Genetische Beratung in der Praxis
Herausforderungen bei präsymptomatischer Gendiagnostik am Beispiel Österreichs
Kultur der Medizin Geschichte - Medizin - Ethik Herausgegeben von Andreas Frewer
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Produktinformationen zu „Genetische Beratung in der Praxis “
Kultur der Medizin Geschichte - Medizin - Ethik Herausgegeben von Andreas Frewer
Klappentext zu „Genetische Beratung in der Praxis “
Präsymptomatische Gendiagnostik stellt die genetische Beratung vor große Herausforderungen. Beratungsprinzipien bei Erberkrankungen werden einerseits durch die Unsicherheit der Prognose und die Kluft zwischen Diagnose und fehlenden Therapien, andererseits gerade durch das Vorhandensein von Therapien infrage gestellt. Die AutorInnen nehmen die verschiedenen Praxen genetischer Beratung in den Blick.
Lese-Probe zu „Genetische Beratung in der Praxis “
3. Genetische Beratung als sozialwissenschaftlicher ForschungsgegenstandDas vorangegangene Kapitel fokussierte auf medizinrechtliche, medizinethische und beratungsprofessionelle Debatten rund um genetische Beratung. In diesem Kapitel widmen wir uns sozialwissenschaftlichen Zugängen, die zu einem besseren Verständnis von genetischer Beratung als gesellschaftlichem Phänomen beitragen.
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht lässt sich genetische Beratung als eine spezifische Form medizinischer Konsultation analysieren, die zwei Handlungsformen - Beratungshandeln und medizinisches Handeln - miteinander verbindet. Sie geben die beiden zentralen Bezugsfelder für die humangenetische Konsultation ab. Im Folgenden bekommen jene sozialwissenschaftlichen Zugänge Raum, die sich mit diesen beiden Seiten genetischer Beratung auseinander setzen. Der erste Teil des Kapitels befasst sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Beratung im Allgemeinen und von genetischer Beratung im Besonderen. Der zweite Teil widmet sich der spezifisch biomedizinischen Prägung genetischer Konsultationen und stellt sozialwissenschaftliche, dabei insbesondere medizinanthropologische Zugänge zur biomedizinischen Sichtweise und Handhabung von Krankheit und zum Erkrankungsrisiko und dessen Auswirkungen auf das Arzt-Patient-Verhältnis vor.
3.1.Zum gesellschaftstheoretischen Status von Beratung
3.1.1. Der Bedeutungsgewinn von Beratung in der Wissensgesellschaft
Von sozialwissenschaftlicher Seite wird vielfach eine zunehmende Ausbreitung von Beratung als gesamtgesellschaftliches Phänomen konstatiert (zum Beispiel Schützeichel/Brüsemeister 2004, Bergmann et al. 1998). Dieser Bedeutungszuwachs wird im Rückgriff auf unterschiedliche gesellschaftstheoretische Konzeptualisierungen erklärt, so etwa auf jene der reflexiven Modernisierung (Beck et al. 1996) bzw. der Radikalisierung der Moderne (Giddens 1995), der Kommunikationsgesellschaft (Münch 1992, 1995) oder jene der Wissensgesellschaft (Stehr 1994).
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Im Folgenden greifen wir daraus einige wenige Aspekte auf, die uns für ein Verständnis der gesellschaftlichen Verortung genetischer Beratung relevant scheinen.
Der Bedeutungszuwachs von Beratung in euro-amerikanischen Gesellschaften wird oftmals mit dem Aufstieg von Expertensystemen in Zusammenhang gebracht. Für Anthony Giddens (1995) sind Expertensysteme Ausdruck einer Radikalisierung der Moderne, die mit der zunehmenden Ausdifferenzierung und Herauslösung sozialer Beziehungen aus ihren traditionellen Lokalkontexten, also einer allgemeinen sozialen "Entbettung" verbunden ist. Anstelle lokaler Kontexte und Netzwerke werden demnach Beziehungen zwischen Individuen und Institutionen wichtig. Neben symbolischen Zeichensystemen (wie etwa das Austauschmedium Geld) zählen Expertensysteme, das sind "Systeme technischer Leistungsfähigkeit oder professioneller Sachkenntnis" (Giddens 1995: 40), zu solchen abstrakten Systemen, die neue Beziehungsformen regeln und einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen, Austauschverhältnisse und Sinnhorizonte von Individuen ausüben.
