Gib den Jungs zwei Küsse
Die letzten Wünsche einer todkranken Mutter
"Bring Ihnen bei, pünktlich zu sein. Lass sie nicht Motorrad fahren. Zeig ihnen das Nordlicht. Gib den Jungs zwei Küsse, wenn ich nicht mehr bin - einen von dir, den zweiten von mir."
Als Kate mit nur 39 Jahren ihren Kampf...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gib den Jungs zwei Küsse “
"Bring Ihnen bei, pünktlich zu sein. Lass sie nicht Motorrad fahren. Zeig ihnen das Nordlicht. Gib den Jungs zwei Küsse, wenn ich nicht mehr bin - einen von dir, den zweiten von mir."
Als Kate mit nur 39 Jahren ihren Kampf gegen den Krebs verliert, ist ihr Mann außer sich vor Schmerz. Doch das Vermächtnis seiner Frau hilft ihm, für die Söhne zu sorgen. Denn kurz vor ihrem Tod schrieb Kate ihrem Mann eine Liste mit allem, was ihr für die Zukunft der Kinder wichtig zu sein schien. Und diese Liste hält ihren Mann auch nach ihrem Tod aufrecht, an ihr kann er sich in der folgenden Zeit entlanghangeln.
"Die bewegendste Geschichte, die Sie je gelesen haben."
DAILY EXPRESS
Klappentext zu „Gib den Jungs zwei Küsse “
Kate Greene war 39 Jahre jung, als sie an Brustkrebs starb und ihren Mann St John mit den beiden Söhnen zurückließ. In den letzten drei Wochen ihres Lebens schrieb sie ihrem Mann eine Liste mit ihren letzten Wünschen. Kates Liste hält St John auch nach ihrem Tod aufrecht, an ihr kann er sich in der folgenden Zeit entlanghangeln. "Gib den Jungs zwei Küsse" ist sein Tagebuch, beginnend mit dem Tag, an dem Kate stirbt. St John schreibt vom Weiterleben und erinnert sich an die gemeinsame Zeit mit Kate: Die beiden hatten sich schon als Teenager kennen- und lieben gelernt, viele Reisen unternommen und eine großartige Zeit miteinander verbracht. Doch gerade als die Familie mit den beiden Wunschkindern vollständig war, erhielt Kate die niederschmetternde Diagnose. Lese-Probe zu „Gib den Jungs zwei Küsse “
Gib den Jungs zwei Küsse von St John Greene mit Rachel MurphyAus dem Englischen von Elfriede Peschel
PROLOG
»Was willst du trinken?«, fragte mein Bruder.
Er stand lächelnd an der Bar und freute sich aufrichtig, mich zu sehen. Instinktiv schaute ich über meine linke Schulter, um mich an Kate zu wenden.
»Was hättest du denn gern?«, fragte ich sie.
Im Nachtklub war es laut, und überall um uns herum blinkten Lichter. Kates Silhouette hob sich vor dem Hinter-grund der Discolichter und des Trockeneisnebels ab. Sie sah hübsch aus im Halbdunkel, aber Kate sah immer hübsch aus. Ihre hellblauen Augen zwinkerten mir zu, und ich spürte, wie sie meine Hand drückte. Gleich darauf schnürte es mir das Herz ab, als der Groschen plötzlich fiel.
Kate stand gar nicht neben mir. Es war nur ihr Schatten, ein verschwommenes Trugbild dessen, was ich so verzweifelt sehen wollte. Ich war so sehr daran gewöhnt, Kate an meiner Seite zu haben, dass mein Gehirn mir Streiche spielte.
Als ich mich wieder meinem Bruder zuwandte, der mich mit offenem Mund ansah, spürte ich, dass ich rot wurde.
»O mein Gott, Singe, alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte Matt sich besorgt.
Es war die Party zum achtzehnten Geburtstag seiner Freundin, und er hatte sich riesig gefreut, dass ich so kurz nach Kates Tod die Einladung angenommen hatte. Seit ich sie verloren hatte, war dies mein erster großer Ausgehabend mit Mitgliedern meiner Familie, und zum Wohle aller lag mir viel daran, dass es ein gelungener Abend wurde.
»Keine Sorge, mir geht's gut«, sagte ich und meinte das auch.
»Bist du dir da sicher?«
»Ja, bin ich. Keine Sorge, ich drehe nicht durch. Aber von manchen Gewohnheiten trennt man sich nur schwer, das ist alles. Lass uns was trinken.«
Matt lächelte mich erleichtert an, und ich strahlte zurück. Ich sagte
... mehr
mir, dass es gut war, Kate wiederzusehen, sprach es aber nicht laut aus. Seit ihrem Tod war noch kein Monat vergangen, und das Trugbild erinnerte mich daran, wie frisch meine Trauer noch war und wie sehr ich sie vermisste.
Während ich unter den Partygästen die Runde machte, war ich darauf bedacht, den Menschen, die nicht recht wussten, was sie sagen sollten, ihre Unsicherheit zu nehmen. Dabei gab mir die Tatsache, dass Kate mir noch immer so nah war, Trost und Kraft. Sie war zwar tot, doch das bedeutete nicht, dass sie aufgehört hatte, Teil meines Lebens zu sein. Wieso auch? Sie war mein Leben, obwohl ich jetzt ohne sie weitermachen musste.
Eine Weile betrachtete ich versunken die Teenager auf der Tanzfläche. Sie hatten großen Spaß, wie das auch bei Kate und mir in diesem Alter der Fall gewesen war, eigentlich sogar fast unser ganzes gemeinsames Leben lang. Die in der Luft liegende Begeisterung und das Lachen der jungen Leute erinnerten mich an unsere ersten Verabredungen. Ich stellte mir die vollkommen sorglos in ihren hautengen Jeans tanzende Kate als Teenager vor. Sie sah älter aus, als sie war, und hatte selbst mit sechzehn nie Schwierigkeiten, in einen Nachtklub zu kommen. Sie ging jedes Mal aufrechten Ganges auf die Türsteher zu, kicherte und wackelte selbstbewusst mit den Hüften, was nie seine Wirkung verfehlte, und so war oftmals ich derjenige, dessen Alter in Frage gestellt wurde, trotz der fünf Jahre, die ich älter war als sie, und sich ausweisen musste. Kate war immer eine umwerfende Erscheinung, und im Blinken der Lichter und Laser hatte ich auf der Tanzfläche nur Augen für sie. Und während unsere Blicke miteinander verschmolzen, hatte ich das Gefühl, mit ihr allein im Raum zu sein.
Wenn wir unsere Tour durch die Klubs beendet hatten, dehnten Kate und ich den Abend oft noch zu einem mitternächtlichen Picknick in Priddy in den Mendip Hills aus. Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie dort mit siebzehn auf einer Decke unter den Sternen sitzen und nach Satelliten Ausschau halten. Sie lauscht dem Chor der Frösche und der Insekten. Es war Kates absoluter Lieblingsplatz. Dort gab es kein Streu-licht, weshalb die Sterne so hell leuchteten, dass es sich an-fühlte, als wären wir in einem gewaltigen Planetarium, nur wir zwei. Ich atmete den Duft von Kates Parfüm ein, der sich mit dem süßen Geruch des feuchten Grases verband, und wir redeten stundenlang und ließen uns gemeinsam dahintreiben.
Bei dieser Erinnerung wurde mir warm ums Herz. Kate und ich waren Seelengefährten, und das blieben wir über mehr als zwanzig Jahre. Konnte ich mich da nicht glücklich schätzen? Beim Blick in die Runde all der Teenager auf der Party, die alle ihr Leben noch vor sich hatten, ergriff mich große Dankbarkeit dafür, dass Kate und ich uns in so jungen Jahren kennengelernt hatten und es uns daher vergönnt war, so viele glückliche Jahre miteinander zu verbringen. Dies war etwas, was uns auch die Krebserkrankung niemals nehmen konnte.
Gelinde gesagt nahm Kates Diagnose uns den Wind aus den Segeln. Da sie uns nur wenige Wochen nachdem unser kleiner Junge Reef sich von einer unglaublich seltenen und aggressiven Krebsform erholt hatte, ereilte, empfanden wir sie als umso grausamer und hielten uns für vom Pech verfolgt. Ich erinnere mich an meine mühsamen Versuche, trotz-dem Positives zu entdecken. Meine beherzte Kate würde jedenfalls wie eine Löwin kämpfen, sagte ich mir. Reef hatte gegen alle Prognosen überlebt, und so würde auch Kate den Tumor besiegen. Als Folge von Reefs Krebserkrankung war sein linkes Bein ein wenig geschwächt, weshalb er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten, er kam aber bemerkenswert gut damit zurecht, und die wenigsten Leute ahnten, dass er als körperbehindert registriert war. Ich wusste, dass Kate die gleiche Widerstandskraft aufbringen würde, egal was ihr die Krebserkrankung zumutete oder abverlangte.
