Giftspur / Sabine Kaufmann Bd.1
Ein Sabine-Kaufmann-Krimi. Kriminalroman
Kaum hat sich Sabine Kaufmann - bekannt aus der Julia-Durant-Reihe - vom Frankfurter K11 in die hessische Provinz versetzen lassen, ist es mit der trügerischen Ruhe vorbei.
Ulf Reitmeyer, Leiter eines großen Biobetriebes in...
Ulf Reitmeyer, Leiter eines großen Biobetriebes in...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Giftspur / Sabine Kaufmann Bd.1 “
Kaum hat sich Sabine Kaufmann - bekannt aus der Julia-Durant-Reihe - vom Frankfurter K11 in die hessische Provinz versetzen lassen, ist es mit der trügerischen Ruhe vorbei.
Ulf Reitmeyer, Leiter eines großen Biobetriebes in der Wetterau, bricht auf offener Straße beim Joggen zusammen. Plötzlicher Herzstillstand des kerngesunden Ökologen oder gar eine Vergiftung? Als dann ausgerechnet ein Mitarbeiter Reitmeyers ebenfalls das Zeitliche segnet, werden Kripo und Rechtsmedizin eingeschaltet. Kommissarin Sabine Kaufmann übernimmt den mehr als merkwürdigen Fall. Und wird nicht nur mit einem perfi den Täter, sondern auch mit dem feindseligen Kollegen Angersbach konfrontiert.
Ulf Reitmeyer, Leiter eines großen Biobetriebes in der Wetterau, bricht auf offener Straße beim Joggen zusammen. Plötzlicher Herzstillstand des kerngesunden Ökologen oder gar eine Vergiftung? Als dann ausgerechnet ein Mitarbeiter Reitmeyers ebenfalls das Zeitliche segnet, werden Kripo und Rechtsmedizin eingeschaltet. Kommissarin Sabine Kaufmann übernimmt den mehr als merkwürdigen Fall. Und wird nicht nur mit einem perfi den Täter, sondern auch mit dem feindseligen Kollegen Angersbach konfrontiert.
Klappentext zu „Giftspur / Sabine Kaufmann Bd.1 “
Ulf Reitmeyer, Leiter eines großen Biobetriebes in der Wetterau, bricht auf offener Straße zusammen. Zunächst deutet alles auf plötzlichen Herzstillstand hin. Doch dann taucht eine zweite Leiche auf - ausgerechnet ein Mitarbeiter Reitmeyers. Höchste Zeit, Rechtsmedizin und Kripo einzuschalten. Kommissarin Sabine Kaufmann, die sich erst vor kurzem vom Frankfurter K11 in die hessische Provinz versetzen ließ, übernimmt den mehr als merkwürdigen Fall. Und wird nicht nur mit einem perfiden Täter, sondern auch mit dem feindseligen Kollegen Angersbach konfrontiert.
Sabine Kaufmann ermittelte zuvor für Julia Durant,
die Kultkommissarin des verstorbenen Bestsellerautors Andreas Franz.
Lese-Probe zu „Giftspur / Sabine Kaufmann Bd.1 “
Giftspur von Daniel HolbeProlog
Sabine Kaufmann hielt das Steuer fest umklammert. Ihre Fingernägel pressten sich in den schwarzen Überzug. War es Leder, war es Latex? Was auch immer, es schien in diesem Augenblick die einzige Option zu sein. Kein rettender Strohhalm, denn diese Umschreibung wurde dem Szenario nicht im Mindesten gerecht. Vielmehr war es für sie wie die letzte Faser eines aufgedröselten Kletterseils, von den scharfen Kanten des zerschlissenen Felsgesteins durchgescheuert, unter ihr der bodenlose Schlund, der sie bei der nächsten unbedachten Bewegung verschlingen würde. Jede Muskelkontraktion konnte ihre letzte sein. Sabine zwang ihren Blick nach oben. Blauer Himmel, weit über ihrem Kopf ruhten vereinzelte Kumuluswolken, jene zarten Schönwetterwolken, die es in den vergangenen Monaten viel zu selten gegeben hatte. Die Sonne strahlte warm, im Grunde war alles perfekt. Ein glückliches Zusammentreffen von angenehmer Witterung und einem freien Vormittag.
Was also zum Teufel mache ich hier?
... mehr
Sie steuerte geradewegs auf Gedern zu, am nördlichen Zipfel der Wetterau gelegen und geographisch betrachtet längst dem Vogelsberg zugehörig. Kaum, dass man die flache, von Feldern und verinselten Waldstücken beherrschte Region verließ und sich von der flach gelegenen Mainmetropole entfernte, erhoben sich die unzähligen Kuppen und Höhenzüge eines beachtlichen Vulkanmassivs. Inaktiv, selbstverständlich, und das bereits seit sieben Millionen Jahren. Von lokalpatriotischen Gelehrten wurde er verbissen als Europas größter Schildvulkan verteidigt, an den umliegenden Hochschulen jedoch lehrte man das Gegenteil. Der Vogelsberg war der überwiegenden Meinung nach das größte Basaltmassiv Europas, also immer noch ein Superlativ, allerdings nicht mehr als eine Ansammlung einzelner Vulkanschlote. Wie auch immer, sein höchster Gipfel, der Hoherodskopf, lockte Sommer- wie Wintersportler gleichermaßen. Darunter auch Sabine Kaufmann. Langlauf, Rodeln, Walken - wann immer das monotone Grau des ewig dauernden Winters sie zu erdrücken drohte, flüchtete die sportbewusste Zweiunddreißigjährige sich hierhin. Der Große Feldberg im Taunus lag zwar deutlich näher, war allerdings meist überlaufen, und das auch noch von einer unerträglich selbstverliebten Schickeria der Reichen und Schönen und jener, die sich in verzerrter Selbstwahrnehmung für das eine oder andere hielten.
Muskelkontraktion.
Schweiß glänzte auf Sabines Handrücken, ihre Stirn war längst von salzigen Perlen bedeckt, und sie dankte Gott, dass niemand sie sehen konnte. Zumindest nicht von vorn. »Alles okay?« »Natürlich«, presste sie hervor. Unter der Baumwolle ihres grauen Sportpullovers begann es zu jucken, und zwar unter den beiden hochgezogenen Bünden der Ärmel, die sich kurz unterhalb der Ellbogen eng über die sanft gebräunte Haut spannten.
Bloß nicht zucken.
»Gleich sind wir da, sehen Sie da vorn?«
Ich bin ja nicht blind.
Der tiefe Klang der voluminösen, von einer beneidenswerten Ruhe geprägten Stimme, schien den gesamten Innenraum einzunehmen. Dabei hatte der Mann kaum eine Ähnlichkeit mit Rebroff oder Pavarotti, von einer gewissen Fülle des Bauches einmal abgesehen. Stattdessen wirkte sein Oberkörper, als habe die Natur ihn versehentlich mit zwei oder drei zusätzlichen Rippenbögen ausgestattet. Sabine schätzte, dass er über ein beachtliches Lungenvolumen verfügte, ein überdimensionaler Resonanzraum wie bei einem mannshohen Subwoofer. Statt der üblichen Serpentinen und schmaler Nebenstraßen, die sich zwischen Viehgattern und eng stehenden Douglasien hindurchschnitten, bereitete sich nun eine lange Gerade vor ihnen aus. Keine Steigung, keine Kurven, keine Abzweigung. Alles schien perfekt bereitet. Doch die Kommissarin konnte sich nicht entspannen. Ihr Blick huschte hinab auf den Tachometer, verharrte für eine Sekunde auf dem Lüftungsregler, dann schnell wieder nach vorn. Café au Lait, ein Croissant mit Nutella und ein bis zwei Stunden Wiederholungsprogramm im Fernsehen. Das Leben könnte so einfach sein. »Jetzt haben wir's gleich«, dröhnte es von hinten, und ein plötzlicher Ruck des Lenkers ließ der Kommissarin das Blut in den Adern gefrieren. Wie von Geisterhand fuhr der grasgrüne Horizont vor ihren Augen nach oben, und in ihrem Magen wurde es fl au. Bald war nur noch eine grüngolden schillernde Fläche zu sehen, immer näher kommend, und aus dem fernen Nirwana hörte Sabine noch die Frage, ob sie Hilfe brauche. Einige Sekunden später setzte der Doppelsitzer auf der Landebahn auf.
Für den Fluglehrer, der seit Wochen auf eine schneefreie Wiese und entsprechende Thermik gehofft hatte, ging eine vielversprechende Schnupper-Flugstunde zu Ende. Er hatte die interessierte Städterin ohne allzu große Eingriffe manövrieren lassen, und sie hatte sich dabei auch nicht dumm angestellt. Für Sabine Kaufmann jedoch zählten nur die letzten Minuten. Das Thema Segelfliegen, eine fixe Idee, mit der sie seit geraumer Zeit schwanger gegangen war, war für sie an diesem Vormittag gestorben. Vermutlich endgültig. So wie der Tod es nun einmal an sich hat.
Stunden später, als Sabine nach einem ausgiebigen Marsch durch die kalte, klare Luft mit puterroten Wangen in ihren alten Ford Focus sank, verspürte sie ein Brummen in der Magengegend. Hunger, diagnostizierte sie zunächst, doch da war noch etwas anderes. Tief im Inneren ihrer Jack-Wolfskin-Jacke meldete sich die Zivilisation. Fünfhundert Höhenmeter weiter unten, siebzig Kilometer entfernt. Die Kommissarin verspürte keinen Groll. Ihr Bewegungssoll hatte sie erfüllt, und jeder Weg, der sie auf sicheren Boden zurückführte, war ihr recht.
Trotzdem ist mein freier Tag.
Sabine Kaufmann blickte auf eine vergleichsweise lange Karriere im Polizeidienst zurück, denn sie hatte seit ihrer Jugendzeit nie etwas anderes werden wollen als Polizistin. Nach dem Abitur folgten die üblichen Instanzen der Ausbildung, irgendwann war sie beim berüchtigten Sittendezernat gelandet und hatte das Frankfurter Rotlichtmilieu besser kennengelernt, als sie es je wollte. Ein immerwährendes Hamsterrad, zuerst kam die Gewalt, in der Regel gegen Frauen, die sich nicht zu wehren vermochten. Dann die Angst. Vor einer Aussage, vor der Abschiebung - die Hintermänner wussten, wie sie ihre Schäfchen lammfromm hielten. Und dann neue Gewalt, um sicherzustellen, dass die Gefügigkeit blieb. Ab und an gelang es einem Mädchen, sich daraus zu befreien, auszubrechen, doch das war die große Ausnahme. Nennenswerte Verurteilungen erfolgten trotzdem nicht, denn am Ende erklärte sich doch kaum eine Frau zu einer Aussage bereit. Wenn, dann erwischte es ohnehin nur Handlanger, denn die Zuhälter verbargen sich gekonnt und blieben somit unantastbar. Gepaart mit dem nötigen Schmiergeld eine bombensichere Angelegenheit, denn es war kein Geheimnis, dass der Main nur ein Fluss sekundärer Bedeutung war. Dollar und Euro bildeten das Elixier, welches die Stadt pulsieren ließ. Sabine Kaufmann verband mit jener Zeit nicht viele positive Erinnerungen, ihre gewachsene Menschenkenntnis und Erfahrungswerte wollte sie allerdings nicht missen. Sobald sich eine Gelegenheit bot, wechselte sie zur Mordkommission, wo sie sich die vergangenen fünf Jahre verdingt hatte. Etwas anderes als das Polizeipräsidium Frankfurt hatte sie noch nicht kennengelernt, Hessens modernstes und größtes Präsidium, und es war ihr nicht leicht gefallen, die Mainmetropole zu verlassen. Doch es gab einen Menschen, der sie zurzeit mehr brauchte: Hedwig Kaufmann, ihre Mutter. Hedi litt unter einer Persönlichkeitsstörung, deren Zyklen in den vergangenen Jahren kürzer und vor allem tiefgreifender geworden waren. Zudem war sie geschwächt von jahrelanger Trunksucht. Es bedurfte keiner intensiven, aber einer regelmäßigen Begleitung, und sonst gab es niemanden, der das hätte übernehmen können. Sabine Kaufmann hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, als eine Stelle in Bad Vilbel ausgeschrieben wurde, der Stadt, in der sie aufgewachsen war und wo ihre Mutter noch immer lebte. Sie hatte eine Wohnung auf dem Heilsberg gefunden, die größer und heller war als ihre Frankfurter Bude und von deren Balkon sie hinüber auf die Skyline blicken konnte. Alles in allem also stand nicht alles zum Schlechten, wenn man es genau betrachtete.
Das Handy.
Sabine las die SMS, welche ihr verriet, dass sich der verpasste Anrufer mit einer Sprachnachricht auf der Mailbox verewigt hatte. Sie tippte den Touchscreen kurz an, die Verbindung wurde aufgebaut und gleich wieder unterbrochen. Stirnrunzelnd musste sie feststellen, dass der Empfang gen Null ging. Laut diversen Bemerkungen, die man im geologischen Informationszentrum aufschnappen konnte, übte der Vogelsberg, dessen Basalt mit einem hohen Eisengehalt angereichert war, eine gewisse Magie auf die Dinge aus. Verwechselte da jemand Geologie und Theologie?
Magnetischer Berg blockiert Netzempfang?
Nach Sabines Einschätzung lag es eher daran, dass sie seit Stunden keinen Funkmast mehr wahrgenommen hatte - ein weißes, rundes Funkfeuer für Verkehrsmaschinen, welches das bärbeißige Volumenwunder ihr von oben gezeigt hatte, einmal außer Acht gelassen. Die Nachricht stammte von einem ihrer neuen Kollegen, der sie mit einer Wahrscheinlichkeit von neunzig Prozent von neuen Entwicklungen im sogenannten Ballermann-Fall in Kenntnis setzen wollte. Mit Mallorca, derzeit unvorstellbare sechzehn Grad warm und mit einer beneidenswerten Sonnenscheindauer, hatte der Fall leider nichts gemein. Vielmehr rührte der Name daher, dass vorgestern, in der Nacht von Freitag auf Samstag, in der Innenstadt Bad Vilbels Schüsse gefallen waren. Es gab unzählige Zeugenaussagen, doch diese waren von Vorurteilen und inhaltlichen Diskrepanzen derart zersetzt, dass sie zu keiner brauchbaren Täterbeschreibung führten. Je tiefer man bohrte und je länger man fragte, desto mehr kristallisierte sich heraus, dass es sich um zwei bis vier Jugendliche gehandelt hatte. Im Zweifelsfall waren es immer Jugendliche, die für störenden Lärm verantwortlich waren. Dunkelhaarig, versteht sich, mit südosteuropäischem Akzent. Auch eine schwarze Pistole wollte jemand zweifelsfrei erkannt haben. Oder eine Schrotflinte. Oder eine Kalaschnikow. Man musste nur lange genug fragen. Trotz der räumlichen Nähe zu Frankfurt wies Bad Vilbel eine eher beschauliche Kriminalitätsrate auf. Innerhalb des Wetteraukreis lag sie dennoch relativ weit oben, und die Aufklärungsquote ließ Wünsche offen, das Kreuz, wenn man so nahe an der statistisch betrachtet kriminellsten Stadt Deutschlands lag. Es gab vergleichsweise wenige Gewaltdelikte, aber wenn es zu einem besonders unschönen Szenario kam, durchflutete eine Welle der Empörung die Stadt. Der letzte Mord hatte sich nur wenige Gehminuten von Sabines Wohnung in der Heilsbergsiedlung zugetragen. Ein zurückgezogen lebender Mann, seit vielen Jahren geschieden, Frührentner mit neunundfünfzig Jahren. Seine Eltern waren 1946 aus dem Sudetenland vertrieben worden und gemeinsam mit etlichen anderen auf der südlichen Anhöhe Bad Vilbels sesshaft geworden. Diese alte Generation starb nun nach und nach aus. Enkel hatte der Mann keine, und lediglich eine Putzfrau kam dreimal die Woche, um Wäsche zu waschen und die Wohnung zu putzen. Ironie des Schicksals, denn sie stammte aus Tschechien, aber das war zwischen den beiden nie Thema gewesen. Der Mann interessierte sich weder für seine Herkunft noch für Politik noch ging er aus. Es war eben jene Putzfrau, die ihn schließlich aufgefunden hatte, letzten Donnerstag, am unteren Ende seiner Kellertreppe. Sie hatte sich noch gewundert über die ausgekühlte Wohnung, was daran lag, dass die Terrassentür sperrangelweit offen stand. Vermutlich hatte sie deshalb auch nicht den verräterischen Leichengeruch wahrgenommen, denn durch die ebenfalls geöffnete Flurtür hatte die gesamte Wohnung arktische Temperaturen angenommen. Verzweifelt hielten die alten Rippenheizkörper dagegen, und der Brenner lief auf Hochtouren. Eine Klimakatastrophe im Kleinen. Die Putzfrau war mit dem Wäschekorb vor der Brust hinabgestiegen und wäre beinahe über den ausgestreckten Fuß ihres Arbeitgebers gestolpert. Ein spitzer Schrei, die herabfallende Wäsche begrub den halben Körper unter sich, dann schwanden ihr die Sinne. Für die Spurensicherung war es eine Katastrophe, denn die Frau hatte ihrem ureigenen Trieb nachgegeben und das Haus in Ordnung gebracht, bis jemand eintraf. Umso leichter war es für die Rechtsmedizin. Schlag auf den Kopf, diverse Frakturen vom Sturz treppabwärts inklusive ausgeschlagener Schneidezähne und zu guter Letzt Genickbruch. In dieser Reihenfolge. Wegen des prämortalen Schlages auf die Schädeldecke musste man von einem Tötungsdelikt ausgehen, ausgeführt durch einen mutmaßlich hölzernen Gegenstand, vermutlich ein Baseballschläger. Die Befragten zeigten sich zunächst bestürzt angesichts dieser kaltblütigen Gewalt. Doch sie ertrugen es mit Fassung. Man lebte nun einmal in Frankfurts düsterem Schatten. Jener bösen Stadt, deren Übel viel zu oft über den Hügel schwappte.
Montag
MONTAG, 18.FEBRUAR 2013
Sabine Kaufmann betrat das Büro pünktlich um acht, wie sie es gewohnt war. Das Wochenende war viel zu schnell vergangen. Nach ihrem Ausflug in den Vogelsberg, dem ursprünglich ein abendlicher Bummel mit ihrer Mutter Hedwig hatte folgen sollen, war Sabine neunmal von ihrem Handy gestört worden. Es gab zwar kaum Neuigkeiten über die suspekte Schießerei, und auch der Mord in ihrer Nachbarschaft erwies sich als eine von Sackgassen geprägte Ermittlung; doch sie war nun mal die einzige Ansprechpartnerin vor Ort beim neu ins Leben gerufenen K10, wie sich das hiesige Morddezernat nannte.
Zwei Wochen noch.
Dann sollte der neue Kollege aufschlagen, ein Ermittler aus Gießen, von dem die Kommissarin bis dato kaum etwas wusste. Doch für solche gedanklichen Ausflüge hatte sie ohnehin keine Zeit. Sabine hatte ihren Dienst am ersten Januar begonnen, und es war ihr weder bei ihrer kurzen Stippvisite zwischen den Jahren noch an ihrem ersten Dienst-Tag, einem Mittwoch, entgangen, dass man sie in der Polizeistation höchst argwöhnisch beäugte. Die Neue, die Großstadttussi, dieser blonde Hüpfer mit den Allmachtsphantasien.
Zugegeben, niemand sagte etwas, aber Sabine Kaufmann wäre eine schlechte Kriminalbeamtin, wenn sie nicht die typischen Gesichtsausdrücke decodieren könnte. Schiefes Grinsen, plötzliches, betretenes Schweigen, Tuscheln - sie hatte dieses Machoverhalten bereits bei der Sitte kennengelernt. Immun dagegen war sie allerdings nicht. Konrad Möbs, der Dienststellenleiter, der seinem Ruf nach so etwas wie der Fels in der Brandung sein musste, leitete die Bad Vilbeler Polizeiwache seit über zwanzig Jahren. Anstatt viele Worte zu machen, hatte er den anwesenden Kollegen Sabine kurz vorgestellt und sie im Anschluss ein wenig hilflos im Raum stehen lassen. Später hatte er sie noch einmal aufgesucht und ihr zu verstehen gegeben, dass, wenn sie etwas brauche, nicht bei ihm, sondern gleich in der Kreisstadt Friedberg anfragen müsse. Für ausufernde Ermittlungsarbeiten fehlten schlicht und ergreifend die Mittel. Das Experiment K10 sei ohnehin ein fragwürdiges Unterfangen, schloss er unmissverständlich. Bis auf einen jungen Polizeibeamten waren alle Kollegen älter, und es gab keine weitere Ermittlerin. Sabine war ausgezogen, um die Bad Vilbeler Gewaltverbrecher das Fürchten zu lehren. Doch Punkt eins der Tagesordnung war eine unsichtbare Barriere, die zwischen ihr und einer angestaubten Männerdomäne stand. Diese galt es niederzubrechen - oder abzubauen, und das sah nicht besonders vielversprechend aus für eine Frau, die schon äußerlich weitaus zarter gebaut war als sämtliche ihrer Gegner. Von ihrem Innenleben bekam zum Glück keiner etwas mit. Sabine schaltete den PC ein und öffnete während des Hochfahrens das Fenster ihres kleinen Büros, in dem zwei Schreibtische einander gegenüberstanden, einer davon leer. Die strahlende Wintersonne hatte sich längst wieder hinter dem seit Monaten vorherrschenden Grau verborgen, und wenn man dem Wetterbericht Glauben schenkte, würde der Frühling noch sehr lange auf sich warten lassen. Irgendwie kein Wunder, nachdem der Sommer 2012 bereits so aus dem Ruder gelaufen war. Die Klimaveränderung? Es gibt also doch einen Zusammenhang, dachte Sabine bissig. Seit dem spektakulären Ende der Laufbahn eines berühmten Meteorologen spielte das Wetter verrückt. Fakt war, dass der Mangel an Sonne selbst die fröhlichsten Gemüter in Depressionen zu stürzen drohte. Und Sabine zählte sich momentan gerade nicht zur Gruppe der Frohgelaunten. Noch bevor sie die Kaffeemaschine darauf vorbereiten konnte, ihre Produktion schwarzen Goldes aufzunehmen, meldete sich das Telefon. Es war Möbs, was sie etwas irritierte, denn er saß kaum zehn Meter entfernt von ihrem Büro, und ein wenig Bewegung hätte seiner Konstitution sicherlich nicht geschadet. »Es gibt Arbeit im Ballermann-Fall«, eröffnete er ihr. »Hervorragend«, erwiderte sie halbernst, »und welcher Art?« »Es gibt augenscheinlich einen Zusammenhang zwischen den Schüssen und dem Heilsberg-Mord.« »Oha!« Sabine wurde hellhörig, und ihre Gedanken begannen zu rasen. »Ich bin ganz Ohr«, fügte sie hinzu und griff sich Stift und Papier. »Gestern Abend ist ein junger Mann dabei gesehen worden, wie er eine Waffe in der Nidda entsorgt hat. Ein Schrebergärtner hat ihn beobachtet und bis zu seinem Auto verfolgt.« Möbs lachte kurz auf. »Da soll mal einer sagen, es gebe keine Zivilcourage mehr unter den Menschen. Aber ich erspare Ihnen die Details. Die Halterabfrage führte zu einem Treffer, eine halbe Stunde später war der Kleine dingfest.« »Hm. Der Kleine?« »Er ist gerade siebzehn, ein Milchbubi«, erklärte Möbs seine Wortwahl. »Und er hat geschossen?« »Das zumindest hat er ohne großen Widerstand zugegeben. Eine Beteiligung an der anderen Tat streitet er vehement ab.« »Aber er war anwesend?«, hakte Sabine nach. »Sie wissen doch, wie das läuft, mitgegangen, mitgefangen ...«, seufzte Möbs. »Er hat zweifelsohne mitbekommen, was sich abgespielt hat, und später dann kalte Füße gekriegt. Mit einem Mord will er nichts zu tun haben, das hat er immer wieder beteuert. Also ist auch schon sein Anwalt aufgekreuzt. Der Kleine kommt nämlich aus gutem Hause, da weiß man offenbar, wie der Hase läuft.« »Ich höre da ein Aber in Ihrer Stimme?« »Nun ja, die Familie des Jungen ist hier bei uns ziemlich angesehen. Klar, dass sie seine Weste reinhalten wollen«, mutmaßte Möbs und räusperte sich. »Der Bengel lieferte daraufhin bereitwillig zwei Namen, beides Typen, die bereits vorbestraft sind. Er wird gegen sie aussagen und kommt selbst ungeschoren aus der Sache. Soweit der Deal.« Sabine überlegte kurz. Der Handel wirkte übereilt, denn in dem Fahrzeug würden sich unter Garantie Fingerabdrücke finden, die zu denselben beiden Personen führten. Andererseits konnte die Spurensicherung Tage damit verbringen, aus einem Auto Spuren zu extrahieren, und weder Haare noch Hautpartikel oder Fingerabdrücke ließen sich im Nachhinein in ein enges Zeitfenster ordnen. Womöglich war der Bengel ihre einzige Chance, den Fall aufzulösen, bevor es zu weiteren Überfällen kam. Aber es schmeckte ihr nicht. »Da steckt doch noch mehr dahinter, oder?«, erkundigte sie sich missmutig. »Es gab noch weitere Hauseinbrüche, die in das Schema passen könnten«, rechtfertigte sich Möbs. »Allerdings kam bislang niemand zu Schaden. Irgendwo in dieser Stadt könnte es also einen recht ansehnlichen Berg Diebesgut geben.« »Quatsch, das haben die doch längst fl üssig gemacht.« »Ihr Job, das herauszufinden«, gab Möbs zurück. Er diktierte der Kommissarin zwei Namen und die zugehörige Anschrift, eine Adresse im Nordosten der Stadt. »Im Rosengarten«, wiederholte Sabine gedankenverloren. Sie war in Bad Vilbel aufgewachsen und kannte sich aus. Was nach einem beschaulichen Blumenviertel klang, war in Wahrheit der Standort einiger heruntergekommener Hochhäuser, in denen sich größtenteils Sozialwohnungen befanden.
Und um die Ecke eine Moschee.
»Sagten Sie nicht, dass dieser Junge aus gutem Hause stammt?« »Er schon, die wohl eher nicht«, entgegnete Möbs scharf. »Haben diverse Zeugen nicht zu Protokoll gegeben, dass es sich um südländische Typen gehandelt haben soll?« »Nicht ausschließlich«, verneinte Sabines Boss. »Die Aussagen widersprechen sich, sobald sie ins Detail gehen.« »Stimmt«, erinnerte sie sich. Es war nicht weiter verwunderlich. Man brauchte nur lange genug bei den richtigen Personen nachzuhaken, und bereitwillig wurde die nächstbeste Minderheit angeprangert. Die Nähe des Rosengartens zur Moschee in der Büdinger Straße war offensichtlich nur Zufall. »Sie fahren aber nicht allein dorthin!« Möbs' mahnende Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass dies nicht nur ein gut gemeinter Ratschlag war. »Diese Typen haben ein ellenlanges Register und nichts zu verlieren.« »Darf ich mich in unserem Personalpool also nach Belieben bedienen?«, stichelte Sabine. »Nein. Sie treffen die Kollegen der Kripo Friedberg vor Ort. Wenn Sie jetzt losfahren, dürften Sie zeitgleich eintreffen.« Damit war das Gespräch seitens Möbs beendet, und er hängte grußlos ein.
Die feuchtkalte Witterung schien mit eisiger Hand auf die Abgase zu drücken und diese am Aufsteigen zu hindern. Die Luft schmeckte förmlich nach Kohlenmonoxid und Feinstaubpartikeln, wenngleich das wohl größtenteils Einbildung war. Sabine atmete schwer, als sie ihren Wagen verließ, dessen Innenraum sich auf dem kurzen Weg kaum aufgeheizt hatte. Mit Engelszungen und Stoßgebeten hatte sie die alte Karre zum Starten überredet und sich anschließend gegen den Strom aus Berufspendlern durch die Stadt gekämpft. Das Ende des in die Jahre gekommenen, metallicgrünen Ford nahte mit eiligen Schritten. Zehn Tage Minimum. So lange musste er noch durchhalten, bis ihr neuer Wagen geliefert wurde, ein Renault, Sabines erster Neuwagen. In das Modell hatte sie sich schon im letzten Herbst verliebt, sie seufzte kurz und betätigte die Zentralverriegelung. Jetzt war kein Platz für Schwärmereien. Sabine suchte mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung ab, bis sie entdeckte, wonach sie Ausschau gehalten hatte. Ein VW-Transporter, hinter dessen Scheiben sie drei Personen ausmachte, der Fahrer stand draußen und rauchte, erwartete sie in angemessener Entfernung zur verabredeten Adresse. Zwei Kollegen kannte die Kommissarin bereits vom Sehen, eine junge Frau - endlich mal eine Frau! - sah sie zum ersten Mal. Außerdem dabei war Heiko Schultz, ein korpulenter Polizeibeamter ihres Alters, dessen Laufbahn mit Sabines begonnen hatte. Vor ein paar Wochen hatten sie sich nach Jahren wiedergesehen, Erinnerungen ausgetauscht, und nun standen sie kurz davor, ihre erste gemeinsame Aktion durchzuführen. »Möchtest du nicht nach Bad Vilbel wechseln?«, hatte Sabine Heiko noch im Januar gefragt, als sie sich eines Abends durch das Friedberger Nachtleben bewegten. Doch er hatte nur gelacht. »Meine Frau würde mir die Hölle heißmachen, wenn ich in ein kleineres Revier wechsle.« Im Laufe des Abends berichtete der wenig attraktive, aber sympathische Mann von seinem Häuschen auf dem Land, einer hochschwangeren Frau, die ihm gegen Ostern das zweite Kind schenken würde, und das alles mit jenem kaum zu ertragenden verklärten Blick, der sie stets berührte. Familie, Kinder, ein Haus ... Sabine Kaufmann hatte sich dazu gezwungen, dieses Idyll nicht mit ihren Sorgen zu belasten, und gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Auch du, mein Sohn Brutus. Wenn selbst ein Mann wie Heiko Schultz, zwar ungemein sympathisch, aber ansonsten weder ein Krösus noch ein Adonis, es zu einer Familie brachte, warum dann nicht sie? »Wir müssen das Überraschungsmoment nutzen.« Die etwas heisere Stimme des Beamten holte Sabine abrupt in die Gegenwart zurück. Ihr Blick wanderte die Gebäudefassade hinauf. Die Wohnung lag im vierten Stock, zu hoch, um sich über den Balkon abzusetzen, und zu tief, als dass sich die Flucht in Richtung Dach lohnen würde. Doch mit einem rationalen Handeln war nicht zwangsläufig zu rechnen. Einmal in der Falle, ohne Aussicht auf Entkommen, traten die niedrigsten Überlebensinstinkte eines Menschen hervor. Die Gruppe näherte sich dem Eingang. Anstatt wahllos zu klingeln, kam ihnen der Zufall zu Hilfe, und eine ältere Dame presste ihren Körper durch die Metalltür, in der Hand zwei Müllbeutel, aus denen es nach altem Käse stank. Sabine legte verschwörerisch ihren Finger auf die Lippen und gab der irritierten Frau zu verstehen, dass sie sich in Sicherheit bringen solle. Ihre Waffe hatte die Kommissarin noch nicht gezogen, aber die Gürtelholster ihrer Kollegen waren nicht zu übersehen. Misstrauisch brabbelnd entfernte sich die Alte in Richtung der metallenen Müllcontainer. Zwei Beamte sicherten das Treppenhaus in der dritten Etage, die Kollegin, die sich ihr als Petra vorgestellt hatte, schlich hinauf in die fünfte. Den Fahrstuhl hatte Heiko im Erdgeschoss mit einer zwischen den Türen eingeklemmte Zeitung blockiert. Ein spontaner Einfall, so simpel in der Durchführung, so verlässlich in seiner Wirkung. »Zeugen Jehovas?«, raunte er nun in Sabines Richtung, die ihn daraufhin verwirrt anblickte. Sie näherten sich der fraglichen Haustür, hinter der gedämpfte Stimmen zu hören waren. Vermutlich der Fernseher. »Wie? Quatsch!« Die Kommissarin fuhr herum und schüttelte entgeistert den Kopf, bis sie Schultz grinsen sah. Für gewöhnlich tarnte man sich als Hausverwaltung, Stromableser oder ähnliche Personen, denen auch schwere Jungs unbedarft die Türe öffneten, und sei es nur, um sie abzuwimmeln. »Dann Stadtwerke«, schlug er vor. »Meinetwegen. Ich klingele ...« »Von wegen! Als würde eine Blondine wie du bei den Stadtwerken arbeiten.«
»Mir machen zwei spätpubertäre Jungs aber eher auf«, konterte Sabine, doch Heiko hatte längst die Tür erreicht und bohrte seinen speckigen Zeigefinger auf den Klingelknopf. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich drinnen etwas rührte. Sabine vermutete, dass sie in der Wohnung auf mindestens zwei kreidebleiche, zugedröhnte Individuen stoßen würden, deren Gehirne noch viel zu träge waren, um zu verarbeiten, was sich abspielte. Doch sie täuschte sich. Nach dem zweiten Schellen näherten sich schlurfende Schritte, es schepperte, als eine Wade gegen einen Glastisch stieß, dann murrte von innen eine unverständliche Stimme. »Wnz ...« Hüsteln, dann, etwas lauter: »Was?« »Schultz, Stadtwerke Bad Vilbel. Ich soll die Thermostate prüfen.« Sabine grinste schief. Hätte Heiko vor ihrer Tür gestanden, sie wäre prompt darauf reingefallen.
Sehr überzeugend.
»Hä?« »Schultz von den Stadtwerken. Bitte machen Sie auf«, forderte er, diesmal mit etwas mehr Elan. Eine Türkette rasselte, dann öffnete sich ein schmaler Spalt. Dahinter zeigte sich ein unrasierter Mann in gebückter Haltung, dessen muskulöser Oberkörper aus einem Unterhemd quoll. Ungepfl egte Zehennägel lugten unter der schlaff hängenden Jogginghose hervor. Dann ging alles ganz schnell. Sabine drang mit ihrer Pistole im Anschlag in die Wohnung ein, durchforstete das im Halbdunkel liegende, nach kaltem Zigarettenrauch stinkende Innere, während im Flur Heiko Schultz den Überrumpelten über dessen Verhaftung informierte. Handschellen rasselten, doch es klang nicht nach erbitterter Gegenwehr.
»Ihr tickt ja wohl nicht richtig«, hörte Sabine, gerade als sie das Schlafzimmer betrat. Dort richtete sich erschrocken ein zweiter Mann auf, er war nur mit einer Unterhose bekleidet und wand sich aus dem zerwühlten Laken, das nicht wenige Brandlöcher aufwies und vermutlich seit Wochen nicht gewechselt worden war. Bevor er begriff, was geschah, drängte ihn Sabine auch schon in Richtung Wand. Eine Leibesvisitation konnte sie sich sparen, denn die knapp sitzende Unterhose verbarg unter Garantie keine tödliche Waffe oder sonst etwas von bedrohlicher Größe. »Ziehen Sie sich etwas an«, stieß die Kommissarin hervor, »aber ich warne Sie! Keine Tricks, meine Mündung zielt direkt auf Ihre Hühnerbrust.« »Einen Scheiß werd ich.« Es war mehr ein trotziges Knurren, aus dem kaum Angriffslust sprach. Sabine schaltete das Licht an, und sofort hob der Junge geblendet die Arme vors Gesicht. »Schalten Sie die Funzel aus.« »Werde ich nicht. Ziehen Sie sich nun an oder sollen wir Sie halbnackt aus dem Haus schleifen?« »Ihr könnt mir gar nichts«, wehrte er sich weiter, doch Sabine unterbrach ihn harsch. »Sie werden beschuldigt, an einem Einbruch beteiligt gewesen zu sein, infolgedessen ein Mann starb. Heilsberg, letzten Donnerstag, klingelt das was? Ich verhafte Sie wegen des dringenden Tatverdachts, und zwar wegen Mordes.« »Das können Sie mir nicht beweisen!«, spie der Junge aus. Er fröstelte und angelte sich eine Hose und einen Kapuzenpullover, in die er nacheinander hineinschlüpfte. »Wir werden sehen. Rumdrehen jetzt bitte und Hände auf den Rücken.« Sabine presste sich mit voller Kraft gegen den einen Kopf größeren, schlaksigen Körper. Beißender Schweißgeruch stieg ihr in die Nase, als sie die Handschellen um seine Handgelenke schloss. »Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Alles, was Sie von nun an sagen, kann gegen Sie verwendet werden.« Sie trat einen Schritt zurück, zuckte dann zusammen und erstarrte wie eine Salzsäule. Ein Schuss. Verdammt. Draußen war ein Schuss gefallen! Sabine Kaufmann packte den Mann am Schlafittchen und trieb ihn vor sich her in Richtung Ausgang. Vor ihren Augen spielte sich eine Action-Sequenz nach der anderen ab, Stirb langsam, Lethal Weapon, Departed ... Bilder, wie man sie zwangsläufig kannte, wenn der Lebensgefährte auf Actionfilme und Popcornkino stand. Die meisten Szenarien endeten mit einem blutüberströmten Bösewicht, der seinen letzten Atemzug aushauchte. Doch im heutigen Drehbuch war kein Happyend vorgesehen. Auf dem mit Flecken übersäten, zerschlissenen Teppichboden, die Schuhe noch auf dem Fußabtreter liegend, lag Heiko Schultz. Sabine schluckte. An seinem Kopf kniete Petra. Sie brauchte nichts zu erklären, Sabine zählte eins und eins zusammen. Die Wunde, die auf der Brust des massigen Körpers klaffte, stieß pulsierende Schwalle hellroten Blutes aus. Petras Hand lag darauf gepresst, vermochte aber die Kaskaden nicht zu stoppen. Nur sanft hob und senkte sich Heikos Brustkorb, die Pausen zwischen zwei Atemzügen wurden immer länger. »Ein Messer«, wisperte Petra tonlos. Sabine schluckte schwer, als sie sich hinabbeugte. Nur verwaschen nahm sie wahr, wie einer der Kollegen sich ihres Verhafteten annahm und Petras Stimme mit desperater Hysterie nach einem Notarzt verlangte. Aus den Augenwinkeln erkannte sie außerdem einen weiteren Körper, es handelte sich vermutlich um den Messerstecher, niedergestreckt von der Dienstwaffe eines Kollegen. Zu spät, wie eine innere Stimme grausam schrie. Aus den benachbarten Wohnungen strömten Schaulustige, das Stimmengewirr wogte auf und ebbte ab, doch all das war nur die grausame Hintergrundbegleitung des vor ihr liegenden Dramas. Eine Routineverhaftung. Ein toter Familienvater. Sabine schaffte es gerade noch, den Kopf zur Seite zu werfen, bevor sie sich übergab.
Zwei Wochen Später
Eisige Dunkelheit hüllte den Weidenhof ein. Nebeldunst lag über dem Kopfsteinpflaster und leckte an dem uralten Gebälk der ehemaligen Stallungen. Nahezu ungehindert durchdrang die feuchte Kälte den Bademantel des Mannes, der eilig den Innenhof überquerte. Er zog sich mit der Linken den Kragen enger, in der Rechten hielt er zwei Braunglasflaschen an deren dicken Hälsen, die bei jedem Schritt ein Scheppern verursachten. Jetzt, wo absolute Stille über dem Anwesen lag, wirkte es so laut wie der sprichwörtliche Elefant, der eine Scherbenorgie im Porzellanladen feiert. Doch niemand hörte ihn. Nicht einmal Gunnar Volz, der auf dem Hof lebende und arbeitende Knecht, war zu sehen. Der schweigsame Hüne mit dem düsteren Blick tauchte in der Regel immer dann auf, wenn man am wenigsten mit ihm rechnete, meist sah man zuerst seine leuchtend gelben Gummistiefel, danach seinen durchdringenden, wie magisch an einem haftenden Blick. Er stand dann einfach da und glotzte, nickte allenfalls kurz und verzog keine Miene. Doch zu dieser Nachtzeit schien selbst Gunnar zu schlafen. Ulf Reitmeyer erreichte die Stufen des Wohnhauses, in dem er auch sein Büro hatte, und kickte im Flur die Lederpantoffeln von den Füßen, an deren Sohlen nun Stroh haftete. Er drückte bedächtig die Tür ins Schloss und glitt auf Wollstrümpfen lautlos durch den Wohnbereich, hinüber in Richtung seines Zimmers, aus dem fahler Lichtschein drang. Eine Energiesparlampe tauchte den Raum in kaltes Weiß, er hatte sie längst durch eine Birne mit wärmerem Lichtspektrum ersetzen wollen. Ulf zog den kleinen Absorberkühlschrank auf, der sich unweit seines Schreibtisches in einer kubischen Schrankwand befand, und verstaute eine der beiden Flaschen dort. Die andere öffnete er, klackend schnalzte der Drehverschluss, als die einströmende Luft das Vakuum brach. Er wog das Glas in der Hand und beäugte das farbenfrohe Etikett. 500ml Bio-Kefir, eine schwarz-weiß gefleckte Kuh lachte breit, Sonnenblumen umgaben sie. Obwohl keines seiner Milchrinder auch nur jemals in die Nähe einer Sonnenblume kam, wusste Reitmeyer, dass seine Kunden mit diesem Sinnbild genau das assoziierten, was die Marketingfirma ihm versprochen hatte. Biologisch-dynamische Glückseligkeit. Trinkst du unseren Kefir, kommt der hundertste Geburtstag von ganz allein. Aber abgesehen von dem ganzen Brimborium schmeckte das Zeug auch verteufelt gut. Gierig trank Reitmeyer einen großen Schluck, danach einen weiteren. Er setzte die Flasche neben seiner Tastatur ab, entsperrte den Bildschirmschoner und setzte seine Arbeit fort. Fünf Uhr früh, dachte er zerknirscht. Die vergangenen sechs Stunden hatte er auf seiner Matratze verbracht, allein, schwitzend, und das, obwohl er bei gekipptem Fenster schlief und draußen laut Wetterbericht minus zwei Grad herrschten. Doch es gab Dinge, die hielten ihn wach, und falls die Müdigkeit ihn doch einmal übermannte, verfolgten die Dämonen ihn in seine Traumwelt. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen, er musste sie besiegen.