Expertensysteme sind jedoch aufgrund der mit ihnen verbundenen Komplexitätssteigerung nicht nur einem schnellen Wandel ausgesetzt, sondern sind auch auf die aktive Zustimmung der Individuen angewiesen: Da durch die Spezialisierung und Differenzierung kein Expertensystem allumfassendes Wissen anbieten kann und zudem unterschiedliche und unter Umständen widersprüchliche Expertisen parallel bestehen, muss das jeweilige Expertensystem das Vertrauen der Individuen bzw. KlientInnen gewinnen. Welchem Expertensystem letztendlich Vertrauen geschenkt wird - welches also von den betreffenden Individuen gewählt wird - hängt nach Giddens sowohl vom reflexiven Handeln in Form einer bewussten Wahl als auch von routinisiertem Verhalten ab, das auf dem gründet, was er als "praktisches Bewusstsein" bezeichnet: "Dieses praktische Bewusstsein (practical consciousness) umfasst all das, was Handelnde stillschweigend darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne dass sie in der Lage sein müssten, all dem einen direkten diskursiven Ausdruck zu verleihen" (Giddens 1988: 36). Wissen, das auf praktischem Bewusstsein basiert, umfasst etwa das Wissen über soziale Zusammenhänge und die Bedingungen des eigenen Handelns oder auch "das in Begegnungen inkorporierte gemeinsame Wissen" (ebd.: 55). Routinisierte Handlungen und Alltagsroutinen im Allgemeinen gründen sich demnach im Wesentlichen in solchem praktischen Bewusstsein. Nach Giddens steht die Routinisierung von Verhalten in enger Beziehung zum "Vermögen der Akteure, sich innerhalb der Routinen des gesellschaftlichen Lebens zurechtzufinden" (ebd.), sowie zum allgemeinen Bedürfnis bzw. der Notwendigkeit der Erzeugung von Seinsgewissheit. Aus Giddens' Sicht wählen also KlientInnen Expertensysteme nicht nur auf Basis reflexiven Handelns, sondern auch, weil die Inanspruchnahme spezifischer Angebote zur Routine geworden ist und damit ein "Gefühl des Vertrauens bzw. der Seinsgewissheit" (ebd.) vermittelt.
Unabhängig von der Motivation bzw. den mehr oder weniger reflektierten Ursachen für die Wahl eines konkreten Beratungsangebots seitens der KlientInnen bleibt jedoch das zentrale Bestimmungskriterium des Kommunikationstypus "Beraten" ein Entscheidungsbezug, der mit dem Anspruch einer reflektierten Wahl verbunden ist. Demzufolge stellt Beraten eine Dienstleistung dar, die bei Problemlösungen im Sinne der reflexiven Vorbereitung von Entscheidungen Hilfe leisten soll (vgl. Bergmann et al. 1998). Beraten in diesem Sinne beinhaltet demnach wesensbestimmend die Ausbildung oder Förderung von Bewältigungskompetenzen, insbesondere von Entscheidungskompetenzen, und unterscheidet sich explizit von anderen Kommunikationstypen wie etwa Betreuen, Belehren oder Aufklären im Sinne reiner Informationsvermittlung.
