Gewalt
Eine neue Geschichte der Menschheit
Die Geschichte der Menschheit eine ewige Abfolge von Krieg, Genozid, Mord, Folter und Vergewaltigung. Und es wird immer schlimmer. Denken wir. Doch ist das richtig?
In einem wahren Opus Magnum, einer groß angelegten Gesamtgeschichte unserer Zivilisation,...
In einem wahren Opus Magnum, einer groß angelegten Gesamtgeschichte unserer Zivilisation,...
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Produktinformationen zu „Gewalt “
Klappentext zu „Gewalt “
Die Geschichte der Menschheit eine ewige Abfolge von Krieg, Genozid, Mord, Folter und Vergewaltigung. Und es wird immer schlimmer. Denken wir. Doch ist das richtig?In einem wahren Opus Magnum, einer groß angelegten Gesamtgeschichte unserer Zivilisation, untersucht der weltbekannte Evolutionspsychologe Steven Pinker die Entwicklung der Gewalt von der Urzeit bis heute und in allen ihren individuellen und kollektiven Formen. Unter Rückgriff auf eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen beweist er anschaulich und überzeugend, dass die Menschheit dazulernt und Gewalt immer weniger als Option wahrgenommen wird. Pinkers Darstellung verändert radikal den Blick auf die Welt und uns Menschen. Und sie macht Hoffnung und Mut.
Lese-Probe zu „Gewalt “
Eine neue Geschichte der Menschheit von Steven PinkerKapitel 1
Ein fremdes Land
Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln.
L. P. Hartley Wenn die Vergangenheit ein fremdes Land ist, dann ist dieses Land erschreckend gewalttätig. Man vergisst nur allzu leicht, wie gefährlich das Leben früher war, wie tief Brutalität sich einst durch das ganze Gewebe des Alltagslebens zog. Die kulturelle Überlieferung macht die Vergangenheit friedlich und hinterlässt uns nur verblasste Erinnerungsstücke, deren blutige Entstehungsgeschichte verblichen ist. Wenn eine Frau ein Kreuz um den Hals trägt, denkt sie nur in den seltensten Fällen darüber nach, dass dieses Folterinstrument in der Antike ein allgemein übliches Mittel der Bestrafung war, und wer von einem Prügelknaben spricht, denkt nicht an die alte Sitte, ein unschuldiges Kind anstelle eines Prinzen, der sich falsch verhalten hat, zu schlagen. Wir sind von Anzeichen für die boshafte Lebensweise unserer Vorfahren umgeben, aber sie sind uns kaum bewusst. Genau wie das Reisen, das den geistigen Horizont erweitert, so kann auch eine wortgetreue Betrachtung unseres kulturellen Erbes in uns die Erkenntnis wecken, dass in der Vergangenheit völlig andere Regeln galten.
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In einem Jahrhundert, das mit dem 11. September, dem Irak und Darfur begonnen hat, mag die Behauptung, wir lebten in einer ungewöhnlich friedlichen Zeit, wie ein Mittelding zwischen Halluzination und Obszönität erscheinen. Aus Gesprächen und Umfragen weiß ich, dass die meisten Menschen sich weigern, es zu glauben.1 In den nachfolgenden Kapiteln werde ich meine Aussage mit Datumsangaben und Zahlen begründen. Aber zuerst möchte ich Sie ein wenig weichklopfen, indem ich Sie an einige einschlägige Tatsachen aus der Vergangenheit erinnere, über die wir schon immer Bescheid gewusst haben. Damit möchte ich nicht nur Überzeugungsarbeit leisten. Wissenschaftler unterwerfen ihre Schlussfolgerungen häufig einer Plausibilitätsprüfung. Mit einer Stichprobe von Phänomenen aus der Wirklichkeit versichern sie sich, dass sie nicht irgendeinen Fehler in ihren Methoden übersehen haben und vorschnell zu einer Aussage gelangt sind. Die kurzen Szenen in diesem Kapitel sind eine Plausibilitätsprüfung für die Daten, die ich später anführen werde.
Wir machen jetzt eine kurze Rundreise durch jenes fremde Land namens Vergangenheit; sie führt uns vom Jahr 8000 v. u. Z. bis in die 1970er Jahre. Es ist keine große Bildungsreise durch die Kriege und Gräueltaten, deren wir ohnehin wegen ihrer Gewalttätigkeit gedenken, sondern eine Reihe kleinerer Blicke hinter täuschend altvertraute Orientierungspunkte, die uns daran erinnern sollen, welche Heimtücke sich dahinter verbirgt. Natürlich ist die Vergangenheit kein einzelnes Land, sondern umfasst eine Vielzahl von Kulturen und Gebräuchen. Was sie aber alle gemeinsam haben, ist der Schrecken früherer Zeiten: ein Hintergrund aus Gewalt, die man erduldete und sich oft auf eine Weise zu eigen machte, über die ein empfindlicher Bewohner der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts nur staunen kann.
Die Vorgeschichte der Menschen
Im Jahr 1991 stolperten zwei Wanderer in den Tiroler Alpen über eine Leiche, die aus einem schmelzenden Gletscher ragte. In dem Glauben, es handele sich um das Opfer eines Skiunfalls, befreiten Rettungskräfte den Körper mit Presslufthämmern aus dem Eis, wobei sie den Oberschenkelknochen und seinen Rucksack beschädigten. Erst als ein Archäologe eine Kupferaxt aus der Jungsteinzeit entdeckte, wurde klar, dass dieser Mann 5000 Jahre alt war.
Ötzi oder der »Mann aus dem Eis«, wie er heute genannt wird, wurde zu einer Berühmtheit. Er zierte die Titelseite des Magazins Time und war der Gegenstand zahlreicher Bücher, Dokumentarfilme und Zeitschriftenartikel. Seit Mel Brooks' 2000 Year Old Man (»ich habe über 42 000 Kinder, und keines kommt mich besuchen«) konnte uns kein tausendjähriger Mensch mehr so viel über die Vergangenheit erzählen. Ötzi lebte in jener entscheidenden Übergangszeit unserer Vorgeschichte, als die Landwirtschaft an die Stelle des Jagens und Sammelns trat und als man Werkzeuge erstmals nicht nur aus Stein, sondern auch aus Metall herstellte. Neben seiner Axt und dem Rucksack trug er einen Köcher mit gefiederten Pfeilen, einen Dolch mit Holzgriff und ein in Rinde gewickeltes glühendes Stück Holz, das zu einem raffinierten Besteck zum Feuermachen gehörte. Seine Kleidung bestand aus einer Bärenfellmütze mit ledernen Kinnriemen, Beinkleidern aus zusammengenähten Tierhäuten und wasserdichten Schneeschuhen aus Leder und Fasern, die mit Gras isoliert waren. An seinen arthritischen Gelenken hatte er Tattoos, vermutlich ein Anzeichen für Akupunktur, außerdem hatte er Pilze mit medizinischen Eigenschaften bei sich.
Zehn Jahre nachdem man den Mann aus dem Eis entdeckt hatte, machte eine Arbeitsgruppe von Radiologen eine beunruhigende Entdeckung: In Ötzis Schulter steckte eine Pfeilspitze. Anders als die Wissenschaftler ursprünglich angenommen hatten, war er nicht in eine Gletscherspalte gefallen und erfroren, sondern umgebracht worden. Als man den Körper kriminaltechnisch untersuchte, rückte schemenhaft ein Verbrechen ins Blickfeld. Ötzi hatte nicht verheilte Schnitte an den Händen sowie Wunden an Kopf und Brust. Die DNA-Analysen zeigten Blutspuren von zwei anderen Menschen an einer seiner Pfeilspitzen, Blut von einem dritten an dem Dolch und das Blut eines vierten an seinem Mantel. Einer Rekonstruktion zufolge gehörte Ötzi zu einer Gruppe, die Überfälle beging und mit einem Nachbarstamm aneinandergeraten war. Er tötete einen Mann mit einem Pfeil, holte sich die Waffe zurück, tötete einen zweiten, holte sich wiederum die Waffe und trug einen verwundeten Kameraden auf dem Rücken davon, bevor er einen erneuten Angriff abwehren musste und selbst einem Pfeil zum Opfer fiel.
Ötzi ist nicht der einzige jahrtausendealte Mensch, der gegen Ende des
20. Jahrhunderts berühmt wurde. Im Jahr 1996 bemerkten die Zuschauer eines Motorbootrennens in Kennewick im US-Bundesstaat Washington einige Knochen, die aus einem Ufer des Columbia River ragten. Wenig später bargen Archäologen das Skelett eines Mannes, der vor 9400 Jahren gelebt hatte.3 Sofort rückte der Kennewick-Mann in den Mittelpunkt öffentlichkeitswirksamer juristischer und wissenschaftlicher Konflikte. Mehrere Stämme der amerikanischen Ureinwohner stritten sich um das Sorgerecht für das Skelett und um das Recht, es entsprechend ihren Traditionen zu bestatten. Ein Bundesgericht wies die Ansprüche jedoch zurück und stellte fest, keine Kultur der Menschen habe jemals über neun Jahrtausende hinweg ununterbrochen existiert. Als man die wissenschaftlichen Untersuchungen wiederaufnahm, stellten die Anthropologen zu ihrer Verblüffung fest, dass der Kennewick-Mann sich anatomisch stark von den heutigen amerikanischen Ureinwohnern unterschied. Ein Bericht vertritt die Ansicht, er habe europäische Gesichtszüge gehabt; nach einem anderen passte er zu den Ainu, den Ureinwohnern Japans. Beide Theorien würden bedeuten, dass Amerika durch mehrere unabhängige Einwanderungswellen besiedelt wurde, aber das widerspricht den Befunden der DNA-Analysen, wonach die amerikanischen Ureinwohner die Nachkommen einer einzigen, aus Sibirien eingewanderten Gruppe sind.
