Glencoe
Historischer Roman
Schottland, 1678: Die MacDonalds und die Campbells sind zutiefst verfeinet. Als Sandy Og MacDonald gegen den Willen der Familien Sarah Campbell heiratet, spitzt sich die Fehde immer mehr zu und endet in einem Blutbad. Können Sandy Og und Sarah ihren Clan vor dem Untergang retten?
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
9.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Glencoe “
Schottland, 1678: Die MacDonalds und die Campbells sind zutiefst verfeinet. Als Sandy Og MacDonald gegen den Willen der Familien Sarah Campbell heiratet, spitzt sich die Fehde immer mehr zu und endet in einem Blutbad. Können Sandy Og und Sarah ihren Clan vor dem Untergang retten?
Klappentext zu „Glencoe “
Schottland, 1678. Gegen den Willen ihrer Familie holt Sandy Og MacDonald die junge Sarah Campbell als seine Braut nach Glencoe. Auch wenn ihre Clans seit Jahren im Streit liegen - zwischen den beiden ist es Liebe auf den ersten Blick. Jahre später ist aus dem Streit der Clans Feindschaft geworden. Die MacDonalds halten James Stuart die Treue, während die Campbells den neuen König unterstützen. In einer eiskalten Winternacht kommt es zu einem Blutbad, wie es das Hochland noch nicht gesehen hat. Können ausgerechnet Sarah und Sandy Og den Clan retten?
Lese-Probe zu „Glencoe “
Glencoe von Charlotte LynePROLOG
Der Mann aus Glencoe
GLENLYON IN LOCHABER, OKTOBER 1678
... mehr
Glenlyon, so erzählten sich die Alten an den Feuern, war das schönste der Täler in Lochaber. Für
Sarah aber, die in sechs Jahren hier nicht hatte heimisch werden können, blieb es das fremde Tal. Sie würde nie eine aus Glenlyon sein.
Sie sah den Männern zu. Hinter der Wurfbahn drängten sich die Bewohner des Tales und Gäste, die zum Leichenbegängnis der Großmutter gekommen waren, so dicht, dass Sarah keinen Zipfel hätte sehen können. Aber Sarah sah alles. Schon immer. Sie war nicht groß und hatte kein Fleisch auf den Knochen, weshalb ihre Tante über sie zeterte: »Die Sarah ist ein komischer Vogel. Mit den besten Bissen kannst du die füttern, die bleibt dürr wie ein Ginsterzweig.« Doch was für ein Ärgernis Sarahs Leichtgewicht auch für andere darstellen mochte, ihr selbst war es nicht ohne Nutzen: Keine, nur sie, hätte gewagt, in die Rotbuche zu klettern und an altersmorschen Ästen zu hangeln, bis sie alles überblickte.
Es war längst Herbst. Aus den bewaldeten Kuppen der Hügel ragte das Schwarzgrün der Tannen aus Tupfen von Lehmgelb, Erdbraun und Rot. Die Buchenzweige leerten sich so geschwind wie die Schüsseln mit Grütze, die die Tante den Basen hinstellte. Man hätte Sarah leicht finden können, aber niemand achtete auf sie. Ihre Großmutter, die alte Jean Campbell, hatte drei Gatten überlebt und sechzehn Kinder geboren, und alle hatten ihrerseits Kinder, die Jean zu sich holte, wenn diese verwaisten. So kam es, dass es im Tal von Jungvolk wimmelte und eine struppige Sechzehnjährige keinem Menschen wichtig war.
Das war nicht so übel. Wer keinem wichtig war, durfte ungestraft in Bäume klettern. Nur einmal in den sechs Jahren, die sie seit dem Tod ihrer Mutter hier lebte, war Sarah geschlagen worden, und da sie die Striemen jener Schläge noch immer als dickliche Würmer auf den Schenkeln spürte, verzichtete sie gern auf Wiederholung. Dennoch wäre es zuweilen schön gewesen, wichtig zu sein. In der Nacht, sooft der Tod um die Häuser schlich, bekam Sarah Angst, weil sie wusste: Wenn er mich holt und ich morgen fehle, fällt es niemandem auf.