Dieser Definition entsprechend setzt Beraten die Möglichkeit voraus, zwischen verschiedenen Optionen aktiv und bewusst wählen zu können, entweder zwischen verschiedenen Handlungsalternativen oder aber im Sinne eines binären Dafür oder Dagegen (etwa für oder gegen die Durchführung eines Gentests). Der Kommunikationstypus Beraten fokussiert somit auf eine Problemsituation, die den Transfer von Wissen von BeraterIn zu KlientIn/PatientIn beinhaltet. Der Soziologe Schützeichel spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Beratungen sachlich mit "Entscheidungsproblemen" befasst sind und in sozialer Hinsicht eine Asymmetrie zwischen BeraterIn und KlientIn voraussetzen; dies deshalb, weil erst eine gegebene "Wissens- oder Informationsdifferenz bezüglich des Entscheidungsproblems" (Schützeichel 2004: 276) Personen veranlasst, eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Allerdings bezieht sich diese Wissensasymmetrie nicht notwendigerweise auf einen "Mangel an Wissen oder Information" (ebd.), sondern kann in der Bereitstellung von Orientierungswissen bestehen. Entscheidend hierbei ist, dass Beraten die Entscheidung bei den betroffenen Personen(-gruppen) belässt. Damit verbunden ist die Idee, dass den BeraterInnen - im Unterschied etwa zu behandelnden, am Heilsauftrag orientierten ÄrztInnen - kein Deutungsmonopol über die Entscheidungssituation zugesprochen wird, dass sie also keine "kunstgerechten Soll-Aussagen" (Samerski 1998) hinsichtlich der Problemlösungsschritte tätigen sollen.
Neben dem Aufstieg von Expertensystemen wird der Bedeutungszuwachs von Beratung auch mit der damit verbundenen Veränderung der Wissensstrukturen und funktionen in Verbindung gebracht. Gemeinsam ist hier den verschiedenen gesellschaftstheoretischen Zugängen, dass sie zwar eine zunehmende Bedeutung von wissenschaftlichem Wissen für die "Selbstbildung der Subjekte" (Krüger-Charlé 2008) ebenso wie für gesellschaftliches und politisches Handeln konstatieren (vgl. auch Heidenreich 2003), zugleich jedoch eine aktuelle Infragestellung des alten aufklärerischen Wissenschaftsoptimismus feststellen. Denn mit der fortschreitenden Verwissenschaftlichung, so diagnostiziert Bonß, zeige sich, "daß die Umstellung auf wissenschaftliche Deutungsmuster keineswegs zu dem erhofften Mehr an Eindeutigkeit, Sicherheit und Rationalität führt" (2002: 11). In ähnlicher Weise sehen auch Beck und May heute eine zentrale Grundannahme der modernen Gesellschaft infrage gestellt, wonach "Wahrheit und Irrtum von einem begrenzten Vorrat möglichen Wissens abhängen" (Beck/May 2001: 248). Wissenschaftliche Wissensakkumulation sei oftmals mit einem Mehr an Uneindeutigkeit und Ungewissheit verbunden, da sich durch den Wissenszuwachs auch mehr Handlungsspielräume eröffnen und dadurch neue Risikokonstellationen und Entscheidungsnotwendigkeiten ergeben.
Die gesteigerte Unsicherheit infolge von wissenschaftlichem Wissen wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: zum einen auf konkurrierendes Wissen bzw. auf die zunehmende Pluralisierung von Wissen (kognitive Ungewissheit) und zum anderen auf die mit den Wissensangeboten verbundenen normativen Unsicherheiten und die damit verknüpfte Bedeutung von Nichtwissen. Mit dem Begriff der Pluralisierung von Wissen ist die Vermehrung konkurrierender wissenschaftlicher Rationalitäten und Wissensakteure gemeint. Eine Folge davon ist, dass die Wahrheitsansprüche einzelner Expertenmeinungen in ihrer Konkurrenz zueinander ins Wanken kommen. Den Zuwachs von Rationalitäten, Autonomieansprüchen und WissensakteurInnen und die damit verbundenen Kontingenzen und Komplexitäten bezeichnen Beck und May als "kognitive Ungewissheit" (2001: 248).