Wir hatten unser Leben immer in vollen Zügen genossen. Wir hatten die Welt bereist und aus jedem Tag das Beste her-ausgeholt. Was die Vergangenheit betraf, brauchten wir nichts zu bereuen, und das war ein Segen. Und die Gewissheit, dass Kate, egal wie krank sie wurde, auch weiterhin aus jeder Minute des Tages das Maximum herausholen würde, war die positive Kraft, nach der ich gesucht hatte.
Ein Jahr ist vergangen, seitdem ich sie verloren habe, und ich schreibe an diesem Buch und kann Ihnen versichern, dass Kate mich oder die Jungs niemals enttäuscht hat. Wir konnten immer stolz auf sie sein, bis zu ihrem Todestag und darüber hinaus. Selbst als die Krankheit ihr in den letzten paar Monaten arg zusetzte, unternahm sie mit den Jungs Reisen nach Disneyland und nach Lappland und bestand dar-auf, nur wenige Tage vor ihrem Tod zur Weihnachtsaufführung von Schneewittchen in Bristol zu gehen, obwohl ihr Auftritt im Rollstuhl mit Sauerstofftanks fast theatralischer war als das Stück selbst!
Sie hat auch diese Liste verfasst, zu der ihr bis zu ihrem letzten Tag immer wieder Ergänzungen einfielen. Kate ging es nicht darum, sich damit unsterblich zu machen, und das gewaltige Medieninteresse, das diese Liste entfacht hat und letztendlich zum Verfassen dieses Buchs führte, wäre ihr peinlich gewesen. Die Liste war für uns gedacht, nicht für sie selbst, außerdem war ich derjenige, der sie unabsichtlich dazu gebracht hatte, sie zu verfassen, als ich im Bett mit ihr kuschelte und sie fragte: »Und wenn du mich nun verlässt?«
Kate war eine hingebungsvolle Mutter und liebende Ehe-frau und wollte mir ein Hilfsmittel an die Hand geben, damit ich unsere Jungs auch ohne sie bestmöglich erziehen konnte. Als ich die endgültige Liste nach ihrem Tod las, fühlte ich mich weniger allein. Kates Geist lebte in ihr weiter, und ich war ihr so dankbar für die ungeheure Anstrengung, sie auf ihrem Sterbebett zu vollenden. Durch sie hatte ich eine Verbindung zu meiner fantastischen Frau und zog großen Trost daraus.
Ich denke, einige Leute waren in Sorge, wie sich diese Liste auf mein Leben auswirken könnte. Würde Kates Präsenz durch sie nicht derart lebendig sein, dass meine Trauer kein Ende fand? Würde sie mich nicht so sehr an die Vergangenheit binden, dass ein Vorwärts unmöglich wurde?
Für mich allerdings bestand nie der geringste Zweifel daran, dass Kates Liste ein unglaubliches Geschenk war. Ich war mir sicher, sie würde mich leiten und mir Gewissheit geben und mir helfen, für unsere Jungs eine wunderbare Zukunft aufzubauen.
Noch habe ich keine Vorstellung davon, wie lange es dauern wird, bis ich alle von Kates Wünschen erfüllt habe, oder ob dies jemals der Fall sein wird. Für manche wird es ein Leben brauchen. Doch eins steht fest: Ich gehe jeden Schritt, so gut ich kann, in Erinnerung an meine wunderbare Ehefrau Kate.
KAPITEL 1
» Gib den Jungs zwei Küsse, wenn ich nicht mehr bin«
»Wir haben es geschafft!«, sagte Kate kichernd. Dieses Kichern. Diese blonden Haare. Diese kornblumenblauen Augen. Ich sah meine schöne Ehefrau an und lachte. Sie hatte es drauf, mich zum Lachen zu bringen. Ich brauchte nur dieses kecke Kichern zu hören und war schon angesteckt. An diesem Tag konnte ich gar nicht mehr aufhören zu lachen. Ich legte mich in den nassen Sand und zog Kate von Lachen geschüttelt mit. Es weckte in mir die Erinnerung an den Tag vor mehr als zwanzig Jahren, als ich um ihre Hand angehalten hatte. Da-mals hatte ich absichtlich dafür gesorgt, dass sie mit ihren Skiern in einem Haufen Pulverschnee zu Fall kam. Ich warf mich ebenfalls hinein und zog dabei einen Verlobungsring aus meiner Tasche. Sie giggelte, und wir küssten uns, wie wir das auch jetzt taten. Damals hatte ich vor Erleichterung gelacht, dass sie meine Frau werden wollte, und vor Begeisterung über die Aussicht, mein Leben mit einer derart erstaunlichen Frau verbringen zu dürfen. Jetzt lachte ich wieder vor Erleichterung und Begeisterung, wenn auch aus anderen Gründen.
Ich spürte regelrecht, wie die Sorge durch meinen Rücken aus mir heraus in den Sand sickerte und Platz machte für Freude und Optimismus angesichts der Zukunft, wie ich das schon lange nicht mehr empfunden hatte. Eine Welle über-spülte unsere Füße, und Kate und ich kreischten und ku-schelten uns enger aneinander. Und als sich das Wasser zurückzog, war es, als verebbten mit ihm auch die Schrecken und die Dunkelheit der vergangenen drei Jahre. Die Sonne strahlte hell vom Himmel, und Licht und Wärme kehrten in unser Leben zurück.
Wir lagen im Sand und hielten uns an den Händen. Meine Gedanken kreisten um die einschneidenden Veränderungen, die Kates und mein Leben erfahren hatte, obwohl es in vielen Bereichen gleich geblieben war. Wir hatten jetzt zwei Kinder, unsere kostbaren kleinen Jungs Reef und Finn, aber im Herzen fühlten wir uns noch immer wie zwei leichtfertige Teenager auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Nun konnte uns nichts mehr zurückhalten, dessen war ich mir sicher.
Auf die Ellbogen gestützt, beobachteten wir die Jungs, die am Strand Fangen spielten. Es war der Sommer 2008, erst vor wenigen Wochen hatten wir Reefs vierten Geburtstag gefeiert. »Es tut uns sehr leid, aber Reef wird womöglich nur noch ein paar Tage leben.« Der Schauder, den diese Worte mir über den Rücken jagten, als man bei Reef im Alter von achtzehn Monaten die niederschmetternde Diagnose Krebs gestellt hatte, ist mir gut in Erinnerung geblieben. Mir blieb das Herz stehen, als hätte man mir einen Eimer voll Eis über den Brust-korb gekippt, und meine Lungen zogen sich zusammen. Und als ich nach Luft zu schnappen versuchte, folgten weitere niederschmetternde Nachrichten. Die Ärzte machten uns darauf aufmerksam, dass unser kleiner Junge, wenn er überlebte, behindert wäre. »Es tut uns sehr leid, aber Reef wird womöglich nie wieder laufen können.«
Wenn ich jetzt daran dachte, kam es mir vor, als würde ich mich an das Drehbuch für einen Film oder eine Geschichte aus dem Leben von jemand anderem erinnern. Es war wirklich unglaublich, dass dieses Kind, das wir jedes Mal, wenn es eine Bluttransfusion benötigte oder wieder zur Chemotherapie musste, mit Tränen in den Augen an uns drückten, der-selbe kleine arglose Junge war, der dort am Strand entlang-rannte. Er war unser Wunder.
Ich lächelte Kate an. Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. So entspannt, wie sie mit mir am Ufer lag, sah sie überraschend jung aus. Die beiden Linien, die sich tief zwischen ihren Augenbrauen eingegraben hatten und an deren Anblick ich mich gewöhnt hatte, waren wie weggeblasen. Sie sah wieder aus wie ein Mädchen, wie die sorglose Kate, die ich gekannt hatte, bevor unsere Welt von Angst und Kummer und der schmerzhaften und hilf losen Sorge um ein krankes Kind beherrscht wurde.