Es gibt also eine Fülle von Gründen, warum der Kennewick-Mann bei den wissenschaftlich Interessierten zum Objekt der Faszination wurde. Ich möchte noch einen weiteren nennen. Im Beckenknochen des Ken- newick-Mannes steckt ein Steingeschoss. Der Knochen war zwar teilweise verheilt, was darauf hindeutet, dass er nicht an der Wunde starb, der kriminaltechnische Beleg ist aber eindeutig: Auf den Kennewick-Mann war geschossen worden.
Das sind nur zwei Beispiele für berühmte prähistorische Überreste, die uns grausige Nachrichten über das Ende ihrer Eigentümer überbringen. Viele Besucher des Britischen Museums waren vom Lindow-Mann gefesselt, einer nahezu vollständig erhaltenen, 2000 Jahre alten Leiche, die man 1984 in einem englischen Torfmoor entdeckt hatte.4 Wie viele seiner Kinder ihn besuchten, wissen wir nicht, aber wie er starb, ist bekannt. Sein Schädel wurde mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert, und der Hals war durch eine verdrehte Schnur gebrochen; zu allem Überfluss hatte man ihm dann auch noch die Kehle durchgeschnitten. Möglicherweise war der Lindow-Mann ein Druide, den man auf dreierlei Weise rituell geopfert hatte, um drei Götter zufriedenzustellen. Auch Spuren an vielen anderen männlichen und weiblichen Moorleichen aus Nordeuropa deuten darauf hin, dass man diese Menschen erdrosselt, erschlagen, erstochen oder gefoltert hatte.
Während der Recherchen zu diesem Buch stieß ich in einem einzigen Monat auf zwei neue Geschichten über bemerkenswert gut erhaltene menschliche Überreste. Der eine ist ein 2000 Jahre alter Schädel, der in einer Schlammgrube in Nordengland ausgegraben wurde. Der Archäologe, der den Schädel reinigte, spürte eine Bewegung, blickte durch die Öffnung an der Schädelunterseite und sah im Inneren eine gelbliche Substanz: Sogar das Gehirn war erhalten geblieben. Auch hier war der ungewöhnlich gute Erhaltungszustand nicht die einzige bemerkenswerte Eigenschaft des Fundes. Der Schädel war absichtlich vom Körper abgetrennt worden, was nach Ansicht des Archäologen darauf schließen ließ, dass es sich um ein Menschenopfer handelte. Die andere Entdeckung war ein 4600 Jahre altes Grab in Deutschland mit den Überresten eines Mannes, einer Frau und zweier Jungen. Die DNA-Analyse zeigte, dass sie alle zu einer einzigen Kleinfamilie gehörten - der ältesten, die man in der Wissenschaft kennt. Alle vier waren zur gleichen Zeit bestattet worden, nach Aussagen der Archäologen ein Zeichen, dass sie bei einem Überfall ums Leben gekommen waren.6
Woran liegt es, dass die prähistorischen Menschen uns offenbar keine interessante Leiche hinterlassen konnten, ohne auf gewalttätige Methoden zurückzugreifen? In manchen Fällen findet sich vielleicht eine harmlose Erklärung in der Taphonomie, das heißt in den Vorgängen, durch die Leichen erhalten bleiben. Vielleicht wurden zu Beginn des ersten Jahrtausends nur die Leichen von Menschen, die man rituell geopfert hatte, in Mooren versenkt, wo sie für die Nachwelt konserviert wurden. Bei den meisten Leichen besteht aber kein Anlass zu der Vermutung, sie seien nur deshalb erhalten geblieben, weil sie ermordet wurden. Später werden wir noch kriminaltechnische Untersuchungen kennenlernen, mit denen man anhand der Art, wie ein Körper auf uns überkommen ist, genau analysieren kann, wie er den Tod fand. Vorerst vermitteln prähistorische Überreste eindeutig den Eindruck, dass die Vergangenheit ein Land war, in dem für die Menschen eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, körperlich zu Schaden zu kommen.
Das Griechenland Homers
Was wir über Gewalt in prähistorischer Zeit wissen, hängt davon ab, welche Leichen einbalsamiert wurden oder als Fossilien erhalten geblieben sind; unsere Kenntnisse sind also ungeheuer unvollständig. Nachdem sich aber die geschriebene Sprache verbreitet hatte, hinterließen die Menschen der Antike uns bessere Informationen darüber, wie sie ihre Angelegenheiten regelten. Die Ilias und Odyssee von Homer gelten als die ersten großen Werke der abendländischen Literatur und nehmen in vielen Leitfäden über literarische Kultur breiten Raum ein. Sie spielen in der Zeit des Trojanischen Krieges um 1200 v. u. Z., verfasst wurden sie aber viel später, zwischen 800 und 650 v. u. Z.; nach heutiger Kenntnis spiegelt sich in ihnen das Leben der Stämme und Stammesfürstentümer wider, die es zu jener Zeit im östlichen Mittelmeerraum gab.
Oft liest man heute, der totale Krieg, der auf eine ganze Gesellschaft und nicht nur auf ihre Armee zielt, sei eine moderne Erfindung. Als Ursachen wurden die Entstehung der Nationalstaaten, Ideologien mit Alleinvertretungsanspruch und eine Technologie zum Töten aus der Entfernung genannt. Wenn Homers Beschreibungen aber stimmen (und tatsächlich stimmen sie mit den einschlägigen Befunden aus Archäologie, Ethnographie und Geschichtsforschung überein), war der Krieg im archaischen Griechenland ebenso total wie ein beliebiger Konflikt aus der Neuzeit. Agamemnon erklärte dem König Menelaos seine Pläne für den Krieg so:
»Du, Menelaos, mein Lieber, warum begünstigst du derart unsere Feinde? Die Troer behandelten dich wohl daheim aufs beste? Nicht einer von ihnen entrinne dem jähen Verderben, keiner unseren Fäusten! Auch nicht das Knäblein im Schoß der Mutter, auch das nicht! Nein, sie sollen verschwinden aus Troja, ausnahmslos alle, verschwinden ohne Bestattung und spurlos!«8
Der Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall erläutert in seinem Buch The Rape of Troy, wie Kriege damals geführt wurden:
In schnellen Booten mit geringem Tiefgang rudert man an die Strände, und die Siedlungen am Meer werden gebrandschatzt, bevor Nachbarn ihnen zu Hilfe eilen können. Die Männer werden in der Regel getötet, Vieh und andere transportable Wertgegenstände werden geplündert, und die Frauen werden mitgenommen; sie müssen unter den Siegern leben und ihnen sexuelle und niedere Dienste leisten. Die Männer lebten zu Homers Zeiten mit der Möglichkeit eines plötzlichen, gewaltsamen Todes; die Frauen hatten ständig Angst um ihre Männer und Kinder, und fürchteten sich vor den Segeln am Horizont, die unter Umständen ein neues Leben voller Vergewaltigung und Sklaverei ankündigten.9
Heute liest man ebenfalls häufig, die Kriege des 20. Jahrhunderts hätten eine beispiellose Zerstörungswirkung gehabt, weil sie mit Maschinengewehren, Artillerie, Bombern und anderen auf große Entfernung wirkenden Waffen geführt wurden, welche die Soldaten von ihrer natürlichen Hemmung gegenüber dem Kampf Mann gegen Mann befreiten und die Möglichkeit schufen, gnadenlos eine große Zahl gesichtsloser Feinde zu töten. Nach dieser Überlegung waren Handwaffen nicht annähernd so tödlich wie unsere Hightech-Methoden der Kriegsführung.
Aber Homer lieferte lebendige Beschreibungen über das Ausmaß der Schäden, die Krieger auch zu seiner Zeit anrichten konnten. Gottschall nennt ein Beispiel für solche Schilderungen:
Von kalter Bronze erstaunlich leicht durchbrochen, strömt der Inhalt des Körpers in zähflüssigen Strom heraus: Stücke von Gehirnen werden am Ende zitternder Speere sichtbar, junge Männer halten mit verzweifelten Händen ihre Gedärme zurück, Augen werden ausgestochen oder aus dem Schädel geschnitten und schimmern blicklos im Staub. Scharfe Spitzen schaffen sich immer neue Zu-und Ausgänge in jungen Körpern: mitten in der Stirn, in den Schläfen, zwischen den Augen, am unteren Ende des Halses, sauber durch Mund und Wangen und auf der anderen Seite wieder hinaus, durch Flanken, im Schritt, durch Gesäß, Hände, Nabel, Rücken, Magen, Brustwarzen, Brust, Nase, Ohren und Kinn ... Speere, Spieße, Pfeile, Schwerter, Dolche und Steinbrocken gieren nach dem Geschmack von Fleisch und Blut. Blut spritzt hervor und bildet Nebel in der Luft. Knochenstücke fliegen herum. Aus frischen Stümpfen quillt das Knochenmark. Nach der Schlacht fließt Blut aus tausend tödlichen oder verstümmelnden Wunden, verwandelt den Staub in Schlamm und düngt das Gras der Ebenen. Männer, die durch schwere Kampfwagen, Hengste mit scharfen Hufen und die Sandalen der Männer in den Boden gepflügt wurden, sind bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Das Feld ist von Waffen und Rüstungen übersät. Leichen liegen überall, verwesen und werden zum Festmahl für Hunde, Würmer, Fliegen und Vögel.
