Gewitter der Liebe
"Auf nach Westen!" heißt es 1848 überall in den USA. In Kalifornien ist Gold gefunden worden! Auch die junge Näherin Julia macht sich mit einem Treck auf nach San Francisco. Doch als die Neusiedler nach vielen Entbehrungen, Not und Tod im...
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Produktinformationen zu „Gewitter der Liebe “
"Auf nach Westen!" heißt es 1848 überall in den USA. In Kalifornien ist Gold gefunden worden! Auch die junge Näherin Julia macht sich mit einem Treck auf nach San Francisco. Doch als die Neusiedler nach vielen Entbehrungen, Not und Tod im Westen ankommen, muss sie erkennen, dass sie das erhoffte Paradies hier nicht finden wird. Der attraktive Goldsucher Ross hat sich bereits auf dem Treck in die junge Frau verliebt. Jetzt baut er ihr ein Haus, verspricht ihr die Ehe. Doch da ist auch noch sein Freund Nathan, der auf dem Treck schwer verletzt wurde und mehr als nur Freundschaft für Julia empfindet.
Lese-Probe zu „Gewitter der Liebe “
Gewitter der Liebe von Sarah Lee HawkinsNew York, 1849 Die Strahlen der Vorfrühlingssonne vermochten es kaum die von jahrelangem Schmutz und Staub blinden Fenster der Textilfabrik Barclay & Wilson zu durchdringen. Das große Backsteingebäude lag in einem Industriegebiet der Stadt, fernab von Prachtstraßen, noblen Geschäften und Theatersälen. In diesen Teil New Yorks verirrten sich nur die Menschen, die dort arbeiteten und gezwungen waren, in den elenden Arbeitersiedlungen zu leben, weil sie zu wenig verdienten, um sich eine anständige Unterkunft leisten zu können. In einem der Nähsäle von Barclay & Wilson arbeitete auch Julia O'Donovan. Sie saß mit Dutzenden von anderen Frauen an einem langen rohen Holztisch, vor sich Stoffstücke gehäuft, die sie im Akkord bearbeiten musste. Seit Jahren war sie für das Anheften von Stehkragen an einfachen Nesselarbeitshemden zuständig; in einem weiteren Saal wurden die Kragen mit diesen modernen Nähmaschinen angenäht. Zu gern hätte Julia an einer Nähmaschine gesessen, denn das Bedienen war einfach und der Lohn etwas höher. Sie hatte keine Illusionen, trotz ihres erst dreiundzwanzigjährigen Lebens, denn ihr war bewusst, dass sie als arme Einwanderertochter niemals genügend Geld verdienen würde, um ein anständiges Leben führen zu können. Viele Näherinnen von Barclay & Wilson waren Einwanderer aus der Alten Welt. Sie waren voller Hoffnung in New York gelandet und würden dort bleiben, bis sie starben. Die meisten würden nie aus dem Elend herauskommen.
... mehr
Julia war noch ein kleines Mädchen gewesen, als ihre Eltern einwanderten, und so hatte sie kaum eine Erinnerung an ihr Heimatland Irland. Ihre Mutter hatte häufig von der zauberhaften grünen Insel in Europa erzählt und vor Heimweh oft ein paar heimliche Tränen vergossen. Aber das Leben war dort hart gewesen, als Kleinbauer konnte man mit den dürftigen Ernteerträgen kaum seine Familie ernähren, geschweige denn die Pacht für das Ackerland bezahlen.
Und so hatten sich die O'Donovans eines Tages, einundzwanzig Jahre zuvor, schweren Herzens entschlossen, Irland zu verlassen und mit einem der Auswanderungsschiffe nach Amerika zu reisen, wie es zu jener Zeit viele Iren taten. Aus der Neuen Welt kamen ständig Nachrichten von dem schönen Leben, das man dort führen konnte, und es hieß, dass man es schnell zu Reichtum bringen würde, wenn man nur fleißig genug war. Und fleißig waren die Auswanderer, sie hatten immer gearbeitet und nicht vor, in Amerika auf der faulen Haut zu liegen. Doch die Realität sah ganz anders aus, wie Julias Eltern bald erfahren mussten. Sie besaßen kein Geld und mussten zunächst zusehen, Arbeit in New York, wo ihr Schiff gelandet war, zu finden, um sich später eine Existenz aufzubauen. Aber dazu sollte es nie kommen. Julias Vater Joseph bekam eine Stelle als einfacher Arbeiter in einer Stahlfabrik, Ann O'Donovan verdiente ihren Lebensunterhalt als Dienstmädchen bei einem Fabrikbesitzer, der ihr großzügig erlaubte, die kleine Julia mit zur Arbeit zu bringen.
Das, was die O'Donovans zusammen verdienten, reichte gerade für ein ärmliches Zimmer in einem Arbeiterhaus, in dem es im Winter eiskalt war und das im Sommer einem Brutkasten glich. Als Julia fünf Jahre alt war, wurde ihre Mutter noch einmal schwanger. Der kleine Junge, den sie zur Welt brachte, war krank und schwächlich und starb noch vor seinem ersten Geburtstag an hohem Fieber. Ein Arzt hätte ihn vielleicht retten können, aber dafür fehlte das Geld. Und so arbeiteten die O'Donovans hart und verbissen, doch sie sollten nie mehr das elende Arbeiterquartier verlassen. Die Fabrikbesitzer wurden immer reicher, weil sie die Einwanderer für Hungerlöhne arbeiten ließen, und denen blieb oft keine andere Wahl. Beide Elternteile waren früh verstorben, ausgebrannt und resigniert; seitdem war Julia auf sich selbst angewiesen. Nun teilte sie sich mit einer Arbeitskollegin namens Lilly Olsson, deren Familie einst aus Schweden eingewandert war, eine winzige Dachkammer. Im Gegensatz zu Julia hatte Lilly große Pläne; sie hatte nicht vor, ihr Leben lang für wenig Geld Arbeiterhemden zu nähen.
Lilly war groß und hatte langes wallendes Blondhaar, eine hübsche Figur und stets ein keckes Lächeln auf den Lippen. Sie flirtete für ihr Leben gern, und die Männer sahen ihr oft sehnsüchtig nach, wenn sie mit wiegenden Hüften einherschritt und dabei so tat, als bemerkte sie die begehrlichen Blicke um sich herum gar nicht. Die beiden Frauen arbeiteten im selben Nähsaal, atmeten dieselbe trockene Luft ein und schwitzten im Hochsommer um die Wette. Trotz des niedrigen Lohnes arbeitete Julia gewissenhaft, denn sie hoffte, es eines Tages zu schaffen, an einer Nähmaschine sitzen zu dürfen; Lilly hingegen dachte gar nicht daran, irgendwann einmal bei Barclay & Wilson einen besseren Posten zu bekommen. Julia fuhr erschrocken zusammen, als sie sich an der Schulter gerüttelt fühlte. »Mittagspause, du Träumerin!« Lachend stand Lilly neben ihr und schwang ihr bescheidenes Lunchpaket. »Die anderen gehen in den Hof wegen des schönen Wetters.«
Erleichtert legte Julia das Hemd beiseite, nahm ihr Mittagessen, das wie meistens aus einer Scheibe altbackenem Graubrot bestand, welches mit einer dünnen Schicht Schweineschmalz bestrichen war, und folgte Lilly hinaus. Den Arbeiterinnen war es verboten, ihr Haar offen zu tragen; sie mussten es unter schmucklosen grauen Kopftüchern verbergen. Trotzdem sah Lilly damit gut aus, während sich Julia wie eine graue Maus fühlte. Auf dem Innenhof der Fabrik, in einer sonnigen Ecke, standen bereits einige Frauen und reckten ihre Köpfe mit geschlossenen Augen sehnsüchtig der Sonne entgegen. Der Winter an der Ostküste war lang und hart gewesen, und alle genossen die ersten Sonnenstrahlen. Julia und Lilly gesellten sich zu den anderen Arbeiterinnen und nahmen ihr bescheidenes Mahl ein. Eine ältere Frau hatte eine Tageszeitung ergattert, die ihr Vorarbeiter achtlos nach dem Lesen weggeworfen hatte. »Mädels, hört mal zu!«, rief sie, um sich Gehör zu verschaffen. »Hier steht ein großer Bericht über Kalifornien. Ihr wisst schon, dort wurde Gold gefunden!«
Die meisten Frauen wandten sich gelangweilt ab, denn ihr einziges Interesse galt der Sorge, sich ausreichend ernähren zu können. Aber Julia und Lilly reckten die Hälse. Schon mehrmals hatten sie von den sagenhaften Goldfunden gehört, die im Frühjahr 1848 im Abflusskanal einer Sägemühle namens Sutter's Mill gefunden worden waren. Aber erst später machte die Neuigkeit ihre Runde und gelangte zur Ostküste, wo sie teils mit müdem Lächeln, teils jedoch mit großem Interesse aufgenommen worden war. Daraufhin war ein regelrechter Rausch ausgebrochen; junge Männer verließen ihre Heimat, um ihr Glück in Kalifornien zu versuchen. Sie erreichten ihr Ziel, indem sie mit Schiffen über die Landenge von Panama oder um Kap Hoorn herum fuhren.
Nicht jedes Schiff erreichte die Westküste, so manchem waren die Naturgewalten am Kap zum Verhängnis geworden. »Hier steht, dass ein Treck geplant ist, der quer über den Kontinent nach Kalifornien ziehen will«, las die Frau ungefragt weiter vor. »Stellt euch das mal vor - sie wollen durch die Wildnis ziehen, anstatt den Seeweg zu nehmen, sehr mutig!« Lilly lehnte sich an die Gebäudemauer und seufzte. »Wie mag es wohl in Kalifornien sein? Ich hörte, dass es dort immer warm sein soll und die Obstbäume voller Früchte sind - und es soll dort exotische Blumen wie im Orient geben.« Die Frau mit der Zeitung nickte. »Und es soll Rinderherden geben, die bis zum Horizont reichen.« »Ein Land, in dem Milch und Honig fließen«, warf ein junges Mädchen mit träumerischer Miene ein. »Und dann noch das ganze Gold in den Flüssen!« Während Julia sich etwas abseits hielt, gesellte sich Lilly zu den anderen. »In Kalifornien ist das Goldfieber ausgebrochen, las ich neulich. Wusstet ihr, dass San Francisco früher nichts als eine Mission von Franziskanermönchen gewesen ist?« Die meisten wussten es nicht.
»Wegen der Nähe zum Pazifik hatte man dort einen Handelsposten eingerichtet.« Lillys ansonsten makelloses Gesicht wies vor Aufregung winzige rötliche Flecken auf. »Die Stadt wächst ständig, immer mehr Menschen lassen sich dort nieder. « Die Frau mit der Zeitung blätterte hektisch, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. »Hier.« Sie hielt das Blatt in die Höhe, sodass es jeder sehen konnte - die Annonce einer Reederei, die eine Schifffahrt nach Kalifornien anbot, für neunzig Dollar pro Person. »Willst du etwa mitfahren, Claire?«, fragte eine andere Frau, worauf die gesamte Gesellschaft in amüsiertes Lachen ausbrach. Beleidigt warf Claire die Zeitung auf den Boden. »Ja, lacht nur. Hätte ich nicht Mann und Kinder - und das nötige Geld -, würde ich auswandern. Gerade Frauen sind dort Mangelware, fleißige Arbeiterinnen, die viel mehr verdienen als hier. Immer wieder erscheinen Anzeigen von Leuten aus San Francisco, die händeringend Arbeitskräfte suchen, weil die Menschen dort alles stehen und liegen lassen, um auf die Goldfelder zu gehen.« Die Menge verstummte, und die Frauen setzten nachdenkliche Mienen auf. Nicht, dass eine von ihnen ernsthaft in Erwägung zog, ins ferne San Francisco zu gehen, aber der Gedanke, für seine Arbeit ordentlich bezahlt zu werden, reizte die meisten; da machte noch nicht einmal Julia eine Ausnahme. Sie könnte bei einem Schneider arbeiten oder als Weißnäherin in einem Hotel, aber das waren nichts als Träume, die sich niemals erfüllen würden.
Die Glocke mit dem unerbittlichen harten Ton kündigte das Ende der Mittagspause an, und missmutig begaben sich die Arbeiterinnen wieder an ihre stickigen Plätzen, um bis abends über den Arbeitshemden zu sitzen. Doch auf dem Heimweg ins ungefähr zwei Meilen entfernte Quartier, den Julia und Lilly stets gemeinsam nahmen, wurde das aktuelle Thema erneut aufgenommen. »Wie viel Geld hast du gespart?«, erkundigte sich Lilly und hakte sich bei Julia unter. »Ich habe achtzehn Dollar, und du?« Automatisch blieb Julia stehen. »Ungefähr zwanzig Dollar, wieso? Du denkst doch nicht etwa daran, dir eine Schiffspassage zu kaufen, um in die Ungewissheit zu fahren? Ich spare übrigens auf einen neuen Wintermantel, der vom letzten Jahr ist inzwischen vollends zerschlissen.« Lilly winkte ab. »In Kalifornien brauchst du keinen Wintermantel. Ich wollte mir übrigens einen neuen Hut für das Ersparte kaufen, aber das kann ich später noch tun.« Sie zog Julia weiter. »Na komm, mir ist kalt.« »Was hast du also mit deinen Ersparnissen vor?«
»Mit einem Treck zu reisen wäre billiger, nicht wahr?« Lilly lächelte geheimnisvoll und versprach ihrer Freundin, zu Hause näher darauf einzugehen. Das hässliche Backsteingebäude mit den schmalen hohen Fenstern, in dem die beiden Frauen untergekommen waren, lag in einer Reihe ähnlicher Häuser. Jeder Winkel der engen Räume war bis auf den letzten Zentimeter bewohnt, vom Säugling bis zum Greis, der von seiner Familie mitversorgt werden musste. All diese Familien arbeiteten in den umliegenden Textil-, Maschinen- oder Nahrungsmittelfabriken - sogar die größeren Kinder waren gezwungen, dort zu arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen. Im Treppenhaus roch es nach Kohl, schmutzigen Windeln und Schimmel. Keine Familie besaß mehr als ein Zimmer, der Abort befand sich im Hinterhof, Wasser gab es über eine rostige Pumpe daneben.