Doch was konnte man schon erreichen, sonntagmorgens um fünf, wenn selbst der debile Gunnar nicht draußen herumspukte? Reitmeyer schrieb noch zwei bitterböse E-Mails, löschte einige nicht minder freundlich klingende Aufzeichnungen auf seinem Anrufbeantworter und verschloss den ausgetrunkenen Kefir, um die Flasche anschließend in Türnähe zu deponieren. Den Rest sollte die Putzfrau erledigen, ebenso wie das Reinigen der Hauslatschen. Er legte seinen Hausmantel ab, schlüpfte in seine Laufkleidung, die er stets griffbereit hielt, und schob sich als kleine Stärkung eine Handvoll Nüsse und ein paar kandierte Ingwerwürfel in den Mund. Die Morgendämmerung hatte noch immer nicht eingesetzt, aber das machte nichts. Leichtfüßig und mit routiniertem Bewegungsablauf begann Ulf Reitmeyer seinen Lauf. Die frostig schmeckende Luft drückte wie nadelbesetzte Kissen in seine Lungenflügel, so lange, bis das Gewebe sich an die Witterung gewöhnt hatte. Wie Eiszapfen strich der Sog durch Nasenflügel und Stirnhöhlen, doch all das war längst kein Grund, einen Mundschutz zu tragen. Reitmeyer schätzte das Puristische, er stand in bestem Training und bog grimmig lächelnd an einer Wegkreuzung in einen nicht asphaltierten Feldweg ein, der hinüber zur Nidda führte. Sofort passte sein Bewegungsapparat sich an den unebenen Untergrund an. Er kannte die Strecke in- und auswendig. Im Gegensatz zu anderen Läufern, die sich nachmittags und abends in Gruppen zusammenrotteten oder jedes Mal eine andere Route wählten, suchte Reitmeyer die Einsamkeit des angebrochenen Tages, wenn alles still und friedlich dalag. Er trug nichts bei sich, kein Handy, kein MP3-Player, nichts, was ihn ablenken konnte. Nur er und die Natur, Zeit für Körper und Geist, in Einklang zu kommen. Und doch konnte er nicht so schnell laufen, dass er den Alltagsgedanken zu entfl iehen vermochte. Essentielles, spirituelles und philosophisches Denken musste sich hintenanstellen und materiellen Überlegungen weichen. Die Bilanzen waren hervorragend, wie sollte es in seiner Branche auch anders sein. Personell mussten einige unschöne Entscheidungen getroffen werden, aber auch das war ihm nichts Neues. Was ihn bedrückte, war etwas anderes. Schweiß lief ihm übers Gesicht, kullerte warm über die Wangen und tropfte, vom Hinabrinnen abgekühlt, vom bebenden Kinn in den Ausschnitt des Laufshirts. Der kurze Reiz löste ein sanftes Kribbeln an der betroffenen Stelle aus, Ulf beschleunigte weiter und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das schweißnasse Haar wippte im Takt seiner Schritte, und er stieß einen leisen Fluch aus. Verdammt! Nicht einmal beim Laufen gelang es ihm mehr, seine Sorgen abzuschütteln. Minuten später erreichte er den Niddaradweg, auch hier war keine Menschenseele unterwegs und nur ein einziges Auto war in der Ferne zu hören. Es näherte sich, dann entfernte es sich wieder, ohne dass Reitmeyer es ins Blickfeld bekam. Erneut Totenstille. Keine Vögel, keine Insekten, keine Kröten. Alles war erstarrt in dem ewig anmutenden Winterhalbjahr, dessen statistische Sonnenarmut längst Wochenthema der gelangweilten Medien geworden war. Globale Erwärmung? Die Kälte schaufelte Wasser auf die Mühlräder der Ungläubigen, für die es keinen Klimawandel gab. Äußerst kontraproduktiv. Dabei war es genau betrachtet ein völlig normaler Winter gewesen. Der fahle Schein einer Laterne warf einen kurzen Schatten unter ihn, als er den Lichtkegel unterquerte, dann verschwand er wieder. Knirschend rollten die Gelsohlen seiner Laufschuhe über den Bodenbelag, das Wasser der Nidda gluckste kaum hörbar in sanfter Bewegung, und alles in allem hätte es, trotz frostiger Kälte und trübem Morgenhimmel, ein idyllischer Märzsonntag werden können. Doch der Schatten, der sich über seinen Geist gelegt hatte, ließ sich nicht verjagen.
Etwas ist faul im Staate Dänemark.
Warum zum Teufel kam ihm dieses abgedroschene Hamlet- Zitat ständig in den Sinn? Gab es nichts Besseres? Das Wittern der Morgenluft, zum Beispiel, auf die er sich so krampfhaft zu konzentrieren versuchte. Doch etwas war faul und schien ihm nun über den Kopf zu wachsen. Es wucherte in seinem Inneren, wie endlos verzweigte Wurzeln eines kranken Geschwürs, und konnte nur von der Person geheilt werden, die für die Fäulnis verantwortlich war. Ihm selbst. Kälte überlief Ulf Reitmeyer, als er seine Schritte verlangsamte, und dann durchwogte ihn in jähem Kontrast zu seinem Frösteln ein heißer, innerer Schwall. Er zuckte zusammen, tänzelte, riss seine Rechte an die feucht glänzende Kehle und glaubte dort eine geschwollene Zunge zu schmecken, die sich wie ein Pfropf in seine Luftröhre zu schieben schien. Dann sackte er in sich zusammen, spürte das taunasse Ufergras unter sich, dann schwanden ihm die Sinne. Ein einsamer Star begann seinen schnalzenden Ruf, als würde ein Klagelied anstimmen. Ulf Reitmeyer war tot.
Sonntag
SONNTAG, 3.MÄRZ
Dann zieh ich eben aus, verdammt!« Das schrille Kreischen der hysterischen Mädchenstimme schmerzte in den Ohren. Dumpfes Poltern entfernte sich, sie war eine fersenlastige Läuferin, was wohl in der Familie lag, dann krachte die schwere Holztür. Draußen wurde das Stampfen nach und nach leiser. Als es schließlich verebbt war, verkündeten unmittelbar darauf verwaschene, wie durch zugehaltene Ohren klingende Bassschläge, dass Janine ihr Zimmer erreicht hatte und sich vermutlich für die nächsten Stunden dort verschanzen würde. Oder sie packte ihre Sporttasche, um sie ihm vor die Füße zu werfen. Doch diese Möglichkeit schätzte Ralph Angersbach als eher unwahrscheinlich ein. Solche Gesten zogen nicht bei ihm, das hatte seine sechzehnjährige Halbschwester gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft schmerzlich herausfinden müssen. Die Koexistenz der ungleichen Geschwister, deren Alter immerhin sechsundzwanzig Jahre auseinanderlag, hatte erst vor einigen Monaten begonnen. Im Herbst des vergangenen Jahres war Ralphs leibliche Mutter gestorben, eine Frau, die nie eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte, geschweige denn die einer Mutter. Sei es aus schlechtem Gewissen oder weil er der Erstgeborene war, jedenfalls hatte sie ihm dieses alte, ziemlich heruntergekommene Haus am Ortsrand von Okarben hinterlassen, in dem sie bis zu ihrem Ableben gewohnt hatte. Und in diesem Haus, als gänzlich unerwarteten Bonus, jenen pubertierenden Teenager, aus deren Höhle die unerträgliche Musik dröhnte. Seufzend wandte Ralph sich um und fuhr mit der Hand über die Arbeitsplatte der Einbauküche. Er machte sich keine Illusionen darüber, wer den längst überfälligen Abwasch übernehmen würde, der sich dank einer defekten Spülmaschine längst über die Grenze des Waschbeckens hinaus stapelte. In seiner anderen Hand hielt er die letzte saubere Tasse, der Kaffee darin war nur noch lauwarm, und Ralph kippte ihn kurzerhand in Richtung Ausguss. Gluckernd suchte die schwarze Flüssigkeit sich ihren Weg über Teller, Frühstücksbrettchen und Untertassen, und ein unwillkürliches Schmunzeln durchzuckte seine Mundwinkel. Fast wie ein Schokoladenbrunnen, dachte er, oder die Wasserspiele in den hängenden Gärten der Semiramis. Er tauschte das noch lauwarme, tropfende Kaffeepad gegen ein frisches und drückte nach geduldigen Sekunden des Wartens den Knopf, der die giraffenhalsige Maschine in ein tiefes Brummen versetzte. Apropos Garten. Ralph beugte sich ein wenig nach vorn. Die Küche befand sich im ersten Stock des Hauses, sein Blick wanderte über die drei Meter unter ihm liegende Rasenfläche, welche der Vegetation nach eher der Tundra ähnelte. Eine Amsel hüpfte frohlockend aus dem taufeuchten Gras, schüttelte sich, und setzte ihren Weg auf den moosgrünen Steinplatten der Terrasse fort. Die Märzsonne stand tief, es war statistisch betrachtet viel zu kalt draußen, aber man konnte ja froh sein, wenn sie sich überhaupt einmal zeigte.
»Irgendwo musst du anfangen«, murmelte der Kommissar zu sich selbst, als er die Tasse zu seinen Lippen führte und ihm der bittere, aromatische Röstduft in die Nase stieg. Er verspürte keinen Elan, sich durch den Urwald da draußen zu quälen, denn immerhin schien sich dort seit Jahren niemand mehr engagiert zu haben. Dann die Spülmaschine. Wenigstens ausbauen konnte er sie ja schon mal, dafür brauchte es weiß Gott keinen Kundendienstmonteur. Ein funktionstüchtiger Geschirrspüler würde wenigstens einen der Konfliktpunkte zwischen Ralph und Janine entschärfen. Bleiben noch neunundneunzig andere, schloss Ralph sarkastisch. Aber eins nach dem anderen. Er knöpfte sein Hemd auf und hängte es über den Stuhl, kniete sich vor den Patienten und klopfte mit den Fingerknöcheln die Abschlussleiste ab. Im Grunde wusste er nichts. Nichts über Hausinstallationen, nichts von seiner Halbschwester, nicht einmal von deren Existenz hatte er ja etwas gewusst. Gab es am Ende noch ein Dutzend weiterer Kinder seiner Mutter? Eine oberflächliche Recherche im Präsidium im vergangenen Herbst hatte nichts Konkretes ergeben, aber es war dem Kommissar auch zuwider, seine abenteuerliche Familiengeschichte mit ins Büro zu tragen. Wie hieß es so schön? Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Wie aufs Stichwort meldete sich das Handy. Passanten hatten am Ufer der Nidda eine männliche Leiche entdeckt. Der Tod kennt keine freien Wochenenden, dachte Ralph, als er sich ächzend wieder aufrichtete. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Porzellanhumpen und schob ihn neben den Geschirrberg. »Da hast du gerade noch mal Glück gehabt«, brummte er grimmig in Richtung Spülmaschine.
Keuchend und schweißdurchnässt stand Sabine Kaufmann an einer niedrigen Betonmauer, die linke Ferse auf dem Rand aufliegend und das Bein gestreckt. Sie beugte den Oberkörper nach vorn, strebte mit den Händen in Richtung Zehenspitzen und ächzte leise, als jeder einzelne Muskel der rechten Wade ihr stechend zu verstehen gab, dass die maximale Dehnung nun erreicht war. Sie wechselte das Standbein und wiederholte die Übung. Angeblich sollte man sich weder vor noch nach dem Sport dehnen, hieß es in diversen Internetforen, aber es gab auch genügend Gegenstimmen, und sie trainierte seit Jahren nicht anders. Fünf Kilometer Laufen, drei Mal pro Woche Minimum, mit einer kurzen Pause nach der Hälfte der Strecke. Sabines heißer Atem kondensierte zu einer dichten Wolke, verrückt, denn es war immerhin schon März, und dennoch lag an der Uferböschung der Nidda teils dichter Raureif. Irgendwann wollte sie das Pensum auf zehn Kilometer erhöhen, doch bis dahin galt es unter anderem, die besten Wege für ihren Frühsport zu erkunden. Sabine blickte sich um. Die heutige Laufrunde hatte am Friedhof vorbei in Richtung der Felder geführt, die ausnahmslos gelb und braun dalagen. Selbst das Grün der Wiesen wirkte kraft- und farblos, der sonnenarme Winter forderte seinen Tribut. Im Zickzack- Kurs hinab in Richtung Niddaufer, über die Brücke beim Klärwerk und Sportfeld vorbei war sie gelaufen. Zufall oder nicht, sie befand sich in diesem Augenblick nur einen Steinwurf vom Riedweg entfernt, wo ihre neue Dienststelle lag. Tatsächlich kam Sabine der spontane Gedanke, ihre Runde für eine Kaffeepause zu unterbrechen, aber sie verwarf ihn sofort wieder. Erstens wusste sie nicht, wer Dienst hatte, auch wenn die Möglichkeiten ausgesprochen überschaubar waren.
Zweitens war ihr Frühsport heilig. Spute dich mal lieber, dann schmeckt das Frühstück doppelt lecker.
Ein Vibrieren an Sabines Oberarm, wo ihr Handy in einem Sportarmband steckte, unterbrach ihre Tagespläne jäh.
Knirschend rollte Ralph Angersbachs dunkelgrüner Lada Niva über den ausgestorbenen Parklatz. Im Hintergrund erkannte er das Logo des Radiosenders FFH, seitlich befanden sich die silbernen Türme der Abfüllanlage eines der Mineralbrunnen, die Bad Vilbel weit über seine Grenzen hinaus bekannt gemacht hatten. Nicht, dass der Kommissar sich sonderlich gut in der Dreißigtausend-Seelen-Stadt im südlichsten Zipfel der Wetterau auskannte, aber er wusste immerhin, dass auf dem Schotter unter ihm alljährlich ein großer Jahrmarkt abgehalten wurde. Doch heute lag der Platz brach, verwaist bis auf einige Lkw-Aufleger und zwei verlassene Autos, von denen eines bereits die leuchtend rote Notiz des Ordnungsamtes trug, dass der Wagen umgehend zu entfernen sei. Schwieriges Unterfangen, dachte Angersbach, denn dem alten Audi fehlten alle vier Reifen. Er steuerte auf die dichten Bäume und Büsche zu, die den Platz säumten. Ein Rettungswagen parkte dort, außerdem einige weitere Fahrzeuge, darunter ein Streifenwagen und der protzige VW Touareg des Notarztes. Zwischen den Blättern bewegte sich etwas, und im nächsten Augenblick erkannte Angersbach seine Kollegin in unerwarteter Montur. »Guten Morgen«, nickte er, und die leise Irritation seines Blicks blieb Sabine Kaufmann nicht verborgen. »Ebenso«, lächelte sie zurück. »Mich hat's beim Joggen erwischt. « Angersbach konnte nicht umhin, die sportliche Figur seiner zehn Jahre jüngeren Kollegin wahrzunehmen. Der schlanke, aber trainierte Körper, der einen ganzen Kopf kleiner war als er, steckte in schwarzen Laufleggins, drei Viertel lang, und einem entsprechenden Oberteil. Das blonde, etwas über schulterlange Haar wurde von einem Haargummi zusammengehalten, und um den Nacken lag ein weißes Handtuch, vermutlich eine Leihgabe der Rettungssanitäter. »Zum Glück nicht so wie unseren Toten«, griff Angersbach den letzten Satz seiner Kollegin auf und zuckte mit den Augenbrauen. »Dann führen Sie mich mal hin, bitte.« Der Arzt schien seinen schwarzen Lederkoffer entweder noch nicht ausgepackt zu haben oder er war mit seiner Untersuchung längst fertig. Angersbach glaubte, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben, konnte es aber nicht zuordnen. »Gehen Sie schon wieder?«, fragte er argwöhnisch und neigte dabei den Kopf, wie er es gern tat. »Ich habe meinen Part bereits erledigt«, war die unmittelbare Antwort des Arztes, dessen Statur ein wenig untersetzt war. Unter seiner Schutzhaube quoll dichtes schwarzes Haar hervor und ging in einen Vollbart über. Selbst auf den Handrücken, die er soeben schnalzend freilegte, indem er die Latexhandschuhe abzog, wucherte es schwarz. »Ich habe es schon Ihrer Kollegin gesagt, das war wohl falscher Alarm. Ich kümmere mich mal um den vorläufi gen Totenschein.« »Moment, Moment«, bremste Angersbach ihn aus. »Was schreiben Sie denn hinein?« »Todesart ungeklärt natürlich«, brummte der Arzt. »Aber ich bin mir dennoch ziemlich sicher, dass es sich um eine natürliche Todesursache handelt.«
»Weshalb?«
»Sport ist Mord, deshalb. Der Mann ist Ende fünfzig, verschwitzt von Kopf bis Fuß, als wäre er dem Leibhaftigen davongerannt, und das in einem viel zu dünnen Dress. Dünner noch als Ihre Kollegin hier.« Er deutete mit rügendem Stirnrunzeln auf Sabine Kaufmann. »Ich will ihn selbst in Augenschein nehmen«, entgegnete Angersbach, ohne auf die Bemerkung einzugehen. Die Nidda verlief in sanft geschwungenen Bögen und leckte an matt schimmernden Lehmbuchten. Der Wasserstand war vergleichsweise niedrig. Zwei Handbreit über der Wasseroberfläche erst begann der Bewuchs, einige Papierstreifen und vergilbte Plastikfetzen trübten das Bild. Ruhig und ohne Eile, beinahe lautlos, fl oss das farblose Wasser vorbei. Nicht ein einziges Tier war zu sehen oder zu hören. Auf der nahe gelegenen Straßenbrücke knatterte ein alter Porsche 911 vorbei, der Fahrer spielte offenbar genüsslich mit den unbändigen Kräften seines Boliden. Der Tote lag bäuchlings neben dem Radweg im kniehohen, taufeuchten Gras. Er trug ein helles Funktionsshirt, in dessen Taschen man die notwendigsten Gegenstände eng am Körper tragen konnte. Dazu eine Radlerhose, die über den Knien endete. Die größtenteils ergrauten Haare waren im Nacken kurz geschnitten, lagen darüber jedoch dicht und in klebrigen Strähnen. Der Körper wirkte nicht verkrampft, doch das hatte nichts zu bedeuten, wie Angersbach wusste. Selbst tödlich verwundete Soldaten lagen nicht in unnatürlicher Haltung in ihren Schützengräben, auch wenn das Fernsehen einen das immer wieder glauben machen wollte. Es sei denn, der Tod trat von einem Moment auf den anderen ein, aber solche kurzen Sterbeprozesse gab es statistisch betrachtet höchst selten. Nein, der Mann war ins Gras gefallen und nicht wieder aufgestanden. Warum, das sollte dieser Arzt herausfinden. »Wie lange liegt er Ihrer Meinung schon da?«, erkundigte Angersbach sich. »Maximal zwei Stunden, würde ich meinen«, gab der Mediziner mürrisch zurück. »Am Hals sind Totenflecken ausgebildet, die Extremitäten sind aber noch nicht ausgekühlt. Die Starre hat sich bislang nur in den Augenlidern entwickelt. Auf eine Entkleidung und vollständige Leichenschau habe ich vorerst verzichtet. Ich werde einen Teufel tun, der Spurensicherung ins Handwerk zu pfuschen. Außerdem ist mir kalt, und ich habe Rufbereitschaft. Soll sich ein anderer darum kümmern. Und ich wiederhole es gerne noch mal, es ist vergebene Liebesmüh. Dieses Gerede von einem Schuss ist Blödsinn.« »Welcher Schuss?« Ralph Angersbach wechselte einen schnellen Blick mit Sabine Kaufmann. Wusste sie etwas, was ihm entgangen war? Diese zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nichts Konkretes, sorry, angeblich will jemand einen Schuss gehört haben. Aber Dr. Körber fand keinerlei Hinweise auf eine Eintrittswunde. « »Sie kennen sich also?«, fragte Angersbach leicht gereizt. Er hasste nichts mehr, als an einem Tatort die zweite Geige spielen zu müssen. Oder Fundort, wie auch immer. »Flüchtig«, bestätigte die Kommissarin. »Irgendwann kennt man eine Menge Mediziner, wenn man in einer so verbrechensstarken Stadt wie Frankfurt arbeitet.« »Hm. Also noch einmal zu diesem Schuss. Wer hat das gemeldet? « »Sehen Sie die Frau dort bei den Beamten?«, fragte Sabine mit gedämpfter Stimme und deutete stadtwärts in Richtung einer Baumgruppe, wo eine bieder gekleidete Frau Mitte dreißig stand, an der Leine einen schwarzweißen Border Collie, der unruhig hin und her trappelte. Sie sah in ihre Richtung und traf Angersbachs Blick. Er nickte ihr zu. »Sie hat den Toten gefunden und gemeldet«, fuhr Sabine fort. »Übergeben wir den Fundort der Spurensicherung? Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.« »Übernehmen Sie das?« Ralphs Frage klang weniger wie eine Bitte als wie eine Aufforderung, das wurde er erst gewahr, als seine neue Kollegin sich wortlos abwandte und in Richtung der Uniformierten lief. Mist. Wie lange kannte er Sabine Kaufmann nun? Ganze fünf Tage. Sie hatte ihre Stelle schon zum ersten Januar angetreten, er hingegen stieß erst zum ersten März dazu. Bis dahin hatte ihn das Präsidium in Gießen gebunden, in dem Ralph Angersbach den größten Teil seines Berufslebens verbracht hatte. Dass er einmal hierher wechseln würde, hätte er noch vor einem halben Jahr mit einem müden Lächeln abgetan. Friedberg, ja, eine adäquate Mittellösung auf halbem Weg zwischen Gießen und Frankfurt. Dort gab es eine echte Mordkommission, keinen spärlichen Außenposten, aber das Leben beschritt zuweilen eben eigenartige Wege. Obgleich er keinen rechten Elan verspürte, würde er sich nach Kräften darauf konzentrieren, dass die Kommunikation zwischen ihm und seiner Großstadtkollegin funktionierte. Irgendwie.
»Chucky hat total verrückt angeschlagen, ich dachte schon, er hätte einen Biber ausgemacht.« Regina Ruppert hatte etwa Sabines Größe, eins fünfundsechzig, und war dem Ausweis nach fünfunddreißig Jahre alt. Sie sah älter aus, was daran liegen mochte, dass ihr der Schreck noch in den Knochen saß. Dunkelblonde Locken lugten unter ihrer Fleece-Mütze hervor, sie drehte nervös in den Haaren. Sabine nickte verständnisvoll und entschied, die Fragen so knapp wie möglich zu halten. Außerdem wurde ihr allmählich kalt. Sie bereute es mittlerweile, dass sie vom Riedweg direkt hierher gesprintet war. »Sie waren also auf Gassirunde?«, fuhr Sabine fort. »Ja, auf dem Rückweg. Ich wollte eigentlich abbiegen und über die Brücke gehen«, sie deutete in Richtung der klobigen Betonüberführung, »aber, na ja.« »Haben Sie den Toten in irgendeiner Weise berührt? Oder Ihr Hund?« »Um Himmels willen!« Die Frau schüttelte angewidert den Kopf. Dann überlegte sie einige Sekunden und fuhr fort: »Chucky hat ihn mit der Nase angestupst. Als er sich nicht bewegt hat, habe ich ihn angesprochen, dann zog ich sofort das Handy heraus und habe den Notruf gewählt.« »Konnten Sie andere Lebenszeichen erkennen?« »Sie meinen Atem oder Puls?« Regina wand sich, schien unangenehm berührt. Sabine nickte auffordernd. »Nun, ich habe ihm die Hand vor den Mund gehalten«, begann ihr Gegenüber, und ihre Blicke wanderten ausweichend hin und her. »Aber er atmete nicht. Keine Bewegung, das hab ich doch schon gesagt.« »Okay, in Ordnung.« Sabine lächelte matt. »Sie haben richtig gehandelt. Nicht jeder hätte die Überwindung aufgebracht, sich dem Körper zu nähern. Aber kommen wir noch einmal auf den Schuss zu sprechen, den Sie gehört haben.« »Glauben Sie mir etwa nicht?« Regina Ruppert verschränkte die Arme und funkelte Sabine herausfordernd an.
»Wieso fragen Sie?« »Ich lebe doch nicht hinterm Mond. Mir ist nicht entgangen, dass es keine Schussverletzungen gibt.« »Keine sichtbaren zumindest«, korrigierte Sabine. »Also glauben Sie mir?« »Schildern Sie mir den zeitlichen Ablauf bitte so präzise wie möglich.« »Gut, in Ordnung.« Regina lächelte matt. Sie zeigte wieder in Richtung der Niddabrücke, in deren Betonsockel sich ein düsterer Durchgangstunnel für den Niddaradweg befand. »Ich war mit Chucky auf dem Rückweg. Wir laufen je nach Witterung manchmal bis nach Dortelweil oder Gronau, aber heute war schon beim Römerbrunnen Schluss. In der Unterführung fiel dann dieser Schuss. Ich glaube, der Arme ist einen halben Meter hoch gehüpft vor Schreck. Ein einziger Knall, nichts weiter, danach war wieder Stille. Zumindest so lange, bis Chucky zu jaulen begann und wie ein Wilder losrannte. Er reagierte nicht auf mein Rufen, und mir schlug das Herz bis hier.« Sie legte sich die Hand unters Kinn. »Aber ich musste ihm ja hinterher, obwohl ich lieber die Böschung rauf und bis nach Hause gerannt wäre. Keine Menschenseele weit und breit.« Sie fröstelte, rieb sich die Oberarme, dann wurde ihr Blick leer. »Das nächste Bild, an das ich mich erinnere, ist Chuckys Nase in Reitmeyers Gesicht.« Die Kommissarin zuckte zusammen. »Reitmeyer?«, wiederholte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Sie kennen den Toten?« Doch Regina Ruppert gab ihr keine Gelegenheit zum Grübeln. »Ulf Reitmeyer, den kennt hier doch jeder«, sagte sie schnell, wie beiläufig. »Der Bio-Mogul.«
Ralph Angersbach schaltete einen Gang zurück, als sie den Kreisel verließen und die Steigung der Frankfurter Straße in Richtung Heilsberg nahmen. »Reitmeyer? Sagt mir nichts.« »Ich kenne ihn auch nur vom Namen her«, erwiderte Sabine Kaufmann und blickte nachdenklich aus dem von Handabdrücken übersäten Seitenfenster. Sie hatte Angersbach gefragt, ob er sie kurz zu Hause absetzen würde, denn mittlerweile war sie vollkommen durchfroren. Eine heiße Dusche, frische Kleidung und ein hastiges Brötchen unterwegs; all das war für sie nichts Neues. Und doch war alles irgendwie anders. Angersbach schenkte ihr einen fragenden Blick, dann musste er sich wieder auf die Straße konzentrieren. Wo waren wir eben?
»Reitmeyer hat vor vielen Jahren einen Bioladen in Bergen- Enkheim aufgemacht«, nahm Sabine den Faden wieder auf. »Nach und nach wuchs daraus ein gigantisches Unternehmen, soviel weiß ich. Die Kunden schwören auf seine Produkte, denn er befriedigt die Nachfrage ökologisch und ökonomisch. So zumindest stellt er sich selbst gerne dar.« »Stellte sich dar«, brummte Angersbach nachdenklich, und Sabine nickte mit einem schmalen, freudlosen Lächeln. Der Kommissar musste unwillkürlich schmunzeln. »Sie kennen sich ziemlich gut aus hier in der Ecke, wie?« Diesmal klang seine Stimme weniger wie ein Oberlehrer, sondern beinahe schon anerkennend. »Bin hier aufgewachsen«, bestätigte Sabine. Sie näherten sich einem weiteren Kreisel, und sie deutete nach rechts vorne. »Die erste Ausfahrt müssen wir raus.« Wenige Minuten später parkte der Geländewagen, dem Sabine weder optisch noch technisch etwas abgewinnen konnte, vor dem Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnte. Ihr Rücken schmerzte, die Federung der Sitze war ein Witz, und die stumpf verkratzte Holzperlenauflage konnte das auch nicht zum Besseren wenden. »Soll ich warten?« »Danke, ich komme selbst runtergefahren«, lehnte Sabine ab, angestrengt darauf bedacht, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie eine weitere Fahrt in diesem Vehikel um jeden Preis vermeiden wollte. »Wie Sie meinen. Dann kümmere ich mich so lange um die notwendigen Telefonate. Bitte lassen Sie sich nicht zu viel Zeit. Die Angehörigen sollen Reitmeyers Tod nicht erst aus den Nachrichten erfahren.« »Halbe Stunde?« »Die Zeit läuft«, grinste Angersbach und trat aufs Gas. Der dünne Auspuff vibrierte und spie eine dunkle Abgaswolke aus, dann wendete das Unikum in einem engen Halbkreis und knatterte davon. Komischer Kauz, dachte Sabine im Hineineilen. Sie nahm zwei Treppenstufen auf einmal und hatte, kaum dass sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, auch schon ihr Laufshirt über den Kopf gezogen. Sekunden später flogen der schwarze Sport-BH und das Handtuch in den Wäschekorb, und sie drehte den Regler der Dusche auf. Gierig sog ihr unterkühlter Körper die dampfende Wärme des auf sie hinabprasselnden Wassers auf, und am liebsten wäre sie den Rest dieses winterlichen Märzsonntags genau hier verblieben. Die Pfl icht ruft, mahnte sie sich jedoch. Sabine würde einen Teufel tun, ihrem doch recht gewöhnungsbedürftigen Kollegen den Triumph zu bescheren, sich zu verspäten.
Die Polizeistation von Bad Vilbel lag in einer Nebenstraße, nahezu verdeckt von dem Gebäude der lokalen Feuerwehr, dessen Schlauchturm sich martialisch in den Himmel reckte. Weiß getüncht, mit türkisen Fenstern und einem halben Dutzend Gauben, wie man sie in den Neunzigerjahren nur allzu gern in Neubauten untergebracht hatte, wirkte das zweigeschossige Haus auf den ersten Blick wie eine Arztpraxis. Der Eingangsbereich lag unter einem Vorbau, den eine schlanke Rundsäule trug, zur Straße hin gab es einige wenige Parkplätze, und niedrige Bodendecker füllten die Zwischenräume des Grundstücks. Rechts führte eine Einfahrt in den Hof hinter dem Gebäude, doch hierhin war Sabine bislang nie abgebogen, da in der Regel draußen kaum Fahrzeuge parkten. Schwungvoll lenkte Sabine ihren brandneuen Renault Twizy, den sie am vergangenen Donnerstag nach wochenlangem Warten endlich in Empfang hatte nehmen dürfen, auf den Parkplatz. Es handelte sich um ein modernes Elektroauto mit zwei hintereinander angeordneten Sitzen. Flügeltüren und Fenster gab es als Nachrüstpakete und waren bei den vorherrschenden Außentemperaturen sicher keine Fehlinvestition gewesen, wenn auch eine teure. Der Akku hielt mindestens hundert Kilometer, und glaubte man diversen Internetforen, konnte man ihn sogar fast doppelt so lang ausreizen. Für Sabines Zwecke das ideale Fahrzeug, denn weiter als in Richtung Vogelsberg führte sie ihr Radius derzeit ohnehin nicht. Und mehr als zwei Personen beförderte sie auch nie, in der Regel war es nur sie selbst. Bevor sich ein Schatten über ihre Miene legen konnte, stieg die Kommissarin hurtig aus. Sie schloss den Wagen ab, vergewisserte sich, dass ihre eilig aus dem Schrank gegriffene Kleidung korrekt saß, und ging rasch zum Eingangsportal. Dreiundzwanzig Minuten, nicht übel, dachte sie und betrat das Gebäude. Ralph Angersbach war im Grunde genommen ein ihr gleichgestellter Kollege. Beide waren Polizeioberkommissare, wobei es Sabine ein Rätsel war, wieso Angersbach es nicht längst zum Hauptkommissar gebracht hatte. Als Außenposten der regionalen Kriminalinspektion unterstanden sie der Führung des K10 in Friedberg und damit Kriminaloberrat Horst Schulte. Trotz heiligem Sonntag, wie Sabine von einem geschäftig umhereilenden Uniformierten aufschnappte, hatte dieser seinen Weg nach Bad Vilbel gefunden. »Es ist eine mittelprächtige Katastrophe«, eröffnete Schulte die Besprechung, nachdem alle Platz genommen hatten. Seine dunklen, buschigen Augenbrauen erinnerten an einen Habicht, und die spitze, leicht gekrümmte Nase tat ein Übriges. Der füllige, breitschultrige Körper des etwa Fünfzigjährigen verbarg sich hinter einem halbrunden Stehpult, das gewöhnlich für Pressekonferenzen herhalten musste. »Ein zumindest regional prominenter Toter«, fuhr Schulte mit tiefem Schnarren fort, »eine Zeugin, die einen Schuss vernommen haben will, aber keine Hinweise auf eine entsprechende Verletzung beim Opfer. Die Presse wird verrückt spielen. Was wissen wir bislang über den Tathergang?« Mirco Weitzel, einer der Uniformierten, die bei Regina Ruppert gestanden hatten, fasste die dürftigen Erkenntnisse noch einmal zusammen. »Reitmeyer joggte stadtauswärts in Richtung Dortelweil«, begann er, wurde jedoch sofort von Angersbach unterbrochen. »Sein Kopf lag aber doch in Richtung Bad Vilbel. Worauf begründen Sie Ihre Behauptung?«
Weitzel schmunzelte. Er war achtundzwanzig Jahre alt, athletisch gebaut und trug sein kurzes, braunes Haar stets korrekt gestylt. Unter den Kollegen munkelte man, er verwende tagtäglich große Mengen an Sekundenkleber dafür, denn auch nach dem Tragen der Dienstmütze wirkte seine Frisur in der Regel wie frisch gerichtet. Angeblich hatte man ihn sogar schon mit einem kleinen Spiegel erwischt, den er in seiner Brusttasche tragen sollte, doch für Sabine waren das die üblichen bösen Unterstellungen neidischer Kollegen, die weniger attraktiv waren. Ein Schönling allerdings, das musste sie zugeben, schien der junge Mann schon zu sein. »Hundekot an seinen Sohlen«, sagte dieser triumphierend. »Hundekot?« Die Aufmerksamkeit aller war ihm nun gewiss. »Ja, an seinen Laufschuhen. Die Spusi hat ein paar Meter südlich einen zertretenen Hundehaufen gefunden, und in seinem Schuhprofil waren entsprechende Rückstände. Das bedeutet, er war stadtauswärts unterwegs.« Sabine beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Angersbach diese Information aufnahm. Er schien einerseits beeindruckt zu sein, der Erkenntnis an sich jedoch keine allzu große Bedeutung beizumessen. »Ob hin oder zurück ist letztlich nebensächlich«, kommentierte er, »es sei denn, er lief diese Strecke nach einem festen Muster, und jemand hat ihm aufgelauert. Ohne Eintrittswunde scheidet ein Heckenschütze aber aus, oder sieht das jemand anders?« »Darum geht es mir ja«, schaltete Schulte sich wieder ein. »Was wissen wir von ihm? Feinde, Gewohnheiten, Motiv, Gelegenheit«, er wedelte ungeduldig mit der Hand. »Oder sein Gesundheitszustand. War er herzkrank, nahm er Medikamente, hatte er Asthma? Zugegeben, Reitmeyer war besser in Form als ich und noch lange nicht in einem Alter, wo man einfach umkippt. Oder führen wir es einmal ad absurdum: Hat möglicherweise jemand auf ihn geschossen, und der Schuss verfehlte ihn, hat ihn aber zu Tode erschreckt?« »Dazu bräuchte es keinen Heckenschützen«, brummte Angersbach und erinnerte sich an den alten Porsche, der über die Brücke geknattert war. »Ein Knallkörper oder eine Fehlzündung täten es auch.« »Wie auch immer. Ich stelle keine Theorien auf, die nicht auch in der Bildzeitung produziert werden könnten. Aber fahren Sie bitte fort.« Schulte nickte in Mirco Weitzels Richtung. »Keine äußeren Verletzungen nach Inaugenscheinnahme durch den Notarzt. Die Todesursache bleibt zunächst unklar, Dr. Körber und das Opfer waren nicht miteinander bekannt. Ohne Kenntnis der Krankengeschichte ...« »Klar so weit«, unterbrach Schulte den Beamten. »Wir beantragen eine Obduktion. Wir können es uns nicht leisten, nach Reitmeyers Hausarzt zu fischen, jede Stunde ist kostbar. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald Sie sich in der Rechtsmedizin einfi nden können.« Sabine nickte. In ihrem Kopf formten sich vertraute Bilder des rechtsmedizinischen Instituts in Sachsenhausen, außerdem Gesichter einiger alter Bekannter. Insgeheim freute sie sich darauf, wenngleich die Umstände weniger erfreulich waren, dem Team dort einen Besuch abzustatten. Doch dann fi el ihr siedend heiß ein, dass ja nun ein anderes Institut zuständig war. Mist. Sie schluckte. »Friedberg oder Gießen?«, raunte sie, für die anderen nicht hörbar, in Richtung ihres neuen Kollegen. »Was?«, entgegnete er, weitaus weniger diskret, und die Kommissarin bereute, überhaupt gefragt zu haben.