Im 21. Jahrhundert wurden sicher zu Kriegszeiten Frauen vergewaltigt, aber das gilt schon lange als grausiges Kriegsverbrechen, das von den meisten Armeen zu verhindern versucht und von den anderen geleugnet oder verschleiert wird. Für die Helden der Ilias dagegen war weibliches Fleisch eine legitime Kriegsbeute. Frauen waren dazu da, dass man an ihnen Spaß hatte, sie als Besitz betrachtete und nach Belieben wieder wegwarf. Menelaos beginnt den Trojanischen Krieg, als seine Frau Helena entführt wird. Agamemnon bring Unglück über die Griechen, weil er sich weigert, eine Sexsklavin an ihren Vater zurückzugeben, und als er schließlich nachgibt, eignet er sich eine an, die Achilleus gehört - und diesem bietet er später achtundzwanzigfachen Ersatz an. Achilleus seinerseits liefert folgende knappe Beschreibung seiner Karriere: »ebenso opferte ich auch zahlreiche schlaflose Nächte, wirkte die Tage hindurch in der blutigen Arbeit des Krieges, focht mit den Feinden, um jene mit Frauen nur zu versorgen!« Als Odysseus nach zwanzigjähriger Abwesenheit zu seiner Frau zurückkehrt, ermordet er die Männer, die ihr den Hof gemacht haben, während alle glaubten, er sei tot; und als er feststellt, dass die Männer sich auch mit dem Dutzend Konkubinen seines Haushalts vergnügt haben, lässt er die Konkubinen von seinem Sohn ebenfalls hinrichten.
Solche Berichte über Blutbad und Vergewaltigung sind auch nach den Maßstäben der heutigen Kriegsberichterstattung beunruhigend. Sicher, Homer und seine Gestalten bedauerten die Überflüssigkeit des Krieges, sie nahmen ihn aber wie das Wetter als unvermeidliche Tatsache des Lebens hin - als etwas, über das alle reden, ohne dass irgendjemand daran etwas ändern könnte. Odysseus formuliert es so: »Uns hat Zeus das Schicksal beschieden, unser Leben mit schmerzhaften Kriegen hinzubringen, von unserer Jugend an bis wir alle vergehen.« Bei allem Erfindungsreichtum, den die Männer so erfolgreich auf Waffen und Strategie anwandten, standen sie mit leeren Händen da, wenn es um die prosaischen Ursachen des Krieges ging. Statt in der Geißel des Krieges ein menschliches Problem zu erkennen, das von Menschen gelöst werden kann, brauten sie sich Phantasien von hitzköpfigen Göttern zusammen und führten ihre eigenen Tragödien auf deren Eifersüchteleien und Launen zurück.
Die hebräische Bibel
Wie die Werke von Homer, so spielt auch die hebräische Bibel (das Alte Testament) gegen Ende des 2. Jahrtausends v. u. Z., aber geschrieben wurde sie erst mehr als 500 Jahre später. Im Gegensatz zu den Werken Homers wird die Bibel heute von Milliarden Menschen verehrt: Sie sehen in ihr die Quelle ihrer ethischen Werte. Die Bibel ist das meistverkaufte Buch der Welt, wurde in 3000 Sprachen übersetzt und liegt auf der ganzen Welt in den Nachttischen der Hotels. Orthodoxe Juden küssen sie mit ihrem Gebetsschal; Zeugen in amerikanischen Gerichtshöfen legen ihre Hand darauf, wenn sie einen Eid schwören. Selbst der Präsident berührt eine Bibel, wenn er den Amtseid ablegt. Aber trotz all dieser Verehrung ist die Bibel ein einziges langes Loblied der Gewalt.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen. Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Bei einer Weltbevölkerung von genau vier Menschen ergibt das eine Mordquote von 25 Prozent, ungefähr das Tausendfache der entsprechenden Quoten in den heutigen westlichen Demokratien.
Die Vermehrung der Menschen begann erst, als Gott zu dem Schluss gelangt war, dass sie Sünder sind und dass Völkermord die einzig angemessene Bestrafung ist. (In einem Sketch von Bill Cosby wird Noah von einem Nachbarn um eine Erklärung gebeten, warum er die Arche baut. Darauf erwidert Noah: »Wie lange kannst du auf Wasser laufen?«) Als die Flut zurückgeht, erteilt Gott dem Noah seine moralische Lektion, den Kodex der Blutrache: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.«
Die nächste wichtige Figur in der Bibel ist Abraham, der spirituelle Urvater von Juden, Christen und Muslimen. Abraham hat einen Neffen namens Lot, der sich in Sodom niedergelassen hat. Da die Bewohner dieser Stadt sich mit Analsex und ähnlichen Sünden vergnügen, verbrennt Gott alle Männer, Frauen und Kinder mit himmlischem Napalm. Auch Lots Frau wird für das Verbrechen, sich umzudrehen und einen Blick auf das Inferno zu werfen, zum Tode verurteilt.
Abrahams moralische Werte werden auf den Prüfstand gestellt, als Gott ihm befiehlt, seinen Sohn Isaak auf einen Berggipfel zu bringen, zu fesseln, ihm die Kehle durchzuschneiden und die Leiche als Geschenk für den Herrn zu verbrennen. Isaak wird nur deshalb verschont, weil ein Engel im letzten Augenblick die Hand seines Vaters festhält. Jahrtausende- lang rätselten die Leser über der Frage, warum Gott auf dieser entsetzlichen Prüfung bestand. Nach einer Interpretation griff Gott nicht deshalb ein, weil Abraham die Prüfung bestanden hätte, sondern weil er durchgefallen war, aber das ist anachronistisch: Gehorsam gegenüber göttlicher Autorität und nicht Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben war die Kardinaltugend.
Isaaks Sohn Jakob hat eine Tochter namens Dina. Diese wird gekidnappt und vergewaltigt, was damals offenbar die übliche Form der Brautwerbung war: Die Familie des Vergewaltigers bietet an, Dina ihrer Familie abzukaufen und dem Vergewaltiger zur Frau zu geben. Darauf erklären Dinas Brüder, dieser Transaktion stehe ein wichtiges moralisches Prinzip im Weg: Der Vergewaltiger ist nicht beschnitten. Also machen sie ein Gegenangebot: Wenn alle Männer in der Stadt sich die Vorhaut abschneiden, ist Dina die Ihre. Während die Männer mit blutenden Penissen außer Gefecht gesetzt sind, dringen die Brüder in die Stadt ein, plündern und zerstören sie, ermorden die Männer und nehmen Frauen und Kinder mit. Als Jakob sich Sorgen macht, die Nachbarstämme könnten aus Rache zum Angriff übergehen, erklären die Söhne, das Risiko habe sich gelohnt: »Durfte er unsere Schwester denn wie eine Hure behandeln? « Wenig später bekräftigen sie erneut ihr Engagement für die familiären Werte, indem sie ihren Bruder Joseph in die Sklaverei verkaufen.
Jakobs Nachkommen, die Israeliten, gelangen schließlich nach Ägypten und werden für den Geschmack des Pharao zu zahlreich. Also versklavt er sie und befiehlt, alle Jungen gleich nach der Geburt umzubringen. Moses entgeht dem Massenmord an den Kindern - er wächst heran und fordert vom Pharao, dieser solle sein Volk ziehen lassen. Aber obwohl Gott, der doch allmächtig ist, das Herz des Pharao hätte erweichen können, macht er es stattdessen nur härter; das verschafft ihm den Grund, alle Ägypter mit schmerzhaften Pusteln und anderen Leiden zu schlagen, bevor er nun ihre erstgeborenen Söhne tötet. (Das Wort Pessach - engl. Passover - ist eine Anspielung auf den Todesengel, der an den Häusern mit hebräischen Erstgeborenen vorübergeht.) Auf diesen Massenmord lässt Gott einen zweiten folgen, als er die ägyptische Armee, die den Israeliten durch das Rote Meer folgt, ertränkt.
Die Israeliten versammeln sich am Berg Sinai und hören die Zehn Gebote, jenen großen Moralkodex, der in Stein gehauene Bilder und das Begehren von Haustieren verbietet, aber einen Freibrief für Sklaverei, Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Völkermord benachbarter Stämme ausstellt. Als die Israeliten darauf warten, dass Moses mit einem erweiterten Gesetzeswerk zurückkehrt, welches die Todesstrafe für Gotteslästerung, Homosexualität, Ehebruch, Widerspruch gegen die Eltern und Arbeit am Sabbat vorschreibt, werden sie ungeduldig. Um sich die Zeit zu vertreiben, formen sie die Statue eines Kalbes und beten sie an; auch dafür ist die Strafe - wie könnte es anders sein - der Tod. Auf Gottes Befehl töten Moses und sein Bruder Aaron insgesamt 3000 Gefährten.
Anschließend verwendet Gott sieben Kapitel des 3. Buchs Mose darauf, den Israeliten Anweisungen für die Schlachtung jenes stetigen Stromes von Tieren zu geben, die er von ihnen fordert. Aaron und seine beiden Söhne bereiten die Stiftshütte für das Opfer vor, aber die Söhne vertun sich und benutzen das falsche Räucherwerk; daraufhin lässt Gott sie verbrennen.