Die Menschen, die hier lebten, waren größtenteils Einwanderer, hatten ihren Traum von einem besseren Leben in der Neuen Welt längst begraben. Im obersten Stockwerk, zu dem man über eine schmale Holzstiege gelangte, bewohnten Julia und Lilly eine der Mansardenkammern - gerade groß genug für zwei schmale Bettstellen, ein wurmstichiges Regal, eine ebenso wurmstichige Kommode und einen wackeligen Holztisch unter der Dachluke. Lilly machte eine umfassende Bewegung, nachdem Julia die Petroleumlampe entzündet hatte. »Sag selbst, willst du ewig hier hausen?« »Selbstverständlich nicht!«, kam es empört zurück. Julia setzte sich erschöpft auf die Kante ihres Bettes, denn es war wie üblich ein langer, harter Tag in der Fabrik gewesen. »Vielleicht haben wir ja eines Tages Glück und finden eine besser bezahlte Arbeit als die bei Barclay & Wilson.
Dann könnten wir uns ein richtiges Zimmer mieten.« Hart lachte Lilly auf. »Wie lange willst du darauf warten?« »Nun, es wäre doch auch möglich, dass ich einem Mann begegne, der sich in mich verliebt und heiratet und mir ein schönes Zuhause bieten kann.« »Vergiss es.« Lilly nahm ihren billigen Filzhut ab und schleuderte ihn achtlos auf das Bett. Dann löste sie die Haarnadeln und ließ das lange Blondhaar bis über die Schultern gleiten. »Solange du in New York bleibst, wird sich nie etwas ändern. Wo willst du einen Mann kennenlernen, der nicht ebenso arm ist wie du?« Sie wies auf den Fußboden, denn aus dem Zimmer direkt unter ihnen drangen erst erregte laute Stimmen von Erwachsenen in polnischer Sprache hinauf, dann das Geschrei einiger Kinder. »Du wirst so enden wie die Karows unter uns und all die anderen, die hier leben.« Das alles wusste Julia selbst, doch das Träumen von einem besseren Leben konnte ihr niemand verbieten. Sie löste die Knoten ihrer derben Schuhe, ließ sie auf den Fußboden poltern und zog die kalten Füße unter ihren Körper, um ihnen neues Leben einzuhauchen. Ungefragt setzte sich Lilly neben sie.
»Letzte Woche habe ich gehört, dass in San Francisco nicht nur Arbeitskräfte gesucht werden, sondern auch junge Frauen im heiratsfähigen Alter.« »Ach ja?« Julia war gegen ihren Willen hellhörig geworden. Lilly nickte eifrig. »Tausende von jungen Männern wandern nach Kalifornien aus, um nach Gold zu suchen. Da liegt es doch auf der Hand, dass sie sich eine Frau wünschen und eine Familie gründen wollen. Stell dir vor, du gerätst an einen, der gerade einen großen Goldklumpen gefunden hat - dann hast du für immer ausgesorgt!« Über diese unromantische Äußerung musste Julia lachen. Lilly hielt nicht viel von ewig währender Liebe und der Gründung einer Familie. »Und was würdest du in San Francisco machen?«, fragte Julia neugierig. »Was würdest du mit dem Geld anfangen, dass du dort als Näherin verdienen würdest?« »Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass ich dort noch eine Nähnadel anfassen würde!«, erwiderte Lilly und hob ihre Hände. »Sieh dir nur meine zerstochenen Finger an.« »Die habe ich doch auch!« »Aber ich würde in San Francisco gerne etwas anderes arbeiten. « Julia rückte so weit nach hinten, bis ihr Rücken die kahle Wand berührte. »Du hast doch nichts als das Nähen gelernt.« »Lach jetzt nicht, aber ich würde gern in einem Saloon arbeiten. « Entsetzt starrte Julia sie an.
»Das kann nicht dein Ernst sein.« »Doch, das ist es. Ich weiß, dass es genügend Saloons in San Francisco gibt, in denen die Goldsucher ihren Tagesfund für Schnaps und Glücksspiel ausgeben. Die Männer mögen mich, und was ist schon dabei, sie zum Trinken zu animieren.« Julia teilte diese Moral ganz und gar nicht. Auch sie war mit ihren dunklen Haaren und grauen Augen eine hübsche Frau, aber wenn die Männer ihr begehrliche Blicke schickten, achtete sie nicht darauf. Ein lockerer Lebenswandel, wie ihn sich Lilly vorstellte, kam für sie nicht in Frage - niemals! »Sieh mich nicht so verdattert an.« Lilly lachte. »Die Jungs in Kalifornien sind stinkreich, wenn sie genug Gold geschürft haben. Und da dort Frauen Mangelware sind, suchen sie in den Saloons etwas Abwechslung, und meine Anwesenheit würde dafür sorgen, dass sie genug Abwechslung bekämen.« »Du würdest dort ... deinen Körper verkaufen?« »Was du immer denkst! Ich würde die Männer zum Trinken animieren, und dabei fiele sicher oft ein hübsches Trinkgeld für mich ab. Warte.« Lilly sprang vom Bett, lief zur Kommode und wühlte in der untersten Schublade herum.
Dann kam sie mit einem zusammengefalteten Zettel zurück und ließ sich wieder auf Julias Bett nieder. »Lies das mal.« Der Zettel war stark zerknüllt und die Buchstaben kaum noch leserlich. Julia begriff lediglich, dass es sich um einen Aufruf handelte, gerichtet an die unzähligen New Yorker Näherinnen, die in Heimarbeit Hemden nähten und noch jämmerlicher bezahlt wurden als die Frauen in den Fabriken. Verständnislos hob Julia den Blick. Lilly half ihr auf die Sprünge. »Ich hab diesen Zettel von einer der Heimarbeiterinnen bekommen. Eine Witwe namens Eliza Farnham, deren Mann in Kalifornien gestorben ist, hat erkannt, dass es in San Francisco zu wenig Frauen gibt, und diese Aktion ins Leben gerufen. Sie ruft alle Heimarbeiterinnen auf, mit ihr zu gehen, es soll sogar in der Zeitung gestanden haben.« Noch immer wusste Lilly nicht, worauf die Freundin hinauswollte, wagte sie jedoch nicht zu unterbrechen.
»Über zweihundert sollen sich für die Reise beworben haben, denn in San Francisco können sie bis zu fünfunddreißig Dollar am Tag verdienen!« Julia schluckte und echote leise: »Fünfunddreißig Dollar ...« »Ich glaube nicht, dass Mrs Farnham übertrieben hat, auch wenn sie selbst nie dort gewesen ist. Aber sie hat die Hilferufe in den Zeitungen gelesen, in denen man dringend Arbeitskräfte suchte, und kam auf die Idee, junge alleinstehende Frauen zur Auswanderung zu animieren. Unzählige junge Männer aus aller Welt sind auf der Goldsuche und würden gerne heiraten. Da die meisten der Interessierten kein Geld für die Schiffspassage haben, hat Mrs Farnham Geld bei reichen Leuten gesammelt, und Ende April fährt sie mit dem Schiff und den Frauen los. Die Glücklichen!« »Aber warum erzählst du mir das alles?« Ratlos legte Julia den ramponierten Zettel beiseite. »Wir werden nicht bei diesen Frauen sein.« »Das nicht, aber das Vorhaben brachte mich auf die Idee, auch nach Kalifornien zu gehen.« Lillys Augen glänzten vor Aufregung. »Und ich möchte, dass du mitkommst. Oder hast du vor, dein Leben lang in diesem schrecklichen Loch zu hausen? « Zunächst entgegnete Julia nichts.
Wenn sie scharf nachdachte, würde sie New York, der Fabrik und der kalten Kammer nicht eine einzige Träne nachweinen. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, sein Glück auf der anderen Seite des Kontinents zu versuchen. Sie und Lilly hatten schließlich nichts zu verlieren. Aber da gab es noch etwas, das das Vorhaben von vornherein zum Scheitern brachte. »Wir müssten jahrelang für die Schiffspassage sparen«, bemängelte sie mit kummervoller Miene. »Du hast vorhin die Annonce in Claires Zeitung gesehen - sie verlangen neunzig Dollar!« Doch Lilly hatte auch dies bedacht. »Wir können über Land reisen, das dauert zwar länger, ist aber billiger. Claire las von diesem Treck vor, der den alten Oregon-Trail benutzen will, um nach Kalifornien zu kommen. Wenn wir uns beeilen, können wir ihn noch erreichen. Er startet in Independence, Missouri, in wenigen Wochen.« Energisch schüttelte Julia den Kopf. »Der Landweg ist zu gefährlich, es geht durch die Prärie und über die Berge. Außerdem würde uns niemand umsonst mitnehmen.« Lilly grinste schelmisch. »Ich hab mich bereits erkundigt. Wir müssten nur dreißig Dollar pro Person an den Treckführer zahlen ...« »... die wir jedoch nicht haben.« »Noch nicht, aber dafür habe ich bereits eine Idee. Lass mich nur machen. Wenn wir in Independence angekommen sind, suchen wir uns einen Wagen, der uns mitnimmt. Ich las, dass sich viele Männer ohne Familie anschließen wollen; auch sie hat das Goldfieber erreicht.« Julia öffnete den Mund zu einem Einwand, doch Lilly sprach bereits weiter. »Wir könnten unsere Dienste fürs Mitnehmen anbieten ... ich meine natürlich hausfrauliche Dienste wie Kochen, Waschen und Flicken. Na, wie hört sich das an?«
»Zu schön, um wahr zu sein«, musste Julia zugeben, doch sie sah nichts als einen unerreichbaren Traum darin, aus dem Lilly wachgerüttelt werden musste. »Wann ist dir in den Sinn gekommen, nach Kalifornien zu gehen? Du hast vorher nie darüber geredet.« »Schon länger, das gebe ich zu. Überall hört man von diesem sagenhaften Kalifornien, sodass ich mir vornahm, dieses exotische Land einmal kennenzulernen. Das da«, Lilly wies auf den Handzettel, »gab den Ausschlag, mich anzuschließen. Aber alleine fehlt mir der Mut, und ich würde dich nur ungern in New York zurücklassen.« Julia lehnte sich wieder mit dem Rücken gegen die Wand und sagte mit verträumtem Blick: »Ich hab noch nie etwas anderes als diese Stadt gesehen.« »Ich doch auch nicht.« Lilly sprang auf, streifte sich das einfache graue Wollkleid über den Kopf und schlüpfte in ein etwas ansehnlicheres Kleid aus dunkelroter Baumwolle. Sie hatte es sich aus einem günstigen Stoff selbst genäht. Erschrocken fuhr Julia hoch. »Wo willst du denn jetzt noch hin?«
Es war zwar Samstagabend und der nächste Tag frei, aber dennoch verbrachten die Frauen das karge Wochenende meist in ihrer Kammer, denn für sonntägliche Vergnügungen hatten sie kein Geld. »Wart's ab.« Lilly bürstete ihr langes Haar und setzte ihren Sonntagshut auf. »Ich gehe aus, aber mach dir keine Sorgen. Ich habe eine Idee, um an etwas Geld zu kommen, damit wir uns die Postkutsche nach Missouri leisten können.« Nun stand auch Julia auf und fasste ihre Freundin am Ärmel. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber es gefällt mir nicht. Ich habe Angst, dass du in schlechte Gesellschaft gerätst.« »Das musst du nicht; ich weiß schon, was ich tue. Also leg dich schlafen, ich werde bald zurück sein.« Lilly umarmte sie sanft, griff dann nach ihrer Handtasche und war schon im nächsten Augenblick verschwunden. Ratlos blieb Julia mitten im Raum stehen und starrte auf die geschlossene Tür. Wenn sie sich beeilte, würde sie Lilly vielleicht noch einholen, aber sie würde sie nicht aufhalten können. Als sie erkannte, dass Lilly nicht zurückkommen würde, ging Julia schließlich zu Bett. Obwohl sie seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen gewesen war, konnte sie zunächst keinen Schlaf finden. Ihre Gedanken zogen von der Sorge um Lilly zu diesem märchenhaften Land, in dem jeder gut leben konnte, der die waghalsige Reise auf sich nahm.
Und das waren viele! Tag für Tag strömten Abenteurer - nicht nur aus Amerika, sondern aus der ganzen Welt - nach Kalifornien mit seinen unglaublichen Schätzen. Obwohl Julia etwas nüchterner als Lilly dachte und sich überlegte, ob die Leute nicht doch übertrieben, hatte die Freundin sie mit ihrer Begeisterung angesteckt. Zu verlieren hatten sie nun wirklich nichts, und New York hatte Julia nie als ihre Heimat angesehen. Hätten sich die Träume ihrer Eltern verwirklicht, würde Julia nun auf einer kleinen Farm in den neu erschlossenen Gebieten im Westen wohnen und vermutlich ein erfreulicheres Leben führen. Sie versuchte, sich Kalifornien vorzustellen, es musste ein wundervolles Land sein. Nicht nur wegen der Goldfunde, auch der angeblich üppigen Vegetation wegen. Und dieses San Francisco musste eine schöne aufstrebende Stadt sein. Vielleicht hatte Lilly recht, und sie beide könnten dort ihr Glück finden, auch wenn ihre Vorstellungen weit auseinandergingen. Über diese Gedanken schlief Julia schließlich ein. Mit einem erstickten Aufschrei fuhr sie in die Höhe, als sie sich sanft am Arm berührt fühlte. Es wurde bereits hell, und sie konnte Lillys vor Aufregung erhitztes Gesicht sehen. »Sieh mal, was ich mitgebracht habe«, sagte Lilly und deutete auf die Bettdecke. »Das sollte für die Reise nach Kalifornien reichen.« Ungläubig rieb sich Julia die Augen. Hatte sie im Dämmerlicht tatsächlich einen Haufen Dollarscheine auf der schäbigen grauen Wolldecke gesehen? Julia blinzelte und richtete den Blick erneut auf den Schatz. »Woher hast du das viele Geld?«, krächzte sie und streckte vorsichtig die Hand aus, um die Scheine zu berühren, als hätte sie Angst, sie könnten sich in Luft auflösen. »Ich glaube, ich träume.« Ausgelassen lachte Lilly, nahm ihren Hut ab und warf ihn übermütig in die Höhe. »Wenn du es genau wissen willst: Ich hab's gestohlen!« Insgeheim war Julia froh, dass die Freundin dafür nicht ihren Körper verkauft hatte - aber Diebstahl war auch nicht gerade ein Kavaliersdelikt.
