. Für Geschichten, die länger dauerten als ein paar Sekunden, fehlte Niley die Geduld. Es sei denn, man zwang dem Jungen seinen Willen auf, wie es Rebecca manchmal aus Verärgerung tat. Ansonsten führte er einen über Stock und Stein. Ein wahrer Wirbelsturm abgebrochener Gedanken, Fetzen falsch verstandener Wörter. Bei solchen Gelegenheiten meinte Rebecca in dem hitzigen kleinen Hirn des Kindes unterzugehen, als sei sie das winzige Figürchen einer Erwachsenen, eingesperrt in einem Kinderkopf.
Sie hatte unbedingt Mutter sein wollen. Und so war sie Mutter. Sie hatte unbedingt Niles Tignors Frau sein wollen. Und so war sie Niles Tignors Frau.
Diese unabweisbaren Tatsachen wollte sie dem Mann mit dem Panamahut erklären, der sie mit leisem, wehem Lächeln ansah. Er war so kurzsichtig, dass man den wie Schaum auf Wasser liegenden feinen Schleier über seinen Augen förmlich zu sehen meinte. Sein graublondes, so eigenartig liegendes Haar. Mimikfältchen, tief in sein Gesicht eingegraben, das ein altes und zugleich junges Gesicht war, welk und dabei seltsam jungenhaft, hoffnungsvoll. Er war höflich, das sah man, ein Gentleman. Er war zwar überzeugt, dass die schmuddelige junge Frau in den Fabrikkleidern ihn anlog, redete aber trotzdem flehentlich auf sie ein.
Ein Mann der Wissenschaft und der Vernunft.
Nehmen Sie wenigstens meine Karte.
Falls Sie es sich doch noch ...
Im Telefonbuch für das Greater Chautauqua Valley schlug sie unter Jones nach. Es gab elf Personen dieses Namens, allesamt Männer, oder Initialen, die für einen Mann oder für eine Frau stehen konnten. Keine einzige Frau dieses Namens. Kein einziger Eintrag, der H. Jones gelautet hätte.
Das überraschte sie nicht. Denn offensichtlich hatte Byron Hendricks selbst mehrmals im Telefonbuch nachgesehen. Er hatte bestimmt einige dieser Joneses angerufen, als er seine Hazel Jones suchte.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Joyce Carol Oates
Oates, Joyce CarolJoyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (New York) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 wurde sie mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Joyce Carol Oates lebt in Princeton (New Jersey), wo sie Literatur unterrichtet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joyce Carol Oates
- 2012, 672 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Morawetz, Silvia
- Übersetzer: Silvia Morawetz
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596179041
- ISBN-13: 9783596179046
- Erscheinungsdatum: 09.10.2012
Rezension zu „Geheimnisse “
"Ein grossartiges deutsch-amerikanisches Epos." Cosmopolitan
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