Als die Israeliten weiter in Richtung des gelobten Landes ziehen, treffen sie auf die Midianiter. Auf Gottes Befehl erschlagen sie die Männer, verbrennen ihre Stadt, plündern die Viehbestände und nehmen sowohl die Frauen als auch die Kinder gefangen. Als sie zu Moses zurückkommen, ist er empört: Sie haben die Frauen verschont, obwohl manche von ihnen die Israeliten verführt haben, Konkurrenzgötter anzubeten. Also befiehlt er seinen Soldaten, den Völkermord zu vollenden und sich mit den heiratsfähigen Sexsklaven zu belohnen, die sie nach ihrem Gutdünken vergewaltigen dürfen: »So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.«
In den Kapiteln 20 und 21 des 5. Buchs Mose stellt Gott den Israeliten einen Freibrief für den Umgang mit Städten aus, die ihre Herrschaft nicht anerkennen: Zerschmettert die Männer mit des Schwertes Schneide und entführt Kühe, Frauen und Kinder. Natürlich steht der Mann mit einer hübschen neuen Gefangenen vor einem Problem: Da er gerade die Eltern und Brüder der jungen Frau erschlagen hat, ist sie vielleicht nicht in der richtigen Stimmung für die Liebe. Gott sieht diese Beeinträchtigung voraus und bietet folgende Lösung an: Der Sieger sollte ihr den Kopf rasieren, die Fingernägel schneiden und sie einen Monat in seinem Haus einsperren, während sie sich die Augen ausweint. Dann kann er hineingehen und sie vergewaltigen.
Bei einer Liste genau benannter anderer Feinde (Hetiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter) muss der Völkermord vollständig ausgeführt werden: »Du sollst nicht leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken ... wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat.«
Diese Anordnung setzt Josua in die Tat um: Er besetzt Kanaan und zerstört die Stadt Jericho. Nachdem die Stadtmauern zusammengestürzt sind, »vollstreckten [seine Soldaten] den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln«. Und es bleibt noch mehr verbrannte Erde zurück: »So schlug Josua das ganze Land auf dem Gebirge und im Süden und im Hügelland und an den Abhängen mit allen seinen Königen und ließ niemand übrig und vollstreckte den Bann an allem, was Odem hatte, wie der Herr, der Gott Israels, befohlen hatte.«
Die nächste Phase in der Geschichte der Israeliten ist das Zeitalter der Richter, das heißt der Stammeshäuptlinge. Der berühmteste unter ihnen, Samson, begründet seinen Ruf dadurch, dass er während seiner Hochzeitsfeier 30 Männer umbringen lässt, weil er ihre Kleidung braucht, um damit seine Wettschulden zu begleichen. Dann metzelt er 1000 Philister nieder und setzt ihre Felder in Brand, um Rache für den Mord an seiner Frau und ihrem Vater zu nehmen, und nachdem er der Gefangennahme entgangen ist, tötet er noch einmal 1000 mit dem Kieferknochen eines Esels. Als er schließlich gefangen genommen wird und man ihm die Augen ausstechen will, verleiht Gott ihm die Kraft für einen Selbstmordanschlag in der Art des 11. Septembers: Er bringt ein großes Gebäude zum Einsturz, wobei 3000 Männer und Frauen zermalmt werden, die darin gerade beten.
Saul, der erste König Israels, gründet ein kleines Reich, das ihm die Gelegenheit verschafft, eine alte Rechnung zu begleichen. Einige Jahrhunderte zuvor waren die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten von den Amalekitern drangsaliert worden, und Gott hatte ihnen befohlen, »den Namen Amalek auszulöschen«. Als nun der Richter Samuel Saul zum König salbt, erinnert er diesen an die göttliche Anweisung: »So zieh nun hin und schlag Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und an allem, was es hat; verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.« Saul befolgt den Befehl, aber Samuel ist wütend, als er erfährt, dass Saul den feindlichen König Agag verschont hat. Also »hieb Samuel den Agag in Stücke vor dem Herrn«.
Saul wurde schließlich von seinem Schwiegersohn David gestürzt. Dieser gliederte die südlichen Stämme Judas an, eroberte Jerusalem und machte es zur Hauptstadt eines Königreiches, das viele Jahrhunderte überdauern sollte. David wurde in Geschichten, Liedern und Skulpturen verherrlicht, und sein sechszackiger Stern wurde für 3000 Jahre zum Symbol seines Volkes. Später verehrten ihn auch die Christen als Vorläufer Jesu.
Aber David war nicht nur der »süße Sänger Israels«, der feinsinnige Dichter, der Harfe spielte und Psalmen komponierte. Nachdem er sich mit der Tötung Goliaths einen Namen gemacht hatte, rekrutierte er eine Guerillabande, erleichterte seine Mitbürger mit vorgehaltener Klinge um ihren Reichtum und kämpfte als Söldner für die Philister. Saul wurde wegen solcher Leistungen neidisch: Die Frauen an seinem Hof sangen »Saul hat Tausende getötet, David aber Zehntausende«. Also schmiedete Saul ein Komplott, um ihn töten zu lassen. David entkam mit knapper Not und inszenierte anschließend einen Staatsstreich.
Nachdem David König geworden war, machte er seinem hart erarbeiteten Ruf, Zehntausende getötet zu haben, weiterhin Ehre. Sein General Joab »verwüstete das Land der Ammoniter«, und anschließend führte David »das Volk darin heraus und ließ sie mit Sägen und eisernen Hacken und Äxten Frondienste leisten«. Dann aber tut er etwas, das für Gott eine heimtückische Sünde ist: Er ordnet eine Volkszählung an. Um David zu bestrafen, tötet Gott 70 000 seiner Untertanen.
In der Königsfamilie selbst gehen Sex und Gewalt Hand in Hand. Als David eines Tages auf dem Palastdach spazieren geht, betätigt er sich als Spanner: Er sieht die nackte Batseba, und was er sieht, gefällt ihm. Also schickt er ihren Mann in die Schlacht, damit er ums Leben kommt, und nimmt sie in seinen Harem auf. Später vergewaltigt eines von Davids Kindern ein anderes und wird aus Rache von einem dritten ermordet. Der Rächer Absalom sammelt eine Armee um sich und bemüht sich, Davids Thron zu besetzen, indem er mit zehn von dessen Konkubinen schläft. (Was die Konkubinen davon hielten, wird wie üblich nicht berichtet.) Als Absalom vor Davids Armee flieht, bleibt er mit den Haaren in einem Baum hängen, und Davids General stößt ihm drei Speere ins Herz. Aber auch damit sind die Familienstreitigkeiten nicht zu Ende. Der greise David wird von Batseba mit einem Trick dazu veranlasst, ihren gemeinsamen Sohn Salomo zum Nachfolger zu salben. Der legitime Erbe, Davids älterer Sohn Adonija, protestiert und wird in Salomos Auftrag umgebracht.
Dem König Salomo werden weniger Morde zugerechnet als seinen Vorgängern. Er blieb in Erinnerung, weil er den Tempel in Jerusalem erbaute und die Bücher der Sprüche Salomos, der Prediger Salomo und das Hohelied Salomos verfasste. (Angesichts eines Harems von 700 Prinzessinnen und 300 Konkubinen wandte er allerdings sicher nicht seine ganze Zeit für die Schriftstellerei auf.) Vor allem aber wurde er für seine sprichwörtliche »salomonische Weisheit« bekannt. Zwei Prostituierte, die sich ein Zimmer teilen, bringen im Abstand von wenigen Tagen Kinder zur Welt. Eines der Babys stirbt, und beide Frauen behaupten, der überlebende Junge sei ihr Kind. Der weise König entscheidet den Fall, indem er ein Schwert zieht und droht, das Baby zu zweiteilen und jeder Frau eine Hälfte des winzigen Leichnams zu übergeben. Daraufhin zieht eine Frau ihren Anspruch zurück, und Salomo spricht ihr das Baby zu. »Und ganz Israel hörte von dem Urteil, dass der König gefällt hatte, und sie fürchteten den König; denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten.«
Die Distanz zu solchen Geschichten lässt uns leicht vergessen, in was für einer brutalen Welt sie spielen. Man stelle sich nur vor, ein heutiger Familienrichter würde einen Streit um die Mutterschaft entscheiden, indem er eine Kettensäge herauszieht und droht, das Baby vor den Augen der Prozessparteien zu zerlegen! Offenbar vertraute Salomo darauf, dass die humanere Frau (ob sie die Mutter war, erfahren wir nie) sich offenbaren würde, während die andere so boshaft war, dass sie die Tötung des Babys vor ihren Augen zulassen würde - und er hatte recht! Aber für den Fall, dass er sich irrte, muss er auch bereit gewesen sein, das Blutbad tatsächlich anzurichten - sonst hätte er seine Glaubwürdigkeit ein für alle Mal verspielt. Die Frauen wiederum müssen geglaubt haben, dass ihr weiser König tatsächlich in der Lage war, den grausigen Mord zu begehen.