Auch jetzt hätte sie gern im Gedränge einen Menschen entdeckt, der ihr Fehlen bemerkte, aber den gab es von nun an weniger denn je. Die Großmutter, die sie zumindest beim Namen gerufen und ihr erklärt hatte, wie es war, wenn eine heiraten musste, die Großmutter, die vor ihr über die Familie gelästert und des Nachts an ihrer Seite geschnarcht hatte, sie lebte nicht mehr.
Die alte Jean war weit über Glenlyon hinaus eine Berühmtheit gewesen. Ihr Leichenfest währte bereits drei Tage, und die Menschen von nah und fern prassten, tanzten und wetteiferten zu ihrer Ehre. Am heutigen dritten Tag, dem Höhepunkt, maßen die Männer des Tales ihre Kräfte mit den Gästen im Weitwurf. Aller Augen waren auf die Linie aus Steinen gerichtet, die den Beginn der Wurfbahn markierte. Daneben lag ein Stapel gespitzter Fichtenstämme, ein jeder dick wie eines Mannes Schenkel. Ein Kerl brauchte die Stirn und Stärke eines Bullen, um einen solchen Stamm zu schleudern. Mithin hatte sich nur eine Handvoll Bewerber eingefunden, obgleich ein Goldpreis winkte, das Ersparte der Verstorbenen.
Sarah entdeckte eine Ansammlung lediger Mädchen, die vorne einen Platz ergattert hatten. »Rob Glenlyon«, kreischte die dralle Fiona, »der Stärkste von allen und der Schönste!«
Tänzelnd setzte der Mann mit dem korngelben Haar einen Schritt, bis seine Stiefelspitze an einen Stein der Linie tippte. Sarah zwang sich, ruhig zu bleiben. Das neue Kleid aus in Hast gesponnener Wolle kratzte, doch sie durfte nicht zappeln, wenn sie nicht abrutschen und sich sämtliche Knochen brechen wollte. Ihr Onkel Rob, der sich sonst gern nach Art der Engländer, der Sassenachs, in Kniehosen und Samtröcke kleidete, trug heute das Gewand seines Volkes: die zwei Teile des Feiliadh, das über die Schulter geworfene Plaid, das seine Brust breiter machte, und den Kilt, der die Waden blank ließ. Er löste das Plaid, legte es sorgsam zusammen und entblößte ein zartweißes Hemd, durch das die Haut rosig schimmerte. Verzücktes Raunen vereinte sich aus fünfzig Frauenkehlen.
Als er den Kopf in den Nacken legte, rann ihm das Haar in Wellen auf den Rücken. »Ein Campbell war der Erste im Bett meiner Mutter!«, rief er. »Also soll ein Campbell den ersten Wurf an ihrer Bahre haben!«
Applaus brandete auf. Er kostete ihn weidlich aus, ehe er sich zur Seite neigte und die Arme um einen Fichtenstamm schlang. Fiona gab Laute von sich, als hätte sie Rob gern verspeist. Wahrscheinlich wünschte sie, er möge statt des Stammes sie umarmen. Hinter ihm standen die Männer, die nach ihm an die Reihe kommen würden, und begrabschten gegenseitig die Muskeln ihrer Oberarme. Einer aber stand abseits. Er trug ein ledernes Wams auf bloßen Schultern.
Sarahs Onkel hievte den Stamm vom Stapel, packte ihn und hob ihn über den Kopf. Johlen und Grölen begleitete jede Bewegung, doch als der Stamm über seinem Kopf in der Luft schwankte, wurde die Menge schlagartig still. Als Rob sich hintenüberbeugte, sah Sarah, wie ihm die Beine zitterten, wie sein Gesicht purpurn anlief; mit ihren scharfen Augen sah sie sogar, wie ihm die Ader auf der Stirn schwoll. Der Stamm stand schräg, stak himmelwärts und neigte sich mit jedem Herzschlag schräger. Gleich reißt er den Onkel um, dachte Sarah. Da aber plusterte Rob sich auf und schleuderte das schwere Geschoss mit einem Schrei nach vorn.