In ähnlicher Weise beschreiben Bergmann und KollegInnen (1998: 207) die Beratungseinrichtungen als "eine Reaktion auf die Entwicklung der Wissensindustrie", die vor allem mit der kognitiven Bewältigung der Vermehrung von Wissen beschäftigt sei: Im "Meer der Informationen" würden oftmals alle Handlungsoptionen gleichwertig erscheinen. Eine wesentliche Aufgabe der BeraterInnen bestünde dementsprechend darin, ihre KlientInnen dazu zu ermuntern, "Relevanzen zu erkennen und Prioritäten zu setzen" (ebd.: 210). Der Beratungsbedarf entsteht heute also vor allem durch eine Überfülle an Handlungsmöglichkeiten und Informationen, die sich mitunter widersprechen bzw. in ihrer Bedeutung für die eigene Lebenssituation nicht einschätzbar sind. BeraterInnen haben daher die Aufgabe, einerseits die Informationen zu "übersetzen", das heißt für die, die sie beraten, verständlich zu machen, andererseits die Fakten und Informationen zu gewichten bzw. ihre KlientInnen bei der Gewichtung zu unterstützen. Zudem, so Bergmann und KollegInnen, fungieren die BeraterInnen "als Orientierungshelfer und Wegweiser in einer sich mehr und mehr differenzierenden Gesellschaft", sodass "Beratung zuweilen nichts anderes als ein Verweisungskontext ist" (ebd.: 208).
Neben den Beratungsbedarf stiftenden, kognitiven Unsicherheiten bestehen oftmals auch "normative Unsicherheiten", da die Zunahme wissenschaftlichen Wissens normative Entscheidungen bzw. "den Rückgriff auf andere Kriterien als die des wissenschaftlichen Wissens" (Beck/May 2001: 249) erzwingt. Beratungsanlässe, so zeigen auch Bergmann und KollegInnen (1998: 209), seien deshalb keineswegs nur kognitiver Art; neben affektiven Aspekten sind es insbesondere auch normative bzw. moralische Fragen, mit denen die KlientInnen konfrontiert seien. Beck und May und Bergmann und KollegInnen sind sich darin einig, dass die BeraterInnen Ratsuchenden jedoch zumeist keine "Sinndeutung" anbieten können und wollen.
Der Bedeutungszuwachs von Beratung in euro-amerikanischen Gesellschaften wird oftmals mit dem Aufstieg von Expertensystemen in Zusammenhang gebracht. Für Anthony Giddens (1995) sind Expertensysteme Ausdruck einer Radikalisierung der Moderne, die mit der zunehmenden Ausdifferenzierung und Herauslösung sozialer Beziehungen aus ihren traditionellen Lokalkontexten, also einer allgemeinen sozialen "Entbettung" verbunden ist. Anstelle lokaler Kontexte und Netzwerke werden demnach Beziehungen zwischen Individuen und Institutionen wichtig. Neben symbolischen Zeichensystemen (wie etwa das Austauschmedium Geld) zählen Expertensysteme, das sind "Systeme technischer Leistungsfähigkeit oder professioneller Sachkenntnis" (Giddens 1995: 40), zu solchen abstrakten Systemen, die neue Beziehungsformen regeln und einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen, Austauschverhältnisse und Sinnhorizonte von Individuen ausüben.