»Schon gut«, wehrte sie hastig ab. »Ist es zeitlich angemessen, die Pressekonferenz zwischen zwölf und ein Uhr anzusetzen?«, fragte Schulte in die Runde. »Bis dahin sollten die Hinterbliebenen aufgesucht sein. Ich möchte das möglichst eng terminieren, um Spekulationen zu vermeiden.« »Kommt drauf an. Wen gibt es denn da?«, erkundigte sich Sabine. »Reitmeyer ist verwitwet und hat zwei erwachsene Kinder«, kam es von Weitzel. »Der Sohn, er stammt aus einer frühen Liaison, und über dessen Mutter liegt nichts vor. Französin, seit zwanzig Jahren nicht mehr in Deutschland gemeldet. Sieht nicht nach einer heißen Spur aus. Die Tochter hingegen ist greifbar. Sie lebt auf dem Hof der Familie, in der Nähe von Rendel.« »Wo?«, wandte sich Angersbach mit gebeugtem Kopf und in Falten gelegter Stirn an Sabine. »Liegt hier um die Ecke«, antwortete diese und senkte ihre Stimme dabei ebenfalls kaum. Ein kokettes Grinsen huschte über ihr Gesicht, erleichtert, dass nun wieder ein Patt zwischen ihnen herrschte. Doch der nächste Konflikt sollte nicht lange auf sich warten lassen. Die beiden verließen das Gebäude, und mit einem vielsagenden Lächeln nickte Sabine in Richtung ihres Elektroautos. »Da soll ich einsteigen?« Ralph Angersbach tippte sich mit aufgesetzter Empörung an die Stirn, als er das in seinen Augen höchst ulkige Fahrzeug erblickte. »Wieso nicht?«, entgegnete Sabine frostig. »Es bietet genug Platz für uns beide, wollen wir wetten?« »Wenn wir Ölsardinen wären, vielleicht. Ist Ihnen entgangen, dass ich ein ganzes Stück größer bin als Sie?«
»Reden wir von Ihrer Länge oder von Ihrem Ego? Ich jedenfalls produziere keinen Feinstaub mehr und habe kaum Einschränkungen beim Komfort. Letzterer ist bei Ihrer Kiste ja so gut wie nicht vorhanden.« »Ich brauche keinen Komfort, ich bin schließlich kein verwöhntes Stadtkind«, konterte Ralph. »Na, prima.« Sabine grinste, noch bevor ihr Kollege realisierte, dass er sich ins Abseits argumentiert hatte. »Dann können Sie ja jetzt einsteigen.«
Das Hofgut der Familie Reitmeyer lag außerhalb Rendels und gehörte, auf der nördlichen Seite der B521 gelegen, zum Stadtgebiet Karbens und damit noch zum Wetteraukreis. Ein Hauptgebäude und einige Nebengebäude, größtenteils renoviert und mit verschlossenen Toren, umringten einen gepflasterten Innenhof, in dessen Mitte sich ein aus Bruchsteinen gemauerter Brunnen befand. Mit ein wenig Anstrengung entnahm die Kommissarin einem im Mauerwerk eingesetzten Sandstein die dort eingemeißelte Zahl 1789, das Jahr der Französischen Revolution, wie Sabine auch ohne profunde Geschichtskenntnisse wusste. »Hier lebt sich's nicht schlecht«, kommentierte Ralph Angersbach, die Hände lässig in den Taschen seiner Jeans verborgen. »Fehlen nur noch Polo-Reiter und zwei Bentleys im Schuppen.« »So einer war Reitmeyer angeblich nicht«, erwiderte Sabine. Sie blickte in die Ferne, wo auf einer Hügelkuppe einige Windräder standen. Die Flügel drehten sich nur äußerst gemächlich, eine Anlage stand still. »Sehen Sie dort oben? Dort verläuft die Hohe Straße, ein alter Handelsweg aus dem Mittelalter. Heutzutage ein stinknormaler Feldweg, aber vor ein paar Jahren entdeckte man den Höhenzug als geeignete Stelle für Windkraftanlagen.« »Hässliche Teile.« Angersbach beäugte die schätzungsweise drei Kilometer entfernten weißen Spargel. Er zählte sieben Stück, außerdem zwei Pfeiler auf halber Höhe, an denen sich Baukräne nach oben reckten. »Mag sein. Aber wenn man dort oben steht, ist das Panorama aufs alte Kraftwerk auch nicht besser. Und Strommasten sind genauso unästhetisch, und ohne geht's nun mal nicht.« Angersbach zuckte die Schultern und beäugte wieder das Haupthaus. Während sie darauf zugingen, fuhr Sabine fort: »Drei der Anlagen stehen auf Reitmeyer-Äckern. Er ist kein dekadenter Materialist gewesen, darauf wollte ich vorhin hinaus, aber er wusste durchaus, in welchen ökologischen Sparten der Profi t liegt. Vom Körnerladen zum Biohof-Unternehmer entwickelt man sich nicht einfach so.« »Und nicht ohne Feinde«, murmelte Angersbach und nickte. Dann erreichten sie die flachen Stufen, die zur Haustür hinaufführten. Claudia Reitmeyer traf die Nachricht vom Ableben ihres Vaters mit aller Härte. Kreidebleich drohte sie, in sich zusammenzusacken, und es war nur Ralph Angersbachs Reflexen zu verdanken, dass er sie rechtzeitig auffing und in Richtung Wohnzimmercouch bugsierte. »Tot?«, hauchte die junge Frau, Sabine schätzte sie auf Anfang zwanzig, mit entkräfteter Stimme und noch immer ungläubig. »Wann, ähm, ich meine wo?«, stammelte sie, dann: »Und wie?« »Wir wissen leider noch keine Details über die Todesursache «, setzte die Kommissarin an, »denn es gibt keine sichtbaren Verletzungen. Ist Ihr Vater regelmäßig entlang der Nidda gejoggt?« »Fast jeden zweiten Tag«, bestätigte Claudia. »Hatte er ein Herzleiden oder andere gesundheitliche Dispositionen? « »Nein, Herrgott. Er war kerngesund.« Die Kommissarin spürte intuitiv, dass ihr Gegenüber sich allmählich erholte. Der Wechsel von schockierter Trauer zu zynischer Ablehnung - ein beinahe klassisches Verhalten gegenüber dem Überbringer von Todesnachrichten. Doch all die Routine, falls man überhaupt von einer solchen sprechen durfte, machte das Aushalten solcher Momente nicht einfacher. Sabine Kaufmann atmete durch die Nase ein, gab der jungen Frau einige Sekunden, dann fuhr sie fort: »Hatte Ihr Vater Neider oder Feinde?« »Neider?« Claudia Reitmeyer lachte spöttisch und wies mit dem Daumen hinter sich, wo ein Panoramafenster den Blick auf eine weitläufige Grünfläche preisgab, dahinter zwei Streifen Ackerland, durchschnitten von der Bundesstraße, und in einiger Ferne die Häuser der kleinen Gemeinde. »Suchen Sie sich einen aus.« »Ihr Vater hatte also Feinde?«, wiederholte Ralph Angersbach. »Wie Sie es nennen, ist mir egal«, erwiderte Claudia kühl und schniefte kurz. »Warum fragen Sie diese ganzen Dinge eigentlich? Denken Sie, er wurde ermordet?« »Halten Sie das denn für möglich?«, fragte Angersbach prompt zurück, und Claudia zuckte erschrocken zusammen. »Ich weiß nicht«, murmelte sie dann. »Frau Reitmeyer, wir machen Ihnen nichts vor«, schaltete Sabine sich wieder ein und versuchte, dabei fürsorglich zu klingen. Wenn Angersbach es schroff und direkt mochte, würde sie gerne den empathischen Gegenpart übernehmen. Kein Problem. »Momentan sieht es so aus, als sei Ihr Vater einem Herzanfall erlegen oder etwas in dieser Art. Hinweise auf einen gewaltsamen Tod haben wir auf den ersten Blick nicht gefunden.« »Aber er hatte doch nichts«, wimmerte Claudia mit hilfesuchender Miene. »Vor ein paar Jahren ist er noch beim Frankfurt-Marathon mitgelaufen.« »Eine Obduktion wird uns Klarheit verschaffen«, sagte Angersbach, und sofort fügte Sabine hinzu: »Bis dahin müssen wir in jede Richtung ermitteln. Daher auch unsere Frage nach Feinden. Gibt es jemanden, den Sie konkret benennen könnten? « Claudia sah zu Boden und schüttelte nach einigen Sekunden den Kopf. Ein leises »Nein« war zu vernehmen, wirkte auf Sabine jedoch mehr wie ein Ausweichen. »Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?«, fragte sie weiter. »Gestern«, murmelte Claudia, dann schnellte ihr Kopf wieder nach oben, und ihre Augen erhellten sich. »Nein, heute!«, rief sie. »Das heißt, ich habe ihn gehört, aber nicht gesehen. Er läuft sonntags meist zu nachtschlafender Zeit los.« »Und Sie?« »Ich lag noch im Bett.« Bevor Sabine ihre nächste Frage, ob das jemand bezeugen könne, ausformulieren konnte, kam bereits von ihrem Kollegen die obligatorische Kurzform. »Allein?« »Wie?« Irritiert schüttelte Claudia Reitmeyer den Kopf. »Was geht Sie das an?«
»Es geht um Ihr Alibi, bedaure«, erläuterte die Kommissarin, »aber ich muss Sie bitten, die Frage zu beantworten. Gibt es jemanden, der das bezeugen kann?« »Gilt eine Katze als Zeuge?«, erwiderte die junge Frau und rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Wer außer Ihnen lebt noch auf dem Hof?«, wollte Angersbach wissen und schlug lässig das Bein übers Knie, während sein langer Oberkörper sich tief in das Polster der Couch drückte. Das offene Wohnzimmer, welches ohne Türen in den Flur und seitlich in einen Küchenbereich überging, war angefüllt mit hölzernen Bauernmöbeln, teils unbehandelt, teils in bunten Farben und mit Blümchenmotiven bepinselt. Strohschmuck und getrocknete Sträuße obenauf; ein Hauch von Allgäu, nur dass keine Kruzifixe und andere Devotionalien an den Wänden hingen. Die hohe Decke zeigte offenes Gebälk, in die herabhängenden Lampen waren cremeweiße Energiesparbirnen eingedreht, die Holzfenster schienen neu zu sein. Alles in allem steckte in dem Anwesen eine beachtliche Detailverliebtheit - und jede Menge Geld. »Leben im Sinne von Wohnen? Nur mein Vater und ich«, beantwortete Claudia Reitmeyer die Frage, dann drehte sie den Kopf zur Seite und rollte mit den Augen. »Aber ein und aus gehen hier regelmäßig Dutzende Personen.« Sabine folgte ihrem Blick, er wies in Richtung einer zugezogenen Schiebetür aus Milchglas, hinter der sich schemenhafte Konturen abzeichneten. »Das Büro?«, folgerte sie, als sich ihr Blick mit dem der Tochter traf, und Claudia nickte. »Hier geht es an sechs Tagen in der Woche zu wie in einem Taubenschlag.« Sie schluckte schwer und kniff die Augenwinkel zusammen, um eine Träne zu unterdrücken. »Was soll nun bloß werden?«, hauchte sie und verbarg das Gesicht hinter den Händen. »Sollen wir später noch einmal wiederkommen?«, fragte die Kommissarin, nach vorn gebeugt, und kam damit dem Bestreben ihres Kollegen zuvor, selbst eine Frage zu stellen. Sie warf ihm einen raschen Blick zu, Angersbach runzelte die Stirn, gab ihr dann aber mit einem Nicken seine Zustimmung zu verstehen. »Müssen Sie das denn?«, fragte Reitmeyers Tochter. »Ich fürchte, ja. Wir müssen den Tagesablauf Ihres Vaters so gut es geht rekonstruieren, außerdem brauchen wir eine Liste der Personen, mit denen er zuletzt Kontakt hatte.« »Kann ich Ihnen das nicht auch zumailen?« »Nein«, erwiderte Angersbach knapp, aber bestimmt, was Claudia zu einem irritierten Blick veranlasste. »Wir benötigen zu den Namen auch einige Informationen«, erklärte er daher. »Also gehen Sie doch von Mord aus«, schlussfolgerte die junge Frau. »Wir prüfen alle Möglichkeiten«, schaltete sich Sabine wieder ein, der nicht entgangen war, dass Claudia Reitmeyer mit Angersbachs Gesprächstechnik offenbar ein Problem hatte. »Wenn es der Sache dient, so schnell wie möglich Gewissheit zu erlangen, ist das doch in unser aller Interesse, oder?« Oha, dachte sie sofort, das war suggestiv. Nicht gut. Doch ihr Gegenüber nickte zögerlich. »Können wir eine Viertelstunde Pause machen?«, fragte sie dann. »Sie können sich gerne einen Tee oder Kaffee kochen, ich brauche frische Luft. Danach gebe ich Ihnen die Liste.«
Ralph Angersbach lehnte an einer senkrecht in den Boden getriebenen Eisenbahnschwelle, die nun als Pfosten eines Weidezauns ihren Dienst verrichtete. Recycling en détail, dachte er amüsiert, wobei diese Zweckentfremdung der harten, schweren Hölzer beileibe nicht unüblich war. Auch ohne Hintergedanken. Die Grasfläche war zu weiten Teilen von einer gelblichen Tönung durchwachsen. Tautropfen wiegten sich an den Spitzen der längeren Gräser in der kühlen Brise, die eingesetzt hatte. Er schätzte die Außentemperatur auf fünf Grad, viel zu kalt, selbst für ihn, der sich für einigermaßen abgehärtet hielt. »Sie reden nicht gerne um den heißen Brei herum, wie?« Der angenehme Mezzosopran in Sabine Kaufmanns Stimme war eine willkommene Abwechslung zu dem schrillen Gekreische, in dem Janine sich derzeit hauptsächlich artikulierte. »Mag sein«, brummte er nachdenklich, noch immer mit Blick über die Weite der vor ihm liegenden Koppel. Ein Feldhase zeigte sich am anderen Ende, verschwand jedoch sofort wieder im angrenzenden Gestrüpp. Ralph wandte sich seiner neuen Kollegin zu, die nur einen Meter von ihm entfernt stand, so dass er seinen Blick senken musste. »Bisher hat das jedenfalls immer bestens funktioniert.« »Verstehe«, war Sabines knappe, unterkühlte Antwort. »Haben Sie ein Problem damit?« Mist. Jetzt hatte er sie tatsächlich in die Verteidigungsposition gedrängt. »An und für sich nicht«, begann sie mit Bedacht, »aber da drinnen sitzt eine junge Frau, die gerade ihren Vater verloren hat.« »Oder eine junge Abstauberin, die gerade ein Bio-Imperium geerbt hat«, widersprach Angersbach. »Oder sind Sie so ein Gutmensch, dass ein paar Krokodilstränen genügen?«
»Blödsinn!«, gab Sabine verärgert zurück und wandte sich mit verzogenem Mund zur Seite. »Aber wenn Frau Reitmeyer aufgrund mangelnder Empathie die Schotten dichtmacht, haben wir nichts gewonnen. Da versuche ich es lieber auf die freundliche Tour. Deshalb schließe ich sie als Verdächtige doch nicht aus.« Prima, eine Vollspektrumsrechtfertigung. Das versprach ja, eine tolle Zusammenarbeit zu werden. »Nehmen Sie's doch nicht als persönlichen Angriff«, schmunzelte Angersbach nach einigen Sekunden versöhnlich. »Aber Sie sehen ja selbst, es erzielt eine gewisse Wirkung, wenn man das Kind beim Namen nennt. Funktioniert als Taktik mindestens so oft wie ein Wellness-Paket, wetten?« »Abwarten«, brummte Sabine. »Ich werde jedenfalls weiterhin empathisch mit meinen Gesprächspartnern umgehen, auch mit Frau Reitmeyer. Im Übrigen schätze ich es nicht, als Testobjekt missbraucht zu werden.« »In Ordnung, belassen wir es dabei. Ich bin weder mürrisch noch emotionslos, aber beschränke mich lieber aufs Beobachten als aufs Reden. Jedem das seine, Sie können wohl beides.« Den letzten Satz fügte er bewusst hinzu, um bei seiner Kollegin nicht wieder ein Gefühl der Wertung zu verursachen. Beobachtung und Konversation waren gleich wichtig, das wusste er nur allzu gut. »Ich versuche es zumindest«, knüpfte Sabine an. »Stichwort Beobachtung: Was haben Sie denn so alles wahrgenommen?« Ihr Daumen deutete hinter sich, in Richtung Haupthaus. Hinter einer mannshohen Hecke glaubte sie, eine Bewegung zu erahnen, verharrte kurz in ihrem Blick, aber es tat sich nichts. »Frau Reitmeyer ist mitten in der zweiten Trauerphase, sie verhält sich augenscheinlich normal«, sprach Angersbach und blies sich warme Luft in die Handflächen, die er anschließend einige Male aneinanderrieb. »Leider verschwimmen die ersten beiden Phasen beim Überbringen einer Todesnachricht miteinander, aber dennoch verhält sie sich den Umständen entsprechend normal. Ich halte es momentan auch für unwahrscheinlich, dass ihre Emotionen gespielt sind, allerdings verheimlicht sie uns etwas.« »Spielen Sie auf meine Frage nach den Feinden an?« »Ja. Sie verbirgt etwas vor uns, dessen bin ich mir sicher.« »Das Gefühl hatte ich auch«, pflichtete Sabine bei. »Was halten Sie von der Frischluftpause? Grundbedürfnis oder Kalkül? « »Von beidem etwas«, schätzte Angersbach. »Sie denkt natürlich über die Personen nach, die sie uns nennen wird. Ihr Augenmerk liegt dabei aber nicht auf den Namen, sondern vielmehr auf den Hintergrundinfos, die wir dazubekommen werden. « Auf dem Weg zurück zum Haus verlangsamte Sabine Kaufmann ihren Gang und musterte prüfend die in tausend Verästelungen wuchernde Hecke, die trotz ihrer Kargheit an Blattwerk so dicht war, dass man das Dickicht kaum einen Meter durchblicken konnte. Der Boden war teils bemoost, teils steinig. Sollte tatsächlich jemand hier gestanden haben, so hatte er keine Spuren hinterlassen.
Claudia Reitmeyer wirkte wie ausgewechselt, obwohl seit der Unterbrechung kaum zwanzig Minuten vergangen waren. Sie wirkte auf bedrückende Weise gefasst, ihre Bewegungen waren statisch, ihre Miene fast regungslos. Nachdem die Kommissare sich zuvor gegen ein Heißgetränk entschieden hatten, war sie mit ihnen aus dem Haus gegangen, dann jedoch in Richtung eines der Nebengebäude verschwunden. Irgendwann hatten sich ihre schnellen Schritte über den Pflastersteinen verloren, und als Ralph und Sabine zurück ins Haus kamen, wartete sie bereits im Wohnzimmer. »Hier sind die aktuellen Geschäftsunterlagen«, eröffnete sie sachlich und deutete auf einen flachen Papierstapel, der größtenteils aus aufgefalteter Korrespondenz und ausgedruckten E-Mails zu bestehen schien. »Dem Terminkalender nach hatte mein Vater gestern Nachmittag um sechzehn Uhr eine Besprechung mit Dr. Elsass. Victor ist der Forschungsleiter unserer Saatgutwerkstatt. Telefonate kann ich leider nicht nachvollziehen, da wir keine digitale Anlage haben. Außerdem gibt es handschriftliche Notizen im Kalender, die ich nicht entziffern kann. Hier.« Sie griff neben sich und legte einen schmalen Querkalender mit Drahtkammbindung auf die Papiere. Zeitgleich schnellten die Köpfe der Ermittler nach vorn, und um ein Haar wären diese zusammengestoßen. Sabines Finger erreichten den Kalender zuerst, und sie drehte die Schrift in ihre Richtung. Sie erkannte krakelige Bleistiftnotizen, einiges musste eine Art Steno sein, außerdem für den Vortag in der entsprechenden Stundenzeile den Vermerk V. E. »Mist, nur Abkürzungen oder Hieroglyphen«, stieß Angersbach mürrisch durch die Zähne. »Dürfen wir den Kalender mitnehmen?«, erkundigte Sabine sich bei Claudia. »Nur zu. Nehmen Sie den ganzen Stapel aus dem Posteingangsordner mit, dann erhalten Sie einen Überblick.« »Danke. Wie war das Verhältnis zwischen Ihrem Vater und Dr. Elsass?« »Normal, denke ich.« Die Antwort kam schnell und wurde begleitet von einem Schulterzucken und einem unschlüssigen Blick. »Dr. Elsass hat für Ihren Vater gearbeitet?« »Fragen Sie ihn, und er wird das ein wenig anders darstellen.« »Inwiefern?« »Professor Doktor Doktor Elsass«, sprach Claudia betont abfällig, »arbeitet für niemanden außer für sich selbst. Er tut ausschließlich Dinge, die seiner wissenschaftlichen Reputation dienlich sind. Klar soweit?« »Hm. Gab es Rivalität zwischen den beiden?« »So würde ich das wiederum nicht bezeichnen«, wandte Claudia kopfschüttelnd ein. »Wie bezeichnen Sie es denn?«, fragte Angersbach gereizt. Wenn er eines nicht leiden konnte, dann war das Salami-Taktik. »Ich habe keinen Begriff dafür«, erklärte die Tochter. »Nennen wir es meinetwegen eine Win-win-Situation. Mein Vater hatte einen erstklassigen Wissenschaftler an Bord, und Dr. Elsass konnte sich mit x Forschungspatenten brüsten.« »Sie nannten ihn vorhin Victor«, sagte Sabine mit einem Pokerface, und ihr Blick haftete wie ein Magnet auf ihrem Gegenüber. Doch Claudia zeigte weder ein verräterisches Zucken noch sonst eine Reaktion. »Wir kennen uns schon recht lange«, kam prompt ihre Antwort. Etwas zu schnell, beinahe als wäre sie vorbereitet, fand die Kommissarin. »Sonst gab es gestern keine Kontakte?«, erkundigte sich Angersbach. »Jedenfalls keine, von denen ich wissen sollte«, wich die junge Frau aus und erhob sich. Da war es wieder. Jener ausweichende Zynismus, der Sabine wie eine verzweifelte Stimme zuzurufen schien. Etwas wollte nach draußen, tief in Claudia Reitmeyers Innerstem, aber sie war noch nicht bereit, es aus eigenem Antrieb freizulassen. Oder irrte sie sich? Claudia trat mit verschränkten Armen vor das Panoramafenster und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was Sie wissen müssen«, sagte sie nach einigen Momenten des Schweigens, noch immer mit dem Rücken zu den Kommissaren. »Darf ich jetzt bitte allein sein?« »Eine Frage noch«, beharrte Sabine. »Wir wissen, dass Ihre Mutter vor geraumer Zeit verstorben ist. Gibt es aktuell jemanden im Privatleben Ihres Vaters?« Ein unverständliches Murmeln erklang aus Richtung des Fensters, und Angersbach reckte mit angestrengtem Blick den Hals. »Wie bitte?« »Dazu möchte ich mich nicht äußern«, wiederholte Claudia Reitmeyer. Volltreffer, dachte Sabine triumphierend und sagte dann: »In Ordnung. Wir beenden unser Gespräch fürs Erste, aber wir werden Sie in Kürze wieder aufsuchen. Bitte denken Sie noch einmal über alles nach, ich lasse meine Visitenkarte hier, Sie können mich also jederzeit erreichen. Jeder Hinweis kann für uns von Bedeutung sein, vergessen Sie das nicht.« Claudia Reitmeyer sagte nichts dazu, nahm die Visitenkarte jedoch an sich, als sie den Kommissaren in Richtung Tür folgte. »Sie werden es ohnehin herausfinden«, begann sie dann leise, als Angersbach seinen Körper bereits durch den Türspalt ins Freie geschoben hatte und Sabine verharrte. »Was denn?«, fragte sie und schenkte Claudia einen aufmerksamen Blick. »Sprechen Sie mit Vera Finke. Sie arbeitet im Hofladen, ihre Privatadresse habe ich gerade nicht im Kopf. Massenheim glaube ich. Mehr möchte ich nicht dazu sagen.« Sabine notierte sich diese Information und bedankte sich. »Bevor wir gehen«, fragte sie dann, »was ist mit Ihrem Bruder? « »Wer?«, fragte Claudia stirnrunzelnd, dann, hastig lächelnd: »Ach, Frederik. Was ist mit ihm?« »Das war meine Frage an Sie«, beharrte Sabine, ein wenig verwundert über Claudias erste Reaktion. Diese schnaubte verächtlich. »Die meiste Zeit des Jahres über habe ich nicht die geringste Ahnung, wo er sich herumtreibt. Wir haben seit Wochen nichts voneinander gehört.« Beim Verlassen des Grundstücks fiel Sabines Blick ein weiteres Mal auf die Windkraftanlagen, die sich wie gigantische Spargel in den tristen Himmel streckten. Sie erinnerte sich an einen feurigen Leserbrief, den sie zu dem streitbaren Thema gelesen hatte. Vom Aus des römischen Kulturerbes war dort die Rede, nun, da weiße Spargel wuchsen, wo vor zweitausend Jahren der Limes die Eroberer vor den Germanen schützte. Aufgefallen war der Kommissarin, dass dieselben Stimmen, sobald es um die neue Umgehungsstraße ging, erstaunlich stumm blieben.
Claudia Reitmeyer sah den Beamten nach, bis der Wagen auf die Zufahrtsstraße eingebogen war und sich entfernte. Ihr gefiel es, dass die Kriminalpolizei offenbar nicht mehr auf PS- Boliden angewiesen war, sondern mit Strom reiste. Solange es kein Atom- oder Kohlestrom ist, dachte sie sofort. Viel schwerer wog, dass sie die Ermittlerin nicht mochte. Mit dem Ärmel ihres Jeanshemds wischte Claudia sich über die Stirn, erleichtert, die beiden vorerst los zu sein. Doch sie würden wiederkommen, das hatten Polizisten nun mal so an sich. Claudia spielte nervös mit dem Anhänger ihrer Halskette, den sie zwischen die Lippen gesteckt hatte und mit der Zunge hin und her schob. Als sie ins Wohnzimmer gelangte, blieb sie wie angewurzelt stehen und wurde vor Schreck aschfahl. Der kleine goldene Anhänger fiel ihr aus dem Mund, und ihr Atem stockte, als sie die grobschlächtige Gestalt wahrnahm, die sich dort aalte, wo kurz zuvor noch sie selbst gesessen hatte. »Verdammt!«, entfuhr es ihr entgeistert. Der breitschultrige, in einen abgewetzten Parka und mit fleckigen gelben Gummistiefeln bekleidete Mann zog den schwulstigen Mund in die Breite. Das selbstgefällige Grinsen legte den Blick auf seine Zähne frei, zwischen denen eine hässliche Lücke klaffte. »Na, na, das ging aber auch schon mal höflicher«, erwiderte er und zog sich die bordeauxfarbene Dockermütze von der Glatze. Er knetete das Wollgewebe zwischen seinen zerfurchten Pranken. »Wo wolltest du denn hin?« »Vorhin?« »Klar. Beinahe hätte mich die Blondine entdeckt, sonst hätte ich mich bemerkbar gemacht. Aber wir müssen uns ja nicht immer nur in der Maschinenhalle treffen.« Der lüsterne Unterton, gepaart mit einem vielsagenden Zwinkern jagte Claudia einen Schauer über den Rücken. »Haus und Büro stehen nicht zur Debatte«, entgegnete sie kühl, »das hat sich nicht geändert.« »Ach, komm schon, er ist doch jetzt nicht mehr da. Zeit, gewisse Dinge neu auszuhandeln, findest du nicht?« »Kein Bedarf, soweit es mich betrifft.« Der Mann, dessen stämmiges Wesen dem klassischen Bild eines Knechtes am nächsten kam, stemmte sich nach vorn und richtete sich ächzend auf. Langsam trat er einen Schritt auf Claudia Reitmeyer zu, dann einen weiteren. Versteinert, wie das Kaninchen im Bann einer Schlange, klammerte sich diese an die Lehne eines Stuhls, bewegte sich aber keinen Millimeter zurück. »Was hast du ihnen gesagt?«, erkundigte sich der Mann, blieb kurz stehen, musterte sie fragend und wandte sich dann in die entgegengesetzte Richtung. Seine Hände wanderten das Wohnzimmerregal entlang, suchten den Drehknauf des Getränkefachs, dann knarrte die Tür. »Ich musste ihnen den Kalender mitgeben, außerdem ein paar Papiere. Nichts Wichtiges.« »Wie willst du das denn beurteilen?«, erklang es spöttisch, im Hintergrund ertönte gläsernes Scheppern. Der Knecht entstöpselte eine kristallgläserne Karaffe und roch daran. Er verzog angewidert das Gesicht und entleerte den goldbraunen Inhalt in das Granulat einer Hydrokulturpalme. »Hätte ich Ihnen eine Büroführung anbieten oder am besten gleich den ganzen Computer mitgeben sollen?«, fragte Claudia gereizt. »So haben wir wenigstens bis morgen Zeit, uns um alles zu kümmern.« »Gott, wie naiv. Um alles kümmern«, äffte er sie nach und steuerte zielstrebig auf sie zu. Als sein Gesicht nur noch dreißig Zentimeter von ihrem entfernt war - sein Atem roch nach Alkohol, also musste er schon vorher am Tag etwas getrunken haben - , stieß der Mann, dessen Volumen beinahe das Doppelte der jungen Frau maß, grimmig hervor: »Ich bin hier fürs Kümmern zuständig, meine Liebe, vergiss das besser nicht. Und Silence is golden, das solltest du ebenfalls nicht vergessen! Mein Schweigen gibt's nicht umsonst.«
»Du lebst doch bereits wie die Made im Speck«, konterte Claudia, doch ihr Mut war auf ein kümmerliches Etwas zusammengeschrumpft, und viel würde sie ihm nicht mehr entgegenzuhalten haben. Leider wusste er das. Spöttisch lachte er auf und winkte ab. Dann griff er nach einer ihrer Haarsträhnen und ließ diese langsam zwischen zwei Fingern hindurchgleiten. »Ich rede nicht von Geld«, sagte er, und Claudia erschauderte ein weiteres Mal.
Da der Hofladen, dessen Werbetafel die beiden Kommissare erst beim Verlassen der Zufahrtsstraße wahrgenommen hatten, sonntags geschlossen hatte, blieb ihnen nur eine Personenabfrage, um Vera Finkes Adresse in Erfahrung zu bringen. Während man sich in der Dienststelle darum kümmerte, steuerte Sabine ihren Wagen in Richtung Bad Vilbel. Sie hatte Hunger und Durst, Ralph Angersbach ging es ebenso. Er hielt das Handy noch immer am Ohr, im Rückspiegel zeichnete sich eine angestrengte Miene ab, und er sprach zwischenzeitlich mit Schulte. Sabine vernahm Schlüsselworte wie Presse und Obduktion. Ralph Angersbach beendete das Gespräch und nannte ihr eine Adresse in Massenheim, was von ihrer jetzigen Position aus betrachtet auf der anderen Seite Bad Vilbels lag. »Ein schneller Kaffee auf dem Weg dorthin?«, vergewisserte sich Sabine, und er nickte dankbar lächelnd. »Auf jeden Fall. Ich hatte heute Morgen keine rechte Gelegenheit dazu.« Bevor Sabine dieses kleine Hintertürchen in sein Privatleben, das er soeben geöffnet hatte, für eine entsprechende Frage nutzen konnte, sprach Angersbach weiter: »Allerdings stellen wir die Befragung der Finke hintenan, wir haben als Nächstes ein zweites Date mit unserem Verblichenen. Den Kaffee gönnen wir uns aber trotzdem«, lächelte er. Schnell überlegte die Kommissarin, wie viele Kilometer es von Bad Vilbel bis Gießen waren. Fünfzig? Sechzig? Wie sie es auch drehen und wenden mochte, es waren zu viele, selbst für eine vollgeladene Batterie. Sie würde sich lieber jetzt die Blöße geben, den Wagen zu wechseln, als auf dem Heimweg liegen- zubleiben. Doch Übel blieb Übel, auch wenn man das kleinere wählte. »Wir müssten vorher das Dienstfahrzeug wechseln.« Sabine versuchte, es so beiläufig wie möglich zu sagen. Doch Angersbach sprang sofort darauf an und lachte spöttisch auf. »Wieso denn das? Reicht der Sprit nicht?« »Sehr witzig. Freuen Sie sich doch, Ihre Beine wieder ausstrecken zu können«, gab Sabine zurück. »Beine? Gut, dass Sie es sagen. Die sind schon so lange eingeschlafen, ich hätte fast vergessen, dass ich noch welche habe.« Am liebsten hätte Sabine gekontert, dass sie sich für die Fahrt im Lada wünsche, keine Wirbelsäule zu haben, doch ihr fehlte der Elan für einen ausufernden Schlagabtausch. »Wenigstens finde ich den Weg von Rendel zur Dienststelle«, murmelte sie nur und beobachtete im Spiegel, wie Angersbach amüsiert den Mund verzog. Bestand für ihn der ganze Tag aus Sarkasmus und Spitzfindigkeiten? Das konnte ja heiter werden, im wahrsten Sinn des Wortes. »Was ist nun eigentlich mit der Pressekonferenz?«, fragte sie unvermittelt. »Die übernimmt Schulte, dann ist er ganz in seinem Element.« Sabine verzog fragend das Gesicht, daraufhin fügte Angersbach hinzu: »Im Präsidium heißt es, er aale sich nur allzu gerne im Rampenlicht. Mir ist das im Übrigen auch sehr recht, Sie wissen ja, ich bin mehr der Beobachter. Und wegen der Autopsie: Wollen Sie erst die gute oder erst die schlechte Nachricht hören?« »Mir egal«, antwortete Sabine, denn sie hatte nicht den blassesten Schimmer, was nun kommen würde. »Professor Hack übernimmt diesen Job, die Staatsanwaltschaft hat sofort grünes Licht gegeben.« »Daran hatte ich keinerlei Zweifel«, murmelte Sabine. Auch wenn ein womöglich durch Sport hervorgerufener Todesfall nicht zwangsläufig zu einer Leichenöffnung führte, so sprachen in diesem Fall alle Faktoren dafür. Sie rief sich ins Gedächtnis, was sie über Professor Hack wusste. Persönlich begegnet waren sie sich erst ein Mal, da hatte die Kommissarin allerdings noch nicht gewusst, dass es sich um den beinahe schon legendären Rechtsmediziner handelte. Bislang hatte sie nur mit einem Dr. Schiller zu tun gehabt, aber das Jahr hatte es in puncto Mord und Totschlag auch verhältnismäßig ruhig angehen lassen. Zumindest im Vergleich zu Frankfurt. Professor Hack, es begann schon damit, dass sie nicht einmal seinen Vornamen im Kopf hatte, war eine Koryphäe. Er hatte sich in Krisengebieten auf der ganzen Welt herumgetrieben, Leichen aus Massengräbern auf deren Identität hin untersucht und irgendwo an einem Kriegsschauplatz, so lautete zumindest die Legende, das linke Auge eingebüßt. An dessen Stelle befand sich nun ein Glaskörper, denn alle moderneren Verfahren lehnte Hack schlichtweg ab. Seit vielen Jahren, auch das biologische Alter war der Kommissarin nicht geläufig, leitete er das rechtsmedizinische Institut in Gießen und gab diesen Posten stets nur kommissarisch ab, wenn er sich auf Reisen begab. Hack hätte sich längst an der französischen Riviera zur Ruhe setzen können, doch seine Devise lautete, den Knochenjob - er liebte doppeldeutige Wortspiele - bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Was er an Lebensalter auf dem Buckel hatte, glich er angeblich durch Charme und Esprit aus, es sei denn, er hatte jemanden auf dem Kieker. Unter seinen Studenten war er dafür berüchtigt, das unbewegliche Glasauge in Richtung des Auditoriums zu richten und mit dem anderen rastlos durch die Reihen zu blicken. Wie im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs fühlten sich auf diese Weise stets mindestens ein Drittel der Anwesenden unangenehm fokussiert. Auch bei Dienstbesprechungen, so hieß es, würde er diese aus einer Not geborene Untugend gerne einsetzen, sobald die Aufmerksamkeit zu schwinden drohte. Ein echter Charmebolzen, schloss die Kommissarin schmunzelnd, zufrieden, dass sie doch einiges über den Mann wusste, der die gerichtliche Leichenöffnung von Ulf Reitmeyer übernehmen würde. Glücklicherweise waren Hack und Schulte so etwas wie alte Kameraden, und neben der Pressekonferenz hatte sich der Boss auch gleich um den Anruf bei Professor Hack gekümmert. Das erschien sinnvoll, denn Sabine erinnerte sich an einen Wortwechsel Ende Januar zwischen ihr und Schulte, als es an einem Samstagabend darum ging, eine weibliche Leiche zu untersuchen, die erstochen worden war. »Wenn dort jemand anderes anruft als ich«, hatte Schulte seinerzeit mit verschwörerischer Miene gesagt, »hat Hack flugs einen weiteren Toten in seiner Kühlkammer liegen.« Wohl eine heillose Übertreibung. Oder gab es für die Kollegen der Rechtsmedizin etwa keine Rufbereitschaft? Lagen die Dinge heute ähnlich? Einmal mehr wurde Sabine Kaufmann gewahr, dass sie sich an einige der vorherrschenden Strukturen noch gewöhnen oder diese gar von null auf kennenlernen musste. Da fiel ihr ein, dass Angersbach von einer guten und schlechten Nachricht gesprochen hatte, und sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Was war das denn nun eigentlich mit Professor Hack? Die gute oder die schlechte?« »Beides«, erwiderte Angersbach lachend.
Das Institut für Rechtsmedizin der Universität Gießen erreichte man über die Frankfurter Straße, eine der Hauptverkehrsadern des beschaulichen Städtchens. Altbauten, Villen und moderne Fassaden reihten sich wie selbstverständlich aneinander; trotz der trüben Witterung ein bunt erstrahlender Flickenteppich. Gesäumt wurde das Ambiente von den erhabenen Gebäuden der Universität, welche an schier unzähligen Standorten Institute, Büros und Labor beherbergte. Professor Hack begrüßte die Kommissare erwartungsgemäß mürrisch und wechselte anschließend einige Worte mit Ralph Angersbach, die sich auf frühere Begegnungen beriefen. Sabine Kaufmann konnte nicht allem einen Sinn entnehmen, versuchte es auch nicht, aber als ein trockenes Lachen ertönte und Hack sich in Bewegung setzte, widmete sie ihm wieder ihre volle Aufmerksamkeit. »Hätten Sie ihn nicht nach Frankfurt verschiffen können?«, brummte er, hastig voranschreitend und nur mit leicht zur Seite gedrehten Blick. Das Auge starrte dabei wie absichtlich an ihr vorbei. Was zunächst wie eine forsche Geste anmutete, war, wie der Kommissarin dann einfiel, keine Absicht. Das Glasauge. Nun wusste sie zumindest schon einmal, um welches der beiden es sich handelte. Angersbach sprang in die Bresche. »Schultes Entscheidung«, gab er dem Pathologen zu verstehen. »Prächtig. Wenn's nach Horst geht, trifft's mich immer.«
In einem Nebenzimmer lasen sie eine Assistentin auf, die Angersbach nicht zu kennen schien und die auch Sabine völlig unbekannt war. Außerdem stand ein junger Mann von der Staatsanwaltschaft bei ihr, einen beinahe leeren Kaffeebecher in der Hand, der sich den Kommissaren reserviert vorstellte. »Sie schon wieder?«, polterte Hack, während seine Pranke die des Mannes zu zermalmen schien. »Wem sind Sie denn an den Karren gefahren, dass man Sie ständig zu Sektionen abkommandiert? « Er grinste, als der Anwalt etwas von Telefonkette und Zuständigkeit brabbelte, und schien sich für die Antwort nicht im Geringsten zu interessieren. Die Legenden waren also allesamt wahr, dachte Sabine. Hoffentlich war seine Arbeit genauso professionell wie seine bemerkenswert ungehobelte Art. Ulf Reitmeyer lag in der Mitte des Raumes, die über ihm befindliche Leuchte flackerte kurz, bevor sie ihn in ein farbloses Licht tauchte. Der Körper war bedeckt von einem Tuch, welches Professor Hack ohne Umschweife entfernte. Er klappte eine Brille auseinander und schob sich diese auf den breiten Nasenrücken. Dann schnalzte er mit der Zunge. »Der erste Bericht ist ein Witz«, kommentierte er den aus seinem Kittel herauslugenden Totenschein Dr. Körbers. »Zum Glück hat der Verblichene nicht auf dem Rücken gelegen, und er hat sich zu einer Temperaturmessung im Rektum hinreißen lassen. Sonst würde ich ihn jetzt verklagen, das können Sie mir glauben. Na ja, legen wir mal los.« Er nickte seiner Assistentin zu, welche daraufhin das Aufnahmegerät aktivierte.
Ralph Angersbach hatte schon so mancher Sektion beigewohnt, und vor allem die Untersuchungen durch Professor Hack waren üblicherweise ein Mix aus medizinischem Blabla und morbidem Humor. Gewürzt wurde das Ganze hin und wieder durch den einen oder anderen Schwank aus Hacks ereignisreichem Leben. Als ständiger Begleiter des Todes, also dem, wie der Rechtsmediziner es auszudrücken pfl egte, »krisensichersten Arbeitgeber der Welt«, hatte er schon eine Menge gesehen. »Zu viel für zwei Augen«, wie er nicht selten zum Besten gab, wenn betretenes Schweigen herrschte. Hackebeil - so nannte man ihn, teils amüsiert und teils ehrfürchtig - erfreute sich nicht nur unter seinen Studenten eines gewissen Rufes. Seit Jahren kursierten die verschiedensten Gerüchte, etwa, dass der Professor mit seinen Patienten spräche, wenn er allein im Sektionssaal stand. »Wieso denn auch nicht?«, war Hacks lachende Reaktion gewesen, als Angersbach ihn einmal darauf angesprochen hatte. Dann hatte er sich an die Stirn getippt und gemurmelt: »Andere sprechen mit ihren Tomaten. Geht's noch?« Ralph hatte bei jeder Leichenöffnung noch mit ganz anderem zu kämpfen. In Kindertagen hatte er die eine oder andere Hausschlachtung mit angesehen. Ein Schwein von gut und gerne zwei Zentnern, dessen Maße, Hautfarbe und sogar die leblose Form des Kadavers denen eines Mannes ähnelten, hing baumelnd an einem Wandhaken. Wenige Minuten zuvor noch hatte es drei keuchende Männer gebraucht, um das Vieh zu bändigen, welches quiekend und schreiend in seinem Kabuff polterte, bis das unvergessliche »Pssing!« des Bolzenschussapparats dem Leid ein Ende setzte. Ein nackter Toter auf dem Blechtisch, eine rosige Sau am Haken; Ralph hatte es nie geschafft, dagegen anzukämpfen, dass diese beiden Szenarien im Laufe der Jahre miteinander verschmolzen. Der Schlächter in seiner weißen Schürze, der stolze Bauer, dessen Stall die Sau entwachsen war, die Frauen an Wanne und Kessel, bereit, die Zerlegungszeremonie routiniert zu begleiten. Der Professor ratterte derweil eine routinierte Litanei von Fachbegriffen hinunter, während er die äußere Begutachtung vornahm. Ein normal gebauter Mann von altersgemäßer Konstitution. Eine kapitale Sau. Wann immer Hack eine Körpereigenschaft erwähnte, wanderten Ralphs Augen an die entsprechende Stelle. Sabine tat dasselbe, und er schätzte, dass sie dankbar war, dass Reitmeyers Leichnam ein verhältnismäßig ästhetischer war. Keine offenen Verletzungen, kein aufgedunsener Leib, kein verfaultes Gewebe. Die Haut war von einer blauvioletten Marmorierung, und überall dort, wo der Körper auf dem Boden gelegen hatte, befanden sich bleiche Stellen. Rosig wie ein Ferkel. An den Achselhöhlen und rund um die Taille durchwuchsen schmale, unregelmäßige Streifen die dunkle Leichenfärbung, ebenso hell wand sich eine Bahn wie ein Gürtel unterhalb des Bauchnabels. Kleidungsspuren, wusste der Kommissar, verursacht durch Falten im Stoff oder einen eng anliegenden Bund. Dort, wo das Blut nicht ungehindert hinlaufen konnte, entstanden keine Livores, Totenflecke. »Dem Anschein nach Zusammenbruch von HKS und ZNS nach kurzer Agonie«, drängte sich Hacks schnarrende Stimme zurück in Ralphs Bewusstsein. »Aber was zum Geier soll dieser unselige Kommentar in puncto Projektilverletzung?« »Eine Zeugin will einen Schuss vernommen haben«, erklärte Sabine hastig, was zu einem Stocken des Professors führte. »Und wo soll das Projektil bitte eingedrungen sein?« Seine Stimme reicherte sich mit höhnischer Ironie an. »Ins Ohr? Ins Rektum?« »Sagen Sie es uns«, gab die Kommissarin beherzt zurück.