»Sieh nur, wie Reef rennt!«, meinte Kate kichernd. »Er hat es geschafft!« Selbst ihre Stimme klang jünger und freier. »Wir haben es geschafft!« Ihre Augen blitzten, wie sie es auch taten, wenn wir in den Ferien Scubatauchen waren. Da freute ich mich jedes Mal auf den Moment, wenn Kate ihre Atemmaske abnahm, denn ihr Gesicht leuchtete wie ein Regenbogen, als hätte sie die glitzernden Schuppen und Leuchtstreifen der tropischen Fische gestohlen. Genauso sah sie auch an diesem Tag aus, als sie voller Begeisterung Reef und Finn dabei beobachtete, wie sie Fangen spielten.
»Es ist unglaublich, Singe. Was haben wir für ein Glück.« Ich nickte und grinste. Das war wieder meine alte Kate. Glück war womöglich nicht das Wort, das andere verwendet hätten, aber es war das Wort, das Kate an diesem Tag wählte, und das ist einer der Gründe, weshalb ich sie so sehr liebte. Andere Leute wären verbittert gewesen, weil das Schicksal ungerecht zu ihnen war, aber nicht Kate. Sie nahm das Leben mit offenen Armen, wie es kam, und versuchte immer das Positive zu sehen.
»Du kannst mich nicht fangen, du kannst mich nicht fangen!«, hörte ich Finn frotzeln. Meine Augen wanderten von Reef zu seinem kleinen Bruder. Für einen Zweijährigen war Finn ein bemerkenswerter kleiner Läufer und eine echte Herausforderung für Reef. Alle sagten, Reef sei der Nachdenkliche, wie Kate, und ich konnte dem nur zustimmen, aber Finn war meine Entsprechung im Kleinformat, dreist, sport-begeistert und ausgelassen. Auch er war unser Wunder. Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich erfuhr, dass bei Kate vorzeitige Wehen eingesetzt hatten, und meine Brust zog sich zusammen wie zuvor, als ich in der Nacht von Finns Geburt ans Telefon gegangen war. Die Entdeckung der Geschwulst in Reefs Unterleib hatte für die schwangere Kate enormen Stress bedeutet. Wir warteten noch auf die Testergebnisse, die uns Aufschluss über die Art der Geschwulst geben sollten, da setzten bei ihr vorzeitig die Wehen ein. Kate war gerade mal im siebten Schwangerschaftsmonat - viel zu früh für die Geburt.
Beim Anblick von Finn, der am Strand herumtollte, dankte ich Gott dafür, dass der Wahnsinn dieser Krankenhaustage vorbei war. Das Leben beider Jungs hatte am seidenen Faden gehangen. Beim einen, weil er im Intensivpflege-Inkubator lag, beim anderen, weil sein Becken von einer Tumorgeschwulst befallen war. Wie standen ihre Chancen? Welchen Zweck hatte es, darüber nachzudenken? Es war verrückt. Obwohl es nur ein paar Jahre zurücklag, schien inzwischen eine Ewigkeit vergangen zu sein.
Ich atmete aus und blies die Erinnerung an Angst und Leid hinaus in die Seeluft. Die Jungs feuerten sich an und sprangen sorglos herum, und ich konnte sie nur bewundern. Freunde gaben uns den Spitznamen »Die Unglaublichen«. »Ihr seid eine so erstaunliche Familie«, sagten sie uns vor und nach unserem Unglück. In diesem Augenblick, mit der lächelnden Kate an meiner Seite und den fröhlich miteinander spielenden Jungs, hatte ich das Gefühl, das es stimmte. Wir hatten unsere Pechsträhne gehabt, sie aber mit einem Triumphlächeln überwunden. Meine Familie war wahrhaftig unglaublich.
Als wir kaum zwei Jahre später im Auto mit Blick auf den Kiesstrand von Clevedon saßen, musste ich wieder an diesen sonnigen Tag denken. Jetzt hatten wir den 20. Januar 2010, und dunkelgraue Wolkenbänke gaben den Sonnenstrahlen keine Chance. Die Jungs saßen angeschnallt in ihren Auto-sitzen, und ich beschloss, zu ihnen zu gehen und mich zwischen sie zu setzen. Beim Aussteigen schlug mir der Wind hart ins Gesicht und ließ mich schaudern. Ich wünschte mir, ich könnte die Wolken wegschieben und die Sonne herausholen. Durch das Abklopfen meiner Manteltasche vergewisserte ich mich, dass der Kaugummi noch da war. Das war etwas, was ich mit Kate abgesprochen hatte. Die Jungs hatten uns seit Jahren damit in den Ohren gelegen, Kaugummi ausprobieren zu wollen, und wir waren übereingekommen, dass dies ein guter Zeitpunkt war, ihnen diese Freude zu machen.
»Ich habe euch etwas wirklich, wirklich Wichtiges und richtig Trauriges zu sagen, Jungs«, begann ich und zog sie dabei dicht an mich heran. Ich spürte, wie sich jeweils ein kleines Ohr in die Seiten meines Brustkorbs grub. Mein Herz zappelte so wild darin herum, dass ich Angst hatte, das Geräusch könnte die Jungs erschrecken, und so holte ich tief Luft im Versuch, den Herzschlag zu beruhigen.
Ich hatte die Jungs abgeholt, Finn von der Vorschule und Reef von der Schule, und war mit ihnen auf direktem Weg zu unserem Lieblingsplatz am Strand in der Nähe von Clevedon gefahren. Auf der kurzen Fahrt hatte ich versucht, alles so normal wie möglich aussehen zu lassen. »Wie war euer Tag?«, fragte ich und bereute die Frage sofort wieder. Was immer sie sagten, es konnte nur schlimmer werden. Ich weiß nicht mehr, was sie antworteten, und ich benötigte all meine Kraft allein dazu, das Auto sicher zu steuern und mich wie ein ganz normaler Vater zu verhalten, der an einem kalten Mittwoch-nachmittag seine Kinder abholt.
An diesem Morgen hatte ich »O mein Gott, meine dunkelste Stunde« in mein Tagebuch geschrieben. Doch diese Stunde fühlte sich noch viel dunkler an. Reef und Finn hörten mir aufmerksam zu und warteten auf die von mir an-gekündigten wichtigen und traurigen Nachrichten. Sie sahen so adrett aus in ihren Schuluniformen, und sie taten mir unendlich leid. Es waren so tolle Jungs, immer eifrig dabei, einen zu erfreuen, und instinktiv lächelte ich sie an und zauste ihre hellen Haare. Bisher war es mir, wie ich glaube, ganz gut gelungen, meine Gefühle zu verbergen, und ich wünschte, es bliebe mir erspart, ihnen zu erzählen, was am Morgen dieses Tages passiert war. Gern hätte ich wie andere Eltern auf dem Heimweg von der Schule mit ihnen über ihre Freunde oder die Hausaufgaben geplaudert oder ihnen er-zählt, was es zum Abendbrot gab. Ich wusste nicht, was und wie ich es sagen sollte, also drückte ich die Jungs für einen Moment fest an mich, wobei ich meine Atmung zu kontrollieren und meine Tränen zurückzuhalten versuchte.
»Sag, was du denkst«, glaubte ich Kate mir zärtlich zuflüstern zu hören. Ihre Stimme war sanft und ermutigend und traf mich mitten ins Herz. Mir fiel ein, dass sie dieselben Worte erst vor ein paar Wochen gesagt hatte, als sie im Bett lag und ihre Liste schrieb. »Ich denke, es ist äußerst wichtig, zu sagen, was man denkt, und ich möchte, dass die Jungs das lernen«, hatte sie erklärt, bevor sie die Anweisung Nummer vier in ihr Tagebuch schrieb: »Bitte bring ihnen bei, zu sagen, was sie denken.« In der Schule und im Krankenhaus erhielt ich ähnliche Ratschläge. Ich sollte nicht um den heißen Brei herumreden oder mich unklar ausdrücken, denn dadurch könnte ich den Jungs falsche Hoffnungen machen oder sie verwirren.
Ich räusperte mich und veränderte meine Position, sodass ich beiden ins Gesicht sehen konnte, während ich sprach. Ich sagte es ihnen ganz direkt. »Es tut mir leid, euch das sagen zu müssen, Jungs«, sagte ich mit brüchiger Stimme. Vier sanfte blaue Augen schauten in meine. In diesem Moment sah ich Kate in den Augen der Jungs und spürte, wie sie mich beobachtete. Ich musste daran denken, wie sie unter Tränen gesagt hatte, sie wünschte sich, mit Reef den Platz tauschen zu können, als dieser litt, und wusste genau, was sie damit gemeint hatte. Wenn ich jetzt den Schmerz der Jungs hätte schultern können, hätte ich das getan, aber ich konnte sie nicht davor schützen.