Lilly war hundemüde, dennoch konnte sie noch nicht schlafen und berichtete. »Ich wusste noch nicht ganz genau, wie ich an Geld kommen sollte, als ich gestern Abend das Haus verließ. Doch ich hatte eine Idee, und es gelang mir, sie in die Tat umzusetzen.« In ihrem dünnen Nachthemd frierend, zog sich Julia vorsichtig die Decke bis zu den Schultern hoch, ängstlich darauf bedacht, die Geldscheine nicht zu berühren. »Ich ging ins Blue Wonder«, fuhr Lilly fort, während sie die Schnürung ihrer Schuhe löste. »Du weißt, das ist dieser üble Schuppen in der Greenwood Street.« Julia war schier entsetzt. Das Blue Wonder war einer jener schmuddeligen Spelunken in einem nahen Viertel, in der es nichts als sogenannte Bars und fragwürdige Varietétheater gab. Anständige Frauen hatten dort nichts verloren, und Julia kannte die Straße nur, weil sie und Lilly sich vor einiger Zeit verlaufen und dort gelandet waren. »Ich kann nicht glauben, dass du dich dort herumgetrieben hast«, sagte Julia tonlos. »Hast du die Blicke der Männer vergessen, die auf der Suche nach käuflicher Liebe waren? Gütiger Himmel, was hätte dir alles zustoßen können!« Kleinlaut gab Lilly zu, dass sie mehrmals hatte wieder umkehren wollen - aber die Zeit drängte, und sie brauchte Geld.
»Im Blue Wonder wird viel gespielt«, fuhr sie schließlich fort. »Poker und Würfelspiele, das hörte ich mal von einem der anderen Nähmädchen. Und wo gespielt wird, gibt es auch viel Geld. Also«, sie warf die Schuhe von sich und schlenderte zu ihrem eigenen Bett hinüber, »also ging ich in diese Kaschemme hinein und tat, als würde ich nach jemandem suchen. Und während ich mir noch den Hals verrenkte nach meinem vermeintlichen Bekannten, wurde ich von einem Mann angesprochen und auf einen Drink eingeladen. Ich gab mich wankelmütig, doch als ich merkte, dass dieser Mann in den mittleren Jahren ein Spieler war, ging ich darauf ein. Er führte mich zu einem Tisch, an dem gepokert wurde, und der Mann, der sich Bill nannte, meinte, dass ich seine Glücksfee sein sollte. Verrückt, nicht wahr?« »Allerdings!«, pflichtete ihr Julia bei.
»Spieler sind gefährlich und gehen für Geld über Leichen.« »Alles halb so schlimm. Bill war sehr nett zu mir, und im Laufe des Abends gewann er immer wieder. Ich glaube, er hat geschummelt ... aber vielleicht habe ich ihm wirklich Glück gebracht.« Lilly grinste. »Glaub nicht, dass ich mich in dieser schummrigen Kaschemme mit ihrem Publikum wohlgefühlt habe. Die meisten Männer dort waren einfache Arbeiter aus den umliegenden Fabriken, aber Bill trug einen guten Anzug, und er verfügte über einen ordentlichen Durst. Ich selbst habe nur an meinem Wein genippt, denn ich wollte einen klaren Kopf behalten.« Während des Erzählens legte Lilly ihre Kleidung ab und schlüpfte in ihr fadenscheiniges Nachthemd, um danach schnell unter die Decke zu kriechen. »Irgendwann hatte Bill genug gewonnen und machte Anstalten, die Bar zu verlassen - und da kam meine Stunde. Ich wartete, bis Bill sein gewonnenes Geldbündel in die Hosentasche steckte und bot ihm augenzwinkernd meine Begleitung an.« »Lilly!« »Er nahm mein Angebot sofort begeistert an.« Lilly kicherte. »Draußen schmiegte ich mich eng an ihn, während er nach einer Droschke Ausschau hielt, und säuselte ihm ins Ohr, dass ich noch nie einen so gut aussehenden Mann wie ihn kennengelernt hätte. Bill war sehr betrunken, doch er lächelte geschmeichelt. Ich stand absichtlich an jener Seite, an der er das Geld verwahrte. Fieberhaft überlegte ich, wie ich Bill bestehlen konnte, ohne ihm zu Willen sein zu müssen, doch da kam mir der Zufall zu Hilfe: Bill taumelte plötzlich, griff nach dem neben ihm stehenden Laternenpfahl und sank in die Knie. Zuerst dachte ich, sein Herz hätte aufgehört zu schlagen, doch dann bemerkte ich, dass er eingeschlafen war!«
Obwohl Julia wegen Lillys Leichtsinn ärgerlich war, musste sie an dieser Stelle lachen. »Den Ausgang der Geschichte kann ich mir sehr gut vorstellen.« »Weil ich ein wohlerzogenes Mädchen bin, versuchte ich Bill zu wecken, doch er kniete weiterhin am Laternenpfahl und fing auch noch an zu schnarchen. Um uns herum war alles ruhig, nur aus dem Blue Wonder klangen Musik und Männergelächter. Und bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, griff ich flink in Bills Hosentasche, zog die Geldscheine heraus und rannte wie der Teufel nach Hause.« Sie zeigte triumphierend auf das Geld, das noch immer auf Julias Bettdecke lag. »Es sind über hundert Dollar; das weiß ich, weil Bill in der Bar das Geld laut gezählt hat, bevor er es einsteckte.« »Hoffentlich erfriert Bill nicht«, sagte Julia halbherzig.
»Die Nächte sind noch recht kalt.« »Mach dir keine Sorgen, in dieser Straße haben alle Etablissements bis morgens geöffnet; irgendjemand wird sich seiner schon annehmen. Sein Gesicht möchte ich sehen, wenn er aufwacht und feststellt, dass sein Geld fort ist.« Julia fand die Sache weniger spaßig. »Er könnte zur Polizei gehen und dich anzeigen. Hast du daran schon mal gedacht?« »Das wird er nicht, davon bin ich überzeugt. In der Bar war es schummrig, er konnte mein Gesicht wahrscheinlich gar nicht richtig erkennen.
Außerdem nannte ich mich Rosie, und er war sehr betrunken. Jedermann, der Bill dort schlafend am Laternenpfahl entdeckt, könnte theoretisch der Dieb sein. In dieser Gegend macht sicher jeder lange Finger, wenn er die Möglichkeit dazu hat.« Herzhaft gähnte Lilly. »Nun lass mich ein paar Stunden schlafen. Du kannst das Geld inzwischen bündeln und zwischen unserer Wäsche verstecken.« Mit einem Satz war Julia aus dem Bett, griff mit bebenden Fingern die Dollarscheine und ordnete sie zu einem Stapel. Ein Stück Schnur diente als Banderole, dann wanderte der unerwartete Reichtum zwischen Unterwäsche und Strümpfe.
Lilly schlief bis Mittag. Der Lärm in der Wohnung der polnischen Familie unter der Mansarde konnte sie nicht stören. Julia hingegen hatte nicht mehr schlafen können; sie war zeitig aufgestanden, hatte ein Stück Brot gegessen und stundenlang auf die Kommode gestarrt, als hätte sie Angst, der Geldsegen könnte sich eigenhändig davonstehlen. Schön, nun hatten sie genug Geld. Doch wie sollte es weitergehen? Darüber zerbrach sich Julia stundenlang den Kopf. Mitleid mit dem bestohlenen Bill hatte sie nicht, und richtig böse konnte sie Lilly auch nicht länger sein.
Hätte sie den Wochenlohn eines schwer arbeitenden Familienvaters gestohlen, wäre das etwas anderes gewesen, aber Glückspiele und Wetten waren kein ehrlich verdientes Geld. Und wenn dieses Geld der Grundstein zu einem neuen Leben wurde - dann sollte es wohl so sein. Später, nachdem Lilly erfrischt aufgestanden war, weihte sie ihre Freundin in das weitere Vorgehen ein. »Morgen früh gehen wir zur Fabrik, kündigen und lassen uns unseren restlichen Lohn auszahlen«, sagte sie. Im Gegensatz zu den meisten Arbeitgebern im Fabrikviertel zahlte Barclay & Wilson die Gehälter monatlich anstatt wöchentlich.
»Abends gehen mehrere Postkutschen nach Missouri, eine davon müssen wir erreichen. Wir sind nämlich nicht die Einzigen, die mit dem Treck ziehen wollen.« Lilly seufzte. »Eigentlich schade, dass Bill nicht das Doppelte gewonnen hat, sonst könnten wir mit dem Schiff fahren.« Ganz wohl war Julia bei der Sache immer noch nicht. Lilly hatte im Alleingang alle wichtigen Informationen zusammengetragen, und nur der Himmel wusste, ob sie sich nicht geirrt hatte. Wie sollten sie nach Kalifornien kommen, wenn sie den Treck verpassten?
Was sollten sie tun, wenn sie ihn erreichten, aber niemand sie mit auf ihren Wagen nehmen wollte? Den ganzen Tag lang hockten die beiden Frauen auf ihren Betten und schmiedeten Pläne. Lilly schien schon ganz genau zu wissen, was sie wollte; Julia hingegen hatte keine Ahnung, wie sich ihr weiteres Leben in San Francisco gestalten würde. Eigentlich mochte sie keine Städte - New York war groß, laut und schmutzig - und auch wenn Lilly in den höchsten Tönen von diesem San Francisco sprach, so fürchtete sich Julia etwas davor. »Bevor ich in einem Saloon arbeiten würde, müsste schon sehr viel passieren«, bemerkte sie, nachdem ihre Freundin wiederholt von einem aufregenden Leben als Barmädchen schwärmte. »Wie kannst du es als schön empfinden, Männer zum Trinken zu verleiten?« Doch Lilly sah der Sache lässig entgegen. »Ich denke dabei nur an das Geld beziehungsweise Gold, das die Männer im Saloon lassen werden und von dem mir der Besitzer einen Teil abgibt.« Kopfschüttelnd versicherte Julia ihr, dass sie lieber Nachttöpfe saubermachen würde, als Animiermädchen zu werden. »Und du?«, wollte Lilly wissen. »Hast du auch schon Pläne für unser neues Leben?« Julia zögerte. Wenn es stimmte, was auf dem Handzettel gestanden hatte, könnte sie auch in San Francisco als Näherin zu einem guten Lohn arbeiten. Und das sagte sie schließlich der Freundin. Doch diese rümpfte die Nase, als wären Näharbeiten etwas Unanständiges.
»In Kalifornien steht dir die Welt offen, Julia! Lass dir in Ruhe durch den Kopf gehen, womit du dich später beschäftigen willst. Während der Reise wirst du genügend Zeit zum Überlegen haben.« »Für mich kommt das alles so überraschend. Noch gestern glaubte ich, den Rest meines Lebens bei Barclay & Wilson schuften zu müssen, während du in Gedanken bereits auf der anderen Seite des Kontinents gewesen bist.« »Nun ja, ich träume schon lange von Kalifornien, wollte dir jedoch nichts davon sagen, damit du mich nicht auslachen konntest.
Eigentlich setzte sich die Idee zum schnellen Handeln erst richtig in mir fest, als Claire gestern in der Pause von diesem Treck vorlas. Ich hab mir die Zeitung genommen und alles noch einmal in Ruhe durchgelesen. Es eilt, man kann nicht mehr lange mit dem Aufbruch warten, las ich, denn bis Oktober müssen wegen des bevorstehenden Winters die Berge überschritten sein.«
»Wir werden ein halbes Jahr unterwegs sein«, wandte Julia mit besorgter Miene ein. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir jemanden finden werden, der uns mitnimmt.« Doch Lilly versicherte ihr, dass es bestimmt Dutzende junger Männer gebe, die ihren Planwagen mit zwei reizenden New Yorkerinnen teilen würden. Wie besprochen, betraten die beiden Frauen am nächsten Morgen hoch erhobenen Hauptes das Lohnbüro der Fabrik und kündigten. Niemand fragte sie nach dem Grund, und Nachschub gab es genug.
Es kam fast täglich vor, dass Näherinnen ihre Arbeit bei Barclay & Wilson aufgaben - nicht, weil sie es sich leisten konnten, sondern weil sie eine etwas besser bezahlte Arbeit gefunden hatten oder kurz vor der Entbindung standen. Die somit frei gewordenen Plätze waren rasch wieder besetzt, denn in der Stadt wimmelte es von arbeitssuchenden Einwanderern. »Wir gehen nach Kalifornien«, sagte Lilly stolz, als der Lohnbuchhalter mit verkniffener Miene ihren bescheidenen Lohn auf den Tresen legte. »New York sieht uns nie wieder.« Der Mann horchte kurz auf, dann wandte er sich an seinen Kollegen. »Hast du das gehört, Wilbur?