»Sie gefallen mir, Mädchen!«, lachte Hack und beugte sich wieder über den Toten. Während er den Rumpf in einer bedächtigen, wie mit einem Lineal vollzogenen Bewegung von der Halsgrube bis oberhalb des Schambereichs aufschnitt und die T-Öffnung anschließend mit einem weiteren, von einer zur anderen Schulter verlaufenden Bogenschnitt vollendete, drangen die alten Erinnerungen wieder vor Ralphs Auge. Von unten nach oben, kerzengerade. Aus der aufplatzenden Schwarte drangen die Innereien nach außen. Derweil sprach Hack, an Sabine gerichtet, weiter: »Ob Sie's glauben oder nicht, aber im Kosovo habe ich es erlebt. Da schoss man, um Munition zu sparen, zwei nebeneinander stehenden Personen ins Ohr. Sehr effizient.« Er blinzelte über seinen Brillenrand kurz in die Runde, um Reaktionen zu erhaschen, doch niemand erwiderte etwas. »Ein Kollege von mir gibt außerdem gerne einen Fall zum Besten, dass eine gehörnte Ehefrau ihrem Gatten in den Hintern geschossen haben soll. Aber diese Geschichte hab ich schon so oft in so vielen Varianten gehört ... Na, wie auch immer.« Neben einer gehörigen Portion Selbstverliebtheit, die Professor Hack zur Schau stellte, und einigen sarkastischen Äußerungen bezüglich des Innenlebens von Ulf Reitmeyer bot die Untersuchung der Leiche nur wenig Neues. Er entnahm die inneren Organe einzeln und begutachtete diese. Was beim Schlachten nach außen gekrempelt und mit dem Ausbeinmesser durchtrennt wurde, wanderte hier fein säuberlich auf die Waage und in separate Behältnisse. Keine Aluminiumwanne, in der die glibberigen Innereien schwammen, so konturlos, als wären sie geschmolzen. Doch die schmatzenden Geräusche, das Glucksen und das Tropfen, waren identisch. Weder im Kopf noch im Darm noch sonst irgendwo fanden sich Hinweise auf eine Patronenspitze. Reitmeyer hatte weder eine Fettleber noch andere Indizien auf eine innere Erkrankung, und letzten Endes blieb nur die Frage nach einer Intoxikation offen. Fleischbeschau. Fehlte nur noch, dass er einen Stempel auspackte und ihn auf die einzelnen Körperteile presste. Und im Hintergrund, am Kessel, die Frauen mit dem großen Rührer. »Duh reure, Marri!«, schallte die mahnende Stimme tief aus Angersbachs Unterbewusstsein. Tu rühren, Marie! Rühren im angefeuerten Kessel, in dem das Schweineblut in spritzenden Wellen rundherum getrieben wurde, damit es nicht anbrannte.
Duh reure, damit mer Blout für die Bloutwurscht krieje!
Jeder Handgriff und jedes gesprochene Wort waren Routine, eingespielt durch unzählige Male, an denen dasselbe Procedere ablief. Das Ergebnis war stets dasselbe. Ein Schwein weniger auf dieser Welt, der Hof mit Blut und Exkrementen verschmiert, und das aufgeregte Grunzen zur Fütterungszeit wirkte weitaus dezenter als sonst. Keiner der Überlebenden schien auffallen zu wollen. Keine dumme Strategie. Schweine waren schließlich ausgesprochen intelligent. Angst gemacht hatte dem jungen Kommissar diese brutale Szenerie nicht, denn sie gehörte auf dem Land zum Alltag, auch wenn es heute kaum mehr praktiziert wurde. Doch die Schweinehaken, die man an zahllosen Häusern noch immer vorfindet, bewahren die Erinnerung. Seit jenen Tagen hatte Ralph einen Ekel vor Schweinefleisch. Angst hingegen hatte er eher vor den Menschen, die die wahren Raubtiere waren. Und vor Wölfen. Doch das gehörte in eine andere Erinnerungsschublade, die er hastig wieder schloss, denn Professor Hack bereitete nun die Gewebeproben vor.
»Das Tox-Screening bekommt oberste Priorität«, versprach er, fügte allerdings hinzu, dass aufgrund des Zustands der inneren Organe keine bahnbrechenden Erkenntnisse zu erwarten seien. Viel wichtiger, betonte er, sei ein ganz anderer Sachverhalt, den bereits Dr. Körber am Fundort erwähnt hatte: »Sprechen Sie mit dem Hausarzt des Mannes und lassen Sie mir die Krankengeschichte zukommen.« Selbstredend. Doch sowohl Angersbach als auch Kaufmann ahnten, dass ihre Mühen in diese Richtung das sich ankündigende Ergebnis nicht mehr ändern würden. Ulf Reitmeyer hatte beim Frühsport der plötzliche Tod erteilt. Fremdeinwirkung unwahrscheinlich.
Der Lada passierte die Bahnunterführung und erreichte den Abzweig zur Dienststelle, jene versteckte Straße, die Sabine bei ihrem ersten Besuch zweimal verfehlt hatte. Die Meldung vom plötzlichen Dahinscheiden des Bio-Moguls war bereits in die Mittagsnachrichten gelangt, was weder Sabine noch Ralph wunderte, denn immerhin befand sich der Radiosender praktisch in Sichtweite des Leichenfundorts. Auch dies blieb nicht unerwähnt, dankenswerterweise unterließ man jedoch allzu wilde Spekulationen. Sowohl der Hin- als auch der Rückweg von Gießen waren auf den verkehrsarmen Schnellstraßen zügig vonstatten gegangen. Selbst die Wirbelsäule wurde halbwegs geschont, denn es gab nur wenige Straßenschäden, die der Federung zusetzten. Eine Gelegenheit für tiefergehende Konversation ergab sich nicht, obgleich Sabine nur allzu gerne ein wenig mehr über ihren eigenbrötlerischen Kollegen erfahren hätte. Doch sie mahnte sich zur Geduld, wollte sich nicht anbiedern, denn genau genommen war sie selbst im Ausplaudern privater Angelegenheiten auch sehr reserviert. Also sprachen sie über den Fall, über Professor Hack und den gesichtslosen Anwalt, der die Sektion ohne sichtbare Anteilnahme über sich hatte ergehen lassen, weil es nun mal seine Pflicht gewesen war. In der Dienststelle selbst herrschte Aufbruchstimmung, Schichtwechsel, Dienstschluss, das übliche Treiben. Weder auf dem Anrufbeantworter noch im Posteingang befanden sich interessante Neuigkeiten, und von Konrad Möbs war nichts zu sehen, was beide Kommissare nicht bedauerten. Sie verließen das Büro, um die Befragung von Vera Finke in Angriff zu nehmen. Sie wohnte in Massenheim, nur einen Steinwurf entfernt, und wie selbstverständlich übernahm Sabine die Fahrt. Angersbach stieg kommentarlos ein, was sie wunderte, und wenige Minuten später erreichten sie den südlichen Ortsrand des benachbarten Ortsteils. Das Haus, in dem Vera Finke gemeldet war, unterschied sich deutlich von den anderen Einfamilienhäusern. Solarkollektoren krönten das flach abfallende Dach auf metallenen Gerippen, darunter wucherte der buschige Bewuchs des Gründachs. Die Wandflächen waren zum Teil holzverkleidet und in fleckigem Blassblau angelegt, ein chromglänzender Kaminabzug klebte an der Seitenwand. Der wild bewachsene Garten glich eher einer Schmetterlingswiese, ein Bild, das Ralph Angersbach seltsam vertraut vorkam. Zu dieser Jahreszeit jedenfalls, ohne Blüten und Falter, war es kaum mehr als ein verwahrloster Garten. Sabine schritt über den mit Steinplatten ausgelegten Weg, dann zwei hölzerne Stufen hinauf und suchte den Klingelknopf. Stattdessen fanden ihre Augen eine Glocke mit herabhängender Ziehkette. Auch gut.
»Wir werden beobachtet«, raunte Angersbach, der hinter sie getreten war, und wies mit dem Kopf dezent nach links. Die Kommissarin drehte sich reflexartig in die angedeutete Richtung, vernahm aber nur noch eine schnelle Bewegung hinter einem der Fenster. Der Vorhang schwang verräterisch noch einige Male hin und her. »Wachsame Nachbarn, wie?« »In so einer biederen Gegend fällt man eben auf, wenn man aus dem Raster fällt«, seufzte Angersbach. »Kommen Sie mal nach Okarben«, setzte er nach und verdrehte die Augen. »War das eine Einladung?« Sabine Kaufmann griff nach der hölzernen Kugel am unteren Ende der Kette und zog. Beim durchdringenden Klang der Glocke zuckte sie zusammen, lächelte dann aber vielsagend. »Allein dafür dürften sie ihre Nachbarn schon verachten.« »In Zeiten, wo man schon gegen Kirchenglocken klagt ...«, pflichtete Ralph bei, wurde jedoch durch die abrupt aufschwingende Haustür unterbrochen. Vor den beiden Kommissaren stand ein dürres Männchen, eins achtzig groß, in ockerfarbener Leinenhose, an dessen Körper kaum mehr als Haut und Knochen zu sein schienen. Auf dem dünnen Hals ruhte ein im Verhältnis viel zu füllig wirkender Kopf, die Ellbogengelenke traten wie Geschwulste aus den Armen, die wie verloren in T-Shirt-Ärmeln steckten. Das tatsächliche Alter des wettergegerbten Gesichtes ließ sich schwer einschätzen. Auf den ersten Blick deutete alles auf einen Sechzigjährigen hin. Doch sowohl die Körperspannung als auch der wachsame, unstete Blick des Mannes waren von jugendlichem Habitus. »Ja?« Seine Stimme war rau, aber unerwartet tief und voluminös.
Angersbach stellte sich selbst und seine Kollegin vor. Ohne zu zögern brachte er dabei auf den Punkt, welcher Abteilung sie angehörten. »Mordkommission?«, fragte der Schmalbrüstige ungläubig. Sabine nickte langsam, sie selbst hätte sich wohl intuitiv auf die Bezeichnung Kriminalpolizei reduziert, aber nun lagen die Karten eben offen auf dem Tisch. »Wir sind auf der Suche nach Vera Finke«, erklärte sie dem etwas verloren im Türrahmen stehenden Mann. »Vera?«, fragte dieser wieder zurück, und Sabine entging nicht, dass ihr Kollege offensichtlich allergisch darauf reagierte, wenn ein Gesprächspartner die ihm gestellten Fragen wiederholte, anstatt sie zu beantworten. »Vera Finke«, bekräftigte sie daher noch einmal. »Laut Personenregister ist sie hier gemeldet.« »Ähm ja, natürlich«, brummelte der Mann und fuhr sich durch das schüttere, ehemals schwarze Haar, welches zu weiten Teilen ergraut war. »Kommen Sie doch bitte rein, ich hole sie.« »Danke«, murmelte Angersbach und betrat nach seiner Kollegin den sandfarben gefliesten Flur. »Und Sie sind?«, wandte Sabine sich an den Mann. »Anselm Finke natürlich«, kam es brüskiert zurück. »Veras Mann.« Wenige Minuten später saßen Angersbach und Kaufmann an einem runden, unverschnörkelten Eichentisch, auf dem zahlreiche kreisrunde Abdruckspuren darauf hindeuteten, dass man im Hause Finke keine Untersetzer kannte. Vera war eine naturschöne Frau, die gegenüber ihrem Mann wie eine Walküre wirkte, obgleich sie kaum mehr als normal proportioniert war. Kein Make-up, lediglich eine kastanienbraune Haartönung, vermutlich Henna, und ein verschnörkeltes Tattoo auf den makellosen Unterarmen. Sie hatte einen dezent südländischen Teint, dazu grüne Augen und einige Sommersprossen um die spitze Nase. Im Gegensatz zu meinen bleiben ihre sogar im Winter, konstatierte Sabine ein wenig neidisch in Gedanken, dann konzentrierte sie sich auf die Mimik und Gestik der Frau. Angersbach gab sich alle Mühe, das Gespräch behutsam anzukurbeln, doch welche Adjektive und Metaphern konnten den Verlust eines nahestehenden Menschen wohl schönreden. »Tot?«, hauchte Vera und begann, sich nervös die Unterarme zu kratzen, bis sich rote Striemen über die Tätowierungen zogen. Anselm Finke rückte näher zu ihr, doch sie ging reflexartig auf Abstand. Peinlich berührt erhob er sich und fragte die Kommissare, ob sie etwas trinken wollten. Sie verneinten, trotzdem verließ er die Küche, und sofort zischte seine Frau mit leidender Miene und voller Verzweiflung ein »Sie sagen ihm doch nichts?« in Angersbachs Richtung. Offenbar ahnte sie, dass die beiden über ihr Verhältnis zu Reitmeyer informiert waren, denn sie setzte noch einmal flehend nach: »Bitte, Sie dürfen ihm nichts sagen«, nun an Sabine gerichtet, womöglich in der Hoffnung, in einer weiblichen Person eine Seelenverwandte zu finden. In diesem Augenblick waren auch schon wieder Anselm Finkes schlurfende Schritte zu vernehmen, und Sabine entschied spontan, vorerst keine peinliche Konfrontation zu verursachen. »Sie haben für den Verstorbenen gearbeitet?«, fragte sie ein wenig umständlich in der Hoffnung, dass sie den Wink verstehen würde. Und Angersbach auch. Vera nickte und schluckte. »Im Hofladen, ja. Eine Dreiviertelstelle. «
»Von wegen«, knurrte ihr Mann verächtlich, und sein Blick verdüsterte sich. Fragend blickte Angersbach zu ihm auf, und Anselm fuhr fort: »Eher eindreiviertel, so oft, wie du länger bleiben musstest.« »Ach, Unsinn«, nervös wedelte Vera mit den Handflächen, »das scheint nur, weil es sich so ungünstig verteilt. Außerdem hat Ulf mir jede Überstunde ...« »Ulf, Ulf!«, spie Anselm aus, noch immer stehend, und gestikulierte abfällig. »Wenn Ulf sagt: Spring, dann springen sie alle. Aber wehe, wenn man mal nicht spurt.« »Hör doch auf, Liebling«, flehte Vera, die offensichtlich damit kämpfte, die Fassung zu wahren und nicht in Tränen auszubrechen. »Sie waren nicht gut auf ihn zu sprechen?«, hakte Angersbach bei ihrem Mann nach. »Gelinde gesagt, nein. Aber das tut nichts zur Sache.« »Das würden wir gerne selbst entscheiden. Welcher Art waren Ihre Schwierigkeiten denn?« »Vergessen Sie's«, wehrte sich Anselm. »Sagen Sie mir lieber, was passiert ist.« »Reitmeyer wurde tot am Niddaradweg gefunden«, erklärte Sabine, ohne ins Detail zu gehen. »Heute Morgen gegen acht Uhr. Wo waren Sie um diese Zeit?« »Bin ich etwa verdächtig?« »Beantworten Sie bitte die Frage«, forderte Angersbach. »Hier im Büro. Vera kann das bezeugen. Oder, Vera?« Anselm tippte seiner Frau auf die Schulter, und diese fuhr erschrocken zusammen. »Sag doch auch mal was!«, forderte er. »Ja, kann sein, ich habe nicht auf die Uhr geschaut«, gab diese mit gesenktem Blick zu verstehen. Sie fixierte die Tischplatte und fuhr mit den Fingerspitzen entlang der Fleckenringe.
»Und was ist mit Ihnen?«, erkundigte sich Sabine und schob ihre Hand langsam nach vorn, um die ihres Gegenübers zu erreichen. Hastig zog Vera ihre Hände zurück und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. »Wenn Sie mich im Haus wahrgenommen hat, wird sie ja wohl auch selbst da gewesen sein«, meckerte das Männchen ungeduldig, und Sabine kam plötzlich eine alte Märchenverfilmung in den Sinn. Rumpelstilzchen, schoss ihr impulsiv durch den Kopf, und sie unterdrückte ein Grinsen. Fehlte nur noch der Bart. »Ja, natürlich, ich war hier«, bekräftigte seine Frau, wich aber noch immer geflissentlich den Blicken der Kommissare aus. »Wäre ja schließlich noch schöner, wenn du auch schon sonntags dort antanzen müsstest«, nörgelte Rumpelstilzchen weiter und trabte dann in Richtung Küchenzeile, wo er sich aus einer Karaffe Wasser in ein Glas schenkte. Bunte Glassteine fielen in dem bauchigen Gefäß hin und her, und für eine Sekunde war Sabine versucht, nach deren Sinn zu fragen, doch sie konzentrierte sich auf die Vernehmung. »Welches Verhältnis hatten Sie denn zu Ihrem Chef?«, fragte sie Vera, und endlich trafen sich ihre Blicke. Die Antwort lag offen da, wie ein goldenes Funkeln im smaragdgrünen Meer, Ulf Reitmeyer und Vera Finke verband weit mehr als nur ein Arbeitsvertrag. »Gut, normal eben«, erwiderte sie achselzuckend und gab sich größte Mühe, gleichgültig zu wirken. »Ich habe meine Arbeit im Hofladen gerne gemacht.« »Am liebsten rund um die Uhr«, erklang es prompt.
Heute back ich, morgen brau ich ...
»Und was ist mit Ihnen?«, wollte Angersbach von Herrn Finke wissen.
»Wie jetzt? Mein Verhältnis zu diesem Selbstbeweihräucherer? « Angersbach nickte, und Finke fuhr fort: »Ich konnte ihn nicht leiden und werde ihm auch nicht nachweinen. Das ist mein Standpunkt, und dazu stehe ich auch.« »Anselm!« Vera warf ihrem Gatten einen vernichtenden Blick zu, doch dieser ließ ihn an sich abprallen. Ein Hoch auf die Ehe, stellte Sabine für sich fest und fragte sich insgeheim, ob der Hänfling etwas vom Verhältnis seiner Gemahlin zu ihrem Chef wusste. Oder ob es ihn überhaupt interessieren würde, denn zwischen den beiden schien jede Beziehung zu fehlen. Andererseits war es nur eine Momentaufnahme, getrübt durch den Verlustschmerz, den die Frau nicht ausleben durfte, und den offenen Zynismus ihres Mannes, der ihr diesen Schmerz wohl kaum erträglicher machte. »Danke für Ihre Ehrlichkeit«, nickte die Kommissarin. »Gibt es außer Ihnen beiden noch andere Personen, die Ihre Alibis bestätigen könnten. Nachbarn zum Beispiel?« »Herrje«, stöhnte Anselm auf, »glauben Sie uns etwa nicht, weil wir Ehepartner sind? Dann schellen Sie bei der ollen Wischnewski nebenan, die wird mit Freuden einiges vom Stapel lassen. Aber ob es für ein Alibi reicht? Keine Ahnung. Ich habe E-Mails versandt, falls Ihnen die Zeitstempel genügen.« »Wir kommen gegebenenfalls darauf zurück«, wehrte Angersbach ab. Er verfügte über ausreichend technisches Verständnis, um zu wissen, dass man, wenn man sich ein Alibi konstruieren wollte, diese Zeitstempel ohne große Schwierigkeiten fälschen könnte. Die Server zu überprüfen war im Zweifelsfall der bessere Weg, diesen zu beschreiten aber bedurfte es einer entsprechenden Anordnung. »Welcher Tätigkeit gehen Sie denn überhaupt nach?«
»Ingenieur, Architekt, Energieberater. Haben Sie das Schild nicht gesehen? Ich habe mich auf ökologische Sanierung spezialisiert. « »Hm. Lukrativ?« »Allerdings. Unsere Region ist in diesen Belangen tiefstes Entwicklungsland. Aber es besteht Hoffnung.« Zum ersten Mal erhellte sich die mürrische Miene etwas, und der Anschein eines Lächelns huschte über Anselm Finkes Gesicht. Bevor sie sich verabschiedeten, nahm Angersbach den Mann noch einmal zur Seite und tuschelte ihm zu: »Mal unter uns: Waren Sie nicht eifersüchtig auf diesen Bio-Fuzzi? Mir scheint, Ihre Frau habe dort mehr Zeit verbracht als mit Ihnen.« Doch in Finkes Miene regte sich nichts. Gefühlskalt und tonlos gab er lediglich zurück: »Selbst wenn, das ist ja nun wohl vorbei.« Prächtiges Motiv, dachte der Kommissar im Hinausgehen, obgleich er wusste, dass es für eine Verhaftung weit mehr als das brauchte.
Cordula Wischnewski schien bereits hinter der Haustür gelauert zu haben, denn zwischen dem Drücken der Klingel und dem schwungvollen Aufreißen des Türblatts vergingen nur Sekunden. Ihre grauen Locken waren zu einer akkuraten, biederen Frisur gerichtet, dazu passend zierte eine blau gemusterte Kittelschürze den rundlichen Körper. Sie war einige Zentimeter kleiner als die Kommissarin. »Kriminalpolizei?«, wiederholte sie mit einer durchdringenden Stimme, die sich in einer Tonlage befand, in der selbst gedämpfte Aussprache laut wirkte. »Was hat dieses Volk denn angestellt?«
»Volk?« Es war Angersbach, den diese Wortwahl zutiefst irritierte. »Na, diese Hippies nebenan. Ich habe doch gesehen, dass Sie von dort gekommen sind.« »Was wissen Sie über die Finkes?«, hakte Sabine sofort ein. »Sehe ich etwa aus, als täte ich tratschen?« Die Stimme klang nun, da Verärgerung in ihr mitschwang, noch unangenehmer. »Wir benötigen Hintergrundinformationen, aber wenn Sie keine haben«, Ralph Angersbach gab sich desinteressiert, »dann gehen wir eben wieder.« Er musste sich nicht einmal mehr demonstrativ in Richtung Straße wenden, da kam schon wie aus der Pistole geschossen die Reaktion. »Warten Sie!« Cordula atmete schneller und tatschte sich nervös an den Hinterkopf, als müsste sie ihre Frisur richten. »Es ist ja schließlich meine Pflicht, der Polizei zu helfen, oder?« »So gesehen, ja«, nickte Sabine und verkniff sich ein Schmunzeln. »Dann kommen Sie doch bitte herein.« Flur, Wohnzimmer und Küche des Hauses waren genauso eingerichtet, wie das Äußere der Wischnewski zu vermuten gelassen hatte. Fein säuberlich aneinandergereihter Nippes füllte dunkle Holzmöbel, goldumrandete Porzellantassen mit Blumenmotiven und in Spitzenkleidchen drapierte Lackpuppen dominierten das Bild. Billige Ölgemälde namenloser Künstler, die Blumenvasen und eine Berghütte mit brünstigem Hirsch zeigten, darunter ein Plüschsofa, auf dem sich ein wabernder, haariger Klumpen befand. Schwer röchelnd. Bei genauerer Betrachtung stellte Sabine fest, dass es sich bei dem champagnerfarbenen Wesen um einen Hund handelte, und zwar um den fettesten, der ihr je untergekommen war. Neugierig drehte dieser den Kopf nach hinten, eine Anstrengung, die ihm ein weiteres heiseres Keuchen entfahren ließ. Frau Wischnewski setzte sich mit verliebtem Blick neben das Tier, kraulte ihm den Nacken und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. »Ist das ein Mops?«, erkundigte sich Angersbach mit hochgezogenen Augenbrauen. Offenbar fiel es ihm schwer, seine Mischung aus Ekel und Amüsement zu verbergen. Doch er versuchte es zumindest. »Wo denken Sie hin?«, erwiderte die Frau spitz und betonte voller Inbrunst: »Vincent ist eine französische Bulldogge.« Also ein Mops, dachte Sabine und verkniff sich ein Grinsen. »Kommen wir zurück auf die Finkes«, sagte sie dann. »Was möchten Sie denn wissen?« Der Geruch nach Sonntagsbraten lag schwer in der Luft, vermischt mit dem Duft nach frisch gebrühtem Kaffee. Nur als Beigeschmack konnte man den bittersüßen Hundegeruch wahrnehmen. Die Zwischenfrage, ob sie etwas trinken wollten, verneinten Sabine und Ralph mit der Begründung, nur wenig Zeit zu haben. Cordula Wischnewski sollte sich unter keinen Umständen dazu ermutigt sehen, ihren gesamten Lebensfrust bei den Kommissaren abzuladen. Erfreulicherweise kam sie - nach dem obligatorischen Wettern über Asoziale, Linke und alle anderen Geschwüre, die ihr Gesellschaftsbild zerfraßen - relativ zügig auf die Finkes zu sprechen. »Er hockt den ganzen Tag in der Bude und stiert in den Computer. Einen richtigen Job hat der nicht, ich kenne jedenfalls keinen, bei dem man so rumläuft. Weit kann er auch nicht kommen, denn er hat ja nur dieses Dreirad.« »Dreirad?« »Na, so ein Tretmobil. Der Finke würde sich niemals ein Auto vors Haus stellen. Ich habe ihm damals angeboten, dass er den alten Mercedes fahren könne. Baujahr 1985, ein Diesel, der hat meinen Walter, Gott hab ihn selig, und mich nie im Stich gelassen. Und sparsam ist er auch.« Die Erzürnung in ihrer Stimme ließ darauf schließen, wie Anselm Finke auf die Vorstellung reagiert haben musste, mit einem uralten Diesel, der zudem noch einen Stern trug, durch die Gegend zu tingeln. »Na, und dann dieses Haus. Keine Kontur, kein Stil, und dieser Garten! Haben Sie den Garten gesehen? Da muss man sich in Grund und Boden schämen. Wenn das mein Walter hätte erleben müssen.« Sie seufzte tief und ließ ihren Satz unbeendet stehen. »Können Sie Herrn Finke in seinem Büro sehen?«, erkundigte sich Angersbach. »Ich bin doch keine Spannerin!«, kam es zurück, und Cordula stemmte empört die Fäuste in die Hüften. »Sie sagten, er stiere in den Computer.« »Ja, natürlich. Das ist ja auch unvermeidbar zu sehen. Schauen Sie doch mal aus meinem Küchenfenster.« »Schon gut. War er heute früh auch dort?« »Weshalb? Steckt er etwa in Schwierigkeiten?« »Beantworten Sie doch bitte erst einmal die Frage.« »Allerdings. Ich habe um halb sieben Kaffee gekocht, da lungerte er bereits dort herum. Am heiligen Sonntag!«, entrüstete sie sich. »Das ist für Sie schwer zu glauben, oder?« »Ich wäre auch lieber zu Hause.« Sabine legte die Stirn in Falten, denn Angersbachs leicht angesäuerter Kommentar passte ihr nicht ins Konzept. Eine brüskierte Zeugin war der Sache nicht dienlich. Doch stattdessen nickte Frau Wischnewski betreten. »So war das nicht gemeint. Sie tun ja etwas für die Gesellschaft, was man von denen nicht behaupten kann. Solche wie die würden am Ende noch mit Ziegelsteinen nach Ihnen werfen.« Dann blitzten ihre Augen auf. »Was ist denn nun mit den Finkes?« »Wir befragen Zeugen im Zuge einer Mordermittlung«, lächelte Sabine unverbindlich, »das ist leider alles, was wir Ihnen derzeit sagen dürfen.« »Gefällt mir nicht«, reagierte Cordula schulterzuckend und klopfte der wabernden Masse auf den geblähten Bauch, was der Hund mit einem erregten Schmatzen beantwortete. »Was ist mit Frau Finke?«, fuhr Angersbach fort. »Die arbeitet in so einem Öko-Laden. Mickrige Kartoffeln zu überteuerten Preisen und gammeliges Gemüse haben die dort. Heißt es jedenfalls, denn ich gehe da ja nicht hin«, betonte sie noch. »Aber leben lässt es sich offenbar nicht schlecht davon.« Noch während Sabine darüber nachdachte, mit welcher Frage sie fortfahren sollte, beugte sich Cordula vor, und ihr praller Busen berührte die Tischplatte. Wispernd und hinter vorgehaltenem Finger fuhr sie fort: »Ich habe mich schon manchmal drüber gewundert, warum Vera Finke sich nicht einen gestandenen Mann sucht, der sich um sie zu kümmern weiß. Mit dem sie eine Familie gründen kann, na, Sie wissen schon.« »Spielen Sie dabei auf jemand Bestimmtes an?« »Dazu möchte ich lieber nichts sagen. So etwas gehört sich nicht.« »Es könnte uns aber weiterhelfen«, bohrte Angersbach und setzte dabei seinen besten Hundeblick auf, den er zu bieten hatte. Möchte er nun Mutterinstinkte wecken?, dachte Sabine, gespannt, ob seine Taktik funktionieren würde. »Na ja, es ist so«, begann Frau Wischnewski gedehnt und drehte, als wolle sie sich absichern, dass niemand lauschte, den Kopf zu Seite. »Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen einem attraktiven Herrn, der mich mit einem eleganten Wagen bis vor die Haustür chauffiert, oder einem solchen Hampelmann, der seine eigene Ehefrau mit dem Fahrrad oder per Bus zur Arbeit schickt ... Muss ich mehr sagen?« »Ein eleganter Wagen? Geht das noch etwas genauer?«, erkundigte Sabine sich sofort, erntete jedoch nur ein resigniertes Kopfschütteln. »Ach herrje, da kenne ich mich nicht aus. So ein Geländewagen eben, dunkelgrün.«
Als Angersbach und Kaufmann zurück in Richtung Wagen liefen, öffnete sich die Haustür der Finkes, und ein schmächtiger Schatten kam den Zugangsweg hinabgehuscht. Mit fragend geneigtem Kopf blickte Sabine den Mann an, als er sie erreichte. Seine Stimme zitterte leicht, er gab sich die größte Mühe, gefasst zu klingen, doch er musste sich noch vor kurzem in höchster Aufregung befunden haben. »Hören Sie«, begann Finke und fuchtelte dabei mit der knöchrigen Hand, »ich weiß Ihre Zurückhaltung von vorhin durchaus zu schätzen, aber ich weiß Bescheid.« »Sie wissen Bescheid«, wiederholte Angersbach prompt, was mehr nach gelangweilter Feststellung als nach einer Frage klang. »Meine Frau weiß nicht, dass ich Sie hier draußen abgepasst habe, also machen wir es kurz«, raunte Anselm verschwörerisch. »Sie hatte eine Affäre mit diesem Windhund. Das ist doch der wahre Grund, weshalb Sie heute hierher gekommen sind, nicht wahr?« Ohne auf seine Frage einzugehen, erwiderte Sabine: »Sie wissen von dem Verhältnis? Seit wann?«
»Schon seit Jahren«, brummte er. »So lange?«, entfuhr es Sabine ungläubig. Sofort bereute sie ihren impulsiven Kommentar und ergänzte schnell: »Sie haben sich, hm, damit arrangiert?« »Was soll ich sagen? Ja. Wir hatten, nachdem Sie vorhin gegangen sind, einen ziemlichen Streit. Da kochte vieles wieder hoch. Vera hätte bei ihrer Vernehmung einfach Klartext reden sollen, anstatt aus falsch verstandener Rücksichtnahme um den heißen Brei herumzureden.« »Die Beziehung zu Reitmeyer war also schon längst wieder beendet, oder wie?«, hakte Angersbach nach. »Sag ich doch. Ich hätte Vera doch nicht bei diesem Dreckskerl arbeiten lassen, wenn er sie ... Na, Sie wissen schon.« »War es nicht trotzdem wie ein Damoklesschwert, das da drohend über Ihnen baumelte?«, konstatierte Angersbach pathetisch, und Sabine hob die Augenbrauen, gespannt, wie Anselm darauf reagieren würde. Das hagere Männchen räusperte sich kurz und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. »Letzten Endes kommt es doch darauf an, dass Vera all die Jahre bei mir geblieben ist. Der Rest ist Vergangenheit, also belassen wir es dabei.« Mehr hatte Anselm Finke nicht zu sagen und verschwand kurz darauf so still und leise, wie er gekommen war, im Hausinneren. »Der hat gut reden«, kommentierte Angersbach, als er sich mit einem angestrengten Ächzen hinab in den Beifahrersitz sinken ließ, und Sabine glaubte zu wissen, worauf er hinauswollte. Für Anselm Finke schienen sämtliche Probleme mit Ulf Reitmeyers Tod gelöst zu sein.
Das Elektroauto holperte über den Bordstein auf den Parkplatz, und Angersbach erdreistete sich prompt zu dem Kommentar, dass die Federung ganz schön unbequem sei. »Wie bitte?« Sabine warf ihm einen empörten Blick zu. »Für ein Format wie diesen Hasenkasten ist die Federung zu hart«, bekräftigte dieser seinen Standpunkt, und sofort schnellte Sabines Zeigefinger in Richtung des Lada. »Wollen Sie dieses Fass tatsächlich aufmachen? Nennen Sie das, was in Ihrer Kiste verbaut ist, etwa eine angemessene Federung? « »Meine Kiste, wie Sie es nennen, ist eine vollkommen andere Fahrzeugklasse«, entgegnete Angersbach trocken, ohne sich auf das angriffslustige Funkeln in Sabines Augen einzulassen. »Na, von einem eleganten grünen Jeep, wie die Wischnewski ihn gesehen haben will, ist er aber einige Klassen entfernt«, frotzelte sie. »Gehen Sie noch mal rein?« Angersbach klimperte mit seinem Schlüsselbund und nickte in Richtung seines Wagens. »Wollte mir noch einige Notizen machen und ein paar Sachen recherchieren. Sie nicht?« »Nichts, was nicht auch noch morgen früh erledigt werden könnte. Schulte und alle anderen sind längst weg, und an den Computer kann ich mich auch zu Hause setzen. Da habe ich wenigstens eine Couch.«
Und eine ätzende Halbschwester.
»Fahren Sie nur.« Sabine Kaufmann wollte ihn offenbar loswerden. Hatte er sie etwa verärgert? »Na, dann drehe ich wenigstens noch einen kurzen Schlenker bei Frau Ruppert vorbei«, schlug Angersbach vor. »Die Sache mit dem Schuss hat sich ja nun wohl erledigt, trotzdem stößt mir das Ganze noch bitter auf. Halten Sie es für möglich, dass sie sich den Schuss nur eingebildet hat und jetzt aus Stolz oder Scham an ihrer Aussage festhält?« Sabine Kaufmann überlegte kurz und sagte dann: »Ob ich so weit gehen würde, weiß ich nicht. Aber wenn Sie ihr noch mal auf den Zahn fühlen wollen, nur zu.« Als Angersbach sich in Richtung seines Lada abwandte, konnte sich die Kommissarin einen spöttischen Kommentar nicht mehr verkneifen: »Ich dachte, Ihre Couch wartet auf Sie? Ihr malträtiertes Gesäß schien doch förmlich danach zu schreien.« Sie ist verärgert, registrierte Angersbach und verkniff sich eine spitze Gegenbemerkung. Sollte kein himmlisches Wunder geschehen sein und Janine sich entmaterialisiert haben oder wenigstens mit ihrem obskuren Lover auf Nimmerwiedersehen durchgebrannt sein, musste er mit seiner verbalen Munition sparsam sein.
Die Dunkelheit hatte sich längst wie eine Decke über die Stadt gelegt, nur dass sie statt behaglicher Wärme nur Einsamkeit brachte und neuen Frost. Der Fernseher flimmerte, es lief der Weltspiegel mit einem Bericht über einen Einsiedler, der in den polnischen Wäldern lebte. Sabine schaute desinteressiert zu, die Hand um ein halbleeres Glas Rotwein geschlossen, in dem sich die Lichtreflexe des Bildschirms spiegelten. Der Mann war zur Gänze in Pelz gekleidet und schien sich ausgesprochen wohl zu fühlen. Na, wenigstens hat er Sonne und Schnee. Die Kommissarin hingegen fröstelte schon beim Gedanken daran, ihre wärmende Decke zu verlassen, in die sie sich eingerollt hatte. Mit einem großen Zug leerte sie das Glas und stellte beim Nachschenken fest, dass die Flasche beinahe leer war.
Prima, dachte sie zerknirscht. Rechnerisch war es nur ein Dreiviertelliter Wein, kein Grund also, das Ganze überzubewerten. Doch es waren die Rahmenbedingungen, die das Ganze bedenklich machten. Sabine konnte nicht umhin, an die Jahre zurückliegenden Alkoholexzesse ihrer Mutter zu denken. Diese Zeiten mochten längst vergangen sein, aber die Narben in ihrer Seele schmerzten, als sei es erst gestern gewesen. Ein als dienstfrei geplanter Sonntag war vorübergegangen, und anstatt sich um ihre Mutter zu kümmern, deretwegen Sabine immerhin den Wechsel von Frankfurt hierher angestrengt hatte, war ihr Tag von völlig anderen Dingen bestimmt gewesen. Dem Aufschneiden eines Toten zum Beispiel, der vermutlich gar kein Mordopfer war. Dazu die womöglich gänzlich fruchtlosen Vernehmungen - im Falle eines natürlichen Todes reine Zeitverschwendung - und, was am allerschlimmsten war, die stichelnden Wortgefechte mit ihrem neuen Kollegen. Angersbach hielt sich wohl für besonders witzig, wenn er den Eigenbrötler mimte, vielleicht war er auch tatsächlich bislang nicht damit angeeckt. Aber Sabine kam mit seiner Art und Weise nicht zurecht, er war bei Vernehmungen fahrig oder schlichtweg unfreundlich und spielte seine Trümpfe, sämtliche Kollegen zu kennen, bei jeder Gelegenheit aus.
Tue ich ihm unrecht? Nein.
Er wickelte sie jedes Mal, wenn er sie vor den Kopf gestoßen hatte, wieder um den Finger und hatte sich mit dieser Masche durch den gesamten Tag gemogelt. Angreifbar gemacht hatte er sich nicht, wahrscheinlich würde er sie glatt an die Wand reden, wenn sie ihn damit konfrontierte. Verzweiflung ergriff Besitz von ihr, und sie sehnte sich in diesem Augenblick ihre Mutter herbei, die vermutlich längst eingeschlummert war, denn die Psychopharmaka machten sie unendlich schläfrig.
Oder die starken Arme ihres Freundes Michael, der sich als IT-Experte im Frankfurter Präsidium verdingte. Doch Michael war mal wieder nicht da, wie so oft in letzter Zeit. Seit zweieinhalb Jahren waren die beiden nun ein Paar, und Sabine musste sich eingestehen, dass sie diesen gutaussehenden Mann abgöttisch liebte. Sie war ihm, ohne dies anfangs zu wollen, völlig verfallen, und wenn sie zusammen waren, fühlte sich das Leben so leicht und beschwingt an, dass alles andere nicht zählte. Doch sobald der Job, ihre Mutter oder sonst etwas sie auseinanderdividierte, kam sofort das schwarze Loch mit seiner bedrückenden Schwere und den finsteren Dämonen.
Bleibt er bei mir? Was, wenn er eine andere findet? Eine, die unkomplizierter ist. Eine Frau mit heilem Elternhaus für eine Schar dunkelblonder Kinder. Sabine Kaufmann hatte es weder nötig noch hatte sie es gewollt, sich jemals derart von einem Mann abhängig zu machen. Doch gegen den Strudel ihrer Gefühle war sie machtlos. Michaels Handy war ausgeschaltet, im Flugzeugmodus oder in einem Funkloch, was auch immer. Gerade jetzt, wo sie seine warme, beruhigende und erotisierende Stimme so dringend gebraucht hätte. Sie war allein, niemand greifbar, bei dem sie ihrem Frust über die Gesamtsituation hätte Luft machen können.
Ein Job, bei dem dich jeder betrachtet, als seist du eine Zicke aus der Großstadt, die sich wichtig macht. Ein Kollege, der sich als Kotzbrocken aufspielt, kaum dass er einen Tag dazugehört. Eine Mutter, bei der du dich nicht ausheulen kannst, weil du ihr dann eingestehen müsstest, dass du nur ihretwegen hierher gewechselt bist. Und die dich, selbst wenn es so weit käme, sowieso nicht verstehen würde.
Ein Freund, der vom ersten Tag an keinen Hehl daraus gemacht hat, dass er den Wechsel zwar unterstützt, aber nicht für richtig empfindet.
Und dann war da noch Heiko Schultz.
Ein Kollege, der bei einem völlig alltäglichen Zugriff durch einen siebzehnjährigen Messerstecher draufgehen musste.
Die Beerdigung war eine Katastrophe gewesen. Eine stoisch am Grab stehende, hochschwangere Frau, an der Hand ein teilnahmslos dreinblickendes Kleinkind von vielleicht drei Jahren. Schluchzende Angehörige, dazu weiße Schneeflocken, die sich auf den schwarzen Trauerkleidern niederschlugen. Blicke der Schuldzuweisung, nicht gegenüber Sabine, sondern an sämtliche Kollegen gerichtet, die äußerst zahlreich vertreten waren. Nicht das Messer war es, das Simone Schultz ihren Mann genommen hatte, es war dieser gottverdammte Job.
Halt!