Durch unsere moderne Brille gesehen, zeichnet die Bibel eine Welt von atemberaubender Grausamkeit. Menschen versklaven, vergewaltigen und ermorden Angehörige ihrer eigenen Familien. Kriegsherren metzeln Zivilisten einschließlich der Kinder unterschiedslos hin. Frauen werden gekauft, verkauft und gestohlen wie Sexspielzeuge. Und Jahwe foltert und ermordet die Menschen zu Hunderttausenden wegen banalen Ungehorsams oder völlig ohne Grund. Diese Gräueltaten sind weder Einzelfälle noch rätselhaft. An ihnen sind alle Hauptfiguren des Alten Testaments beteiligt, jene Gestalten, die von Kindern in der Sonntagsschule mit Buntstiften gemalt werden, und sie sind Teil eines Handlungsstranges, der sich über Jahrtausende erstreckt: von Adam und Eva über Noah, die Patriarchen, Moses, Josua, die Richter, Saul und David bis zu Salomo und darüber hinaus. Nach Angaben des Bibelforschers Raymond Schwager enthält die hebräische Bibel »mehr als 600 Passagen, in denen ausdrücklich davon die Rede ist, wie Nationen, Könige oder Einzelpersonen andere angreifen, zerstören und ermorden ... Neben den ungefähr 1000 Versen, in denen Jahwe selbst als unmittelbarer Vollstrecker gewalttätiger Bestrafungen auftritt, und den vielen Texten, in denen der Herr den Verbrechern ans Messer liefert, erteilt Jahwe an mehr als 100 Stellen ausdrücklich den Befehl, Menschen zu töten.« Matthew White, der sich selbst als Gräueltaten-Forscher bezeichnet und eine Datenbank mit den geschätzten Opferzahlen der wichtigsten Kriege, Massaker und Völkermorde der Geschichte unterhält, zählt bei den Massenmorden, für die in der Bibel ausdrücklich Zahlen genannt werden, rund 1,2 Millionen Opfer (wobei er die halbe Million Opfer in dem Krieg zwischen Juda und Israel, der in 2. Chronik 13 beschrieben wird, nicht mitzählt, weil er die Zahlenangaben für historisch nicht plausibel hält). Die Opfer der Sintflut summieren sich insgesamt zu weiteren rund 20 Millionen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
In einem Jahrhundert, das mit dem 11. September, dem Irak und Darfur begonnen hat, mag die Behauptung, wir lebten in einer ungewöhnlich friedlichen Zeit, wie ein Mittelding zwischen Halluzination und Obszönität erscheinen. Aus Gesprächen und Umfragen weiß ich, dass die meisten Menschen sich weigern, es zu glauben.1 In den nachfolgenden Kapiteln werde ich meine Aussage mit Datumsangaben und Zahlen begründen. Aber zuerst möchte ich Sie ein wenig weichklopfen, indem ich Sie an einige einschlägige Tatsachen aus der Vergangenheit erinnere, über die wir schon immer Bescheid gewusst haben. Damit möchte ich nicht nur Überzeugungsarbeit leisten. Wissenschaftler unterwerfen ihre Schlussfolgerungen häufig einer Plausibilitätsprüfung. Mit einer Stichprobe von Phänomenen aus der Wirklichkeit versichern sie sich, dass sie nicht irgendeinen Fehler in ihren Methoden übersehen haben und vorschnell zu einer Aussage gelangt sind. Die kurzen Szenen in diesem Kapitel sind eine Plausibilitätsprüfung für die Daten, die ich später anführen werde.
Wir machen jetzt eine kurze Rundreise durch jenes fremde Land namens Vergangenheit; sie führt uns vom Jahr 8000 v. u. Z. bis in die 1970er Jahre. Es ist keine große Bildungsreise durch die Kriege und Gräueltaten, deren wir ohnehin wegen ihrer Gewalttätigkeit gedenken, sondern eine Reihe kleinerer Blicke hinter täuschend altvertraute Orientierungspunkte, die uns daran erinnern sollen, welche Heimtücke sich dahinter verbirgt. Natürlich ist die Vergangenheit kein einzelnes Land, sondern umfasst eine Vielzahl von Kulturen und Gebräuchen. Was sie aber alle gemeinsam haben, ist der Schrecken früherer Zeiten: ein Hintergrund aus Gewalt, die man erduldete und sich oft auf eine Weise zu eigen machte, über die ein empfindlicher Bewohner der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts nur staunen kann.
Die Vorgeschichte der Menschen
Im Jahr 1991 stolperten zwei Wanderer in den Tiroler Alpen über eine Leiche, die aus einem schmelzenden Gletscher ragte. In dem Glauben, es handele sich um das Opfer eines Skiunfalls, befreiten Rettungskräfte den Körper mit Presslufthämmern aus dem Eis, wobei sie den Oberschenkelknochen und seinen Rucksack beschädigten. Erst als ein Archäologe eine Kupferaxt aus der Jungsteinzeit entdeckte, wurde klar, dass dieser Mann 5000 Jahre alt war.
Ötzi oder der »Mann aus dem Eis«, wie er heute genannt wird, wurde zu einer Berühmtheit. Er zierte die Titelseite des Magazins Time und war der Gegenstand zahlreicher Bücher, Dokumentarfilme und Zeitschriftenartikel. Seit Mel Brooks' 2000 Year Old Man (»ich habe über 42 000 Kinder, und keines kommt mich besuchen«) konnte uns kein tausendjähriger Mensch mehr so viel über die Vergangenheit erzählen. Ötzi lebte in jener entscheidenden Übergangszeit unserer Vorgeschichte, als die Landwirtschaft an die Stelle des Jagens und Sammelns trat und als man Werkzeuge erstmals nicht nur aus Stein, sondern auch aus Metall herstellte. Neben seiner Axt und dem Rucksack trug er einen Köcher mit gefiederten Pfeilen, einen Dolch mit Holzgriff und ein in Rinde gewickeltes glühendes Stück Holz, das zu einem raffinierten Besteck zum Feuermachen gehörte. Seine Kleidung bestand aus einer Bärenfellmütze mit ledernen Kinnriemen, Beinkleidern aus zusammengenähten Tierhäuten und wasserdichten Schneeschuhen aus Leder und Fasern, die mit Gras isoliert waren. An seinen arthritischen Gelenken hatte er Tattoos, vermutlich ein Anzeichen für Akupunktur, außerdem hatte er Pilze mit medizinischen Eigenschaften bei sich.
Zehn Jahre nachdem man den Mann aus dem Eis entdeckt hatte, machte eine Arbeitsgruppe von Radiologen eine beunruhigende Entdeckung: In Ötzis Schulter steckte eine Pfeilspitze. Anders als die Wissenschaftler ursprünglich angenommen hatten, war er nicht in eine Gletscherspalte gefallen und erfroren, sondern umgebracht worden. Als man den Körper kriminaltechnisch untersuchte, rückte schemenhaft ein Verbrechen ins Blickfeld. Ötzi hatte nicht verheilte Schnitte an den Händen sowie Wunden an Kopf und Brust. Die DNA-Analysen zeigten Blutspuren von zwei anderen Menschen an einer seiner Pfeilspitzen, Blut von einem dritten an dem Dolch und das Blut eines vierten an seinem Mantel. Einer Rekonstruktion zufolge gehörte Ötzi zu einer Gruppe, die Überfälle beging und mit einem Nachbarstamm aneinandergeraten war. Er tötete einen Mann mit einem Pfeil, holte sich die Waffe zurück, tötete einen zweiten, holte sich wiederum die Waffe und trug einen verwundeten Kameraden auf dem Rücken davon, bevor er einen erneuten Angriff abwehren musste und selbst einem Pfeil zum Opfer fiel.
Ötzi ist nicht der einzige jahrtausendealte Mensch, der gegen Ende des
20. Jahrhunderts berühmt wurde. Im Jahr 1996 bemerkten die Zuschauer eines Motorbootrennens in Kennewick im US-Bundesstaat Washington einige Knochen, die aus einem Ufer des Columbia River ragten. Wenig später bargen Archäologen das Skelett eines Mannes, der vor 9400 Jahren gelebt hatte.3 Sofort rückte der Kennewick-Mann in den Mittelpunkt öffentlichkeitswirksamer juristischer und wissenschaftlicher Konflikte. Mehrere Stämme der amerikanischen Ureinwohner stritten sich um das Sorgerecht für das Skelett und um das Recht, es entsprechend ihren Traditionen zu bestatten. Ein Bundesgericht wies die Ansprüche jedoch zurück und stellte fest, keine Kultur der Menschen habe jemals über neun Jahrtausende hinweg ununterbrochen existiert. Als man die wissenschaftlichen Untersuchungen wiederaufnahm, stellten die Anthropologen zu ihrer Verblüffung fest, dass der Kennewick-Mann sich anatomisch stark von den heutigen amerikanischen Ureinwohnern unterschied. Ein Bericht vertritt die Ansicht, er habe europäische Gesichtszüge gehabt; nach einem anderen passte er zu den Ainu, den Ureinwohnern Japans. Beide Theorien würden bedeuten, dass Amerika durch mehrere unabhängige Einwanderungswellen besiedelt wurde, aber das widerspricht den Befunden der DNA-Analysen, wonach die amerikanischen Ureinwohner die Nachkommen einer einzigen, aus Sibirien eingewanderten Gruppe sind.
Es gibt also eine Fülle von Gründen, warum der Kennewick-Mann bei den wissenschaftlich Interessierten zum Objekt der Faszination wurde. Ich möchte noch einen weiteren nennen. Im Beckenknochen des Ken- newick-Mannes steckt ein Steingeschoss. Der Knochen war zwar teilweise verheilt, was darauf hindeutet, dass er nicht an der Wunde starb, der kriminaltechnische Beleg ist aber eindeutig: Auf den Kennewick-Mann war geschossen worden.
Das sind nur zwei Beispiele für berühmte prähistorische Überreste, die uns grausige Nachrichten über das Ende ihrer Eigentümer überbringen. Viele Besucher des Britischen Museums waren vom Lindow-Mann gefesselt, einer nahezu vollständig erhaltenen, 2000 Jahre alten Leiche, die man 1984 in einem englischen Torfmoor entdeckt hatte.4 Wie viele seiner Kinder ihn besuchten, wissen wir nicht, aber wie er starb, ist bekannt. Sein Schädel wurde mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert, und der Hals war durch eine verdrehte Schnur gebrochen; zu allem Überfluss hatte man ihm dann auch noch die Kehle durchgeschnitten. Möglicherweise war der Lindow-Mann ein Druide, den man auf dreierlei Weise rituell geopfert hatte, um drei Götter zufriedenzustellen. Auch Spuren an vielen anderen männlichen und weiblichen Moorleichen aus Nordeuropa deuten darauf hin, dass man diese Menschen erdrosselt, erschlagen, erstochen oder gefoltert hatte.