Hier sind wieder zwei Mädchen, die den Zeitungen glauben und sich auf die Suche nach diesem sogenannten Traumland machen wollen.« Mit vertraulicher Miene beugte er sich vor und sagte zu den beiden Frauen: »Die Zeitungen lügen allesamt, auch was die Goldfunde betrifft. Diese Artikel werden für naive Mädchen wie euch verfasst, um euch über den Kontinent zu locken, damit ihr euch damit ins Verderben zu stürzt.« Wütend raffte Lilly ihren Lohn und auch Julias ein, zerrte ihre zögernde Freundin mit sich und stapfte aus dem Lohnbüro; das höhnische Gelächter der beiden Buchhalter folgte ihnen. »Dumme Kerle!«, schimpfte sie auf dem Weg zum Fabriktor. »Machen sich über etwas lustig, von dem sie keine Ahnung haben.«
Julia zupfte sie am Ärmel. »Und wenn sie recht haben? Wenn all diese Geschichten über Kalifornien nichts als Lügen sind? Dann landen wir vom Regen in der Traufe, und das Geld für eine Rückkehr haben wir nicht.« »Du glaubst doch nicht, was diese Männer gesagt haben? Vielleicht spielen sie sogar selbst mit dem Gedanken, ihre schlecht bezahlte Arbeit aufzugeben, um an der Westküste nach Gold zu suchen. Aus denen spricht nur der Neid, weil wir beide gehen können, wonach uns das Herz steht, während sie an New York gebunden sind, weil sie ihre Familien zu ernähren haben.« Ratlos hob Julia die Schultern und beobachtete Lilly argwöhnisch, als sie sich über einen Abfalleimer beugte und darin herumfischte. Triumphierend hob sie schließlich eine Tageszeitung in die Höhe. Es war die neueste Ausgabe, und auf der Titelseite war ein großer Bericht über Kalifornien zu sehen. Viel Zeit zum Lesen hatten die beiden Frauen allerdings nicht, denn sie mussten packen, wenn sie nicht ihre Postkutsche nach Missouri verpassen wollten. Viel zum Packen gab es freilich nicht; die wenigen Habseligkeiten der beiden Frauen passten in einen billigen Pappkoffer. Bis zur Poststation im East End hatten sie einen stundenlangen Fußmarsch vor sich. Kurz dachten sie darüber nach, eine Droschke zu nehmen, entschieden sich dann jedoch aus Kostengründen dagegen. Das gestohlene Dollarbündel wanderte in den Geldbeutel, den Julia um den Hals tragen sollte, und leistete dort den Ersparnissen und dem Restlohn Gesellschaft. Es war erst früher Vormittag, als sie reisefertig waren und sich zum letzten Mal mit feierlichen Mienen auf ihren unbequemen, quietschenden Betten niederließen. Sie würden ihr schäbiges Quartier verlassen, ohne den Vermieter zu informieren. Da sie nichts kaputt gemacht hatten und die Kammer somit im selben Zustand verließen, wie sie sie bezogen hatten, konnte sie sofort wieder vermietet werden. Interessenten würde es genug geben, denn an jeder zweiter Hausmauer waren Zettel von Wohnungssuchenden zu finden. Stumm blickte sich Julia noch einmal in dem kargen Raum um, der mehrere Jahre ihr Heim gewesen war.
Die feuchten grauen Wände, das einzige winzige Dachfenster, der rissige Fußboden - nicht zu vergessen das spärliche ramponierte Mobiliar - all dies würde Julia nicht eine einzige Sekunde vermissen. Sie und Lilly hatten sich versprochen, immer zusammenzubleiben; das beruhigte Julia. Es war mutig, sich auf die Reise ins Ungewisse zu machen, aber wenn man wusste, dass man nicht allein war, ließ sich vieles ertragen. Ganz allmählich fühlte Julia Reisefieber und Fernweh in sich aufsteigen; Gefühle, die ihr bisher unbekannt waren. Bis zu diesem Augenblick hatte sie wie in Trance reagiert, hatte sich von Lilly mitreißen lassen. Doch jetzt schüttelte sie die letzten Bedenken ab und begann, sich zaghaft auf die Zukunft zu freuen. Als Lilly energisch aufsprang, schrak Julia aus ihren Gedanken und fragte: »Ist es soweit?« Die Freundin nickte, steckte die Zeitung, in der sie hatte lesen wollen, es dann aber vor Nervosität doch gelassen hatte, zuoberst in den Pappkoffer. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließen sie ein letztes Mal ihr schäbiges Zuhause und schlängelten sich durch das schmale Treppenhaus, in dem es wie immer übel roch. Draußen, vor der Haustür, holte Lilly tief Luft, stieß Julia leicht mit dem Ellenbogen an und rief: »Auf ins gelobte Land Kalifornien!«
Die folgenden Tage gestalteten sich unbequemer, als die beiden Auswanderinnen geahnt hatten. Die Poststation war völlig überfüllt; bei den meisten Reisewilligen handelte es sich um junge Männer, ausgerüstet mit Gerätschaften, die sie bei der Goldsuche benötigen würden. Es schien mehr Reisende zu geben als Plätze in den Kutschen, wie es schien. Doch schließlich ergatterten Julia und Lilly zwei der begehrten Plätze - aber nur, weil Lilly log, dass sie schwanger war und zu ihrem Ehemann nach Kalifornien reisen wollte. Es waren schreckliche Tage und Nächte in der engen Kutsche.
Dicht aneinander gedrängt saßen die Leute da, und nicht selten machte eine Flasche billiger Fusel die Runde, deren Inhalt dafür sorgte, dass die anwesenden Männer damit prahlten, bald steinreich zu sein. »Ich werde Tag und Nacht arbeiten«, sagte ein rothaariger Bursche namens Elliot. »Nur wer fleißig ist, wird genug Gold finden, um sich ein schönes Leben machen zu können.« Ein anderer allerdings behauptete, dass man sich angeblich nur bücken musste, um die Goldnuggets aus dem Fluss zu fischen. Teils amüsiert, teils beeindruckt hörte Julia zu. Sie konnte kaum glauben, dass die kalifornischen Flüsse Gold für jeden bereithielten, der sich vorgenommen hatte, Schürfer zu werden. »Erst einmal müssen wir heil ankommen.« Elliot nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der Flasche. »Vor uns liegt ein langer, gefährlicher Weg.« »Wir werden einen erfahrenen Führer haben«, widersprach der andere. »Was soll uns schon großartig passieren?« »Hast du eine Ahnung! Ich habe ein Buch gelesen, in dem der Oregon Trail genauestens beschrieben wird. Wir werden in Gegenden kommen, in denen es kein Wasser gibt, und dann die Berge. Ich schätze, es wird viele Todesopfer geben.« Sein Freund versetzte ihm einen schmerzhaften Rippenstoß. »Kannst du nicht ein wenig leiser reden? Du machst den beiden Ladys doch Angst.« Er hatte Julias erschrockenes Gesicht bemerkt, doch Lilly lächelte gleichmütig. »Wir wissen um die Gefahren, Gentlemen, und haben uns eingehend darüber informiert.« Das stimmte zwar nicht ganz, machte jedoch Eindruck auf die anwesenden Männer. »Für eine Frau wäre es sicherer, den Seeweg zu nehmen«, bemerkte Elliot, »so wie es diese Eliza Farnham vorhatte.« »Wieso vorhatte?«, mischte sich Julia ein. »Wir dachten, die Reise sei fest eingeplant.« »Das mag stimmen, doch Mrs Farnham ist krank geworden, und das Schiff wird wohl ohne sie und ihre Mädchen in See stechen.« Die beiden Frauen wechselten einen bestürzten Blick. Sie hatten insgeheim die Heimnäherinnen beneidet, deren Reise von einer energischen Frau bezahlt wurde und bei der man nichts tun musste, als bequem auf ein Schiff zu steigen, um in wenigen Wochen auf der westlichen Seite des Kontinents zu landen. »Wie enttäuscht die Frauen wohl sein müssen«, sagte Julia leise. »Sie selbst werden niemals das Geld für die Reise auftreiben können.« »Mit dem Treck ist es billiger«, entgegnete Elliot. »Und auf den Schiffen sollen so viele Passagiere sein, dass sie kaum stehen können. Da ziehe ich den Landweg vor, wir werden viel vom Land sehen.« »Sicher, aber wir werden erst im Herbst dort sein, in einem halben Jahr!« Doch Elliot hob nur vage die Schultern. »Was sind schon ein paar Monate, wenn uns auf der anderen Seite der Reichtum erwartet? «
Er und Julia diskutierten angeregt weiter, während Lilly ein Nickerchen machte. Glücklicherweise wollte niemand etwas über Lillys angeblichen Ehemann wissen, der auf seine schwangere Frau wartete. Hatten sie erst einmal Independence erreicht, würden sie sich ohnehin aus den Augen verlieren. Es regnete in Strömen, als sie das Ziel erreichten. Es war kalt und stürmisch, und zunächst standen Julia und Lilly verwirrt zwischen den anderen Fahrgästen. »Wo ist denn der Treck?«, wisperte Julia, die so stark fror, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
Fast bereute sie, auf Lilly gehört zu haben, doch nun war es zu spät. Die Frauen blickten sich um, und als sie sahen, dass sich auch die anderen Reisenden ratlos umsahen, beruhigten sie sich etwas. Irgendjemand rief: »Da hinten müsst ihr euch melden, wenn ihr am Treck teilnehmen wollt!« Fast gleichzeitig strömten die Leute nun zu einem Holzhäuschen am Rande des Handelspostens. Julia erkannte, dass sie und Lilly die einzigen Frauen waren, und fragte sich, ob auch alle anderen auf eine Mitfahrgelegenheit hofften. So schien es, denn vor der Hütte standen etliche Männer mit breitkrempigen Hüten, die ständig angesprochen wurden. »Tut mir leid«, sagte einer von ihnen mit bedauernder Miene. »Ich habe bereits zwei Mitfahrer, mehr will ich meinem Gespann nicht zumuten.« Lilly entdeckte einen anderen Mann, der etwas abseits stand und sich das Geschehen seelenruhig anschaute. Sie zog die irritierte Julia mit sich und baute sich mit einem charmanten Lächeln vor dem Mann mit dem sympathischen Aussehen auf. »Guten Tag, Sir«, zwitscherte sie. »Sie fahren nicht zufällig nach Kalifornien?« Zu ihrem Erstaunen lachte der Mann schallend. »Täte ich es nicht, wäre ich nicht hier.« »Dann wollen Sie also auch Goldsucher werden und haben einen eigenen Wagen?«
Der Mann nahm seinen Hut ab, dann fiel sein Blick auf Julia, die entschuldigend lächelte, weil ihre Freundin so forsch war. »Ich fahre in der Tat mit meinem eigenen Wagen, Ladys, aber ich will in San Francisco einen Gemischtwarenladen eröffnen. Ich habe alles dabei, was ein Goldsucher an Ausrüstung braucht. Und Sie? Lassen Sie mich raten: Sie und Ihre Freundin suchen eine Mitfahrgelegenheit; sonst wären Sie nicht hier.« Beide Frauen nickten gleichzeitig. Julia schob sich vor und sagte: »Wie es scheint, sind wir die einzigen weiblichen Wesen.« Er nickte. »Sehr ungewöhnlich. Wollen Sie zu Ihren Männern an die Westküste gehen?« »Wir haben gehört, dass es in San Francisco genug Arbeit geben soll, deshalb haben wir New York verlassen.« »Sie sind sehr mutig. Ich bin übrigens Nathan Banks, Kaufmann aus einem kleinen Kaff in Missouri.« Höflich stellten sich auch Julia und Lilly vor. Nathan schien ein ehrlicher Mensch zu sein, der keine finsteren Absichten verfolgte. Er sah mit seinen dunklen Haaren und den grauen Augen durchschnittlich aus, und sein warmes Lächeln war nicht gekünstelt. Julia mochte diesen Mann, der freimütig erzählte, dass er im Monat zuvor dreißig geworden war, auf Anhieb. »Was ist nun?«, schaltete sich Lilly ein. »Nehmen Sie uns mit oder nicht?« Er kratzte sich am bartstoppeligen Kinn, lange und ausgiebig. Dann blickte er sich um, zuckte mit den Schultern und sagte: »Warum eigentlich nicht? Ursprünglich hielt ich Ausschau nach zwei männlichen Mitfahrern ... aber schaden kann es wohl kaum, zwei Mitfahrerinnen zu bekommen. Allerdings sage ich Ihnen gleich, dass mein Wagen nur sehr wenig Platz zum Schlafen bietet, wegen der vielen Waren, die ich mit mir führe. Und noch etwas: Sie werden viele Meilen zu Fuß gehen müssen, um die Zugtiere zu entlasten. Ist das in Ordnung?« Mit strahlenden Gesichtern nickten die Frauen. »Dann meldet euch bei Mr Cramer dort drüben. Er wird den Treck führen und verlangt zwanzig Dollar pro Person.«
»Vielen, vielen Dank, Nathan«, sagte Julia, während Lilly sich bereits in die Reihe der Wartenden eingegliedert hatte. »Wir werden für Sie kochen und waschen und Ihnen bestimmt nicht mit Frauengeschwätz auf die Nerven gehen.« Er lachte lauthals. »Vielleicht bin ich sogar ganz froh über etwas Unterhaltung, wenn man tagelang nichts als die Prärie sieht.« Julia blickte sich um. »Wo steht Ihr Planwagen?« »Etwas abseits, auf einem Platz mit den anderen abfahrbereiten Wagen. Und die Ochsen sind in einem Stall untergebracht, ebenso wie mein Pferd.« Nathan wies auf den Pappkoffer, den Julia dicht an sich gepresst hielt, damit er bei der feuchten Witterung nicht aufweichte. »Gib ihn mir, ich passe darauf auf, während du dich anmeldest.« Sie zögerte kurz; Nathan sprach sie plötzlich so vertraulich an. Womöglich war er nichts als ein Betrüger, der Auswanderungswillige ausraubte. Doch ein Blick in Nathans ehrliches Gesicht sagte ihr schließlich, dass er es nur gut meinte, und sie übergab den Koffer bereitwillig. Die Menschen drängelten vor der Anmeldehütte. Alle schienen Angst zu haben, nicht mitgenommen zu werden, wenn sie nicht schnell genug waren. Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber der Sturm peitschte unvermindert und ließ Julia erstarren. Vor und hinter ihr standen Männer, die ihr Glück auf den Goldfeldern Kaliforniens versuchen wollten. Sie waren allesamt einfach gekleidet und trugen grobe Stiefel. Viele schlossen gerade erst miteinander Bekanntschaft, und so erfuhr Julia, dass sich diese Männer aus dem gesamten Osten des Kontinents zusammengeschart hatten. Einige hatten sich bei der Bank Geld geliehen, um die Reise finanzieren zu können. Die meisten waren zu Pferd oder mit einem Flussdampfer nach Independence gelangt; wieder andere waren mit ihren eigenen Planwagen gekommen.