Eine Stimme in Sabines Kopf begann zu rufen, immer lauter werdend, bis die Kommissarin ihr endlich Beachtung schenkte. Selbstmitleid? Dafür bist du zu jung!, insistierte das verborgene Ich. Zu jung, zu engagiert, zu stolz. Sabine wusste das alles und war dankbar, diese Stimme vernommen zu haben. Ihre Verzweiflung war nicht rational, der Tränenschleier auf ihren Netzhäuten gehörte dort nicht hin. Die Konturen des Wohnzimmers waren längst verschwommen, doch sie war plötzlich wild entschlossen, die Kontrolle zurückzuerlangen. Zumindest über die Bereiche, in denen sie etwas verändern konnten. Hastig kippte sie den restlichen Wein hinunter und schmiedete einen Schlachtplan. Michael war nun mal nicht greifbar, daran konnte sie nichts ändern. Ihre Mutter würde sie morgen im Laufe des Tages besuchen. Und Angersbach? Sabine knallte das leere Weinglas zurück auf den Couchtisch und schnaubte entschlossen.
So nicht, Herr Kollege, nicht mit mir!
Ab morgen würde sie andere Saiten aufziehen.
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Sie steuerte geradewegs auf Gedern zu, am nördlichen Zipfel der Wetterau gelegen und geographisch betrachtet längst dem Vogelsberg zugehörig. Kaum, dass man die flache, von Feldern und verinselten Waldstücken beherrschte Region verließ und sich von der flach gelegenen Mainmetropole entfernte, erhoben sich die unzähligen Kuppen und Höhenzüge eines beachtlichen Vulkanmassivs. Inaktiv, selbstverständlich, und das bereits seit sieben Millionen Jahren. Von lokalpatriotischen Gelehrten wurde er verbissen als Europas größter Schildvulkan verteidigt, an den umliegenden Hochschulen jedoch lehrte man das Gegenteil. Der Vogelsberg war der überwiegenden Meinung nach das größte Basaltmassiv Europas, also immer noch ein Superlativ, allerdings nicht mehr als eine Ansammlung einzelner Vulkanschlote. Wie auch immer, sein höchster Gipfel, der Hoherodskopf, lockte Sommer- wie Wintersportler gleichermaßen. Darunter auch Sabine Kaufmann. Langlauf, Rodeln, Walken - wann immer das monotone Grau des ewig dauernden Winters sie zu erdrücken drohte, flüchtete die sportbewusste Zweiunddreißigjährige sich hierhin. Der Große Feldberg im Taunus lag zwar deutlich näher, war allerdings meist überlaufen, und das auch noch von einer unerträglich selbstverliebten Schickeria der Reichen und Schönen und jener, die sich in verzerrter Selbstwahrnehmung für das eine oder andere hielten.
Muskelkontraktion.
Schweiß glänzte auf Sabines Handrücken, ihre Stirn war längst von salzigen Perlen bedeckt, und sie dankte Gott, dass niemand sie sehen konnte. Zumindest nicht von vorn. »Alles okay?« »Natürlich«, presste sie hervor. Unter der Baumwolle ihres grauen Sportpullovers begann es zu jucken, und zwar unter den beiden hochgezogenen Bünden der Ärmel, die sich kurz unterhalb der Ellbogen eng über die sanft gebräunte Haut spannten.
Bloß nicht zucken.
»Gleich sind wir da, sehen Sie da vorn?«
Ich bin ja nicht blind.
Der tiefe Klang der voluminösen, von einer beneidenswerten Ruhe geprägten Stimme, schien den gesamten Innenraum einzunehmen. Dabei hatte der Mann kaum eine Ähnlichkeit mit Rebroff oder Pavarotti, von einer gewissen Fülle des Bauches einmal abgesehen. Stattdessen wirkte sein Oberkörper, als habe die Natur ihn versehentlich mit zwei oder drei zusätzlichen Rippenbögen ausgestattet. Sabine schätzte, dass er über ein beachtliches Lungenvolumen verfügte, ein überdimensionaler Resonanzraum wie bei einem mannshohen Subwoofer. Statt der üblichen Serpentinen und schmaler Nebenstraßen, die sich zwischen Viehgattern und eng stehenden Douglasien hindurchschnitten, bereitete sich nun eine lange Gerade vor ihnen aus. Keine Steigung, keine Kurven, keine Abzweigung. Alles schien perfekt bereitet. Doch die Kommissarin konnte sich nicht entspannen. Ihr Blick huschte hinab auf den Tachometer, verharrte für eine Sekunde auf dem Lüftungsregler, dann schnell wieder nach vorn. Café au Lait, ein Croissant mit Nutella und ein bis zwei Stunden Wiederholungsprogramm im Fernsehen. Das Leben könnte so einfach sein. »Jetzt haben wir's gleich«, dröhnte es von hinten, und ein plötzlicher Ruck des Lenkers ließ der Kommissarin das Blut in den Adern gefrieren. Wie von Geisterhand fuhr der grasgrüne Horizont vor ihren Augen nach oben, und in ihrem Magen wurde es fl au. Bald war nur noch eine grüngolden schillernde Fläche zu sehen, immer näher kommend, und aus dem fernen Nirwana hörte Sabine noch die Frage, ob sie Hilfe brauche. Einige Sekunden später setzte der Doppelsitzer auf der Landebahn auf.
Für den Fluglehrer, der seit Wochen auf eine schneefreie Wiese und entsprechende Thermik gehofft hatte, ging eine vielversprechende Schnupper-Flugstunde zu Ende. Er hatte die interessierte Städterin ohne allzu große Eingriffe manövrieren lassen, und sie hatte sich dabei auch nicht dumm angestellt. Für Sabine Kaufmann jedoch zählten nur die letzten Minuten. Das Thema Segelfliegen, eine fixe Idee, mit der sie seit geraumer Zeit schwanger gegangen war, war für sie an diesem Vormittag gestorben. Vermutlich endgültig. So wie der Tod es nun einmal an sich hat.
Stunden später, als Sabine nach einem ausgiebigen Marsch durch die kalte, klare Luft mit puterroten Wangen in ihren alten Ford Focus sank, verspürte sie ein Brummen in der Magengegend. Hunger, diagnostizierte sie zunächst, doch da war noch etwas anderes. Tief im Inneren ihrer Jack-Wolfskin-Jacke meldete sich die Zivilisation. Fünfhundert Höhenmeter weiter unten, siebzig Kilometer entfernt. Die Kommissarin verspürte keinen Groll. Ihr Bewegungssoll hatte sie erfüllt, und jeder Weg, der sie auf sicheren Boden zurückführte, war ihr recht.
Trotzdem ist mein freier Tag.
Sabine Kaufmann blickte auf eine vergleichsweise lange Karriere im Polizeidienst zurück, denn sie hatte seit ihrer Jugendzeit nie etwas anderes werden wollen als Polizistin. Nach dem Abitur folgten die üblichen Instanzen der Ausbildung, irgendwann war sie beim berüchtigten Sittendezernat gelandet und hatte das Frankfurter Rotlichtmilieu besser kennengelernt, als sie es je wollte. Ein immerwährendes Hamsterrad, zuerst kam die Gewalt, in der Regel gegen Frauen, die sich nicht zu wehren vermochten. Dann die Angst. Vor einer Aussage, vor der Abschiebung - die Hintermänner wussten, wie sie ihre Schäfchen lammfromm hielten. Und dann neue Gewalt, um sicherzustellen, dass die Gefügigkeit blieb. Ab und an gelang es einem Mädchen, sich daraus zu befreien, auszubrechen, doch das war die große Ausnahme. Nennenswerte Verurteilungen erfolgten trotzdem nicht, denn am Ende erklärte sich doch kaum eine Frau zu einer Aussage bereit. Wenn, dann erwischte es ohnehin nur Handlanger, denn die Zuhälter verbargen sich gekonnt und blieben somit unantastbar. Gepaart mit dem nötigen Schmiergeld eine bombensichere Angelegenheit, denn es war kein Geheimnis, dass der Main nur ein Fluss sekundärer Bedeutung war. Dollar und Euro bildeten das Elixier, welches die Stadt pulsieren ließ. Sabine Kaufmann verband mit jener Zeit nicht viele positive Erinnerungen, ihre gewachsene Menschenkenntnis und Erfahrungswerte wollte sie allerdings nicht missen. Sobald sich eine Gelegenheit bot, wechselte sie zur Mordkommission, wo sie sich die vergangenen fünf Jahre verdingt hatte. Etwas anderes als das Polizeipräsidium Frankfurt hatte sie noch nicht kennengelernt, Hessens modernstes und größtes Präsidium, und es war ihr nicht leicht gefallen, die Mainmetropole zu verlassen. Doch es gab einen Menschen, der sie zurzeit mehr brauchte: Hedwig Kaufmann, ihre Mutter. Hedi litt unter einer Persönlichkeitsstörung, deren Zyklen in den vergangenen Jahren kürzer und vor allem tiefgreifender geworden waren. Zudem war sie geschwächt von jahrelanger Trunksucht. Es bedurfte keiner intensiven, aber einer regelmäßigen Begleitung, und sonst gab es niemanden, der das hätte übernehmen können. Sabine Kaufmann hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, als eine Stelle in Bad Vilbel ausgeschrieben wurde, der Stadt, in der sie aufgewachsen war und wo ihre Mutter noch immer lebte. Sie hatte eine Wohnung auf dem Heilsberg gefunden, die größer und heller war als ihre Frankfurter Bude und von deren Balkon sie hinüber auf die Skyline blicken konnte. Alles in allem also stand nicht alles zum Schlechten, wenn man es genau betrachtete.
Das Handy.
Sabine las die SMS, welche ihr verriet, dass sich der verpasste Anrufer mit einer Sprachnachricht auf der Mailbox verewigt hatte. Sie tippte den Touchscreen kurz an, die Verbindung wurde aufgebaut und gleich wieder unterbrochen. Stirnrunzelnd musste sie feststellen, dass der Empfang gen Null ging. Laut diversen Bemerkungen, die man im geologischen Informationszentrum aufschnappen konnte, übte der Vogelsberg, dessen Basalt mit einem hohen Eisengehalt angereichert war, eine gewisse Magie auf die Dinge aus. Verwechselte da jemand Geologie und Theologie?
Magnetischer Berg blockiert Netzempfang?
Nach Sabines Einschätzung lag es eher daran, dass sie seit Stunden keinen Funkmast mehr wahrgenommen hatte - ein weißes, rundes Funkfeuer für Verkehrsmaschinen, welches das bärbeißige Volumenwunder ihr von oben gezeigt hatte, einmal außer Acht gelassen. Die Nachricht stammte von einem ihrer neuen Kollegen, der sie mit einer Wahrscheinlichkeit von neunzig Prozent von neuen Entwicklungen im sogenannten Ballermann-Fall in Kenntnis setzen wollte. Mit Mallorca, derzeit unvorstellbare sechzehn Grad warm und mit einer beneidenswerten Sonnenscheindauer, hatte der Fall leider nichts gemein. Vielmehr rührte der Name daher, dass vorgestern, in der Nacht von Freitag auf Samstag, in der Innenstadt Bad Vilbels Schüsse gefallen waren. Es gab unzählige Zeugenaussagen, doch diese waren von Vorurteilen und inhaltlichen Diskrepanzen derart zersetzt, dass sie zu keiner brauchbaren Täterbeschreibung führten. Je tiefer man bohrte und je länger man fragte, desto mehr kristallisierte sich heraus, dass es sich um zwei bis vier Jugendliche gehandelt hatte. Im Zweifelsfall waren es immer Jugendliche, die für störenden Lärm verantwortlich waren. Dunkelhaarig, versteht sich, mit südosteuropäischem Akzent. Auch eine schwarze Pistole wollte jemand zweifelsfrei erkannt haben. Oder eine Schrotflinte. Oder eine Kalaschnikow. Man musste nur lange genug fragen. Trotz der räumlichen Nähe zu Frankfurt wies Bad Vilbel eine eher beschauliche Kriminalitätsrate auf. Innerhalb des Wetteraukreis lag sie dennoch relativ weit oben, und die Aufklärungsquote ließ Wünsche offen, das Kreuz, wenn man so nahe an der statistisch betrachtet kriminellsten Stadt Deutschlands lag. Es gab vergleichsweise wenige Gewaltdelikte, aber wenn es zu einem besonders unschönen Szenario kam, durchflutete eine Welle der Empörung die Stadt. Der letzte Mord hatte sich nur wenige Gehminuten von Sabines Wohnung in der Heilsbergsiedlung zugetragen. Ein zurückgezogen lebender Mann, seit vielen Jahren geschieden, Frührentner mit neunundfünfzig Jahren. Seine Eltern waren 1946 aus dem Sudetenland vertrieben worden und gemeinsam mit etlichen anderen auf der südlichen Anhöhe Bad Vilbels sesshaft geworden. Diese alte Generation starb nun nach und nach aus. Enkel hatte der Mann keine, und lediglich eine Putzfrau kam dreimal die Woche, um Wäsche zu waschen und die Wohnung zu putzen. Ironie des Schicksals, denn sie stammte aus Tschechien, aber das war zwischen den beiden nie Thema gewesen. Der Mann interessierte sich weder für seine Herkunft noch für Politik noch ging er aus. Es war eben jene Putzfrau, die ihn schließlich aufgefunden hatte, letzten Donnerstag, am unteren Ende seiner Kellertreppe. Sie hatte sich noch gewundert über die ausgekühlte Wohnung, was daran lag, dass die Terrassentür sperrangelweit offen stand. Vermutlich hatte sie deshalb auch nicht den verräterischen Leichengeruch wahrgenommen, denn durch die ebenfalls geöffnete Flurtür hatte die gesamte Wohnung arktische Temperaturen angenommen. Verzweifelt hielten die alten Rippenheizkörper dagegen, und der Brenner lief auf Hochtouren. Eine Klimakatastrophe im Kleinen. Die Putzfrau war mit dem Wäschekorb vor der Brust hinabgestiegen und wäre beinahe über den ausgestreckten Fuß ihres Arbeitgebers gestolpert. Ein spitzer Schrei, die herabfallende Wäsche begrub den halben Körper unter sich, dann schwanden ihr die Sinne. Für die Spurensicherung war es eine Katastrophe, denn die Frau hatte ihrem ureigenen Trieb nachgegeben und das Haus in Ordnung gebracht, bis jemand eintraf. Umso leichter war es für die Rechtsmedizin. Schlag auf den Kopf, diverse Frakturen vom Sturz treppabwärts inklusive ausgeschlagener Schneidezähne und zu guter Letzt Genickbruch. In dieser Reihenfolge. Wegen des prämortalen Schlages auf die Schädeldecke musste man von einem Tötungsdelikt ausgehen, ausgeführt durch einen mutmaßlich hölzernen Gegenstand, vermutlich ein Baseballschläger. Die Befragten zeigten sich zunächst bestürzt angesichts dieser kaltblütigen Gewalt. Doch sie ertrugen es mit Fassung. Man lebte nun einmal in Frankfurts düsterem Schatten. Jener bösen Stadt, deren Übel viel zu oft über den Hügel schwappte.
Montag
MONTAG, 18.FEBRUAR 2013
Sabine Kaufmann betrat das Büro pünktlich um acht, wie sie es gewohnt war. Das Wochenende war viel zu schnell vergangen. Nach ihrem Ausflug in den Vogelsberg, dem ursprünglich ein abendlicher Bummel mit ihrer Mutter Hedwig hatte folgen sollen, war Sabine neunmal von ihrem Handy gestört worden. Es gab zwar kaum Neuigkeiten über die suspekte Schießerei, und auch der Mord in ihrer Nachbarschaft erwies sich als eine von Sackgassen geprägte Ermittlung; doch sie war nun mal die einzige Ansprechpartnerin vor Ort beim neu ins Leben gerufenen K10, wie sich das hiesige Morddezernat nannte.
Zwei Wochen noch.
Dann sollte der neue Kollege aufschlagen, ein Ermittler aus Gießen, von dem die Kommissarin bis dato kaum etwas wusste. Doch für solche gedanklichen Ausflüge hatte sie ohnehin keine Zeit. Sabine hatte ihren Dienst am ersten Januar begonnen, und es war ihr weder bei ihrer kurzen Stippvisite zwischen den Jahren noch an ihrem ersten Dienst-Tag, einem Mittwoch, entgangen, dass man sie in der Polizeistation höchst argwöhnisch beäugte. Die Neue, die Großstadttussi, dieser blonde Hüpfer mit den Allmachtsphantasien.
Zugegeben, niemand sagte etwas, aber Sabine Kaufmann wäre eine schlechte Kriminalbeamtin, wenn sie nicht die typischen Gesichtsausdrücke decodieren könnte. Schiefes Grinsen, plötzliches, betretenes Schweigen, Tuscheln - sie hatte dieses Machoverhalten bereits bei der Sitte kennengelernt. Immun dagegen war sie allerdings nicht. Konrad Möbs, der Dienststellenleiter, der seinem Ruf nach so etwas wie der Fels in der Brandung sein musste, leitete die Bad Vilbeler Polizeiwache seit über zwanzig Jahren. Anstatt viele Worte zu machen, hatte er den anwesenden Kollegen Sabine kurz vorgestellt und sie im Anschluss ein wenig hilflos im Raum stehen lassen. Später hatte er sie noch einmal aufgesucht und ihr zu verstehen gegeben, dass, wenn sie etwas brauche, nicht bei ihm, sondern gleich in der Kreisstadt Friedberg anfragen müsse. Für ausufernde Ermittlungsarbeiten fehlten schlicht und ergreifend die Mittel. Das Experiment K10 sei ohnehin ein fragwürdiges Unterfangen, schloss er unmissverständlich. Bis auf einen jungen Polizeibeamten waren alle Kollegen älter, und es gab keine weitere Ermittlerin. Sabine war ausgezogen, um die Bad Vilbeler Gewaltverbrecher das Fürchten zu lehren. Doch Punkt eins der Tagesordnung war eine unsichtbare Barriere, die zwischen ihr und einer angestaubten Männerdomäne stand. Diese galt es niederzubrechen - oder abzubauen, und das sah nicht besonders vielversprechend aus für eine Frau, die schon äußerlich weitaus zarter gebaut war als sämtliche ihrer Gegner. Von ihrem Innenleben bekam zum Glück keiner etwas mit. Sabine schaltete den PC ein und öffnete während des Hochfahrens das Fenster ihres kleinen Büros, in dem zwei Schreibtische einander gegenüberstanden, einer davon leer. Die strahlende Wintersonne hatte sich längst wieder hinter dem seit Monaten vorherrschenden Grau verborgen, und wenn man dem Wetterbericht Glauben schenkte, würde der Frühling noch sehr lange auf sich warten lassen. Irgendwie kein Wunder, nachdem der Sommer 2012 bereits so aus dem Ruder gelaufen war. Die Klimaveränderung? Es gibt also doch einen Zusammenhang, dachte Sabine bissig. Seit dem spektakulären Ende der Laufbahn eines berühmten Meteorologen spielte das Wetter verrückt. Fakt war, dass der Mangel an Sonne selbst die fröhlichsten Gemüter in Depressionen zu stürzen drohte. Und Sabine zählte sich momentan gerade nicht zur Gruppe der Frohgelaunten. Noch bevor sie die Kaffeemaschine darauf vorbereiten konnte, ihre Produktion schwarzen Goldes aufzunehmen, meldete sich das Telefon. Es war Möbs, was sie etwas irritierte, denn er saß kaum zehn Meter entfernt von ihrem Büro, und ein wenig Bewegung hätte seiner Konstitution sicherlich nicht geschadet. »Es gibt Arbeit im Ballermann-Fall«, eröffnete er ihr. »Hervorragend«, erwiderte sie halbernst, »und welcher Art?« »Es gibt augenscheinlich einen Zusammenhang zwischen den Schüssen und dem Heilsberg-Mord.« »Oha!« Sabine wurde hellhörig, und ihre Gedanken begannen zu rasen. »Ich bin ganz Ohr«, fügte sie hinzu und griff sich Stift und Papier. »Gestern Abend ist ein junger Mann dabei gesehen worden, wie er eine Waffe in der Nidda entsorgt hat. Ein Schrebergärtner hat ihn beobachtet und bis zu seinem Auto verfolgt.« Möbs lachte kurz auf. »Da soll mal einer sagen, es gebe keine Zivilcourage mehr unter den Menschen. Aber ich erspare Ihnen die Details. Die Halterabfrage führte zu einem Treffer, eine halbe Stunde später war der Kleine dingfest.« »Hm. Der Kleine?« »Er ist gerade siebzehn, ein Milchbubi«, erklärte Möbs seine Wortwahl. »Und er hat geschossen?« »Das zumindest hat er ohne großen Widerstand zugegeben. Eine Beteiligung an der anderen Tat streitet er vehement ab.« »Aber er war anwesend?«, hakte Sabine nach. »Sie wissen doch, wie das läuft, mitgegangen, mitgefangen ...«, seufzte Möbs. »Er hat zweifelsohne mitbekommen, was sich abgespielt hat, und später dann kalte Füße gekriegt. Mit einem Mord will er nichts zu tun haben, das hat er immer wieder beteuert. Also ist auch schon sein Anwalt aufgekreuzt. Der Kleine kommt nämlich aus gutem Hause, da weiß man offenbar, wie der Hase läuft.« »Ich höre da ein Aber in Ihrer Stimme?« »Nun ja, die Familie des Jungen ist hier bei uns ziemlich angesehen. Klar, dass sie seine Weste reinhalten wollen«, mutmaßte Möbs und räusperte sich. »Der Bengel lieferte daraufhin bereitwillig zwei Namen, beides Typen, die bereits vorbestraft sind. Er wird gegen sie aussagen und kommt selbst ungeschoren aus der Sache. Soweit der Deal.« Sabine überlegte kurz. Der Handel wirkte übereilt, denn in dem Fahrzeug würden sich unter Garantie Fingerabdrücke finden, die zu denselben beiden Personen führten. Andererseits konnte die Spurensicherung Tage damit verbringen, aus einem Auto Spuren zu extrahieren, und weder Haare noch Hautpartikel oder Fingerabdrücke ließen sich im Nachhinein in ein enges Zeitfenster ordnen. Womöglich war der Bengel ihre einzige Chance, den Fall aufzulösen, bevor es zu weiteren Überfällen kam. Aber es schmeckte ihr nicht. »Da steckt doch noch mehr dahinter, oder?«, erkundigte sie sich missmutig. »Es gab noch weitere Hauseinbrüche, die in das Schema passen könnten«, rechtfertigte sich Möbs. »Allerdings kam bislang niemand zu Schaden. Irgendwo in dieser Stadt könnte es also einen recht ansehnlichen Berg Diebesgut geben.« »Quatsch, das haben die doch längst fl üssig gemacht.« »Ihr Job, das herauszufinden«, gab Möbs zurück. Er diktierte der Kommissarin zwei Namen und die zugehörige Anschrift, eine Adresse im Nordosten der Stadt. »Im Rosengarten«, wiederholte Sabine gedankenverloren. Sie war in Bad Vilbel aufgewachsen und kannte sich aus. Was nach einem beschaulichen Blumenviertel klang, war in Wahrheit der Standort einiger heruntergekommener Hochhäuser, in denen sich größtenteils Sozialwohnungen befanden.
Und um die Ecke eine Moschee.
»Sagten Sie nicht, dass dieser Junge aus gutem Hause stammt?« »Er schon, die wohl eher nicht«, entgegnete Möbs scharf. »Haben diverse Zeugen nicht zu Protokoll gegeben, dass es sich um südländische Typen gehandelt haben soll?« »Nicht ausschließlich«, verneinte Sabines Boss. »Die Aussagen widersprechen sich, sobald sie ins Detail gehen.« »Stimmt«, erinnerte sie sich. Es war nicht weiter verwunderlich. Man brauchte nur lange genug bei den richtigen Personen nachzuhaken, und bereitwillig wurde die nächstbeste Minderheit angeprangert. Die Nähe des Rosengartens zur Moschee in der Büdinger Straße war offensichtlich nur Zufall. »Sie fahren aber nicht allein dorthin!« Möbs' mahnende Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass dies nicht nur ein gut gemeinter Ratschlag war. »Diese Typen haben ein ellenlanges Register und nichts zu verlieren.« »Darf ich mich in unserem Personalpool also nach Belieben bedienen?«, stichelte Sabine. »Nein. Sie treffen die Kollegen der Kripo Friedberg vor Ort. Wenn Sie jetzt losfahren, dürften Sie zeitgleich eintreffen.« Damit war das Gespräch seitens Möbs beendet, und er hängte grußlos ein.
Die feuchtkalte Witterung schien mit eisiger Hand auf die Abgase zu drücken und diese am Aufsteigen zu hindern. Die Luft schmeckte förmlich nach Kohlenmonoxid und Feinstaubpartikeln, wenngleich das wohl größtenteils Einbildung war. Sabine atmete schwer, als sie ihren Wagen verließ, dessen Innenraum sich auf dem kurzen Weg kaum aufgeheizt hatte. Mit Engelszungen und Stoßgebeten hatte sie die alte Karre zum Starten überredet und sich anschließend gegen den Strom aus Berufspendlern durch die Stadt gekämpft. Das Ende des in die Jahre gekommenen, metallicgrünen Ford nahte mit eiligen Schritten. Zehn Tage Minimum. So lange musste er noch durchhalten, bis ihr neuer Wagen geliefert wurde, ein Renault, Sabines erster Neuwagen. In das Modell hatte sie sich schon im letzten Herbst verliebt, sie seufzte kurz und betätigte die Zentralverriegelung. Jetzt war kein Platz für Schwärmereien. Sabine suchte mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung ab, bis sie entdeckte, wonach sie Ausschau gehalten hatte. Ein VW-Transporter, hinter dessen Scheiben sie drei Personen ausmachte, der Fahrer stand draußen und rauchte, erwartete sie in angemessener Entfernung zur verabredeten Adresse. Zwei Kollegen kannte die Kommissarin bereits vom Sehen, eine junge Frau - endlich mal eine Frau! - sah sie zum ersten Mal. Außerdem dabei war Heiko Schultz, ein korpulenter Polizeibeamter ihres Alters, dessen Laufbahn mit Sabines begonnen hatte. Vor ein paar Wochen hatten sie sich nach Jahren wiedergesehen, Erinnerungen ausgetauscht, und nun standen sie kurz davor, ihre erste gemeinsame Aktion durchzuführen. »Möchtest du nicht nach Bad Vilbel wechseln?«, hatte Sabine Heiko noch im Januar gefragt, als sie sich eines Abends durch das Friedberger Nachtleben bewegten. Doch er hatte nur gelacht. »Meine Frau würde mir die Hölle heißmachen, wenn ich in ein kleineres Revier wechsle.« Im Laufe des Abends berichtete der wenig attraktive, aber sympathische Mann von seinem Häuschen auf dem Land, einer hochschwangeren Frau, die ihm gegen Ostern das zweite Kind schenken würde, und das alles mit jenem kaum zu ertragenden verklärten Blick, der sie stets berührte. Familie, Kinder, ein Haus ... Sabine Kaufmann hatte sich dazu gezwungen, dieses Idyll nicht mit ihren Sorgen zu belasten, und gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Auch du, mein Sohn Brutus. Wenn selbst ein Mann wie Heiko Schultz, zwar ungemein sympathisch, aber ansonsten weder ein Krösus noch ein Adonis, es zu einer Familie brachte, warum dann nicht sie? »Wir müssen das Überraschungsmoment nutzen.« Die etwas heisere Stimme des Beamten holte Sabine abrupt in die Gegenwart zurück. Ihr Blick wanderte die Gebäudefassade hinauf. Die Wohnung lag im vierten Stock, zu hoch, um sich über den Balkon abzusetzen, und zu tief, als dass sich die Flucht in Richtung Dach lohnen würde. Doch mit einem rationalen Handeln war nicht zwangsläufig zu rechnen. Einmal in der Falle, ohne Aussicht auf Entkommen, traten die niedrigsten Überlebensinstinkte eines Menschen hervor. Die Gruppe näherte sich dem Eingang. Anstatt wahllos zu klingeln, kam ihnen der Zufall zu Hilfe, und eine ältere Dame presste ihren Körper durch die Metalltür, in der Hand zwei Müllbeutel, aus denen es nach altem Käse stank. Sabine legte verschwörerisch ihren Finger auf die Lippen und gab der irritierten Frau zu verstehen, dass sie sich in Sicherheit bringen solle. Ihre Waffe hatte die Kommissarin noch nicht gezogen, aber die Gürtelholster ihrer Kollegen waren nicht zu übersehen. Misstrauisch brabbelnd entfernte sich die Alte in Richtung der metallenen Müllcontainer. Zwei Beamte sicherten das Treppenhaus in der dritten Etage, die Kollegin, die sich ihr als Petra vorgestellt hatte, schlich hinauf in die fünfte. Den Fahrstuhl hatte Heiko im Erdgeschoss mit einer zwischen den Türen eingeklemmte Zeitung blockiert. Ein spontaner Einfall, so simpel in der Durchführung, so verlässlich in seiner Wirkung. »Zeugen Jehovas?«, raunte er nun in Sabines Richtung, die ihn daraufhin verwirrt anblickte. Sie näherten sich der fraglichen Haustür, hinter der gedämpfte Stimmen zu hören waren. Vermutlich der Fernseher. »Wie? Quatsch!« Die Kommissarin fuhr herum und schüttelte entgeistert den Kopf, bis sie Schultz grinsen sah. Für gewöhnlich tarnte man sich als Hausverwaltung, Stromableser oder ähnliche Personen, denen auch schwere Jungs unbedarft die Türe öffneten, und sei es nur, um sie abzuwimmeln. »Dann Stadtwerke«, schlug er vor. »Meinetwegen. Ich klingele ...« »Von wegen! Als würde eine Blondine wie du bei den Stadtwerken arbeiten.«
»Mir machen zwei spätpubertäre Jungs aber eher auf«, konterte Sabine, doch Heiko hatte längst die Tür erreicht und bohrte seinen speckigen Zeigefinger auf den Klingelknopf. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich drinnen etwas rührte. Sabine vermutete, dass sie in der Wohnung auf mindestens zwei kreidebleiche, zugedröhnte Individuen stoßen würden, deren Gehirne noch viel zu träge waren, um zu verarbeiten, was sich abspielte. Doch sie täuschte sich. Nach dem zweiten Schellen näherten sich schlurfende Schritte, es schepperte, als eine Wade gegen einen Glastisch stieß, dann murrte von innen eine unverständliche Stimme. »Wnz ...« Hüsteln, dann, etwas lauter: »Was?« »Schultz, Stadtwerke Bad Vilbel. Ich soll die Thermostate prüfen.« Sabine grinste schief. Hätte Heiko vor ihrer Tür gestanden, sie wäre prompt darauf reingefallen.
Sehr überzeugend.
»Hä?« »Schultz von den Stadtwerken. Bitte machen Sie auf«, forderte er, diesmal mit etwas mehr Elan. Eine Türkette rasselte, dann öffnete sich ein schmaler Spalt. Dahinter zeigte sich ein unrasierter Mann in gebückter Haltung, dessen muskulöser Oberkörper aus einem Unterhemd quoll. Ungepfl egte Zehennägel lugten unter der schlaff hängenden Jogginghose hervor. Dann ging alles ganz schnell. Sabine drang mit ihrer Pistole im Anschlag in die Wohnung ein, durchforstete das im Halbdunkel liegende, nach kaltem Zigarettenrauch stinkende Innere, während im Flur Heiko Schultz den Überrumpelten über dessen Verhaftung informierte. Handschellen rasselten, doch es klang nicht nach erbitterter Gegenwehr.
»Ihr tickt ja wohl nicht richtig«, hörte Sabine, gerade als sie das Schlafzimmer betrat. Dort richtete sich erschrocken ein zweiter Mann auf, er war nur mit einer Unterhose bekleidet und wand sich aus dem zerwühlten Laken, das nicht wenige Brandlöcher aufwies und vermutlich seit Wochen nicht gewechselt worden war. Bevor er begriff, was geschah, drängte ihn Sabine auch schon in Richtung Wand. Eine Leibesvisitation konnte sie sich sparen, denn die knapp sitzende Unterhose verbarg unter Garantie keine tödliche Waffe oder sonst etwas von bedrohlicher Größe. »Ziehen Sie sich etwas an«, stieß die Kommissarin hervor, »aber ich warne Sie! Keine Tricks, meine Mündung zielt direkt auf Ihre Hühnerbrust.« »Einen Scheiß werd ich.« Es war mehr ein trotziges Knurren, aus dem kaum Angriffslust sprach. Sabine schaltete das Licht an, und sofort hob der Junge geblendet die Arme vors Gesicht. »Schalten Sie die Funzel aus.« »Werde ich nicht. Ziehen Sie sich nun an oder sollen wir Sie halbnackt aus dem Haus schleifen?« »Ihr könnt mir gar nichts«, wehrte er sich weiter, doch Sabine unterbrach ihn harsch. »Sie werden beschuldigt, an einem Einbruch beteiligt gewesen zu sein, infolgedessen ein Mann starb. Heilsberg, letzten Donnerstag, klingelt das was? Ich verhafte Sie wegen des dringenden Tatverdachts, und zwar wegen Mordes.« »Das können Sie mir nicht beweisen!«, spie der Junge aus. Er fröstelte und angelte sich eine Hose und einen Kapuzenpullover, in die er nacheinander hineinschlüpfte. »Wir werden sehen. Rumdrehen jetzt bitte und Hände auf den Rücken.« Sabine presste sich mit voller Kraft gegen den einen Kopf größeren, schlaksigen Körper. Beißender Schweißgeruch stieg ihr in die Nase, als sie die Handschellen um seine Handgelenke schloss. »Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Alles, was Sie von nun an sagen, kann gegen Sie verwendet werden.« Sie trat einen Schritt zurück, zuckte dann zusammen und erstarrte wie eine Salzsäule. Ein Schuss. Verdammt. Draußen war ein Schuss gefallen! Sabine Kaufmann packte den Mann am Schlafittchen und trieb ihn vor sich her in Richtung Ausgang. Vor ihren Augen spielte sich eine Action-Sequenz nach der anderen ab, Stirb langsam, Lethal Weapon, Departed ... Bilder, wie man sie zwangsläufig kannte, wenn der Lebensgefährte auf Actionfilme und Popcornkino stand. Die meisten Szenarien endeten mit einem blutüberströmten Bösewicht, der seinen letzten Atemzug aushauchte. Doch im heutigen Drehbuch war kein Happyend vorgesehen. Auf dem mit Flecken übersäten, zerschlissenen Teppichboden, die Schuhe noch auf dem Fußabtreter liegend, lag Heiko Schultz. Sabine schluckte. An seinem Kopf kniete Petra. Sie brauchte nichts zu erklären, Sabine zählte eins und eins zusammen. Die Wunde, die auf der Brust des massigen Körpers klaffte, stieß pulsierende Schwalle hellroten Blutes aus. Petras Hand lag darauf gepresst, vermochte aber die Kaskaden nicht zu stoppen. Nur sanft hob und senkte sich Heikos Brustkorb, die Pausen zwischen zwei Atemzügen wurden immer länger. »Ein Messer«, wisperte Petra tonlos. Sabine schluckte schwer, als sie sich hinabbeugte. Nur verwaschen nahm sie wahr, wie einer der Kollegen sich ihres Verhafteten annahm und Petras Stimme mit desperater Hysterie nach einem Notarzt verlangte. Aus den Augenwinkeln erkannte sie außerdem einen weiteren Körper, es handelte sich vermutlich um den Messerstecher, niedergestreckt von der Dienstwaffe eines Kollegen. Zu spät, wie eine innere Stimme grausam schrie. Aus den benachbarten Wohnungen strömten Schaulustige, das Stimmengewirr wogte auf und ebbte ab, doch all das war nur die grausame Hintergrundbegleitung des vor ihr liegenden Dramas. Eine Routineverhaftung. Ein toter Familienvater. Sabine schaffte es gerade noch, den Kopf zur Seite zu werfen, bevor sie sich übergab.
Zwei Wochen Später
Eisige Dunkelheit hüllte den Weidenhof ein. Nebeldunst lag über dem Kopfsteinpflaster und leckte an dem uralten Gebälk der ehemaligen Stallungen. Nahezu ungehindert durchdrang die feuchte Kälte den Bademantel des Mannes, der eilig den Innenhof überquerte. Er zog sich mit der Linken den Kragen enger, in der Rechten hielt er zwei Braunglasflaschen an deren dicken Hälsen, die bei jedem Schritt ein Scheppern verursachten. Jetzt, wo absolute Stille über dem Anwesen lag, wirkte es so laut wie der sprichwörtliche Elefant, der eine Scherbenorgie im Porzellanladen feiert. Doch niemand hörte ihn. Nicht einmal Gunnar Volz, der auf dem Hof lebende und arbeitende Knecht, war zu sehen. Der schweigsame Hüne mit dem düsteren Blick tauchte in der Regel immer dann auf, wenn man am wenigsten mit ihm rechnete, meist sah man zuerst seine leuchtend gelben Gummistiefel, danach seinen durchdringenden, wie magisch an einem haftenden Blick. Er stand dann einfach da und glotzte, nickte allenfalls kurz und verzog keine Miene. Doch zu dieser Nachtzeit schien selbst Gunnar zu schlafen. Ulf Reitmeyer erreichte die Stufen des Wohnhauses, in dem er auch sein Büro hatte, und kickte im Flur die Lederpantoffeln von den Füßen, an deren Sohlen nun Stroh haftete. Er drückte bedächtig die Tür ins Schloss und glitt auf Wollstrümpfen lautlos durch den Wohnbereich, hinüber in Richtung seines Zimmers, aus dem fahler Lichtschein drang. Eine Energiesparlampe tauchte den Raum in kaltes Weiß, er hatte sie längst durch eine Birne mit wärmerem Lichtspektrum ersetzen wollen. Ulf zog den kleinen Absorberkühlschrank auf, der sich unweit seines Schreibtisches in einer kubischen Schrankwand befand, und verstaute eine der beiden Flaschen dort. Die andere öffnete er, klackend schnalzte der Drehverschluss, als die einströmende Luft das Vakuum brach. Er wog das Glas in der Hand und beäugte das farbenfrohe Etikett. 500ml Bio-Kefir, eine schwarz-weiß gefleckte Kuh lachte breit, Sonnenblumen umgaben sie. Obwohl keines seiner Milchrinder auch nur jemals in die Nähe einer Sonnenblume kam, wusste Reitmeyer, dass seine Kunden mit diesem Sinnbild genau das assoziierten, was die Marketingfirma ihm versprochen hatte. Biologisch-dynamische Glückseligkeit. Trinkst du unseren Kefir, kommt der hundertste Geburtstag von ganz allein. Aber abgesehen von dem ganzen Brimborium schmeckte das Zeug auch verteufelt gut. Gierig trank Reitmeyer einen großen Schluck, danach einen weiteren. Er setzte die Flasche neben seiner Tastatur ab, entsperrte den Bildschirmschoner und setzte seine Arbeit fort. Fünf Uhr früh, dachte er zerknirscht. Die vergangenen sechs Stunden hatte er auf seiner Matratze verbracht, allein, schwitzend, und das, obwohl er bei gekipptem Fenster schlief und draußen laut Wetterbericht minus zwei Grad herrschten. Doch es gab Dinge, die hielten ihn wach, und falls die Müdigkeit ihn doch einmal übermannte, verfolgten die Dämonen ihn in seine Traumwelt. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen, er musste sie besiegen.