Während der Recherchen zu diesem Buch stieß ich in einem einzigen Monat auf zwei neue Geschichten über bemerkenswert gut erhaltene menschliche Überreste. Der eine ist ein 2000 Jahre alter Schädel, der in einer Schlammgrube in Nordengland ausgegraben wurde. Der Archäologe, der den Schädel reinigte, spürte eine Bewegung, blickte durch die Öffnung an der Schädelunterseite und sah im Inneren eine gelbliche Substanz: Sogar das Gehirn war erhalten geblieben. Auch hier war der ungewöhnlich gute Erhaltungszustand nicht die einzige bemerkenswerte Eigenschaft des Fundes. Der Schädel war absichtlich vom Körper abgetrennt worden, was nach Ansicht des Archäologen darauf schließen ließ, dass es sich um ein Menschenopfer handelte. Die andere Entdeckung war ein 4600 Jahre altes Grab in Deutschland mit den Überresten eines Mannes, einer Frau und zweier Jungen. Die DNA-Analyse zeigte, dass sie alle zu einer einzigen Kleinfamilie gehörten - der ältesten, die man in der Wissenschaft kennt. Alle vier waren zur gleichen Zeit bestattet worden, nach Aussagen der Archäologen ein Zeichen, dass sie bei einem Überfall ums Leben gekommen waren.6
Woran liegt es, dass die prähistorischen Menschen uns offenbar keine interessante Leiche hinterlassen konnten, ohne auf gewalttätige Methoden zurückzugreifen? In manchen Fällen findet sich vielleicht eine harmlose Erklärung in der Taphonomie, das heißt in den Vorgängen, durch die Leichen erhalten bleiben. Vielleicht wurden zu Beginn des ersten Jahrtausends nur die Leichen von Menschen, die man rituell geopfert hatte, in Mooren versenkt, wo sie für die Nachwelt konserviert wurden. Bei den meisten Leichen besteht aber kein Anlass zu der Vermutung, sie seien nur deshalb erhalten geblieben, weil sie ermordet wurden. Später werden wir noch kriminaltechnische Untersuchungen kennenlernen, mit denen man anhand der Art, wie ein Körper auf uns überkommen ist, genau analysieren kann, wie er den Tod fand. Vorerst vermitteln prähistorische Überreste eindeutig den Eindruck, dass die Vergangenheit ein Land war, in dem für die Menschen eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, körperlich zu Schaden zu kommen.
Das Griechenland Homers
Was wir über Gewalt in prähistorischer Zeit wissen, hängt davon ab, welche Leichen einbalsamiert wurden oder als Fossilien erhalten geblieben sind; unsere Kenntnisse sind also ungeheuer unvollständig. Nachdem sich aber die geschriebene Sprache verbreitet hatte, hinterließen die Menschen der Antike uns bessere Informationen darüber, wie sie ihre Angelegenheiten regelten. Die Ilias und Odyssee von Homer gelten als die ersten großen Werke der abendländischen Literatur und nehmen in vielen Leitfäden über literarische Kultur breiten Raum ein. Sie spielen in der Zeit des Trojanischen Krieges um 1200 v. u. Z., verfasst wurden sie aber viel später, zwischen 800 und 650 v. u. Z.; nach heutiger Kenntnis spiegelt sich in ihnen das Leben der Stämme und Stammesfürstentümer wider, die es zu jener Zeit im östlichen Mittelmeerraum gab.
Oft liest man heute, der totale Krieg, der auf eine ganze Gesellschaft und nicht nur auf ihre Armee zielt, sei eine moderne Erfindung. Als Ursachen wurden die Entstehung der Nationalstaaten, Ideologien mit Alleinvertretungsanspruch und eine Technologie zum Töten aus der Entfernung genannt. Wenn Homers Beschreibungen aber stimmen (und tatsächlich stimmen sie mit den einschlägigen Befunden aus Archäologie, Ethnographie und Geschichtsforschung überein), war der Krieg im archaischen Griechenland ebenso total wie ein beliebiger Konflikt aus der Neuzeit. Agamemnon erklärte dem König Menelaos seine Pläne für den Krieg so:
»Du, Menelaos, mein Lieber, warum begünstigst du derart unsere Feinde? Die Troer behandelten dich wohl daheim aufs beste? Nicht einer von ihnen entrinne dem jähen Verderben, keiner unseren Fäusten! Auch nicht das Knäblein im Schoß der Mutter, auch das nicht! Nein, sie sollen verschwinden aus Troja, ausnahmslos alle, verschwinden ohne Bestattung und spurlos!«8
Der Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall erläutert in seinem Buch The Rape of Troy, wie Kriege damals geführt wurden:
In schnellen Booten mit geringem Tiefgang rudert man an die Strände, und die Siedlungen am Meer werden gebrandschatzt, bevor Nachbarn ihnen zu Hilfe eilen können. Die Männer werden in der Regel getötet, Vieh und andere transportable Wertgegenstände werden geplündert, und die Frauen werden mitgenommen; sie müssen unter den Siegern leben und ihnen sexuelle und niedere Dienste leisten. Die Männer lebten zu Homers Zeiten mit der Möglichkeit eines plötzlichen, gewaltsamen Todes; die Frauen hatten ständig Angst um ihre Männer und Kinder, und fürchteten sich vor den Segeln am Horizont, die unter Umständen ein neues Leben voller Vergewaltigung und Sklaverei ankündigten.9
Heute liest man ebenfalls häufig, die Kriege des 20. Jahrhunderts hätten eine beispiellose Zerstörungswirkung gehabt, weil sie mit Maschinengewehren, Artillerie, Bombern und anderen auf große Entfernung wirkenden Waffen geführt wurden, welche die Soldaten von ihrer natürlichen Hemmung gegenüber dem Kampf Mann gegen Mann befreiten und die Möglichkeit schufen, gnadenlos eine große Zahl gesichtsloser Feinde zu töten. Nach dieser Überlegung waren Handwaffen nicht annähernd so tödlich wie unsere Hightech-Methoden der Kriegsführung.
Aber Homer lieferte lebendige Beschreibungen über das Ausmaß der Schäden, die Krieger auch zu seiner Zeit anrichten konnten. Gottschall nennt ein Beispiel für solche Schilderungen:
Von kalter Bronze erstaunlich leicht durchbrochen, strömt der Inhalt des Körpers in zähflüssigen Strom heraus: Stücke von Gehirnen werden am Ende zitternder Speere sichtbar, junge Männer halten mit verzweifelten Händen ihre Gedärme zurück, Augen werden ausgestochen oder aus dem Schädel geschnitten und schimmern blicklos im Staub. Scharfe Spitzen schaffen sich immer neue Zu-und Ausgänge in jungen Körpern: mitten in der Stirn, in den Schläfen, zwischen den Augen, am unteren Ende des Halses, sauber durch Mund und Wangen und auf der anderen Seite wieder hinaus, durch Flanken, im Schritt, durch Gesäß, Hände, Nabel, Rücken, Magen, Brustwarzen, Brust, Nase, Ohren und Kinn ... Speere, Spieße, Pfeile, Schwerter, Dolche und Steinbrocken gieren nach dem Geschmack von Fleisch und Blut. Blut spritzt hervor und bildet Nebel in der Luft. Knochenstücke fliegen herum. Aus frischen Stümpfen quillt das Knochenmark. Nach der Schlacht fließt Blut aus tausend tödlichen oder verstümmelnden Wunden, verwandelt den Staub in Schlamm und düngt das Gras der Ebenen. Männer, die durch schwere Kampfwagen, Hengste mit scharfen Hufen und die Sandalen der Männer in den Boden gepflügt wurden, sind bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Das Feld ist von Waffen und Rüstungen übersät. Leichen liegen überall, verwesen und werden zum Festmahl für Hunde, Würmer, Fliegen und Vögel.
Im 21. Jahrhundert wurden sicher zu Kriegszeiten Frauen vergewaltigt, aber das gilt schon lange als grausiges Kriegsverbrechen, das von den meisten Armeen zu verhindern versucht und von den anderen geleugnet oder verschleiert wird. Für die Helden der Ilias dagegen war weibliches Fleisch eine legitime Kriegsbeute. Frauen waren dazu da, dass man an ihnen Spaß hatte, sie als Besitz betrachtete und nach Belieben wieder wegwarf. Menelaos beginnt den Trojanischen Krieg, als seine Frau Helena entführt wird. Agamemnon bring Unglück über die Griechen, weil er sich weigert, eine Sexsklavin an ihren Vater zurückzugeben, und als er schließlich nachgibt, eignet er sich eine an, die Achilleus gehört - und diesem bietet er später achtundzwanzigfachen Ersatz an. Achilleus seinerseits liefert folgende knappe Beschreibung seiner Karriere: »ebenso opferte ich auch zahlreiche schlaflose Nächte, wirkte die Tage hindurch in der blutigen Arbeit des Krieges, focht mit den Feinden, um jene mit Frauen nur zu versorgen!« Als Odysseus nach zwanzigjähriger Abwesenheit zu seiner Frau zurückkehrt, ermordet er die Männer, die ihr den Hof gemacht haben, während alle glaubten, er sei tot; und als er feststellt, dass die Männer sich auch mit dem Dutzend Konkubinen seines Haushalts vergnügt haben, lässt er die Konkubinen von seinem Sohn ebenfalls hinrichten.