Ihre kleinen Augen sahen mich nun forschend an und versuchten im schwächer werdenden Licht Anhaltspunkte zu finden. Sie waren erst vier und fünf Jahre alt und viel zu jung für das. Ich schluckte unbeholfen und spürte, wie mein Gesicht rot wurde, als ich vergeblich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten.
»Mummy ist tot. Sie wird nicht mehr aus dem Krankenhaus zurückkommen. Sie ist heute Morgen gestorben.« Als ich diese Worte aus meinem Mund kommen hörte, brach ich seufzend zusammen. Die Jungs klammerten sich an mich, und wir weinten, zu dritt einander in den Armen haltend, bis unser heißer Atem sich auf den winterkalten Scheiben niederschlug.
»Ist Mummy im Himmel?«, schniefte Reef schließlich. »Ja«, sagte ich.
»Ist sie auf einer Wolke?«, hakte er schluckend nach.
»Ja«, sagte ich, beeilte mich aber noch hinzuzufügen: »Ihr könnt sie euch auf einer Wolke vorstellen, wenn ihr wollt.«
Man hatte mich vor Äußerungen wie »Mummy ist eingeschlafen« gewarnt, weil die Jungs dann womöglich abends im Bett Angst vorm Einschlafen bekamen oder sich ein bildeten, sie könnte eines Tages wieder aufwachen. Ich wollte sie auch nicht in dem Glauben bestärken, Mummy sei auf einer Wolke, denn das war sie nicht, aber ich sagte mir, dass es in Ordnung ging, wenn Reef diese Vorstellung zusagte.
Eine Weile schwiegen wir alle. Wir saßen da, hielten uns fest und weinten, bis lauter Maschinenlärm über uns dafür
sorgte, dass wir uns alle umdrehten und aus dem beschlagenen Heckfenster des Autos schauten. Mit tränennassen Au-gen beobachteten wir zwei Flugzeuge, die diagonal über den verhangenen grauen Himmel über uns flogen und ein perfektes weißes Kreuz zurückließen.
»Seht nur, Mummy hat uns gerade einen Kuss geschickt«, sagte Reef, und wir weinten weiter.
Jetzt waren wir nur noch zu dritt. Dies spürte ich plötzlich ganz akut, als wir uns in unserer eigenen weißen Wolke zusammenkuschelten und Sauerstoff und Schmerz teilten. Ungeachtet der Dunkelheit und der Kälte, die sich auf uns her-absenkten, schluchzten wir mindestens eine halbe Stunde lang. Das Salz meiner Tränen brannte auf meiner Haut, und die Wangen der Jungen verwandelten sich von rosigem Pink in fleckiges Rot. Ich hätte Stunden und Tage weinen können, aber als das leise Schluchzen und das keuchende Weinen der Jungs ein wenig nachließen, spürte ich, dass es Zeit war auf-zuhören.
»Möchtet ihr einen Kaugummi?«, fragte ich sie. Ihre Mienen hellten sich ein wenig auf, als sie die rosa Kaugummi-päckchen auswickelten, aber Finn liefen immer noch Tränen über die Wangen.
»Danke, Daddy«, sagte er höflich und stopfte sich dabei den Kaugummi in den Mund. »Warum ist Mummy gestorben?« Er schniefte laut und schaute mir direkt in die Augen.
»Nun, du weißt doch, dass sie sehr krank war, nicht wahr? Und als du sie gestern Abend im Krankenhaus gesehen hast und sie dich ganz fest umarmt hat, da war sie sehr, sehr krank. Sie war so krank, dass sie gestorben ist.«
»Ich möchte sie sehen«, sagte Finn. »Kann ich Mummy wiedersehen?«
»Tut mir leid Finn, aber du kannst sie nicht mehr sehen.« Er kaute kläglich auf seinem Kaugummi herum, und ich musste ihm hilflos zusehen, weil mir kein Wort einfallen wollte, das meine Antwort irgendwie besser gemacht hätte.
»Ich mag das«, sagte Finn nach ein oder zwei Minuten. »Es schmeckt lecker, Daddy.«
Reef nickte. »Danke, dass du uns Kaugummi gegeben hast«, sagte er und wischte sich mit seinem Mantelärmel die Tränen aus dem Gesicht.
»Können wir wieder mal einen bekommen?«
»Ich denke, wir sollten zu besonderen Anlässen immer Kaugummi haben. Auch Mummy hielt das für eine gute Idee. Jetzt lasst uns nach Hause fahren.«
Eine seltsame Ruhe erfüllte mich, als ich mich wieder auf dem Fahrersitz anschnallte. Ganz allein hatte ich eine Aufgabe bewältigt, dazu noch eine derart gewaltige. Ich spürte, dass Kate nicht nur damit einverstanden gewesen wäre, wie ich diese Situation gemeistert hatte, sie hätte es an meiner Stelle ganz genauso gemacht. Dieser Gedanke war tröstlich.
Als wir vom leeren Strand wegfuhren, betrachtete ich die Jungs im Rückspiegel. Beide starrten mit geschwollenen Au-gen aus den Fenstern, kauten geräuschvoll auf ihren Kau-gummis und füllten den Wagen mit süßem Erdbeeraroma.
Von nun an lag die Verantwortung für diese beiden kleinen unschuldigen Passagiere ganz allein bei mir. Mein Magen zog sich zusammen, und beim Gedanken an das Ausmaß dieser Verantwortung verkrampften meine Finger sich am Lenk-rad. Sie hatten keine Mama mehr, jetzt kam es auf mich an. Plötzlich war ich Witwer, plötzlich war ich alleinerziehender Vater. Allein die Worte zu denken schockierte mich und brachte meinen Kreislauf ins Wanken.
Ein Teil von mir wäre am liebsten weggerannt und hätte so getan, als wäre alles nicht passiert, doch zugleich verspürte ich den heftigen Drang, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um meine Jungs zu beschützen, damit Kate auf mich stolz sein konnte. Ich wollte nach wie vor ihr Mr Unglaublich sein, das zumindest war ich ihr schuldig.
Ich fuhr langsam und umsichtig. Ich durfte jetzt keinerlei Risiken eingehen, musste jede Fahrt langsam angehen. Sollte mir etwas zustoßen, wer würde sich dann um die Jungs kümmern? Außerdem hatten wir keine Eile, nach Hause zu kommen. Das Haus würde noch genauso aussehen, wie ich es vorhin verlassen hatte. Keiner würde im Backofen das Essen anbrennen lassen, wie Kate das zu tun pflegte. Meine Lippen verzogen sich unfreiwillig zu einem schwachen Lächeln, als ich an Kates Kochversuche dachte. Wenn man etwas nicht in die Mikrowelle stellen und darauf warten konnte, dass es »Ping« machte, war Kate überfordert. Damit zog ich sie auch immer auf.
Kates beste Freundin Ruth war ihr, als wir geheiratet hatten, zur Hand gegangen und hatte ihr ein halbes Dutzend einfacher Gerichte beigebracht. Tagliatelle, Lasagne, mexikanische Fajitas, Curry und Spaghetti bolognese wurden zu ihren »Spezialitäten«, aber die Kunst des Kochens beherrschte Kate nie wirklich. Jetzt hatte Ruth eine andere Rolle bekommen. »Ruth kennt sich gut aus in Erziehungsfragen«, belehrte Kate mich, »da sie zwei Jungs im gleichen Altersabstand hat - falls es zu Konflikten mit den Ansichten der Großeltern kommen sollte.« Das kleine Wort »falls« entlockte mir ein Lächeln. Unsere Eltern könnten unterschiedlicher nicht sein und wie die meisten Paare hatten auch wir Probleme, beiden Seiten der Familie gerecht zu werden. Jetzt hatten Kates Eltern Christine und Martin einen Schwiegersohn, aber keine Tochter mehr. Alles war durcheinandergeraten. Bis jetzt hatte ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht, aber es bereitete mir Kopfzerbrechen. Genauso musste es auch Kate gegangen sein, aber sie war mir einen Schritt voraus gewesen und hatte sich Wege überlegt, die mir das Leben ohne sie erleichtern sollten.