© 2013 by Sarah Lee Hawkins, vertreten durch Medienbüro München
Julia war noch ein kleines Mädchen gewesen, als ihre Eltern einwanderten, und so hatte sie kaum eine Erinnerung an ihr Heimatland Irland. Ihre Mutter hatte häufig von der zauberhaften grünen Insel in Europa erzählt und vor Heimweh oft ein paar heimliche Tränen vergossen. Aber das Leben war dort hart gewesen, als Kleinbauer konnte man mit den dürftigen Ernteerträgen kaum seine Familie ernähren, geschweige denn die Pacht für das Ackerland bezahlen.
Und so hatten sich die O'Donovans eines Tages, einundzwanzig Jahre zuvor, schweren Herzens entschlossen, Irland zu verlassen und mit einem der Auswanderungsschiffe nach Amerika zu reisen, wie es zu jener Zeit viele Iren taten. Aus der Neuen Welt kamen ständig Nachrichten von dem schönen Leben, das man dort führen konnte, und es hieß, dass man es schnell zu Reichtum bringen würde, wenn man nur fleißig genug war. Und fleißig waren die Auswanderer, sie hatten immer gearbeitet und nicht vor, in Amerika auf der faulen Haut zu liegen. Doch die Realität sah ganz anders aus, wie Julias Eltern bald erfahren mussten. Sie besaßen kein Geld und mussten zunächst zusehen, Arbeit in New York, wo ihr Schiff gelandet war, zu finden, um sich später eine Existenz aufzubauen. Aber dazu sollte es nie kommen. Julias Vater Joseph bekam eine Stelle als einfacher Arbeiter in einer Stahlfabrik, Ann O'Donovan verdiente ihren Lebensunterhalt als Dienstmädchen bei einem Fabrikbesitzer, der ihr großzügig erlaubte, die kleine Julia mit zur Arbeit zu bringen.
Das, was die O'Donovans zusammen verdienten, reichte gerade für ein ärmliches Zimmer in einem Arbeiterhaus, in dem es im Winter eiskalt war und das im Sommer einem Brutkasten glich. Als Julia fünf Jahre alt war, wurde ihre Mutter noch einmal schwanger. Der kleine Junge, den sie zur Welt brachte, war krank und schwächlich und starb noch vor seinem ersten Geburtstag an hohem Fieber. Ein Arzt hätte ihn vielleicht retten können, aber dafür fehlte das Geld. Und so arbeiteten die O'Donovans hart und verbissen, doch sie sollten nie mehr das elende Arbeiterquartier verlassen. Die Fabrikbesitzer wurden immer reicher, weil sie die Einwanderer für Hungerlöhne arbeiten ließen, und denen blieb oft keine andere Wahl. Beide Elternteile waren früh verstorben, ausgebrannt und resigniert; seitdem war Julia auf sich selbst angewiesen. Nun teilte sie sich mit einer Arbeitskollegin namens Lilly Olsson, deren Familie einst aus Schweden eingewandert war, eine winzige Dachkammer. Im Gegensatz zu Julia hatte Lilly große Pläne; sie hatte nicht vor, ihr Leben lang für wenig Geld Arbeiterhemden zu nähen.
Lilly war groß und hatte langes wallendes Blondhaar, eine hübsche Figur und stets ein keckes Lächeln auf den Lippen. Sie flirtete für ihr Leben gern, und die Männer sahen ihr oft sehnsüchtig nach, wenn sie mit wiegenden Hüften einherschritt und dabei so tat, als bemerkte sie die begehrlichen Blicke um sich herum gar nicht. Die beiden Frauen arbeiteten im selben Nähsaal, atmeten dieselbe trockene Luft ein und schwitzten im Hochsommer um die Wette. Trotz des niedrigen Lohnes arbeitete Julia gewissenhaft, denn sie hoffte, es eines Tages zu schaffen, an einer Nähmaschine sitzen zu dürfen; Lilly hingegen dachte gar nicht daran, irgendwann einmal bei Barclay & Wilson einen besseren Posten zu bekommen. Julia fuhr erschrocken zusammen, als sie sich an der Schulter gerüttelt fühlte. »Mittagspause, du Träumerin!« Lachend stand Lilly neben ihr und schwang ihr bescheidenes Lunchpaket. »Die anderen gehen in den Hof wegen des schönen Wetters.«
Erleichtert legte Julia das Hemd beiseite, nahm ihr Mittagessen, das wie meistens aus einer Scheibe altbackenem Graubrot bestand, welches mit einer dünnen Schicht Schweineschmalz bestrichen war, und folgte Lilly hinaus. Den Arbeiterinnen war es verboten, ihr Haar offen zu tragen; sie mussten es unter schmucklosen grauen Kopftüchern verbergen. Trotzdem sah Lilly damit gut aus, während sich Julia wie eine graue Maus fühlte. Auf dem Innenhof der Fabrik, in einer sonnigen Ecke, standen bereits einige Frauen und reckten ihre Köpfe mit geschlossenen Augen sehnsüchtig der Sonne entgegen. Der Winter an der Ostküste war lang und hart gewesen, und alle genossen die ersten Sonnenstrahlen. Julia und Lilly gesellten sich zu den anderen Arbeiterinnen und nahmen ihr bescheidenes Mahl ein. Eine ältere Frau hatte eine Tageszeitung ergattert, die ihr Vorarbeiter achtlos nach dem Lesen weggeworfen hatte. »Mädels, hört mal zu!«, rief sie, um sich Gehör zu verschaffen. »Hier steht ein großer Bericht über Kalifornien. Ihr wisst schon, dort wurde Gold gefunden!«
Die meisten Frauen wandten sich gelangweilt ab, denn ihr einziges Interesse galt der Sorge, sich ausreichend ernähren zu können. Aber Julia und Lilly reckten die Hälse. Schon mehrmals hatten sie von den sagenhaften Goldfunden gehört, die im Frühjahr 1848 im Abflusskanal einer Sägemühle namens Sutter's Mill gefunden worden waren. Aber erst später machte die Neuigkeit ihre Runde und gelangte zur Ostküste, wo sie teils mit müdem Lächeln, teils jedoch mit großem Interesse aufgenommen worden war. Daraufhin war ein regelrechter Rausch ausgebrochen; junge Männer verließen ihre Heimat, um ihr Glück in Kalifornien zu versuchen. Sie erreichten ihr Ziel, indem sie mit Schiffen über die Landenge von Panama oder um Kap Hoorn herum fuhren.
Nicht jedes Schiff erreichte die Westküste, so manchem waren die Naturgewalten am Kap zum Verhängnis geworden. »Hier steht, dass ein Treck geplant ist, der quer über den Kontinent nach Kalifornien ziehen will«, las die Frau ungefragt weiter vor. »Stellt euch das mal vor - sie wollen durch die Wildnis ziehen, anstatt den Seeweg zu nehmen, sehr mutig!« Lilly lehnte sich an die Gebäudemauer und seufzte. »Wie mag es wohl in Kalifornien sein? Ich hörte, dass es dort immer warm sein soll und die Obstbäume voller Früchte sind - und es soll dort exotische Blumen wie im Orient geben.« Die Frau mit der Zeitung nickte. »Und es soll Rinderherden geben, die bis zum Horizont reichen.« »Ein Land, in dem Milch und Honig fließen«, warf ein junges Mädchen mit träumerischer Miene ein. »Und dann noch das ganze Gold in den Flüssen!« Während Julia sich etwas abseits hielt, gesellte sich Lilly zu den anderen. »In Kalifornien ist das Goldfieber ausgebrochen, las ich neulich. Wusstet ihr, dass San Francisco früher nichts als eine Mission von Franziskanermönchen gewesen ist?« Die meisten wussten es nicht.
»Wegen der Nähe zum Pazifik hatte man dort einen Handelsposten eingerichtet.« Lillys ansonsten makelloses Gesicht wies vor Aufregung winzige rötliche Flecken auf. »Die Stadt wächst ständig, immer mehr Menschen lassen sich dort nieder. « Die Frau mit der Zeitung blätterte hektisch, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. »Hier.« Sie hielt das Blatt in die Höhe, sodass es jeder sehen konnte - die Annonce einer Reederei, die eine Schifffahrt nach Kalifornien anbot, für neunzig Dollar pro Person. »Willst du etwa mitfahren, Claire?«, fragte eine andere Frau, worauf die gesamte Gesellschaft in amüsiertes Lachen ausbrach. Beleidigt warf Claire die Zeitung auf den Boden. »Ja, lacht nur. Hätte ich nicht Mann und Kinder - und das nötige Geld -, würde ich auswandern. Gerade Frauen sind dort Mangelware, fleißige Arbeiterinnen, die viel mehr verdienen als hier. Immer wieder erscheinen Anzeigen von Leuten aus San Francisco, die händeringend Arbeitskräfte suchen, weil die Menschen dort alles stehen und liegen lassen, um auf die Goldfelder zu gehen.« Die Menge verstummte, und die Frauen setzten nachdenkliche Mienen auf. Nicht, dass eine von ihnen ernsthaft in Erwägung zog, ins ferne San Francisco zu gehen, aber der Gedanke, für seine Arbeit ordentlich bezahlt zu werden, reizte die meisten; da machte noch nicht einmal Julia eine Ausnahme. Sie könnte bei einem Schneider arbeiten oder als Weißnäherin in einem Hotel, aber das waren nichts als Träume, die sich niemals erfüllen würden.
Die Glocke mit dem unerbittlichen harten Ton kündigte das Ende der Mittagspause an, und missmutig begaben sich die Arbeiterinnen wieder an ihre stickigen Plätzen, um bis abends über den Arbeitshemden zu sitzen. Doch auf dem Heimweg ins ungefähr zwei Meilen entfernte Quartier, den Julia und Lilly stets gemeinsam nahmen, wurde das aktuelle Thema erneut aufgenommen. »Wie viel Geld hast du gespart?«, erkundigte sich Lilly und hakte sich bei Julia unter. »Ich habe achtzehn Dollar, und du?« Automatisch blieb Julia stehen. »Ungefähr zwanzig Dollar, wieso? Du denkst doch nicht etwa daran, dir eine Schiffspassage zu kaufen, um in die Ungewissheit zu fahren? Ich spare übrigens auf einen neuen Wintermantel, der vom letzten Jahr ist inzwischen vollends zerschlissen.« Lilly winkte ab. »In Kalifornien brauchst du keinen Wintermantel. Ich wollte mir übrigens einen neuen Hut für das Ersparte kaufen, aber das kann ich später noch tun.« Sie zog Julia weiter. »Na komm, mir ist kalt.« »Was hast du also mit deinen Ersparnissen vor?«
»Mit einem Treck zu reisen wäre billiger, nicht wahr?« Lilly lächelte geheimnisvoll und versprach ihrer Freundin, zu Hause näher darauf einzugehen. Das hässliche Backsteingebäude mit den schmalen hohen Fenstern, in dem die beiden Frauen untergekommen waren, lag in einer Reihe ähnlicher Häuser. Jeder Winkel der engen Räume war bis auf den letzten Zentimeter bewohnt, vom Säugling bis zum Greis, der von seiner Familie mitversorgt werden musste. All diese Familien arbeiteten in den umliegenden Textil-, Maschinen- oder Nahrungsmittelfabriken - sogar die größeren Kinder waren gezwungen, dort zu arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen. Im Treppenhaus roch es nach Kohl, schmutzigen Windeln und Schimmel. Keine Familie besaß mehr als ein Zimmer, der Abort befand sich im Hinterhof, Wasser gab es über eine rostige Pumpe daneben.
Die Menschen, die hier lebten, waren größtenteils Einwanderer, hatten ihren Traum von einem besseren Leben in der Neuen Welt längst begraben. Im obersten Stockwerk, zu dem man über eine schmale Holzstiege gelangte, bewohnten Julia und Lilly eine der Mansardenkammern - gerade groß genug für zwei schmale Bettstellen, ein wurmstichiges Regal, eine ebenso wurmstichige Kommode und einen wackeligen Holztisch unter der Dachluke. Lilly machte eine umfassende Bewegung, nachdem Julia die Petroleumlampe entzündet hatte. »Sag selbst, willst du ewig hier hausen?« »Selbstverständlich nicht!«, kam es empört zurück. Julia setzte sich erschöpft auf die Kante ihres Bettes, denn es war wie üblich ein langer, harter Tag in der Fabrik gewesen. »Vielleicht haben wir ja eines Tages Glück und finden eine besser bezahlte Arbeit als die bei Barclay & Wilson.