Solche Berichte über Blutbad und Vergewaltigung sind auch nach den Maßstäben der heutigen Kriegsberichterstattung beunruhigend. Sicher, Homer und seine Gestalten bedauerten die Überflüssigkeit des Krieges, sie nahmen ihn aber wie das Wetter als unvermeidliche Tatsache des Lebens hin - als etwas, über das alle reden, ohne dass irgendjemand daran etwas ändern könnte. Odysseus formuliert es so: »Uns hat Zeus das Schicksal beschieden, unser Leben mit schmerzhaften Kriegen hinzubringen, von unserer Jugend an bis wir alle vergehen.« Bei allem Erfindungsreichtum, den die Männer so erfolgreich auf Waffen und Strategie anwandten, standen sie mit leeren Händen da, wenn es um die prosaischen Ursachen des Krieges ging. Statt in der Geißel des Krieges ein menschliches Problem zu erkennen, das von Menschen gelöst werden kann, brauten sie sich Phantasien von hitzköpfigen Göttern zusammen und führten ihre eigenen Tragödien auf deren Eifersüchteleien und Launen zurück.
Die hebräische Bibel
Wie die Werke von Homer, so spielt auch die hebräische Bibel (das Alte Testament) gegen Ende des 2. Jahrtausends v. u. Z., aber geschrieben wurde sie erst mehr als 500 Jahre später. Im Gegensatz zu den Werken Homers wird die Bibel heute von Milliarden Menschen verehrt: Sie sehen in ihr die Quelle ihrer ethischen Werte. Die Bibel ist das meistverkaufte Buch der Welt, wurde in 3000 Sprachen übersetzt und liegt auf der ganzen Welt in den Nachttischen der Hotels. Orthodoxe Juden küssen sie mit ihrem Gebetsschal; Zeugen in amerikanischen Gerichtshöfen legen ihre Hand darauf, wenn sie einen Eid schwören. Selbst der Präsident berührt eine Bibel, wenn er den Amtseid ablegt. Aber trotz all dieser Verehrung ist die Bibel ein einziges langes Loblied der Gewalt.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen. Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Bei einer Weltbevölkerung von genau vier Menschen ergibt das eine Mordquote von 25 Prozent, ungefähr das Tausendfache der entsprechenden Quoten in den heutigen westlichen Demokratien.
Die Vermehrung der Menschen begann erst, als Gott zu dem Schluss gelangt war, dass sie Sünder sind und dass Völkermord die einzig angemessene Bestrafung ist. (In einem Sketch von Bill Cosby wird Noah von einem Nachbarn um eine Erklärung gebeten, warum er die Arche baut. Darauf erwidert Noah: »Wie lange kannst du auf Wasser laufen?«) Als die Flut zurückgeht, erteilt Gott dem Noah seine moralische Lektion, den Kodex der Blutrache: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.«
Die nächste wichtige Figur in der Bibel ist Abraham, der spirituelle Urvater von Juden, Christen und Muslimen. Abraham hat einen Neffen namens Lot, der sich in Sodom niedergelassen hat. Da die Bewohner dieser Stadt sich mit Analsex und ähnlichen Sünden vergnügen, verbrennt Gott alle Männer, Frauen und Kinder mit himmlischem Napalm. Auch Lots Frau wird für das Verbrechen, sich umzudrehen und einen Blick auf das Inferno zu werfen, zum Tode verurteilt.
Abrahams moralische Werte werden auf den Prüfstand gestellt, als Gott ihm befiehlt, seinen Sohn Isaak auf einen Berggipfel zu bringen, zu fesseln, ihm die Kehle durchzuschneiden und die Leiche als Geschenk für den Herrn zu verbrennen. Isaak wird nur deshalb verschont, weil ein Engel im letzten Augenblick die Hand seines Vaters festhält. Jahrtausende- lang rätselten die Leser über der Frage, warum Gott auf dieser entsetzlichen Prüfung bestand. Nach einer Interpretation griff Gott nicht deshalb ein, weil Abraham die Prüfung bestanden hätte, sondern weil er durchgefallen war, aber das ist anachronistisch: Gehorsam gegenüber göttlicher Autorität und nicht Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben war die Kardinaltugend.
Isaaks Sohn Jakob hat eine Tochter namens Dina. Diese wird gekidnappt und vergewaltigt, was damals offenbar die übliche Form der Brautwerbung war: Die Familie des Vergewaltigers bietet an, Dina ihrer Familie abzukaufen und dem Vergewaltiger zur Frau zu geben. Darauf erklären Dinas Brüder, dieser Transaktion stehe ein wichtiges moralisches Prinzip im Weg: Der Vergewaltiger ist nicht beschnitten. Also machen sie ein Gegenangebot: Wenn alle Männer in der Stadt sich die Vorhaut abschneiden, ist Dina die Ihre. Während die Männer mit blutenden Penissen außer Gefecht gesetzt sind, dringen die Brüder in die Stadt ein, plündern und zerstören sie, ermorden die Männer und nehmen Frauen und Kinder mit. Als Jakob sich Sorgen macht, die Nachbarstämme könnten aus Rache zum Angriff übergehen, erklären die Söhne, das Risiko habe sich gelohnt: »Durfte er unsere Schwester denn wie eine Hure behandeln? « Wenig später bekräftigen sie erneut ihr Engagement für die familiären Werte, indem sie ihren Bruder Joseph in die Sklaverei verkaufen.
Jakobs Nachkommen, die Israeliten, gelangen schließlich nach Ägypten und werden für den Geschmack des Pharao zu zahlreich. Also versklavt er sie und befiehlt, alle Jungen gleich nach der Geburt umzubringen. Moses entgeht dem Massenmord an den Kindern - er wächst heran und fordert vom Pharao, dieser solle sein Volk ziehen lassen. Aber obwohl Gott, der doch allmächtig ist, das Herz des Pharao hätte erweichen können, macht er es stattdessen nur härter; das verschafft ihm den Grund, alle Ägypter mit schmerzhaften Pusteln und anderen Leiden zu schlagen, bevor er nun ihre erstgeborenen Söhne tötet. (Das Wort Pessach - engl. Passover - ist eine Anspielung auf den Todesengel, der an den Häusern mit hebräischen Erstgeborenen vorübergeht.) Auf diesen Massenmord lässt Gott einen zweiten folgen, als er die ägyptische Armee, die den Israeliten durch das Rote Meer folgt, ertränkt.
Die Israeliten versammeln sich am Berg Sinai und hören die Zehn Gebote, jenen großen Moralkodex, der in Stein gehauene Bilder und das Begehren von Haustieren verbietet, aber einen Freibrief für Sklaverei, Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Völkermord benachbarter Stämme ausstellt. Als die Israeliten darauf warten, dass Moses mit einem erweiterten Gesetzeswerk zurückkehrt, welches die Todesstrafe für Gotteslästerung, Homosexualität, Ehebruch, Widerspruch gegen die Eltern und Arbeit am Sabbat vorschreibt, werden sie ungeduldig. Um sich die Zeit zu vertreiben, formen sie die Statue eines Kalbes und beten sie an; auch dafür ist die Strafe - wie könnte es anders sein - der Tod. Auf Gottes Befehl töten Moses und sein Bruder Aaron insgesamt 3000 Gefährten.
Anschließend verwendet Gott sieben Kapitel des 3. Buchs Mose darauf, den Israeliten Anweisungen für die Schlachtung jenes stetigen Stromes von Tieren zu geben, die er von ihnen fordert. Aaron und seine beiden Söhne bereiten die Stiftshütte für das Opfer vor, aber die Söhne vertun sich und benutzen das falsche Räucherwerk; daraufhin lässt Gott sie verbrennen.
Als die Israeliten weiter in Richtung des gelobten Landes ziehen, treffen sie auf die Midianiter. Auf Gottes Befehl erschlagen sie die Männer, verbrennen ihre Stadt, plündern die Viehbestände und nehmen sowohl die Frauen als auch die Kinder gefangen. Als sie zu Moses zurückkommen, ist er empört: Sie haben die Frauen verschont, obwohl manche von ihnen die Israeliten verführt haben, Konkurrenzgötter anzubeten. Also befiehlt er seinen Soldaten, den Völkermord zu vollenden und sich mit den heiratsfähigen Sexsklaven zu belohnen, die sie nach ihrem Gutdünken vergewaltigen dürfen: »So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.«
In den Kapiteln 20 und 21 des 5. Buchs Mose stellt Gott den Israeliten einen Freibrief für den Umgang mit Städten aus, die ihre Herrschaft nicht anerkennen: Zerschmettert die Männer mit des Schwertes Schneide und entführt Kühe, Frauen und Kinder. Natürlich steht der Mann mit einer hübschen neuen Gefangenen vor einem Problem: Da er gerade die Eltern und Brüder der jungen Frau erschlagen hat, ist sie vielleicht nicht in der richtigen Stimmung für die Liebe. Gott sieht diese Beeinträchtigung voraus und bietet folgende Lösung an: Der Sieger sollte ihr den Kopf rasieren, die Fingernägel schneiden und sie einen Monat in seinem Haus einsperren, während sie sich die Augen ausweint. Dann kann er hineingehen und sie vergewaltigen.