Ich mag Ruth sehr. Sie war mit meinem Freund Chris verheiratet gewesen, den ich vor gut zwanzig Jahren bei einem Lehrgang für Scuba-Tauchen kennengelernt hatte. Als Kate sich im Scuba-Tauchen qualifizierte, nahm er die Prüfung ab. Inzwischen sind Ruth und Chris geschieden, und sie wohnt nur einen kurzen Fußweg von uns entfernt. Ich nenne sie meinen »Lieblings-Rottweiler«, weil sie eine der Freundinnen ist, die dir ins Gesicht sagen, was sie denken, und sich auch nicht scheuen, dich einen Trottel zu nennen. Das bewunderte ich, und ich fand es sehr klug von Kate, mir Ruth für elterliche Ratschläge ans Herz zu legen.
Ich warf einen Blick über meine linke Schulter. »Den Kau-gummi nicht schlucken, Jungs«, sagte ich. »Denkt dran, das ist der Grund, weshalb ihr bisher noch keinen bekommen habt. Seid bitte vorsichtig. Versprecht mir, vorsichtig zu sein.«
»Okay, Daddy«, sagte Reef. »Ich kann Blasen machen, sieh nur!«
Und mit einem lauten Knall ließ er eine Kaugummiblase platzen, was Finn zum Kichern brachte. Sie kicherten noch, als wir in die Einfahrt fuhren und vor der Eingangstür anhielten.
Als die Haustür aufging, vermisste ich Kates vertrauten Ausruf »Hallo Jungs!«. Ich vermisste sowohl ihre mitten im Flur abgelegte Handtasche als auch ihre am Fußende der Treppe abgestreiften Schuhe zu sehen, aber zu meiner Erleichterung und Überraschung wirkte das Haus nur halb so leer, wie ich befürchtet hatte. Das Telefon klingelte, unser Terrier Coral bellte, und noch bevor ich meinen Mantel aus-gezogen hatte, klopfte es an der Tür.
Es war Paula, eine der Mütter aus der Schule. Sie weinte sich die Augen aus, was in mir sofort die Reaktion auslöste, sie trösten zu wollen. »Es tut mir so leid, Singe«, platzte es aus ihr heraus. »Ich musste einfach vorbeikommen, ich musste was tun.«
© 2012 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Während ich unter den Partygästen die Runde machte, war ich darauf bedacht, den Menschen, die nicht recht wussten, was sie sagen sollten, ihre Unsicherheit zu nehmen. Dabei gab mir die Tatsache, dass Kate mir noch immer so nah war, Trost und Kraft. Sie war zwar tot, doch das bedeutete nicht, dass sie aufgehört hatte, Teil meines Lebens zu sein. Wieso auch? Sie war mein Leben, obwohl ich jetzt ohne sie weitermachen musste.
Eine Weile betrachtete ich versunken die Teenager auf der Tanzfläche. Sie hatten großen Spaß, wie das auch bei Kate und mir in diesem Alter der Fall gewesen war, eigentlich sogar fast unser ganzes gemeinsames Leben lang. Die in der Luft liegende Begeisterung und das Lachen der jungen Leute erinnerten mich an unsere ersten Verabredungen. Ich stellte mir die vollkommen sorglos in ihren hautengen Jeans tanzende Kate als Teenager vor. Sie sah älter aus, als sie war, und hatte selbst mit sechzehn nie Schwierigkeiten, in einen Nachtklub zu kommen. Sie ging jedes Mal aufrechten Ganges auf die Türsteher zu, kicherte und wackelte selbstbewusst mit den Hüften, was nie seine Wirkung verfehlte, und so war oftmals ich derjenige, dessen Alter in Frage gestellt wurde, trotz der fünf Jahre, die ich älter war als sie, und sich ausweisen musste. Kate war immer eine umwerfende Erscheinung, und im Blinken der Lichter und Laser hatte ich auf der Tanzfläche nur Augen für sie. Und während unsere Blicke miteinander verschmolzen, hatte ich das Gefühl, mit ihr allein im Raum zu sein.
Wenn wir unsere Tour durch die Klubs beendet hatten, dehnten Kate und ich den Abend oft noch zu einem mitternächtlichen Picknick in Priddy in den Mendip Hills aus. Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie dort mit siebzehn auf einer Decke unter den Sternen sitzen und nach Satelliten Ausschau halten. Sie lauscht dem Chor der Frösche und der Insekten. Es war Kates absoluter Lieblingsplatz. Dort gab es kein Streu-licht, weshalb die Sterne so hell leuchteten, dass es sich an-fühlte, als wären wir in einem gewaltigen Planetarium, nur wir zwei. Ich atmete den Duft von Kates Parfüm ein, der sich mit dem süßen Geruch des feuchten Grases verband, und wir redeten stundenlang und ließen uns gemeinsam dahintreiben.
Bei dieser Erinnerung wurde mir warm ums Herz. Kate und ich waren Seelengefährten, und das blieben wir über mehr als zwanzig Jahre. Konnte ich mich da nicht glücklich schätzen? Beim Blick in die Runde all der Teenager auf der Party, die alle ihr Leben noch vor sich hatten, ergriff mich große Dankbarkeit dafür, dass Kate und ich uns in so jungen Jahren kennengelernt hatten und es uns daher vergönnt war, so viele glückliche Jahre miteinander zu verbringen. Dies war etwas, was uns auch die Krebserkrankung niemals nehmen konnte.
Gelinde gesagt nahm Kates Diagnose uns den Wind aus den Segeln. Da sie uns nur wenige Wochen nachdem unser kleiner Junge Reef sich von einer unglaublich seltenen und aggressiven Krebsform erholt hatte, ereilte, empfanden wir sie als umso grausamer und hielten uns für vom Pech verfolgt. Ich erinnere mich an meine mühsamen Versuche, trotz-dem Positives zu entdecken. Meine beherzte Kate würde jedenfalls wie eine Löwin kämpfen, sagte ich mir. Reef hatte gegen alle Prognosen überlebt, und so würde auch Kate den Tumor besiegen. Als Folge von Reefs Krebserkrankung war sein linkes Bein ein wenig geschwächt, weshalb er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten, er kam aber bemerkenswert gut damit zurecht, und die wenigsten Leute ahnten, dass er als körperbehindert registriert war. Ich wusste, dass Kate die gleiche Widerstandskraft aufbringen würde, egal was ihr die Krebserkrankung zumutete oder abverlangte.
Wir hatten unser Leben immer in vollen Zügen genossen. Wir hatten die Welt bereist und aus jedem Tag das Beste her-ausgeholt. Was die Vergangenheit betraf, brauchten wir nichts zu bereuen, und das war ein Segen. Und die Gewissheit, dass Kate, egal wie krank sie wurde, auch weiterhin aus jeder Minute des Tages das Maximum herausholen würde, war die positive Kraft, nach der ich gesucht hatte.
Ein Jahr ist vergangen, seitdem ich sie verloren habe, und ich schreibe an diesem Buch und kann Ihnen versichern, dass Kate mich oder die Jungs niemals enttäuscht hat. Wir konnten immer stolz auf sie sein, bis zu ihrem Todestag und darüber hinaus. Selbst als die Krankheit ihr in den letzten paar Monaten arg zusetzte, unternahm sie mit den Jungs Reisen nach Disneyland und nach Lappland und bestand dar-auf, nur wenige Tage vor ihrem Tod zur Weihnachtsaufführung von Schneewittchen in Bristol zu gehen, obwohl ihr Auftritt im Rollstuhl mit Sauerstofftanks fast theatralischer war als das Stück selbst!
Sie hat auch diese Liste verfasst, zu der ihr bis zu ihrem letzten Tag immer wieder Ergänzungen einfielen. Kate ging es nicht darum, sich damit unsterblich zu machen, und das gewaltige Medieninteresse, das diese Liste entfacht hat und letztendlich zum Verfassen dieses Buchs führte, wäre ihr peinlich gewesen. Die Liste war für uns gedacht, nicht für sie selbst, außerdem war ich derjenige, der sie unabsichtlich dazu gebracht hatte, sie zu verfassen, als ich im Bett mit ihr kuschelte und sie fragte: »Und wenn du mich nun verlässt?«
Kate war eine hingebungsvolle Mutter und liebende Ehe-frau und wollte mir ein Hilfsmittel an die Hand geben, damit ich unsere Jungs auch ohne sie bestmöglich erziehen konnte. Als ich die endgültige Liste nach ihrem Tod las, fühlte ich mich weniger allein. Kates Geist lebte in ihr weiter, und ich war ihr so dankbar für die ungeheure Anstrengung, sie auf ihrem Sterbebett zu vollenden. Durch sie hatte ich eine Verbindung zu meiner fantastischen Frau und zog großen Trost daraus.