Dann könnten wir uns ein richtiges Zimmer mieten.« Hart lachte Lilly auf. »Wie lange willst du darauf warten?« »Nun, es wäre doch auch möglich, dass ich einem Mann begegne, der sich in mich verliebt und heiratet und mir ein schönes Zuhause bieten kann.« »Vergiss es.« Lilly nahm ihren billigen Filzhut ab und schleuderte ihn achtlos auf das Bett. Dann löste sie die Haarnadeln und ließ das lange Blondhaar bis über die Schultern gleiten. »Solange du in New York bleibst, wird sich nie etwas ändern. Wo willst du einen Mann kennenlernen, der nicht ebenso arm ist wie du?« Sie wies auf den Fußboden, denn aus dem Zimmer direkt unter ihnen drangen erst erregte laute Stimmen von Erwachsenen in polnischer Sprache hinauf, dann das Geschrei einiger Kinder. »Du wirst so enden wie die Karows unter uns und all die anderen, die hier leben.« Das alles wusste Julia selbst, doch das Träumen von einem besseren Leben konnte ihr niemand verbieten. Sie löste die Knoten ihrer derben Schuhe, ließ sie auf den Fußboden poltern und zog die kalten Füße unter ihren Körper, um ihnen neues Leben einzuhauchen. Ungefragt setzte sich Lilly neben sie.
»Letzte Woche habe ich gehört, dass in San Francisco nicht nur Arbeitskräfte gesucht werden, sondern auch junge Frauen im heiratsfähigen Alter.« »Ach ja?« Julia war gegen ihren Willen hellhörig geworden. Lilly nickte eifrig. »Tausende von jungen Männern wandern nach Kalifornien aus, um nach Gold zu suchen. Da liegt es doch auf der Hand, dass sie sich eine Frau wünschen und eine Familie gründen wollen. Stell dir vor, du gerätst an einen, der gerade einen großen Goldklumpen gefunden hat - dann hast du für immer ausgesorgt!« Über diese unromantische Äußerung musste Julia lachen. Lilly hielt nicht viel von ewig währender Liebe und der Gründung einer Familie. »Und was würdest du in San Francisco machen?«, fragte Julia neugierig. »Was würdest du mit dem Geld anfangen, dass du dort als Näherin verdienen würdest?« »Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass ich dort noch eine Nähnadel anfassen würde!«, erwiderte Lilly und hob ihre Hände. »Sieh dir nur meine zerstochenen Finger an.« »Die habe ich doch auch!« »Aber ich würde in San Francisco gerne etwas anderes arbeiten. « Julia rückte so weit nach hinten, bis ihr Rücken die kahle Wand berührte. »Du hast doch nichts als das Nähen gelernt.« »Lach jetzt nicht, aber ich würde gern in einem Saloon arbeiten. « Entsetzt starrte Julia sie an.
»Das kann nicht dein Ernst sein.« »Doch, das ist es. Ich weiß, dass es genügend Saloons in San Francisco gibt, in denen die Goldsucher ihren Tagesfund für Schnaps und Glücksspiel ausgeben. Die Männer mögen mich, und was ist schon dabei, sie zum Trinken zu animieren.« Julia teilte diese Moral ganz und gar nicht. Auch sie war mit ihren dunklen Haaren und grauen Augen eine hübsche Frau, aber wenn die Männer ihr begehrliche Blicke schickten, achtete sie nicht darauf. Ein lockerer Lebenswandel, wie ihn sich Lilly vorstellte, kam für sie nicht in Frage - niemals! »Sieh mich nicht so verdattert an.« Lilly lachte. »Die Jungs in Kalifornien sind stinkreich, wenn sie genug Gold geschürft haben. Und da dort Frauen Mangelware sind, suchen sie in den Saloons etwas Abwechslung, und meine Anwesenheit würde dafür sorgen, dass sie genug Abwechslung bekämen.« »Du würdest dort ... deinen Körper verkaufen?« »Was du immer denkst! Ich würde die Männer zum Trinken animieren, und dabei fiele sicher oft ein hübsches Trinkgeld für mich ab. Warte.« Lilly sprang vom Bett, lief zur Kommode und wühlte in der untersten Schublade herum.
Dann kam sie mit einem zusammengefalteten Zettel zurück und ließ sich wieder auf Julias Bett nieder. »Lies das mal.« Der Zettel war stark zerknüllt und die Buchstaben kaum noch leserlich. Julia begriff lediglich, dass es sich um einen Aufruf handelte, gerichtet an die unzähligen New Yorker Näherinnen, die in Heimarbeit Hemden nähten und noch jämmerlicher bezahlt wurden als die Frauen in den Fabriken. Verständnislos hob Julia den Blick. Lilly half ihr auf die Sprünge. »Ich hab diesen Zettel von einer der Heimarbeiterinnen bekommen. Eine Witwe namens Eliza Farnham, deren Mann in Kalifornien gestorben ist, hat erkannt, dass es in San Francisco zu wenig Frauen gibt, und diese Aktion ins Leben gerufen. Sie ruft alle Heimarbeiterinnen auf, mit ihr zu gehen, es soll sogar in der Zeitung gestanden haben.« Noch immer wusste Lilly nicht, worauf die Freundin hinauswollte, wagte sie jedoch nicht zu unterbrechen.
»Über zweihundert sollen sich für die Reise beworben haben, denn in San Francisco können sie bis zu fünfunddreißig Dollar am Tag verdienen!« Julia schluckte und echote leise: »Fünfunddreißig Dollar ...« »Ich glaube nicht, dass Mrs Farnham übertrieben hat, auch wenn sie selbst nie dort gewesen ist. Aber sie hat die Hilferufe in den Zeitungen gelesen, in denen man dringend Arbeitskräfte suchte, und kam auf die Idee, junge alleinstehende Frauen zur Auswanderung zu animieren. Unzählige junge Männer aus aller Welt sind auf der Goldsuche und würden gerne heiraten. Da die meisten der Interessierten kein Geld für die Schiffspassage haben, hat Mrs Farnham Geld bei reichen Leuten gesammelt, und Ende April fährt sie mit dem Schiff und den Frauen los. Die Glücklichen!« »Aber warum erzählst du mir das alles?« Ratlos legte Julia den ramponierten Zettel beiseite. »Wir werden nicht bei diesen Frauen sein.« »Das nicht, aber das Vorhaben brachte mich auf die Idee, auch nach Kalifornien zu gehen.« Lillys Augen glänzten vor Aufregung. »Und ich möchte, dass du mitkommst. Oder hast du vor, dein Leben lang in diesem schrecklichen Loch zu hausen? « Zunächst entgegnete Julia nichts.
Wenn sie scharf nachdachte, würde sie New York, der Fabrik und der kalten Kammer nicht eine einzige Träne nachweinen. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, sein Glück auf der anderen Seite des Kontinents zu versuchen. Sie und Lilly hatten schließlich nichts zu verlieren. Aber da gab es noch etwas, das das Vorhaben von vornherein zum Scheitern brachte. »Wir müssten jahrelang für die Schiffspassage sparen«, bemängelte sie mit kummervoller Miene. »Du hast vorhin die Annonce in Claires Zeitung gesehen - sie verlangen neunzig Dollar!« Doch Lilly hatte auch dies bedacht. »Wir können über Land reisen, das dauert zwar länger, ist aber billiger. Claire las von diesem Treck vor, der den alten Oregon-Trail benutzen will, um nach Kalifornien zu kommen. Wenn wir uns beeilen, können wir ihn noch erreichen. Er startet in Independence, Missouri, in wenigen Wochen.« Energisch schüttelte Julia den Kopf. »Der Landweg ist zu gefährlich, es geht durch die Prärie und über die Berge. Außerdem würde uns niemand umsonst mitnehmen.« Lilly grinste schelmisch. »Ich hab mich bereits erkundigt. Wir müssten nur dreißig Dollar pro Person an den Treckführer zahlen ...« »... die wir jedoch nicht haben.« »Noch nicht, aber dafür habe ich bereits eine Idee. Lass mich nur machen. Wenn wir in Independence angekommen sind, suchen wir uns einen Wagen, der uns mitnimmt. Ich las, dass sich viele Männer ohne Familie anschließen wollen; auch sie hat das Goldfieber erreicht.« Julia öffnete den Mund zu einem Einwand, doch Lilly sprach bereits weiter. »Wir könnten unsere Dienste fürs Mitnehmen anbieten ... ich meine natürlich hausfrauliche Dienste wie Kochen, Waschen und Flicken. Na, wie hört sich das an?«
»Zu schön, um wahr zu sein«, musste Julia zugeben, doch sie sah nichts als einen unerreichbaren Traum darin, aus dem Lilly wachgerüttelt werden musste. »Wann ist dir in den Sinn gekommen, nach Kalifornien zu gehen? Du hast vorher nie darüber geredet.« »Schon länger, das gebe ich zu. Überall hört man von diesem sagenhaften Kalifornien, sodass ich mir vornahm, dieses exotische Land einmal kennenzulernen. Das da«, Lilly wies auf den Handzettel, »gab den Ausschlag, mich anzuschließen. Aber alleine fehlt mir der Mut, und ich würde dich nur ungern in New York zurücklassen.« Julia lehnte sich wieder mit dem Rücken gegen die Wand und sagte mit verträumtem Blick: »Ich hab noch nie etwas anderes als diese Stadt gesehen.« »Ich doch auch nicht.« Lilly sprang auf, streifte sich das einfache graue Wollkleid über den Kopf und schlüpfte in ein etwas ansehnlicheres Kleid aus dunkelroter Baumwolle. Sie hatte es sich aus einem günstigen Stoff selbst genäht. Erschrocken fuhr Julia hoch. »Wo willst du denn jetzt noch hin?«
Es war zwar Samstagabend und der nächste Tag frei, aber dennoch verbrachten die Frauen das karge Wochenende meist in ihrer Kammer, denn für sonntägliche Vergnügungen hatten sie kein Geld. »Wart's ab.« Lilly bürstete ihr langes Haar und setzte ihren Sonntagshut auf. »Ich gehe aus, aber mach dir keine Sorgen. Ich habe eine Idee, um an etwas Geld zu kommen, damit wir uns die Postkutsche nach Missouri leisten können.« Nun stand auch Julia auf und fasste ihre Freundin am Ärmel. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber es gefällt mir nicht. Ich habe Angst, dass du in schlechte Gesellschaft gerätst.« »Das musst du nicht; ich weiß schon, was ich tue. Also leg dich schlafen, ich werde bald zurück sein.« Lilly umarmte sie sanft, griff dann nach ihrer Handtasche und war schon im nächsten Augenblick verschwunden. Ratlos blieb Julia mitten im Raum stehen und starrte auf die geschlossene Tür. Wenn sie sich beeilte, würde sie Lilly vielleicht noch einholen, aber sie würde sie nicht aufhalten können. Als sie erkannte, dass Lilly nicht zurückkommen würde, ging Julia schließlich zu Bett. Obwohl sie seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen gewesen war, konnte sie zunächst keinen Schlaf finden. Ihre Gedanken zogen von der Sorge um Lilly zu diesem märchenhaften Land, in dem jeder gut leben konnte, der die waghalsige Reise auf sich nahm.
Und das waren viele! Tag für Tag strömten Abenteurer - nicht nur aus Amerika, sondern aus der ganzen Welt - nach Kalifornien mit seinen unglaublichen Schätzen. Obwohl Julia etwas nüchterner als Lilly dachte und sich überlegte, ob die Leute nicht doch übertrieben, hatte die Freundin sie mit ihrer Begeisterung angesteckt. Zu verlieren hatten sie nun wirklich nichts, und New York hatte Julia nie als ihre Heimat angesehen. Hätten sich die Träume ihrer Eltern verwirklicht, würde Julia nun auf einer kleinen Farm in den neu erschlossenen Gebieten im Westen wohnen und vermutlich ein erfreulicheres Leben führen. Sie versuchte, sich Kalifornien vorzustellen, es musste ein wundervolles Land sein. Nicht nur wegen der Goldfunde, auch der angeblich üppigen Vegetation wegen. Und dieses San Francisco musste eine schöne aufstrebende Stadt sein. Vielleicht hatte Lilly recht, und sie beide könnten dort ihr Glück finden, auch wenn ihre Vorstellungen weit auseinandergingen. Über diese Gedanken schlief Julia schließlich ein. Mit einem erstickten Aufschrei fuhr sie in die Höhe, als sie sich sanft am Arm berührt fühlte. Es wurde bereits hell, und sie konnte Lillys vor Aufregung erhitztes Gesicht sehen. »Sieh mal, was ich mitgebracht habe«, sagte Lilly und deutete auf die Bettdecke. »Das sollte für die Reise nach Kalifornien reichen.« Ungläubig rieb sich Julia die Augen. Hatte sie im Dämmerlicht tatsächlich einen Haufen Dollarscheine auf der schäbigen grauen Wolldecke gesehen? Julia blinzelte und richtete den Blick erneut auf den Schatz. »Woher hast du das viele Geld?«, krächzte sie und streckte vorsichtig die Hand aus, um die Scheine zu berühren, als hätte sie Angst, sie könnten sich in Luft auflösen. »Ich glaube, ich träume.« Ausgelassen lachte Lilly, nahm ihren Hut ab und warf ihn übermütig in die Höhe. »Wenn du es genau wissen willst: Ich hab's gestohlen!« Insgeheim war Julia froh, dass die Freundin dafür nicht ihren Körper verkauft hatte - aber Diebstahl war auch nicht gerade ein Kavaliersdelikt.