Doch was konnte man schon erreichen, sonntagmorgens um fünf, wenn selbst der debile Gunnar nicht draußen herumspukte? Reitmeyer schrieb noch zwei bitterböse E-Mails, löschte einige nicht minder freundlich klingende Aufzeichnungen auf seinem Anrufbeantworter und verschloss den ausgetrunkenen Kefir, um die Flasche anschließend in Türnähe zu deponieren. Den Rest sollte die Putzfrau erledigen, ebenso wie das Reinigen der Hauslatschen. Er legte seinen Hausmantel ab, schlüpfte in seine Laufkleidung, die er stets griffbereit hielt, und schob sich als kleine Stärkung eine Handvoll Nüsse und ein paar kandierte Ingwerwürfel in den Mund. Die Morgendämmerung hatte noch immer nicht eingesetzt, aber das machte nichts. Leichtfüßig und mit routiniertem Bewegungsablauf begann Ulf Reitmeyer seinen Lauf. Die frostig schmeckende Luft drückte wie nadelbesetzte Kissen in seine Lungenflügel, so lange, bis das Gewebe sich an die Witterung gewöhnt hatte. Wie Eiszapfen strich der Sog durch Nasenflügel und Stirnhöhlen, doch all das war längst kein Grund, einen Mundschutz zu tragen. Reitmeyer schätzte das Puristische, er stand in bestem Training und bog grimmig lächelnd an einer Wegkreuzung in einen nicht asphaltierten Feldweg ein, der hinüber zur Nidda führte. Sofort passte sein Bewegungsapparat sich an den unebenen Untergrund an. Er kannte die Strecke in- und auswendig. Im Gegensatz zu anderen Läufern, die sich nachmittags und abends in Gruppen zusammenrotteten oder jedes Mal eine andere Route wählten, suchte Reitmeyer die Einsamkeit des angebrochenen Tages, wenn alles still und friedlich dalag. Er trug nichts bei sich, kein Handy, kein MP3-Player, nichts, was ihn ablenken konnte. Nur er und die Natur, Zeit für Körper und Geist, in Einklang zu kommen. Und doch konnte er nicht so schnell laufen, dass er den Alltagsgedanken zu entfl iehen vermochte. Essentielles, spirituelles und philosophisches Denken musste sich hintenanstellen und materiellen Überlegungen weichen. Die Bilanzen waren hervorragend, wie sollte es in seiner Branche auch anders sein. Personell mussten einige unschöne Entscheidungen getroffen werden, aber auch das war ihm nichts Neues. Was ihn bedrückte, war etwas anderes. Schweiß lief ihm übers Gesicht, kullerte warm über die Wangen und tropfte, vom Hinabrinnen abgekühlt, vom bebenden Kinn in den Ausschnitt des Laufshirts. Der kurze Reiz löste ein sanftes Kribbeln an der betroffenen Stelle aus, Ulf beschleunigte weiter und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das schweißnasse Haar wippte im Takt seiner Schritte, und er stieß einen leisen Fluch aus. Verdammt! Nicht einmal beim Laufen gelang es ihm mehr, seine Sorgen abzuschütteln. Minuten später erreichte er den Niddaradweg, auch hier war keine Menschenseele unterwegs und nur ein einziges Auto war in der Ferne zu hören. Es näherte sich, dann entfernte es sich wieder, ohne dass Reitmeyer es ins Blickfeld bekam. Erneut Totenstille. Keine Vögel, keine Insekten, keine Kröten. Alles war erstarrt in dem ewig anmutenden Winterhalbjahr, dessen statistische Sonnenarmut längst Wochenthema der gelangweilten Medien geworden war. Globale Erwärmung? Die Kälte schaufelte Wasser auf die Mühlräder der Ungläubigen, für die es keinen Klimawandel gab. Äußerst kontraproduktiv. Dabei war es genau betrachtet ein völlig normaler Winter gewesen. Der fahle Schein einer Laterne warf einen kurzen Schatten unter ihn, als er den Lichtkegel unterquerte, dann verschwand er wieder. Knirschend rollten die Gelsohlen seiner Laufschuhe über den Bodenbelag, das Wasser der Nidda gluckste kaum hörbar in sanfter Bewegung, und alles in allem hätte es, trotz frostiger Kälte und trübem Morgenhimmel, ein idyllischer Märzsonntag werden können. Doch der Schatten, der sich über seinen Geist gelegt hatte, ließ sich nicht verjagen.
Etwas ist faul im Staate Dänemark.
Warum zum Teufel kam ihm dieses abgedroschene Hamlet- Zitat ständig in den Sinn? Gab es nichts Besseres? Das Wittern der Morgenluft, zum Beispiel, auf die er sich so krampfhaft zu konzentrieren versuchte. Doch etwas war faul und schien ihm nun über den Kopf zu wachsen. Es wucherte in seinem Inneren, wie endlos verzweigte Wurzeln eines kranken Geschwürs, und konnte nur von der Person geheilt werden, die für die Fäulnis verantwortlich war. Ihm selbst. Kälte überlief Ulf Reitmeyer, als er seine Schritte verlangsamte, und dann durchwogte ihn in jähem Kontrast zu seinem Frösteln ein heißer, innerer Schwall. Er zuckte zusammen, tänzelte, riss seine Rechte an die feucht glänzende Kehle und glaubte dort eine geschwollene Zunge zu schmecken, die sich wie ein Pfropf in seine Luftröhre zu schieben schien. Dann sackte er in sich zusammen, spürte das taunasse Ufergras unter sich, dann schwanden ihm die Sinne. Ein einsamer Star begann seinen schnalzenden Ruf, als würde ein Klagelied anstimmen. Ulf Reitmeyer war tot.
Sonntag
SONNTAG, 3.MÄRZ
Dann zieh ich eben aus, verdammt!« Das schrille Kreischen der hysterischen Mädchenstimme schmerzte in den Ohren. Dumpfes Poltern entfernte sich, sie war eine fersenlastige Läuferin, was wohl in der Familie lag, dann krachte die schwere Holztür. Draußen wurde das Stampfen nach und nach leiser. Als es schließlich verebbt war, verkündeten unmittelbar darauf verwaschene, wie durch zugehaltene Ohren klingende Bassschläge, dass Janine ihr Zimmer erreicht hatte und sich vermutlich für die nächsten Stunden dort verschanzen würde. Oder sie packte ihre Sporttasche, um sie ihm vor die Füße zu werfen. Doch diese Möglichkeit schätzte Ralph Angersbach als eher unwahrscheinlich ein. Solche Gesten zogen nicht bei ihm, das hatte seine sechzehnjährige Halbschwester gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft schmerzlich herausfinden müssen. Die Koexistenz der ungleichen Geschwister, deren Alter immerhin sechsundzwanzig Jahre auseinanderlag, hatte erst vor einigen Monaten begonnen. Im Herbst des vergangenen Jahres war Ralphs leibliche Mutter gestorben, eine Frau, die nie eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte, geschweige denn die einer Mutter. Sei es aus schlechtem Gewissen oder weil er der Erstgeborene war, jedenfalls hatte sie ihm dieses alte, ziemlich heruntergekommene Haus am Ortsrand von Okarben hinterlassen, in dem sie bis zu ihrem Ableben gewohnt hatte. Und in diesem Haus, als gänzlich unerwarteten Bonus, jenen pubertierenden Teenager, aus deren Höhle die unerträgliche Musik dröhnte. Seufzend wandte Ralph sich um und fuhr mit der Hand über die Arbeitsplatte der Einbauküche. Er machte sich keine Illusionen darüber, wer den längst überfälligen Abwasch übernehmen würde, der sich dank einer defekten Spülmaschine längst über die Grenze des Waschbeckens hinaus stapelte. In seiner anderen Hand hielt er die letzte saubere Tasse, der Kaffee darin war nur noch lauwarm, und Ralph kippte ihn kurzerhand in Richtung Ausguss. Gluckernd suchte die schwarze Flüssigkeit sich ihren Weg über Teller, Frühstücksbrettchen und Untertassen, und ein unwillkürliches Schmunzeln durchzuckte seine Mundwinkel. Fast wie ein Schokoladenbrunnen, dachte er, oder die Wasserspiele in den hängenden Gärten der Semiramis. Er tauschte das noch lauwarme, tropfende Kaffeepad gegen ein frisches und drückte nach geduldigen Sekunden des Wartens den Knopf, der die giraffenhalsige Maschine in ein tiefes Brummen versetzte. Apropos Garten. Ralph beugte sich ein wenig nach vorn. Die Küche befand sich im ersten Stock des Hauses, sein Blick wanderte über die drei Meter unter ihm liegende Rasenfläche, welche der Vegetation nach eher der Tundra ähnelte. Eine Amsel hüpfte frohlockend aus dem taufeuchten Gras, schüttelte sich, und setzte ihren Weg auf den moosgrünen Steinplatten der Terrasse fort. Die Märzsonne stand tief, es war statistisch betrachtet viel zu kalt draußen, aber man konnte ja froh sein, wenn sie sich überhaupt einmal zeigte.
»Irgendwo musst du anfangen«, murmelte der Kommissar zu sich selbst, als er die Tasse zu seinen Lippen führte und ihm der bittere, aromatische Röstduft in die Nase stieg. Er verspürte keinen Elan, sich durch den Urwald da draußen zu quälen, denn immerhin schien sich dort seit Jahren niemand mehr engagiert zu haben. Dann die Spülmaschine. Wenigstens ausbauen konnte er sie ja schon mal, dafür brauchte es weiß Gott keinen Kundendienstmonteur. Ein funktionstüchtiger Geschirrspüler würde wenigstens einen der Konfliktpunkte zwischen Ralph und Janine entschärfen. Bleiben noch neunundneunzig andere, schloss Ralph sarkastisch. Aber eins nach dem anderen. Er knöpfte sein Hemd auf und hängte es über den Stuhl, kniete sich vor den Patienten und klopfte mit den Fingerknöcheln die Abschlussleiste ab. Im Grunde wusste er nichts. Nichts über Hausinstallationen, nichts von seiner Halbschwester, nicht einmal von deren Existenz hatte er ja etwas gewusst. Gab es am Ende noch ein Dutzend weiterer Kinder seiner Mutter? Eine oberflächliche Recherche im Präsidium im vergangenen Herbst hatte nichts Konkretes ergeben, aber es war dem Kommissar auch zuwider, seine abenteuerliche Familiengeschichte mit ins Büro zu tragen. Wie hieß es so schön? Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Wie aufs Stichwort meldete sich das Handy. Passanten hatten am Ufer der Nidda eine männliche Leiche entdeckt. Der Tod kennt keine freien Wochenenden, dachte Ralph, als er sich ächzend wieder aufrichtete. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Porzellanhumpen und schob ihn neben den Geschirrberg. »Da hast du gerade noch mal Glück gehabt«, brummte er grimmig in Richtung Spülmaschine.
Keuchend und schweißdurchnässt stand Sabine Kaufmann an einer niedrigen Betonmauer, die linke Ferse auf dem Rand aufliegend und das Bein gestreckt. Sie beugte den Oberkörper nach vorn, strebte mit den Händen in Richtung Zehenspitzen und ächzte leise, als jeder einzelne Muskel der rechten Wade ihr stechend zu verstehen gab, dass die maximale Dehnung nun erreicht war. Sie wechselte das Standbein und wiederholte die Übung. Angeblich sollte man sich weder vor noch nach dem Sport dehnen, hieß es in diversen Internetforen, aber es gab auch genügend Gegenstimmen, und sie trainierte seit Jahren nicht anders. Fünf Kilometer Laufen, drei Mal pro Woche Minimum, mit einer kurzen Pause nach der Hälfte der Strecke. Sabines heißer Atem kondensierte zu einer dichten Wolke, verrückt, denn es war immerhin schon März, und dennoch lag an der Uferböschung der Nidda teils dichter Raureif. Irgendwann wollte sie das Pensum auf zehn Kilometer erhöhen, doch bis dahin galt es unter anderem, die besten Wege für ihren Frühsport zu erkunden. Sabine blickte sich um. Die heutige Laufrunde hatte am Friedhof vorbei in Richtung der Felder geführt, die ausnahmslos gelb und braun dalagen. Selbst das Grün der Wiesen wirkte kraft- und farblos, der sonnenarme Winter forderte seinen Tribut. Im Zickzack- Kurs hinab in Richtung Niddaufer, über die Brücke beim Klärwerk und Sportfeld vorbei war sie gelaufen. Zufall oder nicht, sie befand sich in diesem Augenblick nur einen Steinwurf vom Riedweg entfernt, wo ihre neue Dienststelle lag. Tatsächlich kam Sabine der spontane Gedanke, ihre Runde für eine Kaffeepause zu unterbrechen, aber sie verwarf ihn sofort wieder. Erstens wusste sie nicht, wer Dienst hatte, auch wenn die Möglichkeiten ausgesprochen überschaubar waren.
Zweitens war ihr Frühsport heilig. Spute dich mal lieber, dann schmeckt das Frühstück doppelt lecker.
Ein Vibrieren an Sabines Oberarm, wo ihr Handy in einem Sportarmband steckte, unterbrach ihre Tagespläne jäh.
Knirschend rollte Ralph Angersbachs dunkelgrüner Lada Niva über den ausgestorbenen Parklatz. Im Hintergrund erkannte er das Logo des Radiosenders FFH, seitlich befanden sich die silbernen Türme der Abfüllanlage eines der Mineralbrunnen, die Bad Vilbel weit über seine Grenzen hinaus bekannt gemacht hatten. Nicht, dass der Kommissar sich sonderlich gut in der Dreißigtausend-Seelen-Stadt im südlichsten Zipfel der Wetterau auskannte, aber er wusste immerhin, dass auf dem Schotter unter ihm alljährlich ein großer Jahrmarkt abgehalten wurde. Doch heute lag der Platz brach, verwaist bis auf einige Lkw-Aufleger und zwei verlassene Autos, von denen eines bereits die leuchtend rote Notiz des Ordnungsamtes trug, dass der Wagen umgehend zu entfernen sei. Schwieriges Unterfangen, dachte Angersbach, denn dem alten Audi fehlten alle vier Reifen. Er steuerte auf die dichten Bäume und Büsche zu, die den Platz säumten. Ein Rettungswagen parkte dort, außerdem einige weitere Fahrzeuge, darunter ein Streifenwagen und der protzige VW Touareg des Notarztes. Zwischen den Blättern bewegte sich etwas, und im nächsten Augenblick erkannte Angersbach seine Kollegin in unerwarteter Montur. »Guten Morgen«, nickte er, und die leise Irritation seines Blicks blieb Sabine Kaufmann nicht verborgen. »Ebenso«, lächelte sie zurück. »Mich hat's beim Joggen erwischt. « Angersbach konnte nicht umhin, die sportliche Figur seiner zehn Jahre jüngeren Kollegin wahrzunehmen. Der schlanke, aber trainierte Körper, der einen ganzen Kopf kleiner war als er, steckte in schwarzen Laufleggins, drei Viertel lang, und einem entsprechenden Oberteil. Das blonde, etwas über schulterlange Haar wurde von einem Haargummi zusammengehalten, und um den Nacken lag ein weißes Handtuch, vermutlich eine Leihgabe der Rettungssanitäter. »Zum Glück nicht so wie unseren Toten«, griff Angersbach den letzten Satz seiner Kollegin auf und zuckte mit den Augenbrauen. »Dann führen Sie mich mal hin, bitte.« Der Arzt schien seinen schwarzen Lederkoffer entweder noch nicht ausgepackt zu haben oder er war mit seiner Untersuchung längst fertig. Angersbach glaubte, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben, konnte es aber nicht zuordnen. »Gehen Sie schon wieder?«, fragte er argwöhnisch und neigte dabei den Kopf, wie er es gern tat. »Ich habe meinen Part bereits erledigt«, war die unmittelbare Antwort des Arztes, dessen Statur ein wenig untersetzt war. Unter seiner Schutzhaube quoll dichtes schwarzes Haar hervor und ging in einen Vollbart über. Selbst auf den Handrücken, die er soeben schnalzend freilegte, indem er die Latexhandschuhe abzog, wucherte es schwarz. »Ich habe es schon Ihrer Kollegin gesagt, das war wohl falscher Alarm. Ich kümmere mich mal um den vorläufi gen Totenschein.« »Moment, Moment«, bremste Angersbach ihn aus. »Was schreiben Sie denn hinein?« »Todesart ungeklärt natürlich«, brummte der Arzt. »Aber ich bin mir dennoch ziemlich sicher, dass es sich um eine natürliche Todesursache handelt.«
»Weshalb?«
»Sport ist Mord, deshalb. Der Mann ist Ende fünfzig, verschwitzt von Kopf bis Fuß, als wäre er dem Leibhaftigen davongerannt, und das in einem viel zu dünnen Dress. Dünner noch als Ihre Kollegin hier.« Er deutete mit rügendem Stirnrunzeln auf Sabine Kaufmann. »Ich will ihn selbst in Augenschein nehmen«, entgegnete Angersbach, ohne auf die Bemerkung einzugehen. Die Nidda verlief in sanft geschwungenen Bögen und leckte an matt schimmernden Lehmbuchten. Der Wasserstand war vergleichsweise niedrig. Zwei Handbreit über der Wasseroberfläche erst begann der Bewuchs, einige Papierstreifen und vergilbte Plastikfetzen trübten das Bild. Ruhig und ohne Eile, beinahe lautlos, fl oss das farblose Wasser vorbei. Nicht ein einziges Tier war zu sehen oder zu hören. Auf der nahe gelegenen Straßenbrücke knatterte ein alter Porsche 911 vorbei, der Fahrer spielte offenbar genüsslich mit den unbändigen Kräften seines Boliden. Der Tote lag bäuchlings neben dem Radweg im kniehohen, taufeuchten Gras. Er trug ein helles Funktionsshirt, in dessen Taschen man die notwendigsten Gegenstände eng am Körper tragen konnte. Dazu eine Radlerhose, die über den Knien endete. Die größtenteils ergrauten Haare waren im Nacken kurz geschnitten, lagen darüber jedoch dicht und in klebrigen Strähnen. Der Körper wirkte nicht verkrampft, doch das hatte nichts zu bedeuten, wie Angersbach wusste. Selbst tödlich verwundete Soldaten lagen nicht in unnatürlicher Haltung in ihren Schützengräben, auch wenn das Fernsehen einen das immer wieder glauben machen wollte. Es sei denn, der Tod trat von einem Moment auf den anderen ein, aber solche kurzen Sterbeprozesse gab es statistisch betrachtet höchst selten. Nein, der Mann war ins Gras gefallen und nicht wieder aufgestanden. Warum, das sollte dieser Arzt herausfinden. »Wie lange liegt er Ihrer Meinung schon da?«, erkundigte Angersbach sich. »Maximal zwei Stunden, würde ich meinen«, gab der Mediziner mürrisch zurück. »Am Hals sind Totenflecken ausgebildet, die Extremitäten sind aber noch nicht ausgekühlt. Die Starre hat sich bislang nur in den Augenlidern entwickelt. Auf eine Entkleidung und vollständige Leichenschau habe ich vorerst verzichtet. Ich werde einen Teufel tun, der Spurensicherung ins Handwerk zu pfuschen. Außerdem ist mir kalt, und ich habe Rufbereitschaft. Soll sich ein anderer darum kümmern. Und ich wiederhole es gerne noch mal, es ist vergebene Liebesmüh. Dieses Gerede von einem Schuss ist Blödsinn.« »Welcher Schuss?« Ralph Angersbach wechselte einen schnellen Blick mit Sabine Kaufmann. Wusste sie etwas, was ihm entgangen war? Diese zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nichts Konkretes, sorry, angeblich will jemand einen Schuss gehört haben. Aber Dr. Körber fand keinerlei Hinweise auf eine Eintrittswunde. « »Sie kennen sich also?«, fragte Angersbach leicht gereizt. Er hasste nichts mehr, als an einem Tatort die zweite Geige spielen zu müssen. Oder Fundort, wie auch immer. »Flüchtig«, bestätigte die Kommissarin. »Irgendwann kennt man eine Menge Mediziner, wenn man in einer so verbrechensstarken Stadt wie Frankfurt arbeitet.« »Hm. Also noch einmal zu diesem Schuss. Wer hat das gemeldet? « »Sehen Sie die Frau dort bei den Beamten?«, fragte Sabine mit gedämpfter Stimme und deutete stadtwärts in Richtung einer Baumgruppe, wo eine bieder gekleidete Frau Mitte dreißig stand, an der Leine einen schwarzweißen Border Collie, der unruhig hin und her trappelte. Sie sah in ihre Richtung und traf Angersbachs Blick. Er nickte ihr zu. »Sie hat den Toten gefunden und gemeldet«, fuhr Sabine fort. »Übergeben wir den Fundort der Spurensicherung? Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.« »Übernehmen Sie das?« Ralphs Frage klang weniger wie eine Bitte als wie eine Aufforderung, das wurde er erst gewahr, als seine neue Kollegin sich wortlos abwandte und in Richtung der Uniformierten lief. Mist. Wie lange kannte er Sabine Kaufmann nun? Ganze fünf Tage. Sie hatte ihre Stelle schon zum ersten Januar angetreten, er hingegen stieß erst zum ersten März dazu. Bis dahin hatte ihn das Präsidium in Gießen gebunden, in dem Ralph Angersbach den größten Teil seines Berufslebens verbracht hatte. Dass er einmal hierher wechseln würde, hätte er noch vor einem halben Jahr mit einem müden Lächeln abgetan. Friedberg, ja, eine adäquate Mittellösung auf halbem Weg zwischen Gießen und Frankfurt. Dort gab es eine echte Mordkommission, keinen spärlichen Außenposten, aber das Leben beschritt zuweilen eben eigenartige Wege. Obgleich er keinen rechten Elan verspürte, würde er sich nach Kräften darauf konzentrieren, dass die Kommunikation zwischen ihm und seiner Großstadtkollegin funktionierte. Irgendwie.
»Chucky hat total verrückt angeschlagen, ich dachte schon, er hätte einen Biber ausgemacht.« Regina Ruppert hatte etwa Sabines Größe, eins fünfundsechzig, und war dem Ausweis nach fünfunddreißig Jahre alt. Sie sah älter aus, was daran liegen mochte, dass ihr der Schreck noch in den Knochen saß. Dunkelblonde Locken lugten unter ihrer Fleece-Mütze hervor, sie drehte nervös in den Haaren. Sabine nickte verständnisvoll und entschied, die Fragen so knapp wie möglich zu halten. Außerdem wurde ihr allmählich kalt. Sie bereute es mittlerweile, dass sie vom Riedweg direkt hierher gesprintet war. »Sie waren also auf Gassirunde?«, fuhr Sabine fort. »Ja, auf dem Rückweg. Ich wollte eigentlich abbiegen und über die Brücke gehen«, sie deutete in Richtung der klobigen Betonüberführung, »aber, na ja.« »Haben Sie den Toten in irgendeiner Weise berührt? Oder Ihr Hund?« »Um Himmels willen!« Die Frau schüttelte angewidert den Kopf. Dann überlegte sie einige Sekunden und fuhr fort: »Chucky hat ihn mit der Nase angestupst. Als er sich nicht bewegt hat, habe ich ihn angesprochen, dann zog ich sofort das Handy heraus und habe den Notruf gewählt.« »Konnten Sie andere Lebenszeichen erkennen?« »Sie meinen Atem oder Puls?« Regina wand sich, schien unangenehm berührt. Sabine nickte auffordernd. »Nun, ich habe ihm die Hand vor den Mund gehalten«, begann ihr Gegenüber, und ihre Blicke wanderten ausweichend hin und her. »Aber er atmete nicht. Keine Bewegung, das hab ich doch schon gesagt.« »Okay, in Ordnung.« Sabine lächelte matt. »Sie haben richtig gehandelt. Nicht jeder hätte die Überwindung aufgebracht, sich dem Körper zu nähern. Aber kommen wir noch einmal auf den Schuss zu sprechen, den Sie gehört haben.« »Glauben Sie mir etwa nicht?« Regina Ruppert verschränkte die Arme und funkelte Sabine herausfordernd an.
»Wieso fragen Sie?« »Ich lebe doch nicht hinterm Mond. Mir ist nicht entgangen, dass es keine Schussverletzungen gibt.« »Keine sichtbaren zumindest«, korrigierte Sabine. »Also glauben Sie mir?« »Schildern Sie mir den zeitlichen Ablauf bitte so präzise wie möglich.« »Gut, in Ordnung.« Regina lächelte matt. Sie zeigte wieder in Richtung der Niddabrücke, in deren Betonsockel sich ein düsterer Durchgangstunnel für den Niddaradweg befand. »Ich war mit Chucky auf dem Rückweg. Wir laufen je nach Witterung manchmal bis nach Dortelweil oder Gronau, aber heute war schon beim Römerbrunnen Schluss. In der Unterführung fiel dann dieser Schuss. Ich glaube, der Arme ist einen halben Meter hoch gehüpft vor Schreck. Ein einziger Knall, nichts weiter, danach war wieder Stille. Zumindest so lange, bis Chucky zu jaulen begann und wie ein Wilder losrannte. Er reagierte nicht auf mein Rufen, und mir schlug das Herz bis hier.« Sie legte sich die Hand unters Kinn. »Aber ich musste ihm ja hinterher, obwohl ich lieber die Böschung rauf und bis nach Hause gerannt wäre. Keine Menschenseele weit und breit.« Sie fröstelte, rieb sich die Oberarme, dann wurde ihr Blick leer. »Das nächste Bild, an das ich mich erinnere, ist Chuckys Nase in Reitmeyers Gesicht.« Die Kommissarin zuckte zusammen. »Reitmeyer?«, wiederholte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Sie kennen den Toten?« Doch Regina Ruppert gab ihr keine Gelegenheit zum Grübeln. »Ulf Reitmeyer, den kennt hier doch jeder«, sagte sie schnell, wie beiläufig. »Der Bio-Mogul.«
Ralph Angersbach schaltete einen Gang zurück, als sie den Kreisel verließen und die Steigung der Frankfurter Straße in Richtung Heilsberg nahmen. »Reitmeyer? Sagt mir nichts.« »Ich kenne ihn auch nur vom Namen her«, erwiderte Sabine Kaufmann und blickte nachdenklich aus dem von Handabdrücken übersäten Seitenfenster. Sie hatte Angersbach gefragt, ob er sie kurz zu Hause absetzen würde, denn mittlerweile war sie vollkommen durchfroren. Eine heiße Dusche, frische Kleidung und ein hastiges Brötchen unterwegs; all das war für sie nichts Neues. Und doch war alles irgendwie anders. Angersbach schenkte ihr einen fragenden Blick, dann musste er sich wieder auf die Straße konzentrieren. Wo waren wir eben?
»Reitmeyer hat vor vielen Jahren einen Bioladen in Bergen- Enkheim aufgemacht«, nahm Sabine den Faden wieder auf. »Nach und nach wuchs daraus ein gigantisches Unternehmen, soviel weiß ich. Die Kunden schwören auf seine Produkte, denn er befriedigt die Nachfrage ökologisch und ökonomisch. So zumindest stellt er sich selbst gerne dar.« »Stellte sich dar«, brummte Angersbach nachdenklich, und Sabine nickte mit einem schmalen, freudlosen Lächeln. Der Kommissar musste unwillkürlich schmunzeln. »Sie kennen sich ziemlich gut aus hier in der Ecke, wie?« Diesmal klang seine Stimme weniger wie ein Oberlehrer, sondern beinahe schon anerkennend. »Bin hier aufgewachsen«, bestätigte Sabine. Sie näherten sich einem weiteren Kreisel, und sie deutete nach rechts vorne. »Die erste Ausfahrt müssen wir raus.« Wenige Minuten später parkte der Geländewagen, dem Sabine weder optisch noch technisch etwas abgewinnen konnte, vor dem Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnte. Ihr Rücken schmerzte, die Federung der Sitze war ein Witz, und die stumpf verkratzte Holzperlenauflage konnte das auch nicht zum Besseren wenden. »Soll ich warten?« »Danke, ich komme selbst runtergefahren«, lehnte Sabine ab, angestrengt darauf bedacht, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie eine weitere Fahrt in diesem Vehikel um jeden Preis vermeiden wollte. »Wie Sie meinen. Dann kümmere ich mich so lange um die notwendigen Telefonate. Bitte lassen Sie sich nicht zu viel Zeit. Die Angehörigen sollen Reitmeyers Tod nicht erst aus den Nachrichten erfahren.« »Halbe Stunde?« »Die Zeit läuft«, grinste Angersbach und trat aufs Gas. Der dünne Auspuff vibrierte und spie eine dunkle Abgaswolke aus, dann wendete das Unikum in einem engen Halbkreis und knatterte davon. Komischer Kauz, dachte Sabine im Hineineilen. Sie nahm zwei Treppenstufen auf einmal und hatte, kaum dass sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, auch schon ihr Laufshirt über den Kopf gezogen. Sekunden später flogen der schwarze Sport-BH und das Handtuch in den Wäschekorb, und sie drehte den Regler der Dusche auf. Gierig sog ihr unterkühlter Körper die dampfende Wärme des auf sie hinabprasselnden Wassers auf, und am liebsten wäre sie den Rest dieses winterlichen Märzsonntags genau hier verblieben. Die Pfl icht ruft, mahnte sie sich jedoch. Sabine würde einen Teufel tun, ihrem doch recht gewöhnungsbedürftigen Kollegen den Triumph zu bescheren, sich zu verspäten.
Die Polizeistation von Bad Vilbel lag in einer Nebenstraße, nahezu verdeckt von dem Gebäude der lokalen Feuerwehr, dessen Schlauchturm sich martialisch in den Himmel reckte. Weiß getüncht, mit türkisen Fenstern und einem halben Dutzend Gauben, wie man sie in den Neunzigerjahren nur allzu gern in Neubauten untergebracht hatte, wirkte das zweigeschossige Haus auf den ersten Blick wie eine Arztpraxis. Der Eingangsbereich lag unter einem Vorbau, den eine schlanke Rundsäule trug, zur Straße hin gab es einige wenige Parkplätze, und niedrige Bodendecker füllten die Zwischenräume des Grundstücks. Rechts führte eine Einfahrt in den Hof hinter dem Gebäude, doch hierhin war Sabine bislang nie abgebogen, da in der Regel draußen kaum Fahrzeuge parkten. Schwungvoll lenkte Sabine ihren brandneuen Renault Twizy, den sie am vergangenen Donnerstag nach wochenlangem Warten endlich in Empfang hatte nehmen dürfen, auf den Parkplatz. Es handelte sich um ein modernes Elektroauto mit zwei hintereinander angeordneten Sitzen. Flügeltüren und Fenster gab es als Nachrüstpakete und waren bei den vorherrschenden Außentemperaturen sicher keine Fehlinvestition gewesen, wenn auch eine teure. Der Akku hielt mindestens hundert Kilometer, und glaubte man diversen Internetforen, konnte man ihn sogar fast doppelt so lang ausreizen. Für Sabines Zwecke das ideale Fahrzeug, denn weiter als in Richtung Vogelsberg führte sie ihr Radius derzeit ohnehin nicht. Und mehr als zwei Personen beförderte sie auch nie, in der Regel war es nur sie selbst. Bevor sich ein Schatten über ihre Miene legen konnte, stieg die Kommissarin hurtig aus. Sie schloss den Wagen ab, vergewisserte sich, dass ihre eilig aus dem Schrank gegriffene Kleidung korrekt saß, und ging rasch zum Eingangsportal. Dreiundzwanzig Minuten, nicht übel, dachte sie und betrat das Gebäude. Ralph Angersbach war im Grunde genommen ein ihr gleichgestellter Kollege. Beide waren Polizeioberkommissare, wobei es Sabine ein Rätsel war, wieso Angersbach es nicht längst zum Hauptkommissar gebracht hatte. Als Außenposten der regionalen Kriminalinspektion unterstanden sie der Führung des K10 in Friedberg und damit Kriminaloberrat Horst Schulte. Trotz heiligem Sonntag, wie Sabine von einem geschäftig umhereilenden Uniformierten aufschnappte, hatte dieser seinen Weg nach Bad Vilbel gefunden. »Es ist eine mittelprächtige Katastrophe«, eröffnete Schulte die Besprechung, nachdem alle Platz genommen hatten. Seine dunklen, buschigen Augenbrauen erinnerten an einen Habicht, und die spitze, leicht gekrümmte Nase tat ein Übriges. Der füllige, breitschultrige Körper des etwa Fünfzigjährigen verbarg sich hinter einem halbrunden Stehpult, das gewöhnlich für Pressekonferenzen herhalten musste. »Ein zumindest regional prominenter Toter«, fuhr Schulte mit tiefem Schnarren fort, »eine Zeugin, die einen Schuss vernommen haben will, aber keine Hinweise auf eine entsprechende Verletzung beim Opfer. Die Presse wird verrückt spielen. Was wissen wir bislang über den Tathergang?« Mirco Weitzel, einer der Uniformierten, die bei Regina Ruppert gestanden hatten, fasste die dürftigen Erkenntnisse noch einmal zusammen. »Reitmeyer joggte stadtauswärts in Richtung Dortelweil«, begann er, wurde jedoch sofort von Angersbach unterbrochen. »Sein Kopf lag aber doch in Richtung Bad Vilbel. Worauf begründen Sie Ihre Behauptung?«
Weitzel schmunzelte. Er war achtundzwanzig Jahre alt, athletisch gebaut und trug sein kurzes, braunes Haar stets korrekt gestylt. Unter den Kollegen munkelte man, er verwende tagtäglich große Mengen an Sekundenkleber dafür, denn auch nach dem Tragen der Dienstmütze wirkte seine Frisur in der Regel wie frisch gerichtet. Angeblich hatte man ihn sogar schon mit einem kleinen Spiegel erwischt, den er in seiner Brusttasche tragen sollte, doch für Sabine waren das die üblichen bösen Unterstellungen neidischer Kollegen, die weniger attraktiv waren. Ein Schönling allerdings, das musste sie zugeben, schien der junge Mann schon zu sein. »Hundekot an seinen Sohlen«, sagte dieser triumphierend. »Hundekot?« Die Aufmerksamkeit aller war ihm nun gewiss. »Ja, an seinen Laufschuhen. Die Spusi hat ein paar Meter südlich einen zertretenen Hundehaufen gefunden, und in seinem Schuhprofil waren entsprechende Rückstände. Das bedeutet, er war stadtauswärts unterwegs.« Sabine beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Angersbach diese Information aufnahm. Er schien einerseits beeindruckt zu sein, der Erkenntnis an sich jedoch keine allzu große Bedeutung beizumessen. »Ob hin oder zurück ist letztlich nebensächlich«, kommentierte er, »es sei denn, er lief diese Strecke nach einem festen Muster, und jemand hat ihm aufgelauert. Ohne Eintrittswunde scheidet ein Heckenschütze aber aus, oder sieht das jemand anders?« »Darum geht es mir ja«, schaltete Schulte sich wieder ein. »Was wissen wir von ihm? Feinde, Gewohnheiten, Motiv, Gelegenheit«, er wedelte ungeduldig mit der Hand. »Oder sein Gesundheitszustand. War er herzkrank, nahm er Medikamente, hatte er Asthma? Zugegeben, Reitmeyer war besser in Form als ich und noch lange nicht in einem Alter, wo man einfach umkippt. Oder führen wir es einmal ad absurdum: Hat möglicherweise jemand auf ihn geschossen, und der Schuss verfehlte ihn, hat ihn aber zu Tode erschreckt?« »Dazu bräuchte es keinen Heckenschützen«, brummte Angersbach und erinnerte sich an den alten Porsche, der über die Brücke geknattert war. »Ein Knallkörper oder eine Fehlzündung täten es auch.« »Wie auch immer. Ich stelle keine Theorien auf, die nicht auch in der Bildzeitung produziert werden könnten. Aber fahren Sie bitte fort.« Schulte nickte in Mirco Weitzels Richtung. »Keine äußeren Verletzungen nach Inaugenscheinnahme durch den Notarzt. Die Todesursache bleibt zunächst unklar, Dr. Körber und das Opfer waren nicht miteinander bekannt. Ohne Kenntnis der Krankengeschichte ...« »Klar so weit«, unterbrach Schulte den Beamten. »Wir beantragen eine Obduktion. Wir können es uns nicht leisten, nach Reitmeyers Hausarzt zu fischen, jede Stunde ist kostbar. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald Sie sich in der Rechtsmedizin einfi nden können.« Sabine nickte. In ihrem Kopf formten sich vertraute Bilder des rechtsmedizinischen Instituts in Sachsenhausen, außerdem Gesichter einiger alter Bekannter. Insgeheim freute sie sich darauf, wenngleich die Umstände weniger erfreulich waren, dem Team dort einen Besuch abzustatten. Doch dann fi el ihr siedend heiß ein, dass ja nun ein anderes Institut zuständig war. Mist. Sie schluckte. »Friedberg oder Gießen?«, raunte sie, für die anderen nicht hörbar, in Richtung ihres neuen Kollegen. »Was?«, entgegnete er, weitaus weniger diskret, und die Kommissarin bereute, überhaupt gefragt zu haben.