Ich denke, einige Leute waren in Sorge, wie sich diese Liste auf mein Leben auswirken könnte. Würde Kates Präsenz durch sie nicht derart lebendig sein, dass meine Trauer kein Ende fand? Würde sie mich nicht so sehr an die Vergangenheit binden, dass ein Vorwärts unmöglich wurde?
Für mich allerdings bestand nie der geringste Zweifel daran, dass Kates Liste ein unglaubliches Geschenk war. Ich war mir sicher, sie würde mich leiten und mir Gewissheit geben und mir helfen, für unsere Jungs eine wunderbare Zukunft aufzubauen.
Noch habe ich keine Vorstellung davon, wie lange es dauern wird, bis ich alle von Kates Wünschen erfüllt habe, oder ob dies jemals der Fall sein wird. Für manche wird es ein Leben brauchen. Doch eins steht fest: Ich gehe jeden Schritt, so gut ich kann, in Erinnerung an meine wunderbare Ehefrau Kate.
KAPITEL 1
» Gib den Jungs zwei Küsse, wenn ich nicht mehr bin«
»Wir haben es geschafft!«, sagte Kate kichernd. Dieses Kichern. Diese blonden Haare. Diese kornblumenblauen Augen. Ich sah meine schöne Ehefrau an und lachte. Sie hatte es drauf, mich zum Lachen zu bringen. Ich brauchte nur dieses kecke Kichern zu hören und war schon angesteckt. An diesem Tag konnte ich gar nicht mehr aufhören zu lachen. Ich legte mich in den nassen Sand und zog Kate von Lachen geschüttelt mit. Es weckte in mir die Erinnerung an den Tag vor mehr als zwanzig Jahren, als ich um ihre Hand angehalten hatte. Da-mals hatte ich absichtlich dafür gesorgt, dass sie mit ihren Skiern in einem Haufen Pulverschnee zu Fall kam. Ich warf mich ebenfalls hinein und zog dabei einen Verlobungsring aus meiner Tasche. Sie giggelte, und wir küssten uns, wie wir das auch jetzt taten. Damals hatte ich vor Erleichterung gelacht, dass sie meine Frau werden wollte, und vor Begeisterung über die Aussicht, mein Leben mit einer derart erstaunlichen Frau verbringen zu dürfen. Jetzt lachte ich wieder vor Erleichterung und Begeisterung, wenn auch aus anderen Gründen.
Ich spürte regelrecht, wie die Sorge durch meinen Rücken aus mir heraus in den Sand sickerte und Platz machte für Freude und Optimismus angesichts der Zukunft, wie ich das schon lange nicht mehr empfunden hatte. Eine Welle über-spülte unsere Füße, und Kate und ich kreischten und ku-schelten uns enger aneinander. Und als sich das Wasser zurückzog, war es, als verebbten mit ihm auch die Schrecken und die Dunkelheit der vergangenen drei Jahre. Die Sonne strahlte hell vom Himmel, und Licht und Wärme kehrten in unser Leben zurück.
Wir lagen im Sand und hielten uns an den Händen. Meine Gedanken kreisten um die einschneidenden Veränderungen, die Kates und mein Leben erfahren hatte, obwohl es in vielen Bereichen gleich geblieben war. Wir hatten jetzt zwei Kinder, unsere kostbaren kleinen Jungs Reef und Finn, aber im Herzen fühlten wir uns noch immer wie zwei leichtfertige Teenager auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Nun konnte uns nichts mehr zurückhalten, dessen war ich mir sicher.
Auf die Ellbogen gestützt, beobachteten wir die Jungs, die am Strand Fangen spielten. Es war der Sommer 2008, erst vor wenigen Wochen hatten wir Reefs vierten Geburtstag gefeiert. »Es tut uns sehr leid, aber Reef wird womöglich nur noch ein paar Tage leben.« Der Schauder, den diese Worte mir über den Rücken jagten, als man bei Reef im Alter von achtzehn Monaten die niederschmetternde Diagnose Krebs gestellt hatte, ist mir gut in Erinnerung geblieben. Mir blieb das Herz stehen, als hätte man mir einen Eimer voll Eis über den Brust-korb gekippt, und meine Lungen zogen sich zusammen. Und als ich nach Luft zu schnappen versuchte, folgten weitere niederschmetternde Nachrichten. Die Ärzte machten uns darauf aufmerksam, dass unser kleiner Junge, wenn er überlebte, behindert wäre. »Es tut uns sehr leid, aber Reef wird womöglich nie wieder laufen können.«
Wenn ich jetzt daran dachte, kam es mir vor, als würde ich mich an das Drehbuch für einen Film oder eine Geschichte aus dem Leben von jemand anderem erinnern. Es war wirklich unglaublich, dass dieses Kind, das wir jedes Mal, wenn es eine Bluttransfusion benötigte oder wieder zur Chemotherapie musste, mit Tränen in den Augen an uns drückten, der-selbe kleine arglose Junge war, der dort am Strand entlang-rannte. Er war unser Wunder.
Ich lächelte Kate an. Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. So entspannt, wie sie mit mir am Ufer lag, sah sie überraschend jung aus. Die beiden Linien, die sich tief zwischen ihren Augenbrauen eingegraben hatten und an deren Anblick ich mich gewöhnt hatte, waren wie weggeblasen. Sie sah wieder aus wie ein Mädchen, wie die sorglose Kate, die ich gekannt hatte, bevor unsere Welt von Angst und Kummer und der schmerzhaften und hilf losen Sorge um ein krankes Kind beherrscht wurde.
»Sieh nur, wie Reef rennt!«, meinte Kate kichernd. »Er hat es geschafft!« Selbst ihre Stimme klang jünger und freier. »Wir haben es geschafft!« Ihre Augen blitzten, wie sie es auch taten, wenn wir in den Ferien Scubatauchen waren. Da freute ich mich jedes Mal auf den Moment, wenn Kate ihre Atemmaske abnahm, denn ihr Gesicht leuchtete wie ein Regenbogen, als hätte sie die glitzernden Schuppen und Leuchtstreifen der tropischen Fische gestohlen. Genauso sah sie auch an diesem Tag aus, als sie voller Begeisterung Reef und Finn dabei beobachtete, wie sie Fangen spielten.
»Es ist unglaublich, Singe. Was haben wir für ein Glück.« Ich nickte und grinste. Das war wieder meine alte Kate. Glück war womöglich nicht das Wort, das andere verwendet hätten, aber es war das Wort, das Kate an diesem Tag wählte, und das ist einer der Gründe, weshalb ich sie so sehr liebte. Andere Leute wären verbittert gewesen, weil das Schicksal ungerecht zu ihnen war, aber nicht Kate. Sie nahm das Leben mit offenen Armen, wie es kam, und versuchte immer das Positive zu sehen.
»Du kannst mich nicht fangen, du kannst mich nicht fangen!«, hörte ich Finn frotzeln. Meine Augen wanderten von Reef zu seinem kleinen Bruder. Für einen Zweijährigen war Finn ein bemerkenswerter kleiner Läufer und eine echte Herausforderung für Reef. Alle sagten, Reef sei der Nachdenkliche, wie Kate, und ich konnte dem nur zustimmen, aber Finn war meine Entsprechung im Kleinformat, dreist, sport-begeistert und ausgelassen. Auch er war unser Wunder. Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich erfuhr, dass bei Kate vorzeitige Wehen eingesetzt hatten, und meine Brust zog sich zusammen wie zuvor, als ich in der Nacht von Finns Geburt ans Telefon gegangen war. Die Entdeckung der Geschwulst in Reefs Unterleib hatte für die schwangere Kate enormen Stress bedeutet. Wir warteten noch auf die Testergebnisse, die uns Aufschluss über die Art der Geschwulst geben sollten, da setzten bei ihr vorzeitig die Wehen ein. Kate war gerade mal im siebten Schwangerschaftsmonat - viel zu früh für die Geburt.