Expertensysteme sind jedoch aufgrund der mit ihnen verbundenen Komplexitätssteigerung nicht nur einem schnellen Wandel ausgesetzt, sondern sind auch auf die aktive Zustimmung der Individuen angewiesen: Da durch die Spezialisierung und Differenzierung kein Expertensystem allumfassendes Wissen anbieten kann und zudem unterschiedliche und unter Umständen widersprüchliche Expertisen parallel bestehen, muss das jeweilige Expertensystem das Vertrauen der Individuen bzw. KlientInnen gewinnen. Welchem Expertensystem letztendlich Vertrauen geschenkt wird - welches also von den betreffenden Individuen gewählt wird - hängt nach Giddens sowohl vom reflexiven Handeln in Form einer bewussten Wahl als auch von routinisiertem Verhalten ab, das auf dem gründet, was er als "praktisches Bewusstsein" bezeichnet: "Dieses praktische Bewusstsein (practical consciousness) umfasst all das, was Handelnde stillschweigend darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne dass sie in der Lage sein müssten, all dem einen direkten diskursiven Ausdruck zu verleihen" (Giddens 1988: 36). Wissen, das auf praktischem Bewusstsein basiert, umfasst etwa das Wissen über soziale Zusammenhänge und die Bedingungen des eigenen Handelns oder auch "das in Begegnungen inkorporierte gemeinsame Wissen" (ebd.: 55). Routinisierte Handlungen und Alltagsroutinen im Allgemeinen gründen sich demnach im Wesentlichen in solchem praktischen Bewusstsein. Nach Giddens steht die Routinisierung von Verhalten in enger Beziehung zum "Vermögen der Akteure, sich innerhalb der Routinen des gesellschaftlichen Lebens zurechtzufinden" (ebd.), sowie zum allgemeinen Bedürfnis bzw. der Notwendigkeit der Erzeugung von Seinsgewissheit. Aus Giddens' Sicht wählen also KlientInnen Expertensysteme nicht nur auf Basis reflexiven Handelns, sondern auch, weil die Inanspruchnahme spezifischer Angebote zur Routine geworden ist und damit ein "Gefühl des Vertrauens bzw. der Seinsgewissheit" (ebd.) vermittelt.
Unabhängig von der Motivation bzw. den mehr oder weniger reflektierten Ursachen für die Wahl eines konkreten Beratungsangebots seitens der KlientInnen bleibt jedoch das zentrale Bestimmungskriterium des Kommunikationstypus "Beraten" ein Entscheidungsbezug, der mit dem Anspruch einer reflektierten Wahl verbunden ist. Demzufolge stellt Beraten eine Dienstleistung dar, die bei Problemlösungen im Sinne der reflexiven Vorbereitung von Entscheidungen Hilfe leisten soll (vgl. Bergmann et al. 1998). Beraten in diesem Sinne beinhaltet demnach wesensbestimmend die Ausbildung oder Förderung von Bewältigungskompetenzen, insbesondere von Entscheidungskompetenzen, und unterscheidet sich explizit von anderen Kommunikationstypen wie etwa Betreuen, Belehren oder Aufklären im Sinne reiner Informationsvermittlung.
Dieser Definition entsprechend setzt Beraten die Möglichkeit voraus, zwischen verschiedenen Optionen aktiv und bewusst wählen zu können, entweder zwischen verschiedenen Handlungsalternativen oder aber im Sinne eines binären Dafür oder Dagegen (etwa für oder gegen die Durchführung eines Gentests). Der Kommunikationstypus Beraten fokussiert somit auf eine Problemsituation, die den Transfer von Wissen von BeraterIn zu KlientIn/PatientIn beinhaltet. Der Soziologe Schützeichel spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Beratungen sachlich mit "Entscheidungsproblemen" befasst sind und in sozialer Hinsicht eine Asymmetrie zwischen BeraterIn und KlientIn voraussetzen; dies deshalb, weil erst eine gegebene "Wissens- oder Informationsdifferenz bezüglich des Entscheidungsproblems" (Schützeichel 2004: 276) Personen veranlasst, eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Allerdings bezieht sich diese Wissensasymmetrie nicht notwendigerweise auf einen "Mangel an Wissen oder Information" (ebd.), sondern kann in der Bereitstellung von Orientierungswissen bestehen. Entscheidend hierbei ist, dass Beraten die Entscheidung bei den betroffenen Personen(-gruppen) belässt. Damit verbunden ist die Idee, dass den BeraterInnen - im Unterschied etwa zu behandelnden, am Heilsauftrag orientierten ÄrztInnen - kein Deutungsmonopol über die Entscheidungssituation zugesprochen wird, dass sie also keine "kunstgerechten Soll-Aussagen" (Samerski 1998) hinsichtlich der Problemlösungsschritte tätigen sollen.