Es schlingerte ein wenig im Flug, verlor vor dem Ende der Wurfbahn an Höhe, fuhr nieder und bohrte seine Spitze in die vom Regen aufgeweichte Erde. Prasselnder Beifall setzte ein, während der Onkel sich mit Grazie verbeugte. Man brauchte wahrlich adlerscharfe Augen, um zu bemerken, dass der stolze Herr des Schlosses Meggernie in den Hüften steif und kein junger Mann mehr war.
Auch als einer von Sarahs Vettern vortrat, der ebenso stämmige wie rotblonde Arthur Campell, ebbte der Applaus für Rob noch nicht ab. Erst nach geraumer Zeit gebot er mit einem Lächeln Einhalt und räumte für den Neffen das Feld. Wind kam auf, riss zwei Hände voll Blätter aus der Krone und spielte damit Kreiseln. Arthur bückte sich nach dem Wurfgeschoss. Er wirft weiter als der Onkel, dachte Sarah, er ist jung und säuft nicht so viel.
Inzwischen hatte Arthur den Stamm über seinen Kopf gehoben und schleuderte ihn in die Wurfbahn. Selbst einer, der nicht so scharf sehen konnte wie Sarah, hätte bemerkt, dass er nicht mit ganzer Kraft warf. Sein Pfeil kam gut fünf Schritte vor dem des Onkels herunter, noch dazu im falschen Winkel, sodass er sich nicht in den Boden bohrte, sondern polternd aufschlug. Arthur Campell hatte getan, was sich gehörte. Schließlich musste der Onkel das Erbe der Großmutter erhalten; auch wenn sie seinen Namen nie anders als mit hängenden Mundwinkeln ausgesprochen hatte, war er ihr Erstgeborener. Freundlicher Beifall begleitete Arthurs Abgang, während ein neuer Bewerber in die Bahn trat.
Sarah begann sich zu langweilen, und vor Langeweile begann sie zu frieren. Ohne Zweifel würden es die noch wartenden drei Werfer Arthur gleichtun, und sie konnte nur hoffen, dass sie sich beeilten. Den Fremden im Lederwams hatte Sarah vergessen. Er trat als Fünfter und Letzter vor. Merkwürdig sah der aus, die Arme nackt, das dunkle Tartanplaid achtlos vom Leib gestreift, aber am Bonnet ein Zweig Heide. Gelächter platzte in die kühle Luft, in der ein Rest Herbstsonne kläglich flimmerte.
»Wer bist denn du?«, rief die kecke Fiona, da erwartet wurde, dass jeder Kämpe sich mit seinem Namen vorstellte.
»Sandy Og MacDonald aus Glencoe«, murmelte der Fremde, hielt den Blick jedoch gesenkt. Das war unhöflich und zog Rufe des Missfallens nach sich. Sarah aber dachte: Er hat Angst. So wie ich Angst hätte, wenn alle auf mich glotzten.
Noch immer ertönten Schimpfworte, Grollen und Murren. Die aus Glencoe, hatte Sarah sagen hören, waren Mörder und Diebe, und ihr Tal war das Tal im Schatten, hinter dem Moor, das Nebel verhüllten. Der Mann hob den letzten Fichtenstamm auf. Er tat es mit einer Spur Zärtlichkeit, wie einer ein Lamm aufhob, das sich ins Moor verstiegen hatte. Auf einmal fror Sarah nicht mehr. Der Mann aus Glencoe war ein ziemlicher Klotz und wirkte schläfrig, als er den Stamm in die Höhe stemmte und sich das Bonnet vom Kopf wischte. Sobald er sich aber nach hinten lehnte, sah Sarah ein viel schlankeres Geschöpf vor sich. Wie eine Weide oder ein Schilfhalm bog er sich, wurde zur Sehne, schnellte vor und schleuderte sein Gewicht in die Flugbahn, ehe er den Pfeil freigab.