Beim Anblick von Finn, der am Strand herumtollte, dankte ich Gott dafür, dass der Wahnsinn dieser Krankenhaustage vorbei war. Das Leben beider Jungs hatte am seidenen Faden gehangen. Beim einen, weil er im Intensivpflege-Inkubator lag, beim anderen, weil sein Becken von einer Tumorgeschwulst befallen war. Wie standen ihre Chancen? Welchen Zweck hatte es, darüber nachzudenken? Es war verrückt. Obwohl es nur ein paar Jahre zurücklag, schien inzwischen eine Ewigkeit vergangen zu sein.
Ich atmete aus und blies die Erinnerung an Angst und Leid hinaus in die Seeluft. Die Jungs feuerten sich an und sprangen sorglos herum, und ich konnte sie nur bewundern. Freunde gaben uns den Spitznamen »Die Unglaublichen«. »Ihr seid eine so erstaunliche Familie«, sagten sie uns vor und nach unserem Unglück. In diesem Augenblick, mit der lächelnden Kate an meiner Seite und den fröhlich miteinander spielenden Jungs, hatte ich das Gefühl, das es stimmte. Wir hatten unsere Pechsträhne gehabt, sie aber mit einem Triumphlächeln überwunden. Meine Familie war wahrhaftig unglaublich.
Als wir kaum zwei Jahre später im Auto mit Blick auf den Kiesstrand von Clevedon saßen, musste ich wieder an diesen sonnigen Tag denken. Jetzt hatten wir den 20. Januar 2010, und dunkelgraue Wolkenbänke gaben den Sonnenstrahlen keine Chance. Die Jungs saßen angeschnallt in ihren Auto-sitzen, und ich beschloss, zu ihnen zu gehen und mich zwischen sie zu setzen. Beim Aussteigen schlug mir der Wind hart ins Gesicht und ließ mich schaudern. Ich wünschte mir, ich könnte die Wolken wegschieben und die Sonne herausholen. Durch das Abklopfen meiner Manteltasche vergewisserte ich mich, dass der Kaugummi noch da war. Das war etwas, was ich mit Kate abgesprochen hatte. Die Jungs hatten uns seit Jahren damit in den Ohren gelegen, Kaugummi ausprobieren zu wollen, und wir waren übereingekommen, dass dies ein guter Zeitpunkt war, ihnen diese Freude zu machen.
»Ich habe euch etwas wirklich, wirklich Wichtiges und richtig Trauriges zu sagen, Jungs«, begann ich und zog sie dabei dicht an mich heran. Ich spürte, wie sich jeweils ein kleines Ohr in die Seiten meines Brustkorbs grub. Mein Herz zappelte so wild darin herum, dass ich Angst hatte, das Geräusch könnte die Jungs erschrecken, und so holte ich tief Luft im Versuch, den Herzschlag zu beruhigen.
Ich hatte die Jungs abgeholt, Finn von der Vorschule und Reef von der Schule, und war mit ihnen auf direktem Weg zu unserem Lieblingsplatz am Strand in der Nähe von Clevedon gefahren. Auf der kurzen Fahrt hatte ich versucht, alles so normal wie möglich aussehen zu lassen. »Wie war euer Tag?«, fragte ich und bereute die Frage sofort wieder. Was immer sie sagten, es konnte nur schlimmer werden. Ich weiß nicht mehr, was sie antworteten, und ich benötigte all meine Kraft allein dazu, das Auto sicher zu steuern und mich wie ein ganz normaler Vater zu verhalten, der an einem kalten Mittwoch-nachmittag seine Kinder abholt.
An diesem Morgen hatte ich »O mein Gott, meine dunkelste Stunde« in mein Tagebuch geschrieben. Doch diese Stunde fühlte sich noch viel dunkler an. Reef und Finn hörten mir aufmerksam zu und warteten auf die von mir an-gekündigten wichtigen und traurigen Nachrichten. Sie sahen so adrett aus in ihren Schuluniformen, und sie taten mir unendlich leid. Es waren so tolle Jungs, immer eifrig dabei, einen zu erfreuen, und instinktiv lächelte ich sie an und zauste ihre hellen Haare. Bisher war es mir, wie ich glaube, ganz gut gelungen, meine Gefühle zu verbergen, und ich wünschte, es bliebe mir erspart, ihnen zu erzählen, was am Morgen dieses Tages passiert war. Gern hätte ich wie andere Eltern auf dem Heimweg von der Schule mit ihnen über ihre Freunde oder die Hausaufgaben geplaudert oder ihnen er-zählt, was es zum Abendbrot gab. Ich wusste nicht, was und wie ich es sagen sollte, also drückte ich die Jungs für einen Moment fest an mich, wobei ich meine Atmung zu kontrollieren und meine Tränen zurückzuhalten versuchte.
»Sag, was du denkst«, glaubte ich Kate mir zärtlich zuflüstern zu hören. Ihre Stimme war sanft und ermutigend und traf mich mitten ins Herz. Mir fiel ein, dass sie dieselben Worte erst vor ein paar Wochen gesagt hatte, als sie im Bett lag und ihre Liste schrieb. »Ich denke, es ist äußerst wichtig, zu sagen, was man denkt, und ich möchte, dass die Jungs das lernen«, hatte sie erklärt, bevor sie die Anweisung Nummer vier in ihr Tagebuch schrieb: »Bitte bring ihnen bei, zu sagen, was sie denken.« In der Schule und im Krankenhaus erhielt ich ähnliche Ratschläge. Ich sollte nicht um den heißen Brei herumreden oder mich unklar ausdrücken, denn dadurch könnte ich den Jungs falsche Hoffnungen machen oder sie verwirren.
Ich räusperte mich und veränderte meine Position, sodass ich beiden ins Gesicht sehen konnte, während ich sprach. Ich sagte es ihnen ganz direkt. »Es tut mir leid, euch das sagen zu müssen, Jungs«, sagte ich mit brüchiger Stimme. Vier sanfte blaue Augen schauten in meine. In diesem Moment sah ich Kate in den Augen der Jungs und spürte, wie sie mich beobachtete. Ich musste daran denken, wie sie unter Tränen gesagt hatte, sie wünschte sich, mit Reef den Platz tauschen zu können, als dieser litt, und wusste genau, was sie damit gemeint hatte. Wenn ich jetzt den Schmerz der Jungs hätte schultern können, hätte ich das getan, aber ich konnte sie nicht davor schützen.
Ihre kleinen Augen sahen mich nun forschend an und versuchten im schwächer werdenden Licht Anhaltspunkte zu finden. Sie waren erst vier und fünf Jahre alt und viel zu jung für das. Ich schluckte unbeholfen und spürte, wie mein Gesicht rot wurde, als ich vergeblich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten.
»Mummy ist tot. Sie wird nicht mehr aus dem Krankenhaus zurückkommen. Sie ist heute Morgen gestorben.« Als ich diese Worte aus meinem Mund kommen hörte, brach ich seufzend zusammen. Die Jungs klammerten sich an mich, und wir weinten, zu dritt einander in den Armen haltend, bis unser heißer Atem sich auf den winterkalten Scheiben niederschlug.
»Ist Mummy im Himmel?«, schniefte Reef schließlich. »Ja«, sagte ich.
»Ist sie auf einer Wolke?«, hakte er schluckend nach.
»Ja«, sagte ich, beeilte mich aber noch hinzuzufügen: »Ihr könnt sie euch auf einer Wolke vorstellen, wenn ihr wollt.«
Man hatte mich vor Äußerungen wie »Mummy ist eingeschlafen« gewarnt, weil die Jungs dann womöglich abends im Bett Angst vorm Einschlafen bekamen oder sich ein bildeten, sie könnte eines Tages wieder aufwachen. Ich wollte sie auch nicht in dem Glauben bestärken, Mummy sei auf einer Wolke, denn das war sie nicht, aber ich sagte mir, dass es in Ordnung ging, wenn Reef diese Vorstellung zusagte.
Eine Weile schwiegen wir alle. Wir saßen da, hielten uns fest und weinten, bis lauter Maschinenlärm über uns dafür
sorgte, dass wir uns alle umdrehten und aus dem beschlagenen Heckfenster des Autos schauten. Mit tränennassen Au-gen beobachteten wir zwei Flugzeuge, die diagonal über den verhangenen grauen Himmel über uns flogen und ein perfektes weißes Kreuz zurückließen.
»Seht nur, Mummy hat uns gerade einen Kuss geschickt«, sagte Reef, und wir weinten weiter.