Neben dem Aufstieg von Expertensystemen wird der Bedeutungszuwachs von Beratung auch mit der damit verbundenen Veränderung der Wissensstrukturen und funktionen in Verbindung gebracht. Gemeinsam ist hier den verschiedenen gesellschaftstheoretischen Zugängen, dass sie zwar eine zunehmende Bedeutung von wissenschaftlichem Wissen für die "Selbstbildung der Subjekte" (Krüger-Charlé 2008) ebenso wie für gesellschaftliches und politisches Handeln konstatieren (vgl. auch Heidenreich 2003), zugleich jedoch eine aktuelle Infragestellung des alten aufklärerischen Wissenschaftsoptimismus feststellen. Denn mit der fortschreitenden Verwissenschaftlichung, so diagnostiziert Bonß, zeige sich, "daß die Umstellung auf wissenschaftliche Deutungsmuster keineswegs zu dem erhofften Mehr an Eindeutigkeit, Sicherheit und Rationalität führt" (2002: 11). In ähnlicher Weise sehen auch Beck und May heute eine zentrale Grundannahme der modernen Gesellschaft infrage gestellt, wonach "Wahrheit und Irrtum von einem begrenzten Vorrat möglichen Wissens abhängen" (Beck/May 2001: 248). Wissenschaftliche Wissensakkumulation sei oftmals mit einem Mehr an Uneindeutigkeit und Ungewissheit verbunden, da sich durch den Wissenszuwachs auch mehr Handlungsspielräume eröffnen und dadurch neue Risikokonstellationen und Entscheidungsnotwendigkeiten ergeben.
Die gesteigerte Unsicherheit infolge von wissenschaftlichem Wissen wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: zum einen auf konkurrierendes Wissen bzw. auf die zunehmende Pluralisierung von Wissen (kognitive Ungewissheit) und zum anderen auf die mit den Wissensangeboten verbundenen normativen Unsicherheiten und die damit verknüpfte Bedeutung von Nichtwissen. Mit dem Begriff der Pluralisierung von Wissen ist die Vermehrung konkurrierender wissenschaftlicher Rationalitäten und Wissensakteure gemeint. Eine Folge davon ist, dass die Wahrheitsansprüche einzelner Expertenmeinungen in ihrer Konkurrenz zueinander ins Wanken kommen. Den Zuwachs von Rationalitäten, Autonomieansprüchen und WissensakteurInnen und die damit verbundenen Kontingenzen und Komplexitäten bezeichnen Beck und May als "kognitive Ungewissheit" (2001: 248).
In ähnlicher Weise beschreiben Bergmann und KollegInnen (1998: 207) die Beratungseinrichtungen als "eine Reaktion auf die Entwicklung der Wissensindustrie", die vor allem mit der kognitiven Bewältigung der Vermehrung von Wissen beschäftigt sei: Im "Meer der Informationen" würden oftmals alle Handlungsoptionen gleichwertig erscheinen. Eine wesentliche Aufgabe der BeraterInnen bestünde dementsprechend darin, ihre KlientInnen dazu zu ermuntern, "Relevanzen zu erkennen und Prioritäten zu setzen" (ebd.: 210). Der Beratungsbedarf entsteht heute also vor allem durch eine Überfülle an Handlungsmöglichkeiten und Informationen, die sich mitunter widersprechen bzw. in ihrer Bedeutung für die eigene Lebenssituation nicht einschätzbar sind. BeraterInnen haben daher die Aufgabe, einerseits die Informationen zu "übersetzen", das heißt für die, die sie beraten, verständlich zu machen, andererseits die Fakten und Informationen zu gewichten bzw. ihre KlientInnen bei der Gewichtung zu unterstützen. Zudem, so Bergmann und KollegInnen, fungieren die BeraterInnen "als Orientierungshelfer und Wegweiser in einer sich mehr und mehr differenzierenden Gesellschaft", sodass "Beratung zuweilen nichts anderes als ein Verweisungskontext ist" (ebd.: 208).