Lilly war hundemüde, dennoch konnte sie noch nicht schlafen und berichtete. »Ich wusste noch nicht ganz genau, wie ich an Geld kommen sollte, als ich gestern Abend das Haus verließ. Doch ich hatte eine Idee, und es gelang mir, sie in die Tat umzusetzen.« In ihrem dünnen Nachthemd frierend, zog sich Julia vorsichtig die Decke bis zu den Schultern hoch, ängstlich darauf bedacht, die Geldscheine nicht zu berühren. »Ich ging ins Blue Wonder«, fuhr Lilly fort, während sie die Schnürung ihrer Schuhe löste. »Du weißt, das ist dieser üble Schuppen in der Greenwood Street.« Julia war schier entsetzt. Das Blue Wonder war einer jener schmuddeligen Spelunken in einem nahen Viertel, in der es nichts als sogenannte Bars und fragwürdige Varietétheater gab. Anständige Frauen hatten dort nichts verloren, und Julia kannte die Straße nur, weil sie und Lilly sich vor einiger Zeit verlaufen und dort gelandet waren. »Ich kann nicht glauben, dass du dich dort herumgetrieben hast«, sagte Julia tonlos. »Hast du die Blicke der Männer vergessen, die auf der Suche nach käuflicher Liebe waren? Gütiger Himmel, was hätte dir alles zustoßen können!« Kleinlaut gab Lilly zu, dass sie mehrmals hatte wieder umkehren wollen - aber die Zeit drängte, und sie brauchte Geld.
»Im Blue Wonder wird viel gespielt«, fuhr sie schließlich fort. »Poker und Würfelspiele, das hörte ich mal von einem der anderen Nähmädchen. Und wo gespielt wird, gibt es auch viel Geld. Also«, sie warf die Schuhe von sich und schlenderte zu ihrem eigenen Bett hinüber, »also ging ich in diese Kaschemme hinein und tat, als würde ich nach jemandem suchen. Und während ich mir noch den Hals verrenkte nach meinem vermeintlichen Bekannten, wurde ich von einem Mann angesprochen und auf einen Drink eingeladen. Ich gab mich wankelmütig, doch als ich merkte, dass dieser Mann in den mittleren Jahren ein Spieler war, ging ich darauf ein. Er führte mich zu einem Tisch, an dem gepokert wurde, und der Mann, der sich Bill nannte, meinte, dass ich seine Glücksfee sein sollte. Verrückt, nicht wahr?« »Allerdings!«, pflichtete ihr Julia bei.
»Spieler sind gefährlich und gehen für Geld über Leichen.« »Alles halb so schlimm. Bill war sehr nett zu mir, und im Laufe des Abends gewann er immer wieder. Ich glaube, er hat geschummelt ... aber vielleicht habe ich ihm wirklich Glück gebracht.« Lilly grinste. »Glaub nicht, dass ich mich in dieser schummrigen Kaschemme mit ihrem Publikum wohlgefühlt habe. Die meisten Männer dort waren einfache Arbeiter aus den umliegenden Fabriken, aber Bill trug einen guten Anzug, und er verfügte über einen ordentlichen Durst. Ich selbst habe nur an meinem Wein genippt, denn ich wollte einen klaren Kopf behalten.« Während des Erzählens legte Lilly ihre Kleidung ab und schlüpfte in ihr fadenscheiniges Nachthemd, um danach schnell unter die Decke zu kriechen. »Irgendwann hatte Bill genug gewonnen und machte Anstalten, die Bar zu verlassen - und da kam meine Stunde. Ich wartete, bis Bill sein gewonnenes Geldbündel in die Hosentasche steckte und bot ihm augenzwinkernd meine Begleitung an.« »Lilly!« »Er nahm mein Angebot sofort begeistert an.« Lilly kicherte. »Draußen schmiegte ich mich eng an ihn, während er nach einer Droschke Ausschau hielt, und säuselte ihm ins Ohr, dass ich noch nie einen so gut aussehenden Mann wie ihn kennengelernt hätte. Bill war sehr betrunken, doch er lächelte geschmeichelt. Ich stand absichtlich an jener Seite, an der er das Geld verwahrte. Fieberhaft überlegte ich, wie ich Bill bestehlen konnte, ohne ihm zu Willen sein zu müssen, doch da kam mir der Zufall zu Hilfe: Bill taumelte plötzlich, griff nach dem neben ihm stehenden Laternenpfahl und sank in die Knie. Zuerst dachte ich, sein Herz hätte aufgehört zu schlagen, doch dann bemerkte ich, dass er eingeschlafen war!«
Obwohl Julia wegen Lillys Leichtsinn ärgerlich war, musste sie an dieser Stelle lachen. »Den Ausgang der Geschichte kann ich mir sehr gut vorstellen.« »Weil ich ein wohlerzogenes Mädchen bin, versuchte ich Bill zu wecken, doch er kniete weiterhin am Laternenpfahl und fing auch noch an zu schnarchen. Um uns herum war alles ruhig, nur aus dem Blue Wonder klangen Musik und Männergelächter. Und bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, griff ich flink in Bills Hosentasche, zog die Geldscheine heraus und rannte wie der Teufel nach Hause.« Sie zeigte triumphierend auf das Geld, das noch immer auf Julias Bettdecke lag. »Es sind über hundert Dollar; das weiß ich, weil Bill in der Bar das Geld laut gezählt hat, bevor er es einsteckte.« »Hoffentlich erfriert Bill nicht«, sagte Julia halbherzig.
»Die Nächte sind noch recht kalt.« »Mach dir keine Sorgen, in dieser Straße haben alle Etablissements bis morgens geöffnet; irgendjemand wird sich seiner schon annehmen. Sein Gesicht möchte ich sehen, wenn er aufwacht und feststellt, dass sein Geld fort ist.« Julia fand die Sache weniger spaßig. »Er könnte zur Polizei gehen und dich anzeigen. Hast du daran schon mal gedacht?« »Das wird er nicht, davon bin ich überzeugt. In der Bar war es schummrig, er konnte mein Gesicht wahrscheinlich gar nicht richtig erkennen.
Außerdem nannte ich mich Rosie, und er war sehr betrunken. Jedermann, der Bill dort schlafend am Laternenpfahl entdeckt, könnte theoretisch der Dieb sein. In dieser Gegend macht sicher jeder lange Finger, wenn er die Möglichkeit dazu hat.« Herzhaft gähnte Lilly. »Nun lass mich ein paar Stunden schlafen. Du kannst das Geld inzwischen bündeln und zwischen unserer Wäsche verstecken.« Mit einem Satz war Julia aus dem Bett, griff mit bebenden Fingern die Dollarscheine und ordnete sie zu einem Stapel. Ein Stück Schnur diente als Banderole, dann wanderte der unerwartete Reichtum zwischen Unterwäsche und Strümpfe.
Lilly schlief bis Mittag. Der Lärm in der Wohnung der polnischen Familie unter der Mansarde konnte sie nicht stören. Julia hingegen hatte nicht mehr schlafen können; sie war zeitig aufgestanden, hatte ein Stück Brot gegessen und stundenlang auf die Kommode gestarrt, als hätte sie Angst, der Geldsegen könnte sich eigenhändig davonstehlen. Schön, nun hatten sie genug Geld. Doch wie sollte es weitergehen? Darüber zerbrach sich Julia stundenlang den Kopf. Mitleid mit dem bestohlenen Bill hatte sie nicht, und richtig böse konnte sie Lilly auch nicht länger sein.
Hätte sie den Wochenlohn eines schwer arbeitenden Familienvaters gestohlen, wäre das etwas anderes gewesen, aber Glückspiele und Wetten waren kein ehrlich verdientes Geld. Und wenn dieses Geld der Grundstein zu einem neuen Leben wurde - dann sollte es wohl so sein. Später, nachdem Lilly erfrischt aufgestanden war, weihte sie ihre Freundin in das weitere Vorgehen ein. »Morgen früh gehen wir zur Fabrik, kündigen und lassen uns unseren restlichen Lohn auszahlen«, sagte sie. Im Gegensatz zu den meisten Arbeitgebern im Fabrikviertel zahlte Barclay & Wilson die Gehälter monatlich anstatt wöchentlich.
»Abends gehen mehrere Postkutschen nach Missouri, eine davon müssen wir erreichen. Wir sind nämlich nicht die Einzigen, die mit dem Treck ziehen wollen.« Lilly seufzte. »Eigentlich schade, dass Bill nicht das Doppelte gewonnen hat, sonst könnten wir mit dem Schiff fahren.« Ganz wohl war Julia bei der Sache immer noch nicht. Lilly hatte im Alleingang alle wichtigen Informationen zusammengetragen, und nur der Himmel wusste, ob sie sich nicht geirrt hatte. Wie sollten sie nach Kalifornien kommen, wenn sie den Treck verpassten?
Was sollten sie tun, wenn sie ihn erreichten, aber niemand sie mit auf ihren Wagen nehmen wollte? Den ganzen Tag lang hockten die beiden Frauen auf ihren Betten und schmiedeten Pläne. Lilly schien schon ganz genau zu wissen, was sie wollte; Julia hingegen hatte keine Ahnung, wie sich ihr weiteres Leben in San Francisco gestalten würde. Eigentlich mochte sie keine Städte - New York war groß, laut und schmutzig - und auch wenn Lilly in den höchsten Tönen von diesem San Francisco sprach, so fürchtete sich Julia etwas davor. »Bevor ich in einem Saloon arbeiten würde, müsste schon sehr viel passieren«, bemerkte sie, nachdem ihre Freundin wiederholt von einem aufregenden Leben als Barmädchen schwärmte. »Wie kannst du es als schön empfinden, Männer zum Trinken zu verleiten?« Doch Lilly sah der Sache lässig entgegen. »Ich denke dabei nur an das Geld beziehungsweise Gold, das die Männer im Saloon lassen werden und von dem mir der Besitzer einen Teil abgibt.« Kopfschüttelnd versicherte Julia ihr, dass sie lieber Nachttöpfe saubermachen würde, als Animiermädchen zu werden. »Und du?«, wollte Lilly wissen. »Hast du auch schon Pläne für unser neues Leben?« Julia zögerte. Wenn es stimmte, was auf dem Handzettel gestanden hatte, könnte sie auch in San Francisco als Näherin zu einem guten Lohn arbeiten. Und das sagte sie schließlich der Freundin. Doch diese rümpfte die Nase, als wären Näharbeiten etwas Unanständiges.
»In Kalifornien steht dir die Welt offen, Julia! Lass dir in Ruhe durch den Kopf gehen, womit du dich später beschäftigen willst. Während der Reise wirst du genügend Zeit zum Überlegen haben.« »Für mich kommt das alles so überraschend. Noch gestern glaubte ich, den Rest meines Lebens bei Barclay & Wilson schuften zu müssen, während du in Gedanken bereits auf der anderen Seite des Kontinents gewesen bist.« »Nun ja, ich träume schon lange von Kalifornien, wollte dir jedoch nichts davon sagen, damit du mich nicht auslachen konntest.
Eigentlich setzte sich die Idee zum schnellen Handeln erst richtig in mir fest, als Claire gestern in der Pause von diesem Treck vorlas. Ich hab mir die Zeitung genommen und alles noch einmal in Ruhe durchgelesen. Es eilt, man kann nicht mehr lange mit dem Aufbruch warten, las ich, denn bis Oktober müssen wegen des bevorstehenden Winters die Berge überschritten sein.«
»Wir werden ein halbes Jahr unterwegs sein«, wandte Julia mit besorgter Miene ein. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir jemanden finden werden, der uns mitnimmt.« Doch Lilly versicherte ihr, dass es bestimmt Dutzende junger Männer gebe, die ihren Planwagen mit zwei reizenden New Yorkerinnen teilen würden. Wie besprochen, betraten die beiden Frauen am nächsten Morgen hoch erhobenen Hauptes das Lohnbüro der Fabrik und kündigten. Niemand fragte sie nach dem Grund, und Nachschub gab es genug.
Es kam fast täglich vor, dass Näherinnen ihre Arbeit bei Barclay & Wilson aufgaben - nicht, weil sie es sich leisten konnten, sondern weil sie eine etwas besser bezahlte Arbeit gefunden hatten oder kurz vor der Entbindung standen. Die somit frei gewordenen Plätze waren rasch wieder besetzt, denn in der Stadt wimmelte es von arbeitssuchenden Einwanderern. »Wir gehen nach Kalifornien«, sagte Lilly stolz, als der Lohnbuchhalter mit verkniffener Miene ihren bescheidenen Lohn auf den Tresen legte. »New York sieht uns nie wieder.« Der Mann horchte kurz auf, dann wandte er sich an seinen Kollegen. »Hast du das gehört, Wilbur?
Hier sind wieder zwei Mädchen, die den Zeitungen glauben und sich auf die Suche nach diesem sogenannten Traumland machen wollen.« Mit vertraulicher Miene beugte er sich vor und sagte zu den beiden Frauen: »Die Zeitungen lügen allesamt, auch was die Goldfunde betrifft. Diese Artikel werden für naive Mädchen wie euch verfasst, um euch über den Kontinent zu locken, damit ihr euch damit ins Verderben zu stürzt.« Wütend raffte Lilly ihren Lohn und auch Julias ein, zerrte ihre zögernde Freundin mit sich und stapfte aus dem Lohnbüro; das höhnische Gelächter der beiden Buchhalter folgte ihnen. »Dumme Kerle!«, schimpfte sie auf dem Weg zum Fabriktor. »Machen sich über etwas lustig, von dem sie keine Ahnung haben.«
Julia zupfte sie am Ärmel. »Und wenn sie recht haben? Wenn all diese Geschichten über Kalifornien nichts als Lügen sind? Dann landen wir vom Regen in der Traufe, und das Geld für eine Rückkehr haben wir nicht.« »Du glaubst doch nicht, was diese Männer gesagt haben? Vielleicht spielen sie sogar selbst mit dem Gedanken, ihre schlecht bezahlte Arbeit aufzugeben, um an der Westküste nach Gold zu suchen. Aus denen spricht nur der Neid, weil wir beide gehen können, wonach uns das Herz steht, während sie an New York gebunden sind, weil sie ihre Familien zu ernähren haben.« Ratlos hob Julia die Schultern und beobachtete Lilly argwöhnisch, als sie sich über einen Abfalleimer beugte und darin herumfischte. Triumphierend hob sie schließlich eine Tageszeitung in die Höhe. Es war die neueste Ausgabe, und auf der Titelseite war ein großer Bericht über Kalifornien zu sehen. Viel Zeit zum Lesen hatten die beiden Frauen allerdings nicht, denn sie mussten packen, wenn sie nicht ihre Postkutsche nach Missouri verpassen wollten. Viel zum Packen gab es freilich nicht; die wenigen Habseligkeiten der beiden Frauen passten in einen billigen Pappkoffer. Bis zur Poststation im East End hatten sie einen stundenlangen Fußmarsch vor sich. Kurz dachten sie darüber nach, eine Droschke zu nehmen, entschieden sich dann jedoch aus Kostengründen dagegen. Das gestohlene Dollarbündel wanderte in den Geldbeutel, den Julia um den Hals tragen sollte, und leistete dort den Ersparnissen und dem Restlohn Gesellschaft. Es war erst früher Vormittag, als sie reisefertig waren und sich zum letzten Mal mit feierlichen Mienen auf ihren unbequemen, quietschenden Betten niederließen. Sie würden ihr schäbiges Quartier verlassen, ohne den Vermieter zu informieren. Da sie nichts kaputt gemacht hatten und die Kammer somit im selben Zustand verließen, wie sie sie bezogen hatten, konnte sie sofort wieder vermietet werden. Interessenten würde es genug geben, denn an jeder zweiter Hausmauer waren Zettel von Wohnungssuchenden zu finden. Stumm blickte sich Julia noch einmal in dem kargen Raum um, der mehrere Jahre ihr Heim gewesen war.