Jetzt waren wir nur noch zu dritt. Dies spürte ich plötzlich ganz akut, als wir uns in unserer eigenen weißen Wolke zusammenkuschelten und Sauerstoff und Schmerz teilten. Ungeachtet der Dunkelheit und der Kälte, die sich auf uns her-absenkten, schluchzten wir mindestens eine halbe Stunde lang. Das Salz meiner Tränen brannte auf meiner Haut, und die Wangen der Jungen verwandelten sich von rosigem Pink in fleckiges Rot. Ich hätte Stunden und Tage weinen können, aber als das leise Schluchzen und das keuchende Weinen der Jungs ein wenig nachließen, spürte ich, dass es Zeit war auf-zuhören.
»Möchtet ihr einen Kaugummi?«, fragte ich sie. Ihre Mienen hellten sich ein wenig auf, als sie die rosa Kaugummi-päckchen auswickelten, aber Finn liefen immer noch Tränen über die Wangen.
»Danke, Daddy«, sagte er höflich und stopfte sich dabei den Kaugummi in den Mund. »Warum ist Mummy gestorben?« Er schniefte laut und schaute mir direkt in die Augen.
»Nun, du weißt doch, dass sie sehr krank war, nicht wahr? Und als du sie gestern Abend im Krankenhaus gesehen hast und sie dich ganz fest umarmt hat, da war sie sehr, sehr krank. Sie war so krank, dass sie gestorben ist.«
»Ich möchte sie sehen«, sagte Finn. »Kann ich Mummy wiedersehen?«
»Tut mir leid Finn, aber du kannst sie nicht mehr sehen.« Er kaute kläglich auf seinem Kaugummi herum, und ich musste ihm hilflos zusehen, weil mir kein Wort einfallen wollte, das meine Antwort irgendwie besser gemacht hätte.
»Ich mag das«, sagte Finn nach ein oder zwei Minuten. »Es schmeckt lecker, Daddy.«
Reef nickte. »Danke, dass du uns Kaugummi gegeben hast«, sagte er und wischte sich mit seinem Mantelärmel die Tränen aus dem Gesicht.
»Können wir wieder mal einen bekommen?«
»Ich denke, wir sollten zu besonderen Anlässen immer Kaugummi haben. Auch Mummy hielt das für eine gute Idee. Jetzt lasst uns nach Hause fahren.«
Eine seltsame Ruhe erfüllte mich, als ich mich wieder auf dem Fahrersitz anschnallte. Ganz allein hatte ich eine Aufgabe bewältigt, dazu noch eine derart gewaltige. Ich spürte, dass Kate nicht nur damit einverstanden gewesen wäre, wie ich diese Situation gemeistert hatte, sie hätte es an meiner Stelle ganz genauso gemacht. Dieser Gedanke war tröstlich.
Als wir vom leeren Strand wegfuhren, betrachtete ich die Jungs im Rückspiegel. Beide starrten mit geschwollenen Au-gen aus den Fenstern, kauten geräuschvoll auf ihren Kau-gummis und füllten den Wagen mit süßem Erdbeeraroma.
Von nun an lag die Verantwortung für diese beiden kleinen unschuldigen Passagiere ganz allein bei mir. Mein Magen zog sich zusammen, und beim Gedanken an das Ausmaß dieser Verantwortung verkrampften meine Finger sich am Lenk-rad. Sie hatten keine Mama mehr, jetzt kam es auf mich an. Plötzlich war ich Witwer, plötzlich war ich alleinerziehender Vater. Allein die Worte zu denken schockierte mich und brachte meinen Kreislauf ins Wanken.
Ein Teil von mir wäre am liebsten weggerannt und hätte so getan, als wäre alles nicht passiert, doch zugleich verspürte ich den heftigen Drang, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um meine Jungs zu beschützen, damit Kate auf mich stolz sein konnte. Ich wollte nach wie vor ihr Mr Unglaublich sein, das zumindest war ich ihr schuldig.
Ich fuhr langsam und umsichtig. Ich durfte jetzt keinerlei Risiken eingehen, musste jede Fahrt langsam angehen. Sollte mir etwas zustoßen, wer würde sich dann um die Jungs kümmern? Außerdem hatten wir keine Eile, nach Hause zu kommen. Das Haus würde noch genauso aussehen, wie ich es vorhin verlassen hatte. Keiner würde im Backofen das Essen anbrennen lassen, wie Kate das zu tun pflegte. Meine Lippen verzogen sich unfreiwillig zu einem schwachen Lächeln, als ich an Kates Kochversuche dachte. Wenn man etwas nicht in die Mikrowelle stellen und darauf warten konnte, dass es »Ping« machte, war Kate überfordert. Damit zog ich sie auch immer auf.
Kates beste Freundin Ruth war ihr, als wir geheiratet hatten, zur Hand gegangen und hatte ihr ein halbes Dutzend einfacher Gerichte beigebracht. Tagliatelle, Lasagne, mexikanische Fajitas, Curry und Spaghetti bolognese wurden zu ihren »Spezialitäten«, aber die Kunst des Kochens beherrschte Kate nie wirklich. Jetzt hatte Ruth eine andere Rolle bekommen. »Ruth kennt sich gut aus in Erziehungsfragen«, belehrte Kate mich, »da sie zwei Jungs im gleichen Altersabstand hat - falls es zu Konflikten mit den Ansichten der Großeltern kommen sollte.« Das kleine Wort »falls« entlockte mir ein Lächeln. Unsere Eltern könnten unterschiedlicher nicht sein und wie die meisten Paare hatten auch wir Probleme, beiden Seiten der Familie gerecht zu werden. Jetzt hatten Kates Eltern Christine und Martin einen Schwiegersohn, aber keine Tochter mehr. Alles war durcheinandergeraten. Bis jetzt hatte ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht, aber es bereitete mir Kopfzerbrechen. Genauso musste es auch Kate gegangen sein, aber sie war mir einen Schritt voraus gewesen und hatte sich Wege überlegt, die mir das Leben ohne sie erleichtern sollten.
Ich mag Ruth sehr. Sie war mit meinem Freund Chris verheiratet gewesen, den ich vor gut zwanzig Jahren bei einem Lehrgang für Scuba-Tauchen kennengelernt hatte. Als Kate sich im Scuba-Tauchen qualifizierte, nahm er die Prüfung ab. Inzwischen sind Ruth und Chris geschieden, und sie wohnt nur einen kurzen Fußweg von uns entfernt. Ich nenne sie meinen »Lieblings-Rottweiler«, weil sie eine der Freundinnen ist, die dir ins Gesicht sagen, was sie denken, und sich auch nicht scheuen, dich einen Trottel zu nennen. Das bewunderte ich, und ich fand es sehr klug von Kate, mir Ruth für elterliche Ratschläge ans Herz zu legen.
Ich warf einen Blick über meine linke Schulter. »Den Kau-gummi nicht schlucken, Jungs«, sagte ich. »Denkt dran, das ist der Grund, weshalb ihr bisher noch keinen bekommen habt. Seid bitte vorsichtig. Versprecht mir, vorsichtig zu sein.«
»Okay, Daddy«, sagte Reef. »Ich kann Blasen machen, sieh nur!«
Und mit einem lauten Knall ließ er eine Kaugummiblase platzen, was Finn zum Kichern brachte. Sie kicherten noch, als wir in die Einfahrt fuhren und vor der Eingangstür anhielten.
Als die Haustür aufging, vermisste ich Kates vertrauten Ausruf »Hallo Jungs!«. Ich vermisste sowohl ihre mitten im Flur abgelegte Handtasche als auch ihre am Fußende der Treppe abgestreiften Schuhe zu sehen, aber zu meiner Erleichterung und Überraschung wirkte das Haus nur halb so leer, wie ich befürchtet hatte. Das Telefon klingelte, unser Terrier Coral bellte, und noch bevor ich meinen Mantel aus-gezogen hatte, klopfte es an der Tür.
Es war Paula, eine der Mütter aus der Schule. Sie weinte sich die Augen aus, was in mir sofort die Reaktion auslöste, sie trösten zu wollen. »Es tut mir so leid, Singe«, platzte es aus ihr heraus. »Ich musste einfach vorbeikommen, ich musste was tun.«
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Autoren-Porträt von St John Greene
St John Greene, 45, ist ausgebildeter Rettungssanitäter, trainierter Stuntman und hat eine eigene Firma, "Training Saints", in der er junge Menschen in Extremsportarten unterrichtet.
Bibliographische Angaben
- Autor: St John Greene
- 368 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655281
- ISBN-13: 9783863655280
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