»Schon gut«, wehrte sie hastig ab. »Ist es zeitlich angemessen, die Pressekonferenz zwischen zwölf und ein Uhr anzusetzen?«, fragte Schulte in die Runde. »Bis dahin sollten die Hinterbliebenen aufgesucht sein. Ich möchte das möglichst eng terminieren, um Spekulationen zu vermeiden.« »Kommt drauf an. Wen gibt es denn da?«, erkundigte sich Sabine. »Reitmeyer ist verwitwet und hat zwei erwachsene Kinder«, kam es von Weitzel. »Der Sohn, er stammt aus einer frühen Liaison, und über dessen Mutter liegt nichts vor. Französin, seit zwanzig Jahren nicht mehr in Deutschland gemeldet. Sieht nicht nach einer heißen Spur aus. Die Tochter hingegen ist greifbar. Sie lebt auf dem Hof der Familie, in der Nähe von Rendel.« »Wo?«, wandte sich Angersbach mit gebeugtem Kopf und in Falten gelegter Stirn an Sabine. »Liegt hier um die Ecke«, antwortete diese und senkte ihre Stimme dabei ebenfalls kaum. Ein kokettes Grinsen huschte über ihr Gesicht, erleichtert, dass nun wieder ein Patt zwischen ihnen herrschte. Doch der nächste Konflikt sollte nicht lange auf sich warten lassen. Die beiden verließen das Gebäude, und mit einem vielsagenden Lächeln nickte Sabine in Richtung ihres Elektroautos. »Da soll ich einsteigen?« Ralph Angersbach tippte sich mit aufgesetzter Empörung an die Stirn, als er das in seinen Augen höchst ulkige Fahrzeug erblickte. »Wieso nicht?«, entgegnete Sabine frostig. »Es bietet genug Platz für uns beide, wollen wir wetten?« »Wenn wir Ölsardinen wären, vielleicht. Ist Ihnen entgangen, dass ich ein ganzes Stück größer bin als Sie?«
»Reden wir von Ihrer Länge oder von Ihrem Ego? Ich jedenfalls produziere keinen Feinstaub mehr und habe kaum Einschränkungen beim Komfort. Letzterer ist bei Ihrer Kiste ja so gut wie nicht vorhanden.« »Ich brauche keinen Komfort, ich bin schließlich kein verwöhntes Stadtkind«, konterte Ralph. »Na, prima.« Sabine grinste, noch bevor ihr Kollege realisierte, dass er sich ins Abseits argumentiert hatte. »Dann können Sie ja jetzt einsteigen.«
Das Hofgut der Familie Reitmeyer lag außerhalb Rendels und gehörte, auf der nördlichen Seite der B521 gelegen, zum Stadtgebiet Karbens und damit noch zum Wetteraukreis. Ein Hauptgebäude und einige Nebengebäude, größtenteils renoviert und mit verschlossenen Toren, umringten einen gepflasterten Innenhof, in dessen Mitte sich ein aus Bruchsteinen gemauerter Brunnen befand. Mit ein wenig Anstrengung entnahm die Kommissarin einem im Mauerwerk eingesetzten Sandstein die dort eingemeißelte Zahl 1789, das Jahr der Französischen Revolution, wie Sabine auch ohne profunde Geschichtskenntnisse wusste. »Hier lebt sich's nicht schlecht«, kommentierte Ralph Angersbach, die Hände lässig in den Taschen seiner Jeans verborgen. »Fehlen nur noch Polo-Reiter und zwei Bentleys im Schuppen.« »So einer war Reitmeyer angeblich nicht«, erwiderte Sabine. Sie blickte in die Ferne, wo auf einer Hügelkuppe einige Windräder standen. Die Flügel drehten sich nur äußerst gemächlich, eine Anlage stand still. »Sehen Sie dort oben? Dort verläuft die Hohe Straße, ein alter Handelsweg aus dem Mittelalter. Heutzutage ein stinknormaler Feldweg, aber vor ein paar Jahren entdeckte man den Höhenzug als geeignete Stelle für Windkraftanlagen.« »Hässliche Teile.« Angersbach beäugte die schätzungsweise drei Kilometer entfernten weißen Spargel. Er zählte sieben Stück, außerdem zwei Pfeiler auf halber Höhe, an denen sich Baukräne nach oben reckten. »Mag sein. Aber wenn man dort oben steht, ist das Panorama aufs alte Kraftwerk auch nicht besser. Und Strommasten sind genauso unästhetisch, und ohne geht's nun mal nicht.« Angersbach zuckte die Schultern und beäugte wieder das Haupthaus. Während sie darauf zugingen, fuhr Sabine fort: »Drei der Anlagen stehen auf Reitmeyer-Äckern. Er ist kein dekadenter Materialist gewesen, darauf wollte ich vorhin hinaus, aber er wusste durchaus, in welchen ökologischen Sparten der Profi t liegt. Vom Körnerladen zum Biohof-Unternehmer entwickelt man sich nicht einfach so.« »Und nicht ohne Feinde«, murmelte Angersbach und nickte. Dann erreichten sie die flachen Stufen, die zur Haustür hinaufführten. Claudia Reitmeyer traf die Nachricht vom Ableben ihres Vaters mit aller Härte. Kreidebleich drohte sie, in sich zusammenzusacken, und es war nur Ralph Angersbachs Reflexen zu verdanken, dass er sie rechtzeitig auffing und in Richtung Wohnzimmercouch bugsierte. »Tot?«, hauchte die junge Frau, Sabine schätzte sie auf Anfang zwanzig, mit entkräfteter Stimme und noch immer ungläubig. »Wann, ähm, ich meine wo?«, stammelte sie, dann: »Und wie?« »Wir wissen leider noch keine Details über die Todesursache «, setzte die Kommissarin an, »denn es gibt keine sichtbaren Verletzungen. Ist Ihr Vater regelmäßig entlang der Nidda gejoggt?« »Fast jeden zweiten Tag«, bestätigte Claudia. »Hatte er ein Herzleiden oder andere gesundheitliche Dispositionen? « »Nein, Herrgott. Er war kerngesund.« Die Kommissarin spürte intuitiv, dass ihr Gegenüber sich allmählich erholte. Der Wechsel von schockierter Trauer zu zynischer Ablehnung - ein beinahe klassisches Verhalten gegenüber dem Überbringer von Todesnachrichten. Doch all die Routine, falls man überhaupt von einer solchen sprechen durfte, machte das Aushalten solcher Momente nicht einfacher. Sabine Kaufmann atmete durch die Nase ein, gab der jungen Frau einige Sekunden, dann fuhr sie fort: »Hatte Ihr Vater Neider oder Feinde?« »Neider?« Claudia Reitmeyer lachte spöttisch und wies mit dem Daumen hinter sich, wo ein Panoramafenster den Blick auf eine weitläufige Grünfläche preisgab, dahinter zwei Streifen Ackerland, durchschnitten von der Bundesstraße, und in einiger Ferne die Häuser der kleinen Gemeinde. »Suchen Sie sich einen aus.« »Ihr Vater hatte also Feinde?«, wiederholte Ralph Angersbach. »Wie Sie es nennen, ist mir egal«, erwiderte Claudia kühl und schniefte kurz. »Warum fragen Sie diese ganzen Dinge eigentlich? Denken Sie, er wurde ermordet?« »Halten Sie das denn für möglich?«, fragte Angersbach prompt zurück, und Claudia zuckte erschrocken zusammen. »Ich weiß nicht«, murmelte sie dann. »Frau Reitmeyer, wir machen Ihnen nichts vor«, schaltete Sabine sich wieder ein und versuchte, dabei fürsorglich zu klingen. Wenn Angersbach es schroff und direkt mochte, würde sie gerne den empathischen Gegenpart übernehmen. Kein Problem. »Momentan sieht es so aus, als sei Ihr Vater einem Herzanfall erlegen oder etwas in dieser Art. Hinweise auf einen gewaltsamen Tod haben wir auf den ersten Blick nicht gefunden.« »Aber er hatte doch nichts«, wimmerte Claudia mit hilfesuchender Miene. »Vor ein paar Jahren ist er noch beim Frankfurt-Marathon mitgelaufen.« »Eine Obduktion wird uns Klarheit verschaffen«, sagte Angersbach, und sofort fügte Sabine hinzu: »Bis dahin müssen wir in jede Richtung ermitteln. Daher auch unsere Frage nach Feinden. Gibt es jemanden, den Sie konkret benennen könnten? « Claudia sah zu Boden und schüttelte nach einigen Sekunden den Kopf. Ein leises »Nein« war zu vernehmen, wirkte auf Sabine jedoch mehr wie ein Ausweichen. »Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?«, fragte sie weiter. »Gestern«, murmelte Claudia, dann schnellte ihr Kopf wieder nach oben, und ihre Augen erhellten sich. »Nein, heute!«, rief sie. »Das heißt, ich habe ihn gehört, aber nicht gesehen. Er läuft sonntags meist zu nachtschlafender Zeit los.« »Und Sie?« »Ich lag noch im Bett.« Bevor Sabine ihre nächste Frage, ob das jemand bezeugen könne, ausformulieren konnte, kam bereits von ihrem Kollegen die obligatorische Kurzform. »Allein?« »Wie?« Irritiert schüttelte Claudia Reitmeyer den Kopf. »Was geht Sie das an?«
»Es geht um Ihr Alibi, bedaure«, erläuterte die Kommissarin, »aber ich muss Sie bitten, die Frage zu beantworten. Gibt es jemanden, der das bezeugen kann?« »Gilt eine Katze als Zeuge?«, erwiderte die junge Frau und rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Wer außer Ihnen lebt noch auf dem Hof?«, wollte Angersbach wissen und schlug lässig das Bein übers Knie, während sein langer Oberkörper sich tief in das Polster der Couch drückte. Das offene Wohnzimmer, welches ohne Türen in den Flur und seitlich in einen Küchenbereich überging, war angefüllt mit hölzernen Bauernmöbeln, teils unbehandelt, teils in bunten Farben und mit Blümchenmotiven bepinselt. Strohschmuck und getrocknete Sträuße obenauf; ein Hauch von Allgäu, nur dass keine Kruzifixe und andere Devotionalien an den Wänden hingen. Die hohe Decke zeigte offenes Gebälk, in die herabhängenden Lampen waren cremeweiße Energiesparbirnen eingedreht, die Holzfenster schienen neu zu sein. Alles in allem steckte in dem Anwesen eine beachtliche Detailverliebtheit - und jede Menge Geld. »Leben im Sinne von Wohnen? Nur mein Vater und ich«, beantwortete Claudia Reitmeyer die Frage, dann drehte sie den Kopf zur Seite und rollte mit den Augen. »Aber ein und aus gehen hier regelmäßig Dutzende Personen.« Sabine folgte ihrem Blick, er wies in Richtung einer zugezogenen Schiebetür aus Milchglas, hinter der sich schemenhafte Konturen abzeichneten. »Das Büro?«, folgerte sie, als sich ihr Blick mit dem der Tochter traf, und Claudia nickte. »Hier geht es an sechs Tagen in der Woche zu wie in einem Taubenschlag.« Sie schluckte schwer und kniff die Augenwinkel zusammen, um eine Träne zu unterdrücken. »Was soll nun bloß werden?«, hauchte sie und verbarg das Gesicht hinter den Händen. »Sollen wir später noch einmal wiederkommen?«, fragte die Kommissarin, nach vorn gebeugt, und kam damit dem Bestreben ihres Kollegen zuvor, selbst eine Frage zu stellen. Sie warf ihm einen raschen Blick zu, Angersbach runzelte die Stirn, gab ihr dann aber mit einem Nicken seine Zustimmung zu verstehen. »Müssen Sie das denn?«, fragte Reitmeyers Tochter. »Ich fürchte, ja. Wir müssen den Tagesablauf Ihres Vaters so gut es geht rekonstruieren, außerdem brauchen wir eine Liste der Personen, mit denen er zuletzt Kontakt hatte.« »Kann ich Ihnen das nicht auch zumailen?« »Nein«, erwiderte Angersbach knapp, aber bestimmt, was Claudia zu einem irritierten Blick veranlasste. »Wir benötigen zu den Namen auch einige Informationen«, erklärte er daher. »Also gehen Sie doch von Mord aus«, schlussfolgerte die junge Frau. »Wir prüfen alle Möglichkeiten«, schaltete sich Sabine wieder ein, der nicht entgangen war, dass Claudia Reitmeyer mit Angersbachs Gesprächstechnik offenbar ein Problem hatte. »Wenn es der Sache dient, so schnell wie möglich Gewissheit zu erlangen, ist das doch in unser aller Interesse, oder?« Oha, dachte sie sofort, das war suggestiv. Nicht gut. Doch ihr Gegenüber nickte zögerlich. »Können wir eine Viertelstunde Pause machen?«, fragte sie dann. »Sie können sich gerne einen Tee oder Kaffee kochen, ich brauche frische Luft. Danach gebe ich Ihnen die Liste.«
Ralph Angersbach lehnte an einer senkrecht in den Boden getriebenen Eisenbahnschwelle, die nun als Pfosten eines Weidezauns ihren Dienst verrichtete. Recycling en détail, dachte er amüsiert, wobei diese Zweckentfremdung der harten, schweren Hölzer beileibe nicht unüblich war. Auch ohne Hintergedanken. Die Grasfläche war zu weiten Teilen von einer gelblichen Tönung durchwachsen. Tautropfen wiegten sich an den Spitzen der längeren Gräser in der kühlen Brise, die eingesetzt hatte. Er schätzte die Außentemperatur auf fünf Grad, viel zu kalt, selbst für ihn, der sich für einigermaßen abgehärtet hielt. »Sie reden nicht gerne um den heißen Brei herum, wie?« Der angenehme Mezzosopran in Sabine Kaufmanns Stimme war eine willkommene Abwechslung zu dem schrillen Gekreische, in dem Janine sich derzeit hauptsächlich artikulierte. »Mag sein«, brummte er nachdenklich, noch immer mit Blick über die Weite der vor ihm liegenden Koppel. Ein Feldhase zeigte sich am anderen Ende, verschwand jedoch sofort wieder im angrenzenden Gestrüpp. Ralph wandte sich seiner neuen Kollegin zu, die nur einen Meter von ihm entfernt stand, so dass er seinen Blick senken musste. »Bisher hat das jedenfalls immer bestens funktioniert.« »Verstehe«, war Sabines knappe, unterkühlte Antwort. »Haben Sie ein Problem damit?« Mist. Jetzt hatte er sie tatsächlich in die Verteidigungsposition gedrängt. »An und für sich nicht«, begann sie mit Bedacht, »aber da drinnen sitzt eine junge Frau, die gerade ihren Vater verloren hat.« »Oder eine junge Abstauberin, die gerade ein Bio-Imperium geerbt hat«, widersprach Angersbach. »Oder sind Sie so ein Gutmensch, dass ein paar Krokodilstränen genügen?«
»Blödsinn!«, gab Sabine verärgert zurück und wandte sich mit verzogenem Mund zur Seite. »Aber wenn Frau Reitmeyer aufgrund mangelnder Empathie die Schotten dichtmacht, haben wir nichts gewonnen. Da versuche ich es lieber auf die freundliche Tour. Deshalb schließe ich sie als Verdächtige doch nicht aus.« Prima, eine Vollspektrumsrechtfertigung. Das versprach ja, eine tolle Zusammenarbeit zu werden. »Nehmen Sie's doch nicht als persönlichen Angriff«, schmunzelte Angersbach nach einigen Sekunden versöhnlich. »Aber Sie sehen ja selbst, es erzielt eine gewisse Wirkung, wenn man das Kind beim Namen nennt. Funktioniert als Taktik mindestens so oft wie ein Wellness-Paket, wetten?« »Abwarten«, brummte Sabine. »Ich werde jedenfalls weiterhin empathisch mit meinen Gesprächspartnern umgehen, auch mit Frau Reitmeyer. Im Übrigen schätze ich es nicht, als Testobjekt missbraucht zu werden.« »In Ordnung, belassen wir es dabei. Ich bin weder mürrisch noch emotionslos, aber beschränke mich lieber aufs Beobachten als aufs Reden. Jedem das seine, Sie können wohl beides.« Den letzten Satz fügte er bewusst hinzu, um bei seiner Kollegin nicht wieder ein Gefühl der Wertung zu verursachen. Beobachtung und Konversation waren gleich wichtig, das wusste er nur allzu gut. »Ich versuche es zumindest«, knüpfte Sabine an. »Stichwort Beobachtung: Was haben Sie denn so alles wahrgenommen?« Ihr Daumen deutete hinter sich, in Richtung Haupthaus. Hinter einer mannshohen Hecke glaubte sie, eine Bewegung zu erahnen, verharrte kurz in ihrem Blick, aber es tat sich nichts. »Frau Reitmeyer ist mitten in der zweiten Trauerphase, sie verhält sich augenscheinlich normal«, sprach Angersbach und blies sich warme Luft in die Handflächen, die er anschließend einige Male aneinanderrieb. »Leider verschwimmen die ersten beiden Phasen beim Überbringen einer Todesnachricht miteinander, aber dennoch verhält sie sich den Umständen entsprechend normal. Ich halte es momentan auch für unwahrscheinlich, dass ihre Emotionen gespielt sind, allerdings verheimlicht sie uns etwas.« »Spielen Sie auf meine Frage nach den Feinden an?« »Ja. Sie verbirgt etwas vor uns, dessen bin ich mir sicher.« »Das Gefühl hatte ich auch«, pflichtete Sabine bei. »Was halten Sie von der Frischluftpause? Grundbedürfnis oder Kalkül? « »Von beidem etwas«, schätzte Angersbach. »Sie denkt natürlich über die Personen nach, die sie uns nennen wird. Ihr Augenmerk liegt dabei aber nicht auf den Namen, sondern vielmehr auf den Hintergrundinfos, die wir dazubekommen werden. « Auf dem Weg zurück zum Haus verlangsamte Sabine Kaufmann ihren Gang und musterte prüfend die in tausend Verästelungen wuchernde Hecke, die trotz ihrer Kargheit an Blattwerk so dicht war, dass man das Dickicht kaum einen Meter durchblicken konnte. Der Boden war teils bemoost, teils steinig. Sollte tatsächlich jemand hier gestanden haben, so hatte er keine Spuren hinterlassen.
Claudia Reitmeyer wirkte wie ausgewechselt, obwohl seit der Unterbrechung kaum zwanzig Minuten vergangen waren. Sie wirkte auf bedrückende Weise gefasst, ihre Bewegungen waren statisch, ihre Miene fast regungslos. Nachdem die Kommissare sich zuvor gegen ein Heißgetränk entschieden hatten, war sie mit ihnen aus dem Haus gegangen, dann jedoch in Richtung eines der Nebengebäude verschwunden. Irgendwann hatten sich ihre schnellen Schritte über den Pflastersteinen verloren, und als Ralph und Sabine zurück ins Haus kamen, wartete sie bereits im Wohnzimmer. »Hier sind die aktuellen Geschäftsunterlagen«, eröffnete sie sachlich und deutete auf einen flachen Papierstapel, der größtenteils aus aufgefalteter Korrespondenz und ausgedruckten E-Mails zu bestehen schien. »Dem Terminkalender nach hatte mein Vater gestern Nachmittag um sechzehn Uhr eine Besprechung mit Dr. Elsass. Victor ist der Forschungsleiter unserer Saatgutwerkstatt. Telefonate kann ich leider nicht nachvollziehen, da wir keine digitale Anlage haben. Außerdem gibt es handschriftliche Notizen im Kalender, die ich nicht entziffern kann. Hier.« Sie griff neben sich und legte einen schmalen Querkalender mit Drahtkammbindung auf die Papiere. Zeitgleich schnellten die Köpfe der Ermittler nach vorn, und um ein Haar wären diese zusammengestoßen. Sabines Finger erreichten den Kalender zuerst, und sie drehte die Schrift in ihre Richtung. Sie erkannte krakelige Bleistiftnotizen, einiges musste eine Art Steno sein, außerdem für den Vortag in der entsprechenden Stundenzeile den Vermerk V. E. »Mist, nur Abkürzungen oder Hieroglyphen«, stieß Angersbach mürrisch durch die Zähne. »Dürfen wir den Kalender mitnehmen?«, erkundigte Sabine sich bei Claudia. »Nur zu. Nehmen Sie den ganzen Stapel aus dem Posteingangsordner mit, dann erhalten Sie einen Überblick.« »Danke. Wie war das Verhältnis zwischen Ihrem Vater und Dr. Elsass?« »Normal, denke ich.« Die Antwort kam schnell und wurde begleitet von einem Schulterzucken und einem unschlüssigen Blick. »Dr. Elsass hat für Ihren Vater gearbeitet?« »Fragen Sie ihn, und er wird das ein wenig anders darstellen.« »Inwiefern?« »Professor Doktor Doktor Elsass«, sprach Claudia betont abfällig, »arbeitet für niemanden außer für sich selbst. Er tut ausschließlich Dinge, die seiner wissenschaftlichen Reputation dienlich sind. Klar soweit?« »Hm. Gab es Rivalität zwischen den beiden?« »So würde ich das wiederum nicht bezeichnen«, wandte Claudia kopfschüttelnd ein. »Wie bezeichnen Sie es denn?«, fragte Angersbach gereizt. Wenn er eines nicht leiden konnte, dann war das Salami-Taktik. »Ich habe keinen Begriff dafür«, erklärte die Tochter. »Nennen wir es meinetwegen eine Win-win-Situation. Mein Vater hatte einen erstklassigen Wissenschaftler an Bord, und Dr. Elsass konnte sich mit x Forschungspatenten brüsten.« »Sie nannten ihn vorhin Victor«, sagte Sabine mit einem Pokerface, und ihr Blick haftete wie ein Magnet auf ihrem Gegenüber. Doch Claudia zeigte weder ein verräterisches Zucken noch sonst eine Reaktion. »Wir kennen uns schon recht lange«, kam prompt ihre Antwort. Etwas zu schnell, beinahe als wäre sie vorbereitet, fand die Kommissarin. »Sonst gab es gestern keine Kontakte?«, erkundigte sich Angersbach. »Jedenfalls keine, von denen ich wissen sollte«, wich die junge Frau aus und erhob sich. Da war es wieder. Jener ausweichende Zynismus, der Sabine wie eine verzweifelte Stimme zuzurufen schien. Etwas wollte nach draußen, tief in Claudia Reitmeyers Innerstem, aber sie war noch nicht bereit, es aus eigenem Antrieb freizulassen. Oder irrte sie sich? Claudia trat mit verschränkten Armen vor das Panoramafenster und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was Sie wissen müssen«, sagte sie nach einigen Momenten des Schweigens, noch immer mit dem Rücken zu den Kommissaren. »Darf ich jetzt bitte allein sein?« »Eine Frage noch«, beharrte Sabine. »Wir wissen, dass Ihre Mutter vor geraumer Zeit verstorben ist. Gibt es aktuell jemanden im Privatleben Ihres Vaters?« Ein unverständliches Murmeln erklang aus Richtung des Fensters, und Angersbach reckte mit angestrengtem Blick den Hals. »Wie bitte?« »Dazu möchte ich mich nicht äußern«, wiederholte Claudia Reitmeyer. Volltreffer, dachte Sabine triumphierend und sagte dann: »In Ordnung. Wir beenden unser Gespräch fürs Erste, aber wir werden Sie in Kürze wieder aufsuchen. Bitte denken Sie noch einmal über alles nach, ich lasse meine Visitenkarte hier, Sie können mich also jederzeit erreichen. Jeder Hinweis kann für uns von Bedeutung sein, vergessen Sie das nicht.« Claudia Reitmeyer sagte nichts dazu, nahm die Visitenkarte jedoch an sich, als sie den Kommissaren in Richtung Tür folgte. »Sie werden es ohnehin herausfinden«, begann sie dann leise, als Angersbach seinen Körper bereits durch den Türspalt ins Freie geschoben hatte und Sabine verharrte. »Was denn?«, fragte sie und schenkte Claudia einen aufmerksamen Blick. »Sprechen Sie mit Vera Finke. Sie arbeitet im Hofladen, ihre Privatadresse habe ich gerade nicht im Kopf. Massenheim glaube ich. Mehr möchte ich nicht dazu sagen.« Sabine notierte sich diese Information und bedankte sich. »Bevor wir gehen«, fragte sie dann, »was ist mit Ihrem Bruder? « »Wer?«, fragte Claudia stirnrunzelnd, dann, hastig lächelnd: »Ach, Frederik. Was ist mit ihm?« »Das war meine Frage an Sie«, beharrte Sabine, ein wenig verwundert über Claudias erste Reaktion. Diese schnaubte verächtlich. »Die meiste Zeit des Jahres über habe ich nicht die geringste Ahnung, wo er sich herumtreibt. Wir haben seit Wochen nichts voneinander gehört.« Beim Verlassen des Grundstücks fiel Sabines Blick ein weiteres Mal auf die Windkraftanlagen, die sich wie gigantische Spargel in den tristen Himmel streckten. Sie erinnerte sich an einen feurigen Leserbrief, den sie zu dem streitbaren Thema gelesen hatte. Vom Aus des römischen Kulturerbes war dort die Rede, nun, da weiße Spargel wuchsen, wo vor zweitausend Jahren der Limes die Eroberer vor den Germanen schützte. Aufgefallen war der Kommissarin, dass dieselben Stimmen, sobald es um die neue Umgehungsstraße ging, erstaunlich stumm blieben.
Claudia Reitmeyer sah den Beamten nach, bis der Wagen auf die Zufahrtsstraße eingebogen war und sich entfernte. Ihr gefiel es, dass die Kriminalpolizei offenbar nicht mehr auf PS- Boliden angewiesen war, sondern mit Strom reiste. Solange es kein Atom- oder Kohlestrom ist, dachte sie sofort. Viel schwerer wog, dass sie die Ermittlerin nicht mochte. Mit dem Ärmel ihres Jeanshemds wischte Claudia sich über die Stirn, erleichtert, die beiden vorerst los zu sein. Doch sie würden wiederkommen, das hatten Polizisten nun mal so an sich. Claudia spielte nervös mit dem Anhänger ihrer Halskette, den sie zwischen die Lippen gesteckt hatte und mit der Zunge hin und her schob. Als sie ins Wohnzimmer gelangte, blieb sie wie angewurzelt stehen und wurde vor Schreck aschfahl. Der kleine goldene Anhänger fiel ihr aus dem Mund, und ihr Atem stockte, als sie die grobschlächtige Gestalt wahrnahm, die sich dort aalte, wo kurz zuvor noch sie selbst gesessen hatte. »Verdammt!«, entfuhr es ihr entgeistert. Der breitschultrige, in einen abgewetzten Parka und mit fleckigen gelben Gummistiefeln bekleidete Mann zog den schwulstigen Mund in die Breite. Das selbstgefällige Grinsen legte den Blick auf seine Zähne frei, zwischen denen eine hässliche Lücke klaffte. »Na, na, das ging aber auch schon mal höflicher«, erwiderte er und zog sich die bordeauxfarbene Dockermütze von der Glatze. Er knetete das Wollgewebe zwischen seinen zerfurchten Pranken. »Wo wolltest du denn hin?« »Vorhin?« »Klar. Beinahe hätte mich die Blondine entdeckt, sonst hätte ich mich bemerkbar gemacht. Aber wir müssen uns ja nicht immer nur in der Maschinenhalle treffen.« Der lüsterne Unterton, gepaart mit einem vielsagenden Zwinkern jagte Claudia einen Schauer über den Rücken. »Haus und Büro stehen nicht zur Debatte«, entgegnete sie kühl, »das hat sich nicht geändert.« »Ach, komm schon, er ist doch jetzt nicht mehr da. Zeit, gewisse Dinge neu auszuhandeln, findest du nicht?« »Kein Bedarf, soweit es mich betrifft.« Der Mann, dessen stämmiges Wesen dem klassischen Bild eines Knechtes am nächsten kam, stemmte sich nach vorn und richtete sich ächzend auf. Langsam trat er einen Schritt auf Claudia Reitmeyer zu, dann einen weiteren. Versteinert, wie das Kaninchen im Bann einer Schlange, klammerte sich diese an die Lehne eines Stuhls, bewegte sich aber keinen Millimeter zurück. »Was hast du ihnen gesagt?«, erkundigte sich der Mann, blieb kurz stehen, musterte sie fragend und wandte sich dann in die entgegengesetzte Richtung. Seine Hände wanderten das Wohnzimmerregal entlang, suchten den Drehknauf des Getränkefachs, dann knarrte die Tür. »Ich musste ihnen den Kalender mitgeben, außerdem ein paar Papiere. Nichts Wichtiges.« »Wie willst du das denn beurteilen?«, erklang es spöttisch, im Hintergrund ertönte gläsernes Scheppern. Der Knecht entstöpselte eine kristallgläserne Karaffe und roch daran. Er verzog angewidert das Gesicht und entleerte den goldbraunen Inhalt in das Granulat einer Hydrokulturpalme. »Hätte ich Ihnen eine Büroführung anbieten oder am besten gleich den ganzen Computer mitgeben sollen?«, fragte Claudia gereizt. »So haben wir wenigstens bis morgen Zeit, uns um alles zu kümmern.« »Gott, wie naiv. Um alles kümmern«, äffte er sie nach und steuerte zielstrebig auf sie zu. Als sein Gesicht nur noch dreißig Zentimeter von ihrem entfernt war - sein Atem roch nach Alkohol, also musste er schon vorher am Tag etwas getrunken haben - , stieß der Mann, dessen Volumen beinahe das Doppelte der jungen Frau maß, grimmig hervor: »Ich bin hier fürs Kümmern zuständig, meine Liebe, vergiss das besser nicht. Und Silence is golden, das solltest du ebenfalls nicht vergessen! Mein Schweigen gibt's nicht umsonst.«
»Du lebst doch bereits wie die Made im Speck«, konterte Claudia, doch ihr Mut war auf ein kümmerliches Etwas zusammengeschrumpft, und viel würde sie ihm nicht mehr entgegenzuhalten haben. Leider wusste er das. Spöttisch lachte er auf und winkte ab. Dann griff er nach einer ihrer Haarsträhnen und ließ diese langsam zwischen zwei Fingern hindurchgleiten. »Ich rede nicht von Geld«, sagte er, und Claudia erschauderte ein weiteres Mal.
Da der Hofladen, dessen Werbetafel die beiden Kommissare erst beim Verlassen der Zufahrtsstraße wahrgenommen hatten, sonntags geschlossen hatte, blieb ihnen nur eine Personenabfrage, um Vera Finkes Adresse in Erfahrung zu bringen. Während man sich in der Dienststelle darum kümmerte, steuerte Sabine ihren Wagen in Richtung Bad Vilbel. Sie hatte Hunger und Durst, Ralph Angersbach ging es ebenso. Er hielt das Handy noch immer am Ohr, im Rückspiegel zeichnete sich eine angestrengte Miene ab, und er sprach zwischenzeitlich mit Schulte. Sabine vernahm Schlüsselworte wie Presse und Obduktion. Ralph Angersbach beendete das Gespräch und nannte ihr eine Adresse in Massenheim, was von ihrer jetzigen Position aus betrachtet auf der anderen Seite Bad Vilbels lag. »Ein schneller Kaffee auf dem Weg dorthin?«, vergewisserte sich Sabine, und er nickte dankbar lächelnd. »Auf jeden Fall. Ich hatte heute Morgen keine rechte Gelegenheit dazu.« Bevor Sabine dieses kleine Hintertürchen in sein Privatleben, das er soeben geöffnet hatte, für eine entsprechende Frage nutzen konnte, sprach Angersbach weiter: »Allerdings stellen wir die Befragung der Finke hintenan, wir haben als Nächstes ein zweites Date mit unserem Verblichenen. Den Kaffee gönnen wir uns aber trotzdem«, lächelte er. Schnell überlegte die Kommissarin, wie viele Kilometer es von Bad Vilbel bis Gießen waren. Fünfzig? Sechzig? Wie sie es auch drehen und wenden mochte, es waren zu viele, selbst für eine vollgeladene Batterie. Sie würde sich lieber jetzt die Blöße geben, den Wagen zu wechseln, als auf dem Heimweg liegen- zubleiben. Doch Übel blieb Übel, auch wenn man das kleinere wählte. »Wir müssten vorher das Dienstfahrzeug wechseln.« Sabine versuchte, es so beiläufig wie möglich zu sagen. Doch Angersbach sprang sofort darauf an und lachte spöttisch auf. »Wieso denn das? Reicht der Sprit nicht?« »Sehr witzig. Freuen Sie sich doch, Ihre Beine wieder ausstrecken zu können«, gab Sabine zurück. »Beine? Gut, dass Sie es sagen. Die sind schon so lange eingeschlafen, ich hätte fast vergessen, dass ich noch welche habe.« Am liebsten hätte Sabine gekontert, dass sie sich für die Fahrt im Lada wünsche, keine Wirbelsäule zu haben, doch ihr fehlte der Elan für einen ausufernden Schlagabtausch. »Wenigstens finde ich den Weg von Rendel zur Dienststelle«, murmelte sie nur und beobachtete im Spiegel, wie Angersbach amüsiert den Mund verzog. Bestand für ihn der ganze Tag aus Sarkasmus und Spitzfindigkeiten? Das konnte ja heiter werden, im wahrsten Sinn des Wortes. »Was ist nun eigentlich mit der Pressekonferenz?«, fragte sie unvermittelt. »Die übernimmt Schulte, dann ist er ganz in seinem Element.« Sabine verzog fragend das Gesicht, daraufhin fügte Angersbach hinzu: »Im Präsidium heißt es, er aale sich nur allzu gerne im Rampenlicht. Mir ist das im Übrigen auch sehr recht, Sie wissen ja, ich bin mehr der Beobachter. Und wegen der Autopsie: Wollen Sie erst die gute oder erst die schlechte Nachricht hören?« »Mir egal«, antwortete Sabine, denn sie hatte nicht den blassesten Schimmer, was nun kommen würde. »Professor Hack übernimmt diesen Job, die Staatsanwaltschaft hat sofort grünes Licht gegeben.« »Daran hatte ich keinerlei Zweifel«, murmelte Sabine. Auch wenn ein womöglich durch Sport hervorgerufener Todesfall nicht zwangsläufig zu einer Leichenöffnung führte, so sprachen in diesem Fall alle Faktoren dafür. Sie rief sich ins Gedächtnis, was sie über Professor Hack wusste. Persönlich begegnet waren sie sich erst ein Mal, da hatte die Kommissarin allerdings noch nicht gewusst, dass es sich um den beinahe schon legendären Rechtsmediziner handelte. Bislang hatte sie nur mit einem Dr. Schiller zu tun gehabt, aber das Jahr hatte es in puncto Mord und Totschlag auch verhältnismäßig ruhig angehen lassen. Zumindest im Vergleich zu Frankfurt. Professor Hack, es begann schon damit, dass sie nicht einmal seinen Vornamen im Kopf hatte, war eine Koryphäe. Er hatte sich in Krisengebieten auf der ganzen Welt herumgetrieben, Leichen aus Massengräbern auf deren Identität hin untersucht und irgendwo an einem Kriegsschauplatz, so lautete zumindest die Legende, das linke Auge eingebüßt. An dessen Stelle befand sich nun ein Glaskörper, denn alle moderneren Verfahren lehnte Hack schlichtweg ab. Seit vielen Jahren, auch das biologische Alter war der Kommissarin nicht geläufig, leitete er das rechtsmedizinische Institut in Gießen und gab diesen Posten stets nur kommissarisch ab, wenn er sich auf Reisen begab. Hack hätte sich längst an der französischen Riviera zur Ruhe setzen können, doch seine Devise lautete, den Knochenjob - er liebte doppeldeutige Wortspiele - bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Was er an Lebensalter auf dem Buckel hatte, glich er angeblich durch Charme und Esprit aus, es sei denn, er hatte jemanden auf dem Kieker. Unter seinen Studenten war er dafür berüchtigt, das unbewegliche Glasauge in Richtung des Auditoriums zu richten und mit dem anderen rastlos durch die Reihen zu blicken. Wie im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs fühlten sich auf diese Weise stets mindestens ein Drittel der Anwesenden unangenehm fokussiert. Auch bei Dienstbesprechungen, so hieß es, würde er diese aus einer Not geborene Untugend gerne einsetzen, sobald die Aufmerksamkeit zu schwinden drohte. Ein echter Charmebolzen, schloss die Kommissarin schmunzelnd, zufrieden, dass sie doch einiges über den Mann wusste, der die gerichtliche Leichenöffnung von Ulf Reitmeyer übernehmen würde. Glücklicherweise waren Hack und Schulte so etwas wie alte Kameraden, und neben der Pressekonferenz hatte sich der Boss auch gleich um den Anruf bei Professor Hack gekümmert. Das erschien sinnvoll, denn Sabine erinnerte sich an einen Wortwechsel Ende Januar zwischen ihr und Schulte, als es an einem Samstagabend darum ging, eine weibliche Leiche zu untersuchen, die erstochen worden war. »Wenn dort jemand anderes anruft als ich«, hatte Schulte seinerzeit mit verschwörerischer Miene gesagt, »hat Hack flugs einen weiteren Toten in seiner Kühlkammer liegen.« Wohl eine heillose Übertreibung. Oder gab es für die Kollegen der Rechtsmedizin etwa keine Rufbereitschaft? Lagen die Dinge heute ähnlich? Einmal mehr wurde Sabine Kaufmann gewahr, dass sie sich an einige der vorherrschenden Strukturen noch gewöhnen oder diese gar von null auf kennenlernen musste. Da fiel ihr ein, dass Angersbach von einer guten und schlechten Nachricht gesprochen hatte, und sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Was war das denn nun eigentlich mit Professor Hack? Die gute oder die schlechte?« »Beides«, erwiderte Angersbach lachend.
Das Institut für Rechtsmedizin der Universität Gießen erreichte man über die Frankfurter Straße, eine der Hauptverkehrsadern des beschaulichen Städtchens. Altbauten, Villen und moderne Fassaden reihten sich wie selbstverständlich aneinander; trotz der trüben Witterung ein bunt erstrahlender Flickenteppich. Gesäumt wurde das Ambiente von den erhabenen Gebäuden der Universität, welche an schier unzähligen Standorten Institute, Büros und Labor beherbergte. Professor Hack begrüßte die Kommissare erwartungsgemäß mürrisch und wechselte anschließend einige Worte mit Ralph Angersbach, die sich auf frühere Begegnungen beriefen. Sabine Kaufmann konnte nicht allem einen Sinn entnehmen, versuchte es auch nicht, aber als ein trockenes Lachen ertönte und Hack sich in Bewegung setzte, widmete sie ihm wieder ihre volle Aufmerksamkeit. »Hätten Sie ihn nicht nach Frankfurt verschiffen können?«, brummte er, hastig voranschreitend und nur mit leicht zur Seite gedrehten Blick. Das Auge starrte dabei wie absichtlich an ihr vorbei. Was zunächst wie eine forsche Geste anmutete, war, wie der Kommissarin dann einfiel, keine Absicht. Das Glasauge. Nun wusste sie zumindest schon einmal, um welches der beiden es sich handelte. Angersbach sprang in die Bresche. »Schultes Entscheidung«, gab er dem Pathologen zu verstehen. »Prächtig. Wenn's nach Horst geht, trifft's mich immer.«
In einem Nebenzimmer lasen sie eine Assistentin auf, die Angersbach nicht zu kennen schien und die auch Sabine völlig unbekannt war. Außerdem stand ein junger Mann von der Staatsanwaltschaft bei ihr, einen beinahe leeren Kaffeebecher in der Hand, der sich den Kommissaren reserviert vorstellte. »Sie schon wieder?«, polterte Hack, während seine Pranke die des Mannes zu zermalmen schien. »Wem sind Sie denn an den Karren gefahren, dass man Sie ständig zu Sektionen abkommandiert? « Er grinste, als der Anwalt etwas von Telefonkette und Zuständigkeit brabbelte, und schien sich für die Antwort nicht im Geringsten zu interessieren. Die Legenden waren also allesamt wahr, dachte Sabine. Hoffentlich war seine Arbeit genauso professionell wie seine bemerkenswert ungehobelte Art. Ulf Reitmeyer lag in der Mitte des Raumes, die über ihm befindliche Leuchte flackerte kurz, bevor sie ihn in ein farbloses Licht tauchte. Der Körper war bedeckt von einem Tuch, welches Professor Hack ohne Umschweife entfernte. Er klappte eine Brille auseinander und schob sich diese auf den breiten Nasenrücken. Dann schnalzte er mit der Zunge. »Der erste Bericht ist ein Witz«, kommentierte er den aus seinem Kittel herauslugenden Totenschein Dr. Körbers. »Zum Glück hat der Verblichene nicht auf dem Rücken gelegen, und er hat sich zu einer Temperaturmessung im Rektum hinreißen lassen. Sonst würde ich ihn jetzt verklagen, das können Sie mir glauben. Na ja, legen wir mal los.« Er nickte seiner Assistentin zu, welche daraufhin das Aufnahmegerät aktivierte.
Ralph Angersbach hatte schon so mancher Sektion beigewohnt, und vor allem die Untersuchungen durch Professor Hack waren üblicherweise ein Mix aus medizinischem Blabla und morbidem Humor. Gewürzt wurde das Ganze hin und wieder durch den einen oder anderen Schwank aus Hacks ereignisreichem Leben. Als ständiger Begleiter des Todes, also dem, wie der Rechtsmediziner es auszudrücken pfl egte, »krisensichersten Arbeitgeber der Welt«, hatte er schon eine Menge gesehen. »Zu viel für zwei Augen«, wie er nicht selten zum Besten gab, wenn betretenes Schweigen herrschte. Hackebeil - so nannte man ihn, teils amüsiert und teils ehrfürchtig - erfreute sich nicht nur unter seinen Studenten eines gewissen Rufes. Seit Jahren kursierten die verschiedensten Gerüchte, etwa, dass der Professor mit seinen Patienten spräche, wenn er allein im Sektionssaal stand. »Wieso denn auch nicht?«, war Hacks lachende Reaktion gewesen, als Angersbach ihn einmal darauf angesprochen hatte. Dann hatte er sich an die Stirn getippt und gemurmelt: »Andere sprechen mit ihren Tomaten. Geht's noch?« Ralph hatte bei jeder Leichenöffnung noch mit ganz anderem zu kämpfen. In Kindertagen hatte er die eine oder andere Hausschlachtung mit angesehen. Ein Schwein von gut und gerne zwei Zentnern, dessen Maße, Hautfarbe und sogar die leblose Form des Kadavers denen eines Mannes ähnelten, hing baumelnd an einem Wandhaken. Wenige Minuten zuvor noch hatte es drei keuchende Männer gebraucht, um das Vieh zu bändigen, welches quiekend und schreiend in seinem Kabuff polterte, bis das unvergessliche »Pssing!« des Bolzenschussapparats dem Leid ein Ende setzte. Ein nackter Toter auf dem Blechtisch, eine rosige Sau am Haken; Ralph hatte es nie geschafft, dagegen anzukämpfen, dass diese beiden Szenarien im Laufe der Jahre miteinander verschmolzen. Der Schlächter in seiner weißen Schürze, der stolze Bauer, dessen Stall die Sau entwachsen war, die Frauen an Wanne und Kessel, bereit, die Zerlegungszeremonie routiniert zu begleiten. Der Professor ratterte derweil eine routinierte Litanei von Fachbegriffen hinunter, während er die äußere Begutachtung vornahm. Ein normal gebauter Mann von altersgemäßer Konstitution. Eine kapitale Sau. Wann immer Hack eine Körpereigenschaft erwähnte, wanderten Ralphs Augen an die entsprechende Stelle. Sabine tat dasselbe, und er schätzte, dass sie dankbar war, dass Reitmeyers Leichnam ein verhältnismäßig ästhetischer war. Keine offenen Verletzungen, kein aufgedunsener Leib, kein verfaultes Gewebe. Die Haut war von einer blauvioletten Marmorierung, und überall dort, wo der Körper auf dem Boden gelegen hatte, befanden sich bleiche Stellen. Rosig wie ein Ferkel. An den Achselhöhlen und rund um die Taille durchwuchsen schmale, unregelmäßige Streifen die dunkle Leichenfärbung, ebenso hell wand sich eine Bahn wie ein Gürtel unterhalb des Bauchnabels. Kleidungsspuren, wusste der Kommissar, verursacht durch Falten im Stoff oder einen eng anliegenden Bund. Dort, wo das Blut nicht ungehindert hinlaufen konnte, entstanden keine Livores, Totenflecke. »Dem Anschein nach Zusammenbruch von HKS und ZNS nach kurzer Agonie«, drängte sich Hacks schnarrende Stimme zurück in Ralphs Bewusstsein. »Aber was zum Geier soll dieser unselige Kommentar in puncto Projektilverletzung?« »Eine Zeugin will einen Schuss vernommen haben«, erklärte Sabine hastig, was zu einem Stocken des Professors führte. »Und wo soll das Projektil bitte eingedrungen sein?« Seine Stimme reicherte sich mit höhnischer Ironie an. »Ins Ohr? Ins Rektum?« »Sagen Sie es uns«, gab die Kommissarin beherzt zurück.
»Sie gefallen mir, Mädchen!«, lachte Hack und beugte sich wieder über den Toten. Während er den Rumpf in einer bedächtigen, wie mit einem Lineal vollzogenen Bewegung von der Halsgrube bis oberhalb des Schambereichs aufschnitt und die T-Öffnung anschließend mit einem weiteren, von einer zur anderen Schulter verlaufenden Bogenschnitt vollendete, drangen die alten Erinnerungen wieder vor Ralphs Auge. Von unten nach oben, kerzengerade. Aus der aufplatzenden Schwarte drangen die Innereien nach außen. Derweil sprach Hack, an Sabine gerichtet, weiter: »Ob Sie's glauben oder nicht, aber im Kosovo habe ich es erlebt. Da schoss man, um Munition zu sparen, zwei nebeneinander stehenden Personen ins Ohr. Sehr effizient.« Er blinzelte über seinen Brillenrand kurz in die Runde, um Reaktionen zu erhaschen, doch niemand erwiderte etwas. »Ein Kollege von mir gibt außerdem gerne einen Fall zum Besten, dass eine gehörnte Ehefrau ihrem Gatten in den Hintern geschossen haben soll. Aber diese Geschichte hab ich schon so oft in so vielen Varianten gehört ... Na, wie auch immer.« Neben einer gehörigen Portion Selbstverliebtheit, die Professor Hack zur Schau stellte, und einigen sarkastischen Äußerungen bezüglich des Innenlebens von Ulf Reitmeyer bot die Untersuchung der Leiche nur wenig Neues. Er entnahm die inneren Organe einzeln und begutachtete diese. Was beim Schlachten nach außen gekrempelt und mit dem Ausbeinmesser durchtrennt wurde, wanderte hier fein säuberlich auf die Waage und in separate Behältnisse. Keine Aluminiumwanne, in der die glibberigen Innereien schwammen, so konturlos, als wären sie geschmolzen. Doch die schmatzenden Geräusche, das Glucksen und das Tropfen, waren identisch. Weder im Kopf noch im Darm noch sonst irgendwo fanden sich Hinweise auf eine Patronenspitze. Reitmeyer hatte weder eine Fettleber noch andere Indizien auf eine innere Erkrankung, und letzten Endes blieb nur die Frage nach einer Intoxikation offen. Fleischbeschau. Fehlte nur noch, dass er einen Stempel auspackte und ihn auf die einzelnen Körperteile presste. Und im Hintergrund, am Kessel, die Frauen mit dem großen Rührer. »Duh reure, Marri!«, schallte die mahnende Stimme tief aus Angersbachs Unterbewusstsein. Tu rühren, Marie! Rühren im angefeuerten Kessel, in dem das Schweineblut in spritzenden Wellen rundherum getrieben wurde, damit es nicht anbrannte.