Der schien beim Sausen zu pfeifen. Doch Sarahs Blick folgte ihm nicht, sondern hatte sich an dem Mann verhakt, der seinem Geschoss nachblickte, als glaube er nicht recht, dass er es tatsächlich geworfen hatte. Sein Gesicht war rosig vom Wind, und sein wirres Haar glänzte wie dunkles Buchenlaub. Als Sarah sich endlich dem Pfeil zuwandte, bohrte der sich weit hinter dem Ende der Wurfbahn in die Erde.
Kurz herrschte Stille, dann brüllte der Onkel los: »Betrüger. Falschspieler. Habt ihr gesehen, wie er über die Linie getreten ist, wie er die Regel gebrochen hat, als wäre er nicht bei ehrbaren Leuten? Diebe und Lügner sind die aus Glencoe, die kommen schon mit Falschheit im Herzen zur Welt!«
Entfesselt stimmte die Menge ein. Röhren, Fluchen, Drohen. Das Gesicht des Beschimpften schien unbewegt, doch auf einmal drehte er den Kopf und sah hinauf in den Baum. Auf Sarah.
»Der meint, ich ließe ihn mit dem Gold meiner Mutter ziehen!«, schrie der Onkel. »Aber da irrt er. Eine Tracht Prügel ist alles, was er in Glenlyon einsacken kann - kein Gold und schon gar keine Braut. Los, Männer, her zu mir, zeigt dem Dreckskerl, wer ihr seid!«
In dem Gewirr der Leiber sah Sarah Waffen zucken, Knüppel, Gerten, Klingen. Der Fremde senkte eine Hand auf seinen Dirk, den Dolch in seinem Gurt. »Behalt dein Gold, Rob Glenlyon, doch auf die Braut habe ich ein Anrecht. Ohne die geh ich von hier nicht weg.«
Vier Männer traten zu ihm. Sie trugen Heide an den Bonnets, und einer von ihnen war noch größer und stämmiger als er. »Wir sind gekommen, um die Braut meines Bruders abzuholen«, sagte der Große. »Gebt sie heraus, und ihr seid uns los.«
»Du hast mich gehört!«, schrie der Onkel. »Einen verbläuten Buckel kann er sich holen, aber keine Jungfer aus Glenlyon.«
Der Große zog den Dirk und sprang auf Rob und seinen Haufen zu, aber Sandy Og riss ihn zurück. »Lass gut sein, John. Das hier ist meine Sache.«
Die Männer von Glenlyon rückten vor und hoben ihre Waffen. Dass der Mann, auf den sie einprügeln wollten, den Kopf duckte und die Schultern krümmte, sah nur Sarah. Rob holte mit der Gerte aus und traf den Fremden am Hals. Wie eine Welle türmte und schloss sich die Menge, reckten sich Arme, pfiffen Stöcke, um auf ihn niederzuprasseln.
Vielleicht hätten sie ihn totgeschlagen, das stille Gesicht, die schönen Schultern, alles zu einem Brei aus Blut und Knochen, hätte Sarah ihm nicht das Leben gerettet. Sie hatte ihn angestiert und einen Augenblick lang nicht achtgegeben, und auf einmal glitt sie vom Ast, verlor den Halt und stürzte in die Tiefe. Ich brech mir den Hals, dachte sie im Fall, aber wenigstens lassen sie den aus Glencoe laufen.
Dann prallte sie auf.
Es hatte höllisch wehgetan. Als zerschelle das Häuflein Sarah wie gebrannter Ton. Aber sie war nicht zerschellt. Kaum kam sie zu sich, wurde ihr klar, dass sie sich keinen Knochen gebrochen, sondern nur Schulter und Hüfte geprellt hatte. Auch erhielt sie keine strenge Strafe - dazu war sie in dem Wirrwarr nicht wichtig genug. Als die Menge schon wieder auseinander-strömte, blieb nur Robs Frau Helen bei ihr, zerrte sie auf die Füße und ohrfeigte sie. »Komm mit jetzt. Keine Feier mehr für dich.« Damit war sie abgefertigt.