Neben den Beratungsbedarf stiftenden, kognitiven Unsicherheiten bestehen oftmals auch "normative Unsicherheiten", da die Zunahme wissenschaftlichen Wissens normative Entscheidungen bzw. "den Rückgriff auf andere Kriterien als die des wissenschaftlichen Wissens" (Beck/May 2001: 249) erzwingt. Beratungsanlässe, so zeigen auch Bergmann und KollegInnen (1998: 209), seien deshalb keineswegs nur kognitiver Art; neben affektiven Aspekten sind es insbesondere auch normative bzw. moralische Fragen, mit denen die KlientInnen konfrontiert seien. Beck und May und Bergmann und KollegInnen sind sich darin einig, dass die BeraterInnen Ratsuchenden jedoch zumeist keine "Sinndeutung" anbieten können und wollen.
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Inhaltsverzeichnis zu „Genetische Beratung in der Praxis “
Vorwort 91. Einleitung 111.1. Problemstellung, Forschungsinteresse und Zugang 111.2. Forschungsstrategie und methodisches Vorgehen 171.3. Gliederung und Überblick 21Theoretischer Hintergrund2.Verständnis und Bedarfsbegründung genetischer Beratung 232.1. Gendiagnostik und Beratungsbedarf 232.2. Aufklärung und/oder Beratung 342.3. Besonderheiten genetischer Beratung 372.4. Beratungsprinzipien 433. Genetische Beratung als sozialwissenschaftlicher Forschungsgegenstand 593.1. Zum gesellschaftstheoretischen Status von Beratung 593.2. Genetische Konsultation als Arzt-Patient-Interaktion 734. Präsymptomatische Gendiagnostik 894.1. Der medizinisch-technische Gegenstandsbereich 894.2. Klinische Implikationen präsymptomatischer Gendiagnostik 91Genetische Beratung als soziale Praktik5. Zur Institutionalisierung klinischer Genetik in Österreich 975.1. Autonome versus additive Genetik 975.2. Beratungssettings und beforschte Beratungseinrichtungen 996. Das Beratungsgeschehen und seine Doings and Sayings 1156.1. Fallbeispiel Herr Richter: Erstberatung in einem humangenetischen Zentrum 1166.2. Fallbeispiel Frau Hirsch und Frau Schwarz: Befundbesprechung in einer Beratungsstelle für familiären Brust- und Eierstockkrebs 1296.3. Tätigkeiten und PartizipantInnen bei Beratungssitzungen 1367. Worum es geht: Betroffenheitsklärung 1438. Motive und Präfigurationen 1498.1.Verdachtsmoment Erbkrankheit und Beratungsanlass 1518.2. Krankheitsspezifische Bedingungen 1528.3. Erkrankungserfahrungen über Angehörige 1548.4. Beratungstraditionen 1579. Betroffenheitshandhabung 1639.1. Die sites genetischer Beratung 1639.2. Beratungsfokussierte Betroffenheitshandhabung 1669.3. Behandlungserweiterte Betroffenheitshandhabung 16910. Klärungsreichweite 17910.1. Erkrankungsfokussierte Klärungsreichweite 18010.2. Psychosozial-erweiterte Klärungsreichweite 18510.3. Schicksalsentscheidung Kind 19011. Beratungslogiken 19512. Schlussbetrachtungen: Zwischen Beraten und Vorsorgen 20512.1. Beratung und
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Entscheidungsbezug: Der Gentest 20512.2. Nichtdirektivität und Compliance 214Literatur 223Personen- und Sachregister 241
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Autoren-Porträt von Bernhard Hadolt, Monika Lengauer
Bernhard Hadolt, Dr. phil., ist Senior Researcher am Institut für Höhere Studien, Wien, und Lehrbeauftragter an Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Monika Lengauer, Dr. phil., ist Sozialanthropologin und im Flüchtlingsbereich der Caritas Wien tätig.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Bernhard Hadolt , Monika Lengauer
- 2009, 247 Seiten, Maße: 14,4 x 21,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 359338874X
- ISBN-13: 9783593388748
- Erscheinungsdatum: 11.05.2009
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