Duh reure, damit mer Blout für die Bloutwurscht krieje!
Jeder Handgriff und jedes gesprochene Wort waren Routine, eingespielt durch unzählige Male, an denen dasselbe Procedere ablief. Das Ergebnis war stets dasselbe. Ein Schwein weniger auf dieser Welt, der Hof mit Blut und Exkrementen verschmiert, und das aufgeregte Grunzen zur Fütterungszeit wirkte weitaus dezenter als sonst. Keiner der Überlebenden schien auffallen zu wollen. Keine dumme Strategie. Schweine waren schließlich ausgesprochen intelligent. Angst gemacht hatte dem jungen Kommissar diese brutale Szenerie nicht, denn sie gehörte auf dem Land zum Alltag, auch wenn es heute kaum mehr praktiziert wurde. Doch die Schweinehaken, die man an zahllosen Häusern noch immer vorfindet, bewahren die Erinnerung. Seit jenen Tagen hatte Ralph einen Ekel vor Schweinefleisch. Angst hingegen hatte er eher vor den Menschen, die die wahren Raubtiere waren. Und vor Wölfen. Doch das gehörte in eine andere Erinnerungsschublade, die er hastig wieder schloss, denn Professor Hack bereitete nun die Gewebeproben vor.
»Das Tox-Screening bekommt oberste Priorität«, versprach er, fügte allerdings hinzu, dass aufgrund des Zustands der inneren Organe keine bahnbrechenden Erkenntnisse zu erwarten seien. Viel wichtiger, betonte er, sei ein ganz anderer Sachverhalt, den bereits Dr. Körber am Fundort erwähnt hatte: »Sprechen Sie mit dem Hausarzt des Mannes und lassen Sie mir die Krankengeschichte zukommen.« Selbstredend. Doch sowohl Angersbach als auch Kaufmann ahnten, dass ihre Mühen in diese Richtung das sich ankündigende Ergebnis nicht mehr ändern würden. Ulf Reitmeyer hatte beim Frühsport der plötzliche Tod erteilt. Fremdeinwirkung unwahrscheinlich.
Der Lada passierte die Bahnunterführung und erreichte den Abzweig zur Dienststelle, jene versteckte Straße, die Sabine bei ihrem ersten Besuch zweimal verfehlt hatte. Die Meldung vom plötzlichen Dahinscheiden des Bio-Moguls war bereits in die Mittagsnachrichten gelangt, was weder Sabine noch Ralph wunderte, denn immerhin befand sich der Radiosender praktisch in Sichtweite des Leichenfundorts. Auch dies blieb nicht unerwähnt, dankenswerterweise unterließ man jedoch allzu wilde Spekulationen. Sowohl der Hin- als auch der Rückweg von Gießen waren auf den verkehrsarmen Schnellstraßen zügig vonstatten gegangen. Selbst die Wirbelsäule wurde halbwegs geschont, denn es gab nur wenige Straßenschäden, die der Federung zusetzten. Eine Gelegenheit für tiefergehende Konversation ergab sich nicht, obgleich Sabine nur allzu gerne ein wenig mehr über ihren eigenbrötlerischen Kollegen erfahren hätte. Doch sie mahnte sich zur Geduld, wollte sich nicht anbiedern, denn genau genommen war sie selbst im Ausplaudern privater Angelegenheiten auch sehr reserviert. Also sprachen sie über den Fall, über Professor Hack und den gesichtslosen Anwalt, der die Sektion ohne sichtbare Anteilnahme über sich hatte ergehen lassen, weil es nun mal seine Pflicht gewesen war. In der Dienststelle selbst herrschte Aufbruchstimmung, Schichtwechsel, Dienstschluss, das übliche Treiben. Weder auf dem Anrufbeantworter noch im Posteingang befanden sich interessante Neuigkeiten, und von Konrad Möbs war nichts zu sehen, was beide Kommissare nicht bedauerten. Sie verließen das Büro, um die Befragung von Vera Finke in Angriff zu nehmen. Sie wohnte in Massenheim, nur einen Steinwurf entfernt, und wie selbstverständlich übernahm Sabine die Fahrt. Angersbach stieg kommentarlos ein, was sie wunderte, und wenige Minuten später erreichten sie den südlichen Ortsrand des benachbarten Ortsteils. Das Haus, in dem Vera Finke gemeldet war, unterschied sich deutlich von den anderen Einfamilienhäusern. Solarkollektoren krönten das flach abfallende Dach auf metallenen Gerippen, darunter wucherte der buschige Bewuchs des Gründachs. Die Wandflächen waren zum Teil holzverkleidet und in fleckigem Blassblau angelegt, ein chromglänzender Kaminabzug klebte an der Seitenwand. Der wild bewachsene Garten glich eher einer Schmetterlingswiese, ein Bild, das Ralph Angersbach seltsam vertraut vorkam. Zu dieser Jahreszeit jedenfalls, ohne Blüten und Falter, war es kaum mehr als ein verwahrloster Garten. Sabine schritt über den mit Steinplatten ausgelegten Weg, dann zwei hölzerne Stufen hinauf und suchte den Klingelknopf. Stattdessen fanden ihre Augen eine Glocke mit herabhängender Ziehkette. Auch gut.
»Wir werden beobachtet«, raunte Angersbach, der hinter sie getreten war, und wies mit dem Kopf dezent nach links. Die Kommissarin drehte sich reflexartig in die angedeutete Richtung, vernahm aber nur noch eine schnelle Bewegung hinter einem der Fenster. Der Vorhang schwang verräterisch noch einige Male hin und her. »Wachsame Nachbarn, wie?« »In so einer biederen Gegend fällt man eben auf, wenn man aus dem Raster fällt«, seufzte Angersbach. »Kommen Sie mal nach Okarben«, setzte er nach und verdrehte die Augen. »War das eine Einladung?« Sabine Kaufmann griff nach der hölzernen Kugel am unteren Ende der Kette und zog. Beim durchdringenden Klang der Glocke zuckte sie zusammen, lächelte dann aber vielsagend. »Allein dafür dürften sie ihre Nachbarn schon verachten.« »In Zeiten, wo man schon gegen Kirchenglocken klagt ...«, pflichtete Ralph bei, wurde jedoch durch die abrupt aufschwingende Haustür unterbrochen. Vor den beiden Kommissaren stand ein dürres Männchen, eins achtzig groß, in ockerfarbener Leinenhose, an dessen Körper kaum mehr als Haut und Knochen zu sein schienen. Auf dem dünnen Hals ruhte ein im Verhältnis viel zu füllig wirkender Kopf, die Ellbogengelenke traten wie Geschwulste aus den Armen, die wie verloren in T-Shirt-Ärmeln steckten. Das tatsächliche Alter des wettergegerbten Gesichtes ließ sich schwer einschätzen. Auf den ersten Blick deutete alles auf einen Sechzigjährigen hin. Doch sowohl die Körperspannung als auch der wachsame, unstete Blick des Mannes waren von jugendlichem Habitus. »Ja?« Seine Stimme war rau, aber unerwartet tief und voluminös.
Angersbach stellte sich selbst und seine Kollegin vor. Ohne zu zögern brachte er dabei auf den Punkt, welcher Abteilung sie angehörten. »Mordkommission?«, fragte der Schmalbrüstige ungläubig. Sabine nickte langsam, sie selbst hätte sich wohl intuitiv auf die Bezeichnung Kriminalpolizei reduziert, aber nun lagen die Karten eben offen auf dem Tisch. »Wir sind auf der Suche nach Vera Finke«, erklärte sie dem etwas verloren im Türrahmen stehenden Mann. »Vera?«, fragte dieser wieder zurück, und Sabine entging nicht, dass ihr Kollege offensichtlich allergisch darauf reagierte, wenn ein Gesprächspartner die ihm gestellten Fragen wiederholte, anstatt sie zu beantworten. »Vera Finke«, bekräftigte sie daher noch einmal. »Laut Personenregister ist sie hier gemeldet.« »Ähm ja, natürlich«, brummelte der Mann und fuhr sich durch das schüttere, ehemals schwarze Haar, welches zu weiten Teilen ergraut war. »Kommen Sie doch bitte rein, ich hole sie.« »Danke«, murmelte Angersbach und betrat nach seiner Kollegin den sandfarben gefliesten Flur. »Und Sie sind?«, wandte Sabine sich an den Mann. »Anselm Finke natürlich«, kam es brüskiert zurück. »Veras Mann.« Wenige Minuten später saßen Angersbach und Kaufmann an einem runden, unverschnörkelten Eichentisch, auf dem zahlreiche kreisrunde Abdruckspuren darauf hindeuteten, dass man im Hause Finke keine Untersetzer kannte. Vera war eine naturschöne Frau, die gegenüber ihrem Mann wie eine Walküre wirkte, obgleich sie kaum mehr als normal proportioniert war. Kein Make-up, lediglich eine kastanienbraune Haartönung, vermutlich Henna, und ein verschnörkeltes Tattoo auf den makellosen Unterarmen. Sie hatte einen dezent südländischen Teint, dazu grüne Augen und einige Sommersprossen um die spitze Nase. Im Gegensatz zu meinen bleiben ihre sogar im Winter, konstatierte Sabine ein wenig neidisch in Gedanken, dann konzentrierte sie sich auf die Mimik und Gestik der Frau. Angersbach gab sich alle Mühe, das Gespräch behutsam anzukurbeln, doch welche Adjektive und Metaphern konnten den Verlust eines nahestehenden Menschen wohl schönreden. »Tot?«, hauchte Vera und begann, sich nervös die Unterarme zu kratzen, bis sich rote Striemen über die Tätowierungen zogen. Anselm Finke rückte näher zu ihr, doch sie ging reflexartig auf Abstand. Peinlich berührt erhob er sich und fragte die Kommissare, ob sie etwas trinken wollten. Sie verneinten, trotzdem verließ er die Küche, und sofort zischte seine Frau mit leidender Miene und voller Verzweiflung ein »Sie sagen ihm doch nichts?« in Angersbachs Richtung. Offenbar ahnte sie, dass die beiden über ihr Verhältnis zu Reitmeyer informiert waren, denn sie setzte noch einmal flehend nach: »Bitte, Sie dürfen ihm nichts sagen«, nun an Sabine gerichtet, womöglich in der Hoffnung, in einer weiblichen Person eine Seelenverwandte zu finden. In diesem Augenblick waren auch schon wieder Anselm Finkes schlurfende Schritte zu vernehmen, und Sabine entschied spontan, vorerst keine peinliche Konfrontation zu verursachen. »Sie haben für den Verstorbenen gearbeitet?«, fragte sie ein wenig umständlich in der Hoffnung, dass sie den Wink verstehen würde. Und Angersbach auch. Vera nickte und schluckte. »Im Hofladen, ja. Eine Dreiviertelstelle. «
»Von wegen«, knurrte ihr Mann verächtlich, und sein Blick verdüsterte sich. Fragend blickte Angersbach zu ihm auf, und Anselm fuhr fort: »Eher eindreiviertel, so oft, wie du länger bleiben musstest.« »Ach, Unsinn«, nervös wedelte Vera mit den Handflächen, »das scheint nur, weil es sich so ungünstig verteilt. Außerdem hat Ulf mir jede Überstunde ...« »Ulf, Ulf!«, spie Anselm aus, noch immer stehend, und gestikulierte abfällig. »Wenn Ulf sagt: Spring, dann springen sie alle. Aber wehe, wenn man mal nicht spurt.« »Hör doch auf, Liebling«, flehte Vera, die offensichtlich damit kämpfte, die Fassung zu wahren und nicht in Tränen auszubrechen. »Sie waren nicht gut auf ihn zu sprechen?«, hakte Angersbach bei ihrem Mann nach. »Gelinde gesagt, nein. Aber das tut nichts zur Sache.« »Das würden wir gerne selbst entscheiden. Welcher Art waren Ihre Schwierigkeiten denn?« »Vergessen Sie's«, wehrte sich Anselm. »Sagen Sie mir lieber, was passiert ist.« »Reitmeyer wurde tot am Niddaradweg gefunden«, erklärte Sabine, ohne ins Detail zu gehen. »Heute Morgen gegen acht Uhr. Wo waren Sie um diese Zeit?« »Bin ich etwa verdächtig?« »Beantworten Sie bitte die Frage«, forderte Angersbach. »Hier im Büro. Vera kann das bezeugen. Oder, Vera?« Anselm tippte seiner Frau auf die Schulter, und diese fuhr erschrocken zusammen. »Sag doch auch mal was!«, forderte er. »Ja, kann sein, ich habe nicht auf die Uhr geschaut«, gab diese mit gesenktem Blick zu verstehen. Sie fixierte die Tischplatte und fuhr mit den Fingerspitzen entlang der Fleckenringe.
»Und was ist mit Ihnen?«, erkundigte sich Sabine und schob ihre Hand langsam nach vorn, um die ihres Gegenübers zu erreichen. Hastig zog Vera ihre Hände zurück und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. »Wenn Sie mich im Haus wahrgenommen hat, wird sie ja wohl auch selbst da gewesen sein«, meckerte das Männchen ungeduldig, und Sabine kam plötzlich eine alte Märchenverfilmung in den Sinn. Rumpelstilzchen, schoss ihr impulsiv durch den Kopf, und sie unterdrückte ein Grinsen. Fehlte nur noch der Bart. »Ja, natürlich, ich war hier«, bekräftigte seine Frau, wich aber noch immer geflissentlich den Blicken der Kommissare aus. »Wäre ja schließlich noch schöner, wenn du auch schon sonntags dort antanzen müsstest«, nörgelte Rumpelstilzchen weiter und trabte dann in Richtung Küchenzeile, wo er sich aus einer Karaffe Wasser in ein Glas schenkte. Bunte Glassteine fielen in dem bauchigen Gefäß hin und her, und für eine Sekunde war Sabine versucht, nach deren Sinn zu fragen, doch sie konzentrierte sich auf die Vernehmung. »Welches Verhältnis hatten Sie denn zu Ihrem Chef?«, fragte sie Vera, und endlich trafen sich ihre Blicke. Die Antwort lag offen da, wie ein goldenes Funkeln im smaragdgrünen Meer, Ulf Reitmeyer und Vera Finke verband weit mehr als nur ein Arbeitsvertrag. »Gut, normal eben«, erwiderte sie achselzuckend und gab sich größte Mühe, gleichgültig zu wirken. »Ich habe meine Arbeit im Hofladen gerne gemacht.« »Am liebsten rund um die Uhr«, erklang es prompt.
Heute back ich, morgen brau ich ...
»Und was ist mit Ihnen?«, wollte Angersbach von Herrn Finke wissen.
»Wie jetzt? Mein Verhältnis zu diesem Selbstbeweihräucherer? « Angersbach nickte, und Finke fuhr fort: »Ich konnte ihn nicht leiden und werde ihm auch nicht nachweinen. Das ist mein Standpunkt, und dazu stehe ich auch.« »Anselm!« Vera warf ihrem Gatten einen vernichtenden Blick zu, doch dieser ließ ihn an sich abprallen. Ein Hoch auf die Ehe, stellte Sabine für sich fest und fragte sich insgeheim, ob der Hänfling etwas vom Verhältnis seiner Gemahlin zu ihrem Chef wusste. Oder ob es ihn überhaupt interessieren würde, denn zwischen den beiden schien jede Beziehung zu fehlen. Andererseits war es nur eine Momentaufnahme, getrübt durch den Verlustschmerz, den die Frau nicht ausleben durfte, und den offenen Zynismus ihres Mannes, der ihr diesen Schmerz wohl kaum erträglicher machte. »Danke für Ihre Ehrlichkeit«, nickte die Kommissarin. »Gibt es außer Ihnen beiden noch andere Personen, die Ihre Alibis bestätigen könnten. Nachbarn zum Beispiel?« »Herrje«, stöhnte Anselm auf, »glauben Sie uns etwa nicht, weil wir Ehepartner sind? Dann schellen Sie bei der ollen Wischnewski nebenan, die wird mit Freuden einiges vom Stapel lassen. Aber ob es für ein Alibi reicht? Keine Ahnung. Ich habe E-Mails versandt, falls Ihnen die Zeitstempel genügen.« »Wir kommen gegebenenfalls darauf zurück«, wehrte Angersbach ab. Er verfügte über ausreichend technisches Verständnis, um zu wissen, dass man, wenn man sich ein Alibi konstruieren wollte, diese Zeitstempel ohne große Schwierigkeiten fälschen könnte. Die Server zu überprüfen war im Zweifelsfall der bessere Weg, diesen zu beschreiten aber bedurfte es einer entsprechenden Anordnung. »Welcher Tätigkeit gehen Sie denn überhaupt nach?«
»Ingenieur, Architekt, Energieberater. Haben Sie das Schild nicht gesehen? Ich habe mich auf ökologische Sanierung spezialisiert. « »Hm. Lukrativ?« »Allerdings. Unsere Region ist in diesen Belangen tiefstes Entwicklungsland. Aber es besteht Hoffnung.« Zum ersten Mal erhellte sich die mürrische Miene etwas, und der Anschein eines Lächelns huschte über Anselm Finkes Gesicht. Bevor sie sich verabschiedeten, nahm Angersbach den Mann noch einmal zur Seite und tuschelte ihm zu: »Mal unter uns: Waren Sie nicht eifersüchtig auf diesen Bio-Fuzzi? Mir scheint, Ihre Frau habe dort mehr Zeit verbracht als mit Ihnen.« Doch in Finkes Miene regte sich nichts. Gefühlskalt und tonlos gab er lediglich zurück: »Selbst wenn, das ist ja nun wohl vorbei.« Prächtiges Motiv, dachte der Kommissar im Hinausgehen, obgleich er wusste, dass es für eine Verhaftung weit mehr als das brauchte.
Cordula Wischnewski schien bereits hinter der Haustür gelauert zu haben, denn zwischen dem Drücken der Klingel und dem schwungvollen Aufreißen des Türblatts vergingen nur Sekunden. Ihre grauen Locken waren zu einer akkuraten, biederen Frisur gerichtet, dazu passend zierte eine blau gemusterte Kittelschürze den rundlichen Körper. Sie war einige Zentimeter kleiner als die Kommissarin. »Kriminalpolizei?«, wiederholte sie mit einer durchdringenden Stimme, die sich in einer Tonlage befand, in der selbst gedämpfte Aussprache laut wirkte. »Was hat dieses Volk denn angestellt?«
»Volk?« Es war Angersbach, den diese Wortwahl zutiefst irritierte. »Na, diese Hippies nebenan. Ich habe doch gesehen, dass Sie von dort gekommen sind.« »Was wissen Sie über die Finkes?«, hakte Sabine sofort ein. »Sehe ich etwa aus, als täte ich tratschen?« Die Stimme klang nun, da Verärgerung in ihr mitschwang, noch unangenehmer. »Wir benötigen Hintergrundinformationen, aber wenn Sie keine haben«, Ralph Angersbach gab sich desinteressiert, »dann gehen wir eben wieder.« Er musste sich nicht einmal mehr demonstrativ in Richtung Straße wenden, da kam schon wie aus der Pistole geschossen die Reaktion. »Warten Sie!« Cordula atmete schneller und tatschte sich nervös an den Hinterkopf, als müsste sie ihre Frisur richten. »Es ist ja schließlich meine Pflicht, der Polizei zu helfen, oder?« »So gesehen, ja«, nickte Sabine und verkniff sich ein Schmunzeln. »Dann kommen Sie doch bitte herein.« Flur, Wohnzimmer und Küche des Hauses waren genauso eingerichtet, wie das Äußere der Wischnewski zu vermuten gelassen hatte. Fein säuberlich aneinandergereihter Nippes füllte dunkle Holzmöbel, goldumrandete Porzellantassen mit Blumenmotiven und in Spitzenkleidchen drapierte Lackpuppen dominierten das Bild. Billige Ölgemälde namenloser Künstler, die Blumenvasen und eine Berghütte mit brünstigem Hirsch zeigten, darunter ein Plüschsofa, auf dem sich ein wabernder, haariger Klumpen befand. Schwer röchelnd. Bei genauerer Betrachtung stellte Sabine fest, dass es sich bei dem champagnerfarbenen Wesen um einen Hund handelte, und zwar um den fettesten, der ihr je untergekommen war. Neugierig drehte dieser den Kopf nach hinten, eine Anstrengung, die ihm ein weiteres heiseres Keuchen entfahren ließ. Frau Wischnewski setzte sich mit verliebtem Blick neben das Tier, kraulte ihm den Nacken und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. »Ist das ein Mops?«, erkundigte sich Angersbach mit hochgezogenen Augenbrauen. Offenbar fiel es ihm schwer, seine Mischung aus Ekel und Amüsement zu verbergen. Doch er versuchte es zumindest. »Wo denken Sie hin?«, erwiderte die Frau spitz und betonte voller Inbrunst: »Vincent ist eine französische Bulldogge.« Also ein Mops, dachte Sabine und verkniff sich ein Grinsen. »Kommen wir zurück auf die Finkes«, sagte sie dann. »Was möchten Sie denn wissen?« Der Geruch nach Sonntagsbraten lag schwer in der Luft, vermischt mit dem Duft nach frisch gebrühtem Kaffee. Nur als Beigeschmack konnte man den bittersüßen Hundegeruch wahrnehmen. Die Zwischenfrage, ob sie etwas trinken wollten, verneinten Sabine und Ralph mit der Begründung, nur wenig Zeit zu haben. Cordula Wischnewski sollte sich unter keinen Umständen dazu ermutigt sehen, ihren gesamten Lebensfrust bei den Kommissaren abzuladen. Erfreulicherweise kam sie - nach dem obligatorischen Wettern über Asoziale, Linke und alle anderen Geschwüre, die ihr Gesellschaftsbild zerfraßen - relativ zügig auf die Finkes zu sprechen. »Er hockt den ganzen Tag in der Bude und stiert in den Computer. Einen richtigen Job hat der nicht, ich kenne jedenfalls keinen, bei dem man so rumläuft. Weit kann er auch nicht kommen, denn er hat ja nur dieses Dreirad.« »Dreirad?« »Na, so ein Tretmobil. Der Finke würde sich niemals ein Auto vors Haus stellen. Ich habe ihm damals angeboten, dass er den alten Mercedes fahren könne. Baujahr 1985, ein Diesel, der hat meinen Walter, Gott hab ihn selig, und mich nie im Stich gelassen. Und sparsam ist er auch.« Die Erzürnung in ihrer Stimme ließ darauf schließen, wie Anselm Finke auf die Vorstellung reagiert haben musste, mit einem uralten Diesel, der zudem noch einen Stern trug, durch die Gegend zu tingeln. »Na, und dann dieses Haus. Keine Kontur, kein Stil, und dieser Garten! Haben Sie den Garten gesehen? Da muss man sich in Grund und Boden schämen. Wenn das mein Walter hätte erleben müssen.« Sie seufzte tief und ließ ihren Satz unbeendet stehen. »Können Sie Herrn Finke in seinem Büro sehen?«, erkundigte sich Angersbach. »Ich bin doch keine Spannerin!«, kam es zurück, und Cordula stemmte empört die Fäuste in die Hüften. »Sie sagten, er stiere in den Computer.« »Ja, natürlich. Das ist ja auch unvermeidbar zu sehen. Schauen Sie doch mal aus meinem Küchenfenster.« »Schon gut. War er heute früh auch dort?« »Weshalb? Steckt er etwa in Schwierigkeiten?« »Beantworten Sie doch bitte erst einmal die Frage.« »Allerdings. Ich habe um halb sieben Kaffee gekocht, da lungerte er bereits dort herum. Am heiligen Sonntag!«, entrüstete sie sich. »Das ist für Sie schwer zu glauben, oder?« »Ich wäre auch lieber zu Hause.« Sabine legte die Stirn in Falten, denn Angersbachs leicht angesäuerter Kommentar passte ihr nicht ins Konzept. Eine brüskierte Zeugin war der Sache nicht dienlich. Doch stattdessen nickte Frau Wischnewski betreten. »So war das nicht gemeint. Sie tun ja etwas für die Gesellschaft, was man von denen nicht behaupten kann. Solche wie die würden am Ende noch mit Ziegelsteinen nach Ihnen werfen.« Dann blitzten ihre Augen auf. »Was ist denn nun mit den Finkes?« »Wir befragen Zeugen im Zuge einer Mordermittlung«, lächelte Sabine unverbindlich, »das ist leider alles, was wir Ihnen derzeit sagen dürfen.« »Gefällt mir nicht«, reagierte Cordula schulterzuckend und klopfte der wabernden Masse auf den geblähten Bauch, was der Hund mit einem erregten Schmatzen beantwortete. »Was ist mit Frau Finke?«, fuhr Angersbach fort. »Die arbeitet in so einem Öko-Laden. Mickrige Kartoffeln zu überteuerten Preisen und gammeliges Gemüse haben die dort. Heißt es jedenfalls, denn ich gehe da ja nicht hin«, betonte sie noch. »Aber leben lässt es sich offenbar nicht schlecht davon.« Noch während Sabine darüber nachdachte, mit welcher Frage sie fortfahren sollte, beugte sich Cordula vor, und ihr praller Busen berührte die Tischplatte. Wispernd und hinter vorgehaltenem Finger fuhr sie fort: »Ich habe mich schon manchmal drüber gewundert, warum Vera Finke sich nicht einen gestandenen Mann sucht, der sich um sie zu kümmern weiß. Mit dem sie eine Familie gründen kann, na, Sie wissen schon.« »Spielen Sie dabei auf jemand Bestimmtes an?« »Dazu möchte ich lieber nichts sagen. So etwas gehört sich nicht.« »Es könnte uns aber weiterhelfen«, bohrte Angersbach und setzte dabei seinen besten Hundeblick auf, den er zu bieten hatte. Möchte er nun Mutterinstinkte wecken?, dachte Sabine, gespannt, ob seine Taktik funktionieren würde. »Na ja, es ist so«, begann Frau Wischnewski gedehnt und drehte, als wolle sie sich absichern, dass niemand lauschte, den Kopf zu Seite. »Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen einem attraktiven Herrn, der mich mit einem eleganten Wagen bis vor die Haustür chauffiert, oder einem solchen Hampelmann, der seine eigene Ehefrau mit dem Fahrrad oder per Bus zur Arbeit schickt ... Muss ich mehr sagen?« »Ein eleganter Wagen? Geht das noch etwas genauer?«, erkundigte Sabine sich sofort, erntete jedoch nur ein resigniertes Kopfschütteln. »Ach herrje, da kenne ich mich nicht aus. So ein Geländewagen eben, dunkelgrün.«
Als Angersbach und Kaufmann zurück in Richtung Wagen liefen, öffnete sich die Haustür der Finkes, und ein schmächtiger Schatten kam den Zugangsweg hinabgehuscht. Mit fragend geneigtem Kopf blickte Sabine den Mann an, als er sie erreichte. Seine Stimme zitterte leicht, er gab sich die größte Mühe, gefasst zu klingen, doch er musste sich noch vor kurzem in höchster Aufregung befunden haben. »Hören Sie«, begann Finke und fuchtelte dabei mit der knöchrigen Hand, »ich weiß Ihre Zurückhaltung von vorhin durchaus zu schätzen, aber ich weiß Bescheid.« »Sie wissen Bescheid«, wiederholte Angersbach prompt, was mehr nach gelangweilter Feststellung als nach einer Frage klang. »Meine Frau weiß nicht, dass ich Sie hier draußen abgepasst habe, also machen wir es kurz«, raunte Anselm verschwörerisch. »Sie hatte eine Affäre mit diesem Windhund. Das ist doch der wahre Grund, weshalb Sie heute hierher gekommen sind, nicht wahr?« Ohne auf seine Frage einzugehen, erwiderte Sabine: »Sie wissen von dem Verhältnis? Seit wann?«
»Schon seit Jahren«, brummte er. »So lange?«, entfuhr es Sabine ungläubig. Sofort bereute sie ihren impulsiven Kommentar und ergänzte schnell: »Sie haben sich, hm, damit arrangiert?« »Was soll ich sagen? Ja. Wir hatten, nachdem Sie vorhin gegangen sind, einen ziemlichen Streit. Da kochte vieles wieder hoch. Vera hätte bei ihrer Vernehmung einfach Klartext reden sollen, anstatt aus falsch verstandener Rücksichtnahme um den heißen Brei herumzureden.« »Die Beziehung zu Reitmeyer war also schon längst wieder beendet, oder wie?«, hakte Angersbach nach. »Sag ich doch. Ich hätte Vera doch nicht bei diesem Dreckskerl arbeiten lassen, wenn er sie ... Na, Sie wissen schon.« »War es nicht trotzdem wie ein Damoklesschwert, das da drohend über Ihnen baumelte?«, konstatierte Angersbach pathetisch, und Sabine hob die Augenbrauen, gespannt, wie Anselm darauf reagieren würde. Das hagere Männchen räusperte sich kurz und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. »Letzten Endes kommt es doch darauf an, dass Vera all die Jahre bei mir geblieben ist. Der Rest ist Vergangenheit, also belassen wir es dabei.« Mehr hatte Anselm Finke nicht zu sagen und verschwand kurz darauf so still und leise, wie er gekommen war, im Hausinneren. »Der hat gut reden«, kommentierte Angersbach, als er sich mit einem angestrengten Ächzen hinab in den Beifahrersitz sinken ließ, und Sabine glaubte zu wissen, worauf er hinauswollte. Für Anselm Finke schienen sämtliche Probleme mit Ulf Reitmeyers Tod gelöst zu sein.
Das Elektroauto holperte über den Bordstein auf den Parkplatz, und Angersbach erdreistete sich prompt zu dem Kommentar, dass die Federung ganz schön unbequem sei. »Wie bitte?« Sabine warf ihm einen empörten Blick zu. »Für ein Format wie diesen Hasenkasten ist die Federung zu hart«, bekräftigte dieser seinen Standpunkt, und sofort schnellte Sabines Zeigefinger in Richtung des Lada. »Wollen Sie dieses Fass tatsächlich aufmachen? Nennen Sie das, was in Ihrer Kiste verbaut ist, etwa eine angemessene Federung? « »Meine Kiste, wie Sie es nennen, ist eine vollkommen andere Fahrzeugklasse«, entgegnete Angersbach trocken, ohne sich auf das angriffslustige Funkeln in Sabines Augen einzulassen. »Na, von einem eleganten grünen Jeep, wie die Wischnewski ihn gesehen haben will, ist er aber einige Klassen entfernt«, frotzelte sie. »Gehen Sie noch mal rein?« Angersbach klimperte mit seinem Schlüsselbund und nickte in Richtung seines Wagens. »Wollte mir noch einige Notizen machen und ein paar Sachen recherchieren. Sie nicht?« »Nichts, was nicht auch noch morgen früh erledigt werden könnte. Schulte und alle anderen sind längst weg, und an den Computer kann ich mich auch zu Hause setzen. Da habe ich wenigstens eine Couch.«
Und eine ätzende Halbschwester.
»Fahren Sie nur.« Sabine Kaufmann wollte ihn offenbar loswerden. Hatte er sie etwa verärgert? »Na, dann drehe ich wenigstens noch einen kurzen Schlenker bei Frau Ruppert vorbei«, schlug Angersbach vor. »Die Sache mit dem Schuss hat sich ja nun wohl erledigt, trotzdem stößt mir das Ganze noch bitter auf. Halten Sie es für möglich, dass sie sich den Schuss nur eingebildet hat und jetzt aus Stolz oder Scham an ihrer Aussage festhält?« Sabine Kaufmann überlegte kurz und sagte dann: »Ob ich so weit gehen würde, weiß ich nicht. Aber wenn Sie ihr noch mal auf den Zahn fühlen wollen, nur zu.« Als Angersbach sich in Richtung seines Lada abwandte, konnte sich die Kommissarin einen spöttischen Kommentar nicht mehr verkneifen: »Ich dachte, Ihre Couch wartet auf Sie? Ihr malträtiertes Gesäß schien doch förmlich danach zu schreien.« Sie ist verärgert, registrierte Angersbach und verkniff sich eine spitze Gegenbemerkung. Sollte kein himmlisches Wunder geschehen sein und Janine sich entmaterialisiert haben oder wenigstens mit ihrem obskuren Lover auf Nimmerwiedersehen durchgebrannt sein, musste er mit seiner verbalen Munition sparsam sein.
Die Dunkelheit hatte sich längst wie eine Decke über die Stadt gelegt, nur dass sie statt behaglicher Wärme nur Einsamkeit brachte und neuen Frost. Der Fernseher flimmerte, es lief der Weltspiegel mit einem Bericht über einen Einsiedler, der in den polnischen Wäldern lebte. Sabine schaute desinteressiert zu, die Hand um ein halbleeres Glas Rotwein geschlossen, in dem sich die Lichtreflexe des Bildschirms spiegelten. Der Mann war zur Gänze in Pelz gekleidet und schien sich ausgesprochen wohl zu fühlen. Na, wenigstens hat er Sonne und Schnee. Die Kommissarin hingegen fröstelte schon beim Gedanken daran, ihre wärmende Decke zu verlassen, in die sie sich eingerollt hatte. Mit einem großen Zug leerte sie das Glas und stellte beim Nachschenken fest, dass die Flasche beinahe leer war.
Prima, dachte sie zerknirscht. Rechnerisch war es nur ein Dreiviertelliter Wein, kein Grund also, das Ganze überzubewerten. Doch es waren die Rahmenbedingungen, die das Ganze bedenklich machten. Sabine konnte nicht umhin, an die Jahre zurückliegenden Alkoholexzesse ihrer Mutter zu denken. Diese Zeiten mochten längst vergangen sein, aber die Narben in ihrer Seele schmerzten, als sei es erst gestern gewesen. Ein als dienstfrei geplanter Sonntag war vorübergegangen, und anstatt sich um ihre Mutter zu kümmern, deretwegen Sabine immerhin den Wechsel von Frankfurt hierher angestrengt hatte, war ihr Tag von völlig anderen Dingen bestimmt gewesen. Dem Aufschneiden eines Toten zum Beispiel, der vermutlich gar kein Mordopfer war. Dazu die womöglich gänzlich fruchtlosen Vernehmungen - im Falle eines natürlichen Todes reine Zeitverschwendung - und, was am allerschlimmsten war, die stichelnden Wortgefechte mit ihrem neuen Kollegen. Angersbach hielt sich wohl für besonders witzig, wenn er den Eigenbrötler mimte, vielleicht war er auch tatsächlich bislang nicht damit angeeckt. Aber Sabine kam mit seiner Art und Weise nicht zurecht, er war bei Vernehmungen fahrig oder schlichtweg unfreundlich und spielte seine Trümpfe, sämtliche Kollegen zu kennen, bei jeder Gelegenheit aus.
Tue ich ihm unrecht? Nein.
Er wickelte sie jedes Mal, wenn er sie vor den Kopf gestoßen hatte, wieder um den Finger und hatte sich mit dieser Masche durch den gesamten Tag gemogelt. Angreifbar gemacht hatte er sich nicht, wahrscheinlich würde er sie glatt an die Wand reden, wenn sie ihn damit konfrontierte. Verzweiflung ergriff Besitz von ihr, und sie sehnte sich in diesem Augenblick ihre Mutter herbei, die vermutlich längst eingeschlummert war, denn die Psychopharmaka machten sie unendlich schläfrig.
Oder die starken Arme ihres Freundes Michael, der sich als IT-Experte im Frankfurter Präsidium verdingte. Doch Michael war mal wieder nicht da, wie so oft in letzter Zeit. Seit zweieinhalb Jahren waren die beiden nun ein Paar, und Sabine musste sich eingestehen, dass sie diesen gutaussehenden Mann abgöttisch liebte. Sie war ihm, ohne dies anfangs zu wollen, völlig verfallen, und wenn sie zusammen waren, fühlte sich das Leben so leicht und beschwingt an, dass alles andere nicht zählte. Doch sobald der Job, ihre Mutter oder sonst etwas sie auseinanderdividierte, kam sofort das schwarze Loch mit seiner bedrückenden Schwere und den finsteren Dämonen.
Bleibt er bei mir? Was, wenn er eine andere findet? Eine, die unkomplizierter ist. Eine Frau mit heilem Elternhaus für eine Schar dunkelblonder Kinder. Sabine Kaufmann hatte es weder nötig noch hatte sie es gewollt, sich jemals derart von einem Mann abhängig zu machen. Doch gegen den Strudel ihrer Gefühle war sie machtlos. Michaels Handy war ausgeschaltet, im Flugzeugmodus oder in einem Funkloch, was auch immer. Gerade jetzt, wo sie seine warme, beruhigende und erotisierende Stimme so dringend gebraucht hätte. Sie war allein, niemand greifbar, bei dem sie ihrem Frust über die Gesamtsituation hätte Luft machen können.
Ein Job, bei dem dich jeder betrachtet, als seist du eine Zicke aus der Großstadt, die sich wichtig macht. Ein Kollege, der sich als Kotzbrocken aufspielt, kaum dass er einen Tag dazugehört. Eine Mutter, bei der du dich nicht ausheulen kannst, weil du ihr dann eingestehen müsstest, dass du nur ihretwegen hierher gewechselt bist. Und die dich, selbst wenn es so weit käme, sowieso nicht verstehen würde.
Ein Freund, der vom ersten Tag an keinen Hehl daraus gemacht hat, dass er den Wechsel zwar unterstützt, aber nicht für richtig empfindet.
Und dann war da noch Heiko Schultz.
Ein Kollege, der bei einem völlig alltäglichen Zugriff durch einen siebzehnjährigen Messerstecher draufgehen musste.
Die Beerdigung war eine Katastrophe gewesen. Eine stoisch am Grab stehende, hochschwangere Frau, an der Hand ein teilnahmslos dreinblickendes Kleinkind von vielleicht drei Jahren. Schluchzende Angehörige, dazu weiße Schneeflocken, die sich auf den schwarzen Trauerkleidern niederschlugen. Blicke der Schuldzuweisung, nicht gegenüber Sabine, sondern an sämtliche Kollegen gerichtet, die äußerst zahlreich vertreten waren. Nicht das Messer war es, das Simone Schultz ihren Mann genommen hatte, es war dieser gottverdammte Job.
Halt!
Eine Stimme in Sabines Kopf begann zu rufen, immer lauter werdend, bis die Kommissarin ihr endlich Beachtung schenkte. Selbstmitleid? Dafür bist du zu jung!, insistierte das verborgene Ich. Zu jung, zu engagiert, zu stolz. Sabine wusste das alles und war dankbar, diese Stimme vernommen zu haben. Ihre Verzweiflung war nicht rational, der Tränenschleier auf ihren Netzhäuten gehörte dort nicht hin. Die Konturen des Wohnzimmers waren längst verschwommen, doch sie war plötzlich wild entschlossen, die Kontrolle zurückzuerlangen. Zumindest über die Bereiche, in denen sie etwas verändern konnten. Hastig kippte sie den restlichen Wein hinunter und schmiedete einen Schlachtplan. Michael war nun mal nicht greifbar, daran konnte sie nichts ändern. Ihre Mutter würde sie morgen im Laufe des Tages besuchen. Und Angersbach? Sabine knallte das leere Weinglas zurück auf den Couchtisch und schnaubte entschlossen.
So nicht, Herr Kollege, nicht mit mir!
Ab morgen würde sie andere Saiten aufziehen.
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Autoren-Porträt von Daniel Holbe
Daniel Holbe, Jahrgang 1976, lebt mit seiner Familie in der Wetterau unweit von Frankfurt. Insbesondere Krimis rund um Frankfurt und Hessen faszinieren den lesebegeisterten Daniel Holbe schon seit geraumer Zeit. So wurde er Andreas-Franz-Fan - und schließlich selbst Autor. Als er einen Krimi bei Droemer Knaur anbot, war Daniel Holbe überrascht von der Reaktion des Verlags: Ob er sich auch vorstellen könne, ein bereits bestehendes Projekt in dieser Region zu übernehmen? Als leidenschaftlicher Krimi-Leser, auch und vor allem von Andreas Franz, empfindet er das Vollenden der Andreas-Franz-Krimis als ein besonderes Privileg. Die Andreas-Franz-Leser sind begeistert, alle von Daniel Holbe vollendeten Julia-Durant-Krimis eroberten sofort die Bestsellerlisten. Mit "Giftspur" erscheint nun der erste Krimi von Daniel Holbe.Bibliographische Angaben
- Autor: Daniel Holbe
- 2014, 3. Aufl., 464 Seiten, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426513749
- ISBN-13: 9783426513743
- Erscheinungsdatum: 03.03.2014
Rezension zu „Giftspur / Sabine Kaufmann Bd.1 “
"1A Polizeiarbeit - die Romane von Daniel Holbe sind eine echte Entdeckung. Bei der Lektüre von GIFTSPUR kommt man kaum zu Atem. Kein Wunder, denn der erste Fall für Kommissarin Sabine Kaufmann ist absolut spannend bis zur letzten Seite. Bis zum Schluss rätselt man auch als Leser mit, wer der Mörder ist, und lässt sich des Öfteren auf eine falsche Fährte führen. Julia Durant, für die Kaufmann zuvor ermittelte, kann stolz sein auf die Leistung ihres Schützlings. Und Andreas Franz auf Holbe. Der deutsche Autor hat sich nach TODESMELODIE, TÖDLICHER ABSTURZ und TEUFELSBANDE endgültig freigeschwommen. Sein `Debüt´ jedenfalls ist ein literarischer Genuss. Einfach ein Lesevergnügen, das nach einer Fortsetzung schreit!" www.literaturmarkt.info 20140714
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