Bei einer Liste genau benannter anderer Feinde (Hetiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter) muss der Völkermord vollständig ausgeführt werden: »Du sollst nicht leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken ... wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat.«
Diese Anordnung setzt Josua in die Tat um: Er besetzt Kanaan und zerstört die Stadt Jericho. Nachdem die Stadtmauern zusammengestürzt sind, »vollstreckten [seine Soldaten] den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln«. Und es bleibt noch mehr verbrannte Erde zurück: »So schlug Josua das ganze Land auf dem Gebirge und im Süden und im Hügelland und an den Abhängen mit allen seinen Königen und ließ niemand übrig und vollstreckte den Bann an allem, was Odem hatte, wie der Herr, der Gott Israels, befohlen hatte.«
Die nächste Phase in der Geschichte der Israeliten ist das Zeitalter der Richter, das heißt der Stammeshäuptlinge. Der berühmteste unter ihnen, Samson, begründet seinen Ruf dadurch, dass er während seiner Hochzeitsfeier 30 Männer umbringen lässt, weil er ihre Kleidung braucht, um damit seine Wettschulden zu begleichen. Dann metzelt er 1000 Philister nieder und setzt ihre Felder in Brand, um Rache für den Mord an seiner Frau und ihrem Vater zu nehmen, und nachdem er der Gefangennahme entgangen ist, tötet er noch einmal 1000 mit dem Kieferknochen eines Esels. Als er schließlich gefangen genommen wird und man ihm die Augen ausstechen will, verleiht Gott ihm die Kraft für einen Selbstmordanschlag in der Art des 11. Septembers: Er bringt ein großes Gebäude zum Einsturz, wobei 3000 Männer und Frauen zermalmt werden, die darin gerade beten.
Saul, der erste König Israels, gründet ein kleines Reich, das ihm die Gelegenheit verschafft, eine alte Rechnung zu begleichen. Einige Jahrhunderte zuvor waren die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten von den Amalekitern drangsaliert worden, und Gott hatte ihnen befohlen, »den Namen Amalek auszulöschen«. Als nun der Richter Samuel Saul zum König salbt, erinnert er diesen an die göttliche Anweisung: »So zieh nun hin und schlag Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und an allem, was es hat; verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.« Saul befolgt den Befehl, aber Samuel ist wütend, als er erfährt, dass Saul den feindlichen König Agag verschont hat. Also »hieb Samuel den Agag in Stücke vor dem Herrn«.
Saul wurde schließlich von seinem Schwiegersohn David gestürzt. Dieser gliederte die südlichen Stämme Judas an, eroberte Jerusalem und machte es zur Hauptstadt eines Königreiches, das viele Jahrhunderte überdauern sollte. David wurde in Geschichten, Liedern und Skulpturen verherrlicht, und sein sechszackiger Stern wurde für 3000 Jahre zum Symbol seines Volkes. Später verehrten ihn auch die Christen als Vorläufer Jesu.
Aber David war nicht nur der »süße Sänger Israels«, der feinsinnige Dichter, der Harfe spielte und Psalmen komponierte. Nachdem er sich mit der Tötung Goliaths einen Namen gemacht hatte, rekrutierte er eine Guerillabande, erleichterte seine Mitbürger mit vorgehaltener Klinge um ihren Reichtum und kämpfte als Söldner für die Philister. Saul wurde wegen solcher Leistungen neidisch: Die Frauen an seinem Hof sangen »Saul hat Tausende getötet, David aber Zehntausende«. Also schmiedete Saul ein Komplott, um ihn töten zu lassen. David entkam mit knapper Not und inszenierte anschließend einen Staatsstreich.
Nachdem David König geworden war, machte er seinem hart erarbeiteten Ruf, Zehntausende getötet zu haben, weiterhin Ehre. Sein General Joab »verwüstete das Land der Ammoniter«, und anschließend führte David »das Volk darin heraus und ließ sie mit Sägen und eisernen Hacken und Äxten Frondienste leisten«. Dann aber tut er etwas, das für Gott eine heimtückische Sünde ist: Er ordnet eine Volkszählung an. Um David zu bestrafen, tötet Gott 70 000 seiner Untertanen.
In der Königsfamilie selbst gehen Sex und Gewalt Hand in Hand. Als David eines Tages auf dem Palastdach spazieren geht, betätigt er sich als Spanner: Er sieht die nackte Batseba, und was er sieht, gefällt ihm. Also schickt er ihren Mann in die Schlacht, damit er ums Leben kommt, und nimmt sie in seinen Harem auf. Später vergewaltigt eines von Davids Kindern ein anderes und wird aus Rache von einem dritten ermordet. Der Rächer Absalom sammelt eine Armee um sich und bemüht sich, Davids Thron zu besetzen, indem er mit zehn von dessen Konkubinen schläft. (Was die Konkubinen davon hielten, wird wie üblich nicht berichtet.) Als Absalom vor Davids Armee flieht, bleibt er mit den Haaren in einem Baum hängen, und Davids General stößt ihm drei Speere ins Herz. Aber auch damit sind die Familienstreitigkeiten nicht zu Ende. Der greise David wird von Batseba mit einem Trick dazu veranlasst, ihren gemeinsamen Sohn Salomo zum Nachfolger zu salben. Der legitime Erbe, Davids älterer Sohn Adonija, protestiert und wird in Salomos Auftrag umgebracht.
Dem König Salomo werden weniger Morde zugerechnet als seinen Vorgängern. Er blieb in Erinnerung, weil er den Tempel in Jerusalem erbaute und die Bücher der Sprüche Salomos, der Prediger Salomo und das Hohelied Salomos verfasste. (Angesichts eines Harems von 700 Prinzessinnen und 300 Konkubinen wandte er allerdings sicher nicht seine ganze Zeit für die Schriftstellerei auf.) Vor allem aber wurde er für seine sprichwörtliche »salomonische Weisheit« bekannt. Zwei Prostituierte, die sich ein Zimmer teilen, bringen im Abstand von wenigen Tagen Kinder zur Welt. Eines der Babys stirbt, und beide Frauen behaupten, der überlebende Junge sei ihr Kind. Der weise König entscheidet den Fall, indem er ein Schwert zieht und droht, das Baby zu zweiteilen und jeder Frau eine Hälfte des winzigen Leichnams zu übergeben. Daraufhin zieht eine Frau ihren Anspruch zurück, und Salomo spricht ihr das Baby zu. »Und ganz Israel hörte von dem Urteil, dass der König gefällt hatte, und sie fürchteten den König; denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten.«
Die Distanz zu solchen Geschichten lässt uns leicht vergessen, in was für einer brutalen Welt sie spielen. Man stelle sich nur vor, ein heutiger Familienrichter würde einen Streit um die Mutterschaft entscheiden, indem er eine Kettensäge herauszieht und droht, das Baby vor den Augen der Prozessparteien zu zerlegen! Offenbar vertraute Salomo darauf, dass die humanere Frau (ob sie die Mutter war, erfahren wir nie) sich offenbaren würde, während die andere so boshaft war, dass sie die Tötung des Babys vor ihren Augen zulassen würde - und er hatte recht! Aber für den Fall, dass er sich irrte, muss er auch bereit gewesen sein, das Blutbad tatsächlich anzurichten - sonst hätte er seine Glaubwürdigkeit ein für alle Mal verspielt. Die Frauen wiederum müssen geglaubt haben, dass ihr weiser König tatsächlich in der Lage war, den grausigen Mord zu begehen.
Durch unsere moderne Brille gesehen, zeichnet die Bibel eine Welt von atemberaubender Grausamkeit. Menschen versklaven, vergewaltigen und ermorden Angehörige ihrer eigenen Familien. Kriegsherren metzeln Zivilisten einschließlich der Kinder unterschiedslos hin. Frauen werden gekauft, verkauft und gestohlen wie Sexspielzeuge. Und Jahwe foltert und ermordet die Menschen zu Hunderttausenden wegen banalen Ungehorsams oder völlig ohne Grund. Diese Gräueltaten sind weder Einzelfälle noch rätselhaft. An ihnen sind alle Hauptfiguren des Alten Testaments beteiligt, jene Gestalten, die von Kindern in der Sonntagsschule mit Buntstiften gemalt werden, und sie sind Teil eines Handlungsstranges, der sich über Jahrtausende erstreckt: von Adam und Eva über Noah, die Patriarchen, Moses, Josua, die Richter, Saul und David bis zu Salomo und darüber hinaus. Nach Angaben des Bibelforschers Raymond Schwager enthält die hebräische Bibel »mehr als 600 Passagen, in denen ausdrücklich davon die Rede ist, wie Nationen, Könige oder Einzelpersonen andere angreifen, zerstören und ermorden ... Neben den ungefähr 1000 Versen, in denen Jahwe selbst als unmittelbarer Vollstrecker gewalttätiger Bestrafungen auftritt, und den vielen Texten, in denen der Herr den Verbrechern ans Messer liefert, erteilt Jahwe an mehr als 100 Stellen ausdrücklich den Befehl, Menschen zu töten.« Matthew White, der sich selbst als Gräueltaten-Forscher bezeichnet und eine Datenbank mit den geschätzten Opferzahlen der wichtigsten Kriege, Massaker und Völkermorde der Geschichte unterhält, zählt bei den Massenmorden, für die in der Bibel ausdrücklich Zahlen genannt werden, rund 1,2 Millionen Opfer (wobei er die halbe Million Opfer in dem Krieg zwischen Juda und Israel, der in 2. Chronik 13 beschrieben wird, nicht mitzählt, weil er die Zahlenangaben für historisch nicht plausibel hält). Die Opfer der Sintflut summieren sich insgesamt zu weiteren rund 20 Millionen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Autoren-Porträt von Steven Pinker
Steven Pinker, geboren 1954, studierte Psychologie in Montreal und an der Harvard University. 20 Jahre lange lehrte er am Department of Brain and Cognitive Science am MIT in Boston und ist seit 2003 Professor für Psychologie an der Harvard University. Seine Forschungen beschäftigen sich mit Sprache und Denken, außerdem schreibt er regelmäßig für die "New York Times", "Time" und "The New Republic". Sein Werk ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Steven Pinker
- 2011, 1211 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Vogel, Sebastian
- Übersetzer: Sebastian Vogel
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100616049
- ISBN-13: 9783100616043
- Erscheinungsdatum: 21.10.2011
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