Sarah trottete hinter der Tante her. Sie drehte sich nicht um und stellte keine Frage, sondern ging stumm den Weg bis zum Torhaus des Schlösschens, das wie überzuckert auf seinem Vorsprung thronte. Meggernie, der Sitz des Onkels. Rob, der Tropf, hatte die Großmutter stets gewettert. Seinen Bälgern setzt er Lehm und Wasser vor, und aus dem gottverfluchten Meggernie macht er einen Palast. Sollte Sarah etwa fortan in diesem Palast schlafen, in dem man mit jedem Atemzug ein Stück kostbaren Inventars beschädigte? Die Großmutter hatte sich dem stets widersetzt und war stur in ihrem windschiefen Haus geblieben.
Es dämmerte schon, als sie das Tor passierten und sich die Schuhe auszogen, wie der Onkel es zur Schonung der Böden verlangte. »Beeil dich«, sagte die Tante und zerrte Sarah mit sich durch die Halle, »komm in die kleine Stube und setz dich zu Tisch.«
Für ihren Frevel erwartete Sarah, kein Nachtmahl zu erhalten, aber die Tante ging doch hinüber ins Küchenhaus und ließ ihr einen Napf mit Suppe auffüllen. Den stellte sie vor Sarah. »Iss.«
Sarah nahm den Löffel, konnte aber nicht essen, denn von dem Sturz tat ihr alles weh und etwas brannte in ihrem Kopf.
»Wird nicht leicht werden, dich durchzufüttern«, sagte die Tante. »Reicht ja kaum für die eigene Brut.«
Dann lass mich doch verhungern, dachte Sarah trotzig. Vor deiner Suppe packt mich ohnehin das Grausen. Auf Meggernie wirkte zwar selbst der Napf für alltägliche Speisen teuer und zerbrechlich, aber das Essen war schaurig und erinnerte Sarah an aus Trögen gekratzte Reste. »Was ist mit denen aus Glencoe geworden?«, fragte sie.
Die Tante seufzte. »Die haben deinen Unfug ausgenutzt, sind auf ihre Gäule und über alle Berge. John, der Tagedieb, hat sich den Goldtopf geschnappt, dabei hätte der uns notgetan und war bis obenhin voll. Die Alte war eine Spielerin vor dem Herrn, aber anders als ihr Sohn hat sie kaum verloren.«
»Hieß der, der geworfen hat, denn John? Nein, er hieß doch Sandy Og, und er hat gesagt, der Onkel solle das Gold behalten, er wolle nur die Braut.«
»John ist der Erstgeborene«, erwiderte die Tante und stützte den Kopf in die Hände, »der Erbe des alten MacIain. Du weißt ja, was über die geredet wird: Die stehlen unser Vieh, schneiden unsern Knechten die Ohren ab und singen dabei noch ihr verfluchtes Lied. Jetzt ist das Gold verloren, das deinem Onkel zugestanden hätte, und weißt du, wer daran schuld ist? Keine andere als deine Großmutter, die dem Pack aus Glencoe eine von uns als Braut versprochen hat!«
»Die Großmutter hat das versprochen?«
»In der Tat. John war schon verlobt, aber für Sandy Og hat sie's dem MacIain zugesagt.«
»Dann müssen wir ihm die Braut doch geben.«
»Das entscheidet dein Onkel«, wies die Tante sie zurecht. »Wenn man mich fragt, kann Sandy Og mit der Braut zum Teufel gehen, dann hätten wir sie wenigstens vom Hals.«
Sarah legte den Löffel beiseite. »Wer ist denn die Braut?«
Die Tante stand auf, ging zum Wandarm und wärmte sich die Hände an der Flamme. »Du«, sagte sie.
Sarah blieb nicht lange auf Meggernie, sondern wurde bald von Robs Knecht ins leere Haus der Großmutter gebracht. Ihr war es recht so. Sie fühlte sich wund und verstört, stopfte das offene Fenster der winzigen Kammer mit Wollzeug aus, damit der Wind nicht gar so gnadenlos ins Innere pfiff, und legte sich gleich schlafen.
Sarah fror trotzdem, denn das Fenster hatte keine Laden, und kein Feuer hatte die Hütte an diesem Tag geheizt. Sie zog sich ein Fell bis an die Ohren und wickelte sich, so fest sie konnte, in ihr Plaid. Sie war nicht überrascht, als es am verstopften Fenster erst zu rascheln, dann zu kratzen begann, denn die Großmutter hatte ihr die alten Geschichten von Cumhaill erzählt, dem Vater des Riesen Finn, der die Druidentochter Muirne liebte und auszog, sie zu rauben, als ihre Hand ihm verwehrt wurde. Ist es denn möglich? Wählt einer mich zu seiner Muirne? Gibt es einen, dem ich wichtig bin?
Sie zwang sich zur Ruhe, kroch aus dem Bett und steckte ihre Kerze an. Schlang das Tuch der Großmutter ums Hemd und richtete sich mit flinken Händen den Zopf. Kein Mensch hatte sie je hübsch genannt, aber sie hatte schönes Haar, dicht und kräftig, wenn auch von aschenem Blond. Ihre Schnallenschuhe, ein weiteres Erbe der Großmutter, sahen an ihren Füßen sehr ordentlich aus.
Ein Hochländer, der kam, um seine Braut auf sein Pferd zu heben, sang ihr für gewöhnlich sein Werbelied, und wie keine anderen wurden die Männer aus Glencoe als Sänger geboren. Der Mann vor Sarahs Fenster aber sang nicht. Stattdessen schlug er Mauerwerk weg, da das Fenster für ihn zu klein war, um hin-durchzuschlüpfen.
Um ein Haar hätte Sarah gelacht. Bist du dumm?, wollte sie ihn fragen, warum bittest du mich nicht, dir die Tür aufzutun? Sie lachte trotzdem nicht, denn zu lachen fiel ihr nicht leicht, und sie sprach auch nicht, denn Sprechen fiel ihr nicht leichter.
Als das Loch groß genug schien, zwängte der Mann Kopf und Schultern hindurch. Doch die Öffnung war immer noch nicht groß genug, und so blieb er stecken, ein Arm drinnen, ein Arm draußen. Jetzt hätte Sarah erst recht lachen sollen, aber in ihr war kein Lachen. Der Mann klemmte fest wie im Schandbalken, rang und wand sich und litt wahrscheinlich Schmerzen. An seinem Hals klebte noch immer eine dünne Spur Blut, wo der Onkel ihn geschlagen hatte. Er wollte sprechen, öffnete zweimal den Mund, doch von den schnappenden Lippen kam kein Wort.
Dem fällt das Sprechen noch schwerer als mir, erkannte Sarah. Sie ging zu ihm hin, legte ihm zwei Finger auf die Wange und strich daran hinab. Zart wie Kinderhaut. Nie zuvor ertastet. Hastig zog sie die Hand zurück und barg sie in der anderen.
Er sah zu ihr auf. »Ich bin Sandy Og MacDonald aus Glencoe«, sagte er. »Sohn des MacIain, Bruder von John.«
Sie nickte.
»Ich will dich zur Frau.«
Wieder nickte sie, sah, dass er in der Faust etwas umklammert hielt, das sich auf seiner Handfläche offenbarte, als er die zitternden Finger auffaltete. Ein Haferkuchen, zur Kugel zerdrückt. »Magst du Süßes?«
Sarah streckte ihm die Hand hin, und er legte die Süßigkeit hinein. Sie schob sie sich auf die Zunge, kaute nicht, sondern ließ sie schmelzen.
»Magst du's?«, fragte er.
»Ich glaube ja«, sagte sie und blies die Kerze aus.
Im Dunkeln fiel es ihr leichter zu lächeln, und seltsamerweise konnte man im Dunkeln hören, ob einer lächelte. Sarah packte die Schultern des Mannes und schob ihn mit aller Kraft zurück; er stöhnte kurz auf, und dann war er frei. Ihm hinterdrein stieg Sarah aus dem Fenster.
In den