Die feuchten grauen Wände, das einzige winzige Dachfenster, der rissige Fußboden - nicht zu vergessen das spärliche ramponierte Mobiliar - all dies würde Julia nicht eine einzige Sekunde vermissen. Sie und Lilly hatten sich versprochen, immer zusammenzubleiben; das beruhigte Julia. Es war mutig, sich auf die Reise ins Ungewisse zu machen, aber wenn man wusste, dass man nicht allein war, ließ sich vieles ertragen. Ganz allmählich fühlte Julia Reisefieber und Fernweh in sich aufsteigen; Gefühle, die ihr bisher unbekannt waren. Bis zu diesem Augenblick hatte sie wie in Trance reagiert, hatte sich von Lilly mitreißen lassen. Doch jetzt schüttelte sie die letzten Bedenken ab und begann, sich zaghaft auf die Zukunft zu freuen. Als Lilly energisch aufsprang, schrak Julia aus ihren Gedanken und fragte: »Ist es soweit?« Die Freundin nickte, steckte die Zeitung, in der sie hatte lesen wollen, es dann aber vor Nervosität doch gelassen hatte, zuoberst in den Pappkoffer. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließen sie ein letztes Mal ihr schäbiges Zuhause und schlängelten sich durch das schmale Treppenhaus, in dem es wie immer übel roch. Draußen, vor der Haustür, holte Lilly tief Luft, stieß Julia leicht mit dem Ellenbogen an und rief: »Auf ins gelobte Land Kalifornien!«
Die folgenden Tage gestalteten sich unbequemer, als die beiden Auswanderinnen geahnt hatten. Die Poststation war völlig überfüllt; bei den meisten Reisewilligen handelte es sich um junge Männer, ausgerüstet mit Gerätschaften, die sie bei der Goldsuche benötigen würden. Es schien mehr Reisende zu geben als Plätze in den Kutschen, wie es schien. Doch schließlich ergatterten Julia und Lilly zwei der begehrten Plätze - aber nur, weil Lilly log, dass sie schwanger war und zu ihrem Ehemann nach Kalifornien reisen wollte. Es waren schreckliche Tage und Nächte in der engen Kutsche.
Dicht aneinander gedrängt saßen die Leute da, und nicht selten machte eine Flasche billiger Fusel die Runde, deren Inhalt dafür sorgte, dass die anwesenden Männer damit prahlten, bald steinreich zu sein. »Ich werde Tag und Nacht arbeiten«, sagte ein rothaariger Bursche namens Elliot. »Nur wer fleißig ist, wird genug Gold finden, um sich ein schönes Leben machen zu können.« Ein anderer allerdings behauptete, dass man sich angeblich nur bücken musste, um die Goldnuggets aus dem Fluss zu fischen. Teils amüsiert, teils beeindruckt hörte Julia zu. Sie konnte kaum glauben, dass die kalifornischen Flüsse Gold für jeden bereithielten, der sich vorgenommen hatte, Schürfer zu werden. »Erst einmal müssen wir heil ankommen.« Elliot nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der Flasche. »Vor uns liegt ein langer, gefährlicher Weg.« »Wir werden einen erfahrenen Führer haben«, widersprach der andere. »Was soll uns schon großartig passieren?« »Hast du eine Ahnung! Ich habe ein Buch gelesen, in dem der Oregon Trail genauestens beschrieben wird. Wir werden in Gegenden kommen, in denen es kein Wasser gibt, und dann die Berge. Ich schätze, es wird viele Todesopfer geben.« Sein Freund versetzte ihm einen schmerzhaften Rippenstoß. »Kannst du nicht ein wenig leiser reden? Du machst den beiden Ladys doch Angst.« Er hatte Julias erschrockenes Gesicht bemerkt, doch Lilly lächelte gleichmütig. »Wir wissen um die Gefahren, Gentlemen, und haben uns eingehend darüber informiert.« Das stimmte zwar nicht ganz, machte jedoch Eindruck auf die anwesenden Männer. »Für eine Frau wäre es sicherer, den Seeweg zu nehmen«, bemerkte Elliot, »so wie es diese Eliza Farnham vorhatte.« »Wieso vorhatte?«, mischte sich Julia ein. »Wir dachten, die Reise sei fest eingeplant.« »Das mag stimmen, doch Mrs Farnham ist krank geworden, und das Schiff wird wohl ohne sie und ihre Mädchen in See stechen.« Die beiden Frauen wechselten einen bestürzten Blick. Sie hatten insgeheim die Heimnäherinnen beneidet, deren Reise von einer energischen Frau bezahlt wurde und bei der man nichts tun musste, als bequem auf ein Schiff zu steigen, um in wenigen Wochen auf der westlichen Seite des Kontinents zu landen. »Wie enttäuscht die Frauen wohl sein müssen«, sagte Julia leise. »Sie selbst werden niemals das Geld für die Reise auftreiben können.« »Mit dem Treck ist es billiger«, entgegnete Elliot. »Und auf den Schiffen sollen so viele Passagiere sein, dass sie kaum stehen können. Da ziehe ich den Landweg vor, wir werden viel vom Land sehen.« »Sicher, aber wir werden erst im Herbst dort sein, in einem halben Jahr!« Doch Elliot hob nur vage die Schultern. »Was sind schon ein paar Monate, wenn uns auf der anderen Seite der Reichtum erwartet? «
Er und Julia diskutierten angeregt weiter, während Lilly ein Nickerchen machte. Glücklicherweise wollte niemand etwas über Lillys angeblichen Ehemann wissen, der auf seine schwangere Frau wartete. Hatten sie erst einmal Independence erreicht, würden sie sich ohnehin aus den Augen verlieren. Es regnete in Strömen, als sie das Ziel erreichten. Es war kalt und stürmisch, und zunächst standen Julia und Lilly verwirrt zwischen den anderen Fahrgästen. »Wo ist denn der Treck?«, wisperte Julia, die so stark fror, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
Fast bereute sie, auf Lilly gehört zu haben, doch nun war es zu spät. Die Frauen blickten sich um, und als sie sahen, dass sich auch die anderen Reisenden ratlos umsahen, beruhigten sie sich etwas. Irgendjemand rief: »Da hinten müsst ihr euch melden, wenn ihr am Treck teilnehmen wollt!« Fast gleichzeitig strömten die Leute nun zu einem Holzhäuschen am Rande des Handelspostens. Julia erkannte, dass sie und Lilly die einzigen Frauen waren, und fragte sich, ob auch alle anderen auf eine Mitfahrgelegenheit hofften. So schien es, denn vor der Hütte standen etliche Männer mit breitkrempigen Hüten, die ständig angesprochen wurden. »Tut mir leid«, sagte einer von ihnen mit bedauernder Miene. »Ich habe bereits zwei Mitfahrer, mehr will ich meinem Gespann nicht zumuten.« Lilly entdeckte einen anderen Mann, der etwas abseits stand und sich das Geschehen seelenruhig anschaute. Sie zog die irritierte Julia mit sich und baute sich mit einem charmanten Lächeln vor dem Mann mit dem sympathischen Aussehen auf. »Guten Tag, Sir«, zwitscherte sie. »Sie fahren nicht zufällig nach Kalifornien?« Zu ihrem Erstaunen lachte der Mann schallend. »Täte ich es nicht, wäre ich nicht hier.« »Dann wollen Sie also auch Goldsucher werden und haben einen eigenen Wagen?«
Der Mann nahm seinen Hut ab, dann fiel sein Blick auf Julia, die entschuldigend lächelte, weil ihre Freundin so forsch war. »Ich fahre in der Tat mit meinem eigenen Wagen, Ladys, aber ich will in San Francisco einen Gemischtwarenladen eröffnen. Ich habe alles dabei, was ein Goldsucher an Ausrüstung braucht. Und Sie? Lassen Sie mich raten: Sie und Ihre Freundin suchen eine Mitfahrgelegenheit; sonst wären Sie nicht hier.« Beide Frauen nickten gleichzeitig. Julia schob sich vor und sagte: »Wie es scheint, sind wir die einzigen weiblichen Wesen.« Er nickte. »Sehr ungewöhnlich. Wollen Sie zu Ihren Männern an die Westküste gehen?« »Wir haben gehört, dass es in San Francisco genug Arbeit geben soll, deshalb haben wir New York verlassen.« »Sie sind sehr mutig. Ich bin übrigens Nathan Banks, Kaufmann aus einem kleinen Kaff in Missouri.« Höflich stellten sich auch Julia und Lilly vor. Nathan schien ein ehrlicher Mensch zu sein, der keine finsteren Absichten verfolgte. Er sah mit seinen dunklen Haaren und den grauen Augen durchschnittlich aus, und sein warmes Lächeln war nicht gekünstelt. Julia mochte diesen Mann, der freimütig erzählte, dass er im Monat zuvor dreißig geworden war, auf Anhieb. »Was ist nun?«, schaltete sich Lilly ein. »Nehmen Sie uns mit oder nicht?« Er kratzte sich am bartstoppeligen Kinn, lange und ausgiebig. Dann blickte er sich um, zuckte mit den Schultern und sagte: »Warum eigentlich nicht? Ursprünglich hielt ich Ausschau nach zwei männlichen Mitfahrern ... aber schaden kann es wohl kaum, zwei Mitfahrerinnen zu bekommen. Allerdings sage ich Ihnen gleich, dass mein Wagen nur sehr wenig Platz zum Schlafen bietet, wegen der vielen Waren, die ich mit mir führe. Und noch etwas: Sie werden viele Meilen zu Fuß gehen müssen, um die Zugtiere zu entlasten. Ist das in Ordnung?« Mit strahlenden Gesichtern nickten die Frauen. »Dann meldet euch bei Mr Cramer dort drüben. Er wird den Treck führen und verlangt zwanzig Dollar pro Person.«
»Vielen, vielen Dank, Nathan«, sagte Julia, während Lilly sich bereits in die Reihe der Wartenden eingegliedert hatte. »Wir werden für Sie kochen und waschen und Ihnen bestimmt nicht mit Frauengeschwätz auf die Nerven gehen.« Er lachte lauthals. »Vielleicht bin ich sogar ganz froh über etwas Unterhaltung, wenn man tagelang nichts als die Prärie sieht.« Julia blickte sich um. »Wo steht Ihr Planwagen?« »Etwas abseits, auf einem Platz mit den anderen abfahrbereiten Wagen. Und die Ochsen sind in einem Stall untergebracht, ebenso wie mein Pferd.« Nathan wies auf den Pappkoffer, den Julia dicht an sich gepresst hielt, damit er bei der feuchten Witterung nicht aufweichte. »Gib ihn mir, ich passe darauf auf, während du dich anmeldest.« Sie zögerte kurz; Nathan sprach sie plötzlich so vertraulich an. Womöglich war er nichts als ein Betrüger, der Auswanderungswillige ausraubte. Doch ein Blick in Nathans ehrliches Gesicht sagte ihr schließlich, dass er es nur gut meinte, und sie übergab den Koffer bereitwillig. Die Menschen drängelten vor der Anmeldehütte. Alle schienen Angst zu haben, nicht mitgenommen zu werden, wenn sie nicht schnell genug waren. Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber der Sturm peitschte unvermindert und ließ Julia erstarren. Vor und hinter ihr standen Männer, die ihr Glück auf den Goldfeldern Kaliforniens versuchen wollten. Sie waren allesamt einfach gekleidet und trugen grobe Stiefel. Viele schlossen gerade erst miteinander Bekanntschaft, und so erfuhr Julia, dass sich diese Männer aus dem gesamten Osten des Kontinents zusammengeschart hatten. Einige hatten sich bei der Bank Geld geliehen, um die Reise finanzieren zu können. Die meisten waren zu Pferd oder mit einem Flussdampfer nach Independence gelangt; wieder andere waren mit ihren eigenen Planwagen gekommen.
© 2013 by Sarah Lee Hawkins, vertreten durch Medienbüro München
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Autoren-Porträt von Sarah Lee Hawkins
Sarah Lee Hawkins wurde 1955 in Oregon geboren. Die Enkeltochter deutscher Einwanderer stammt aus einer Farmerfamilie und konnte bereits in jungen Jahren erste schriftstellerische Erfolge verbuchen. Seit zehn Jahren lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Lee Hawkins
- 2013, 1, 304 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655753
- ISBN-13: 9783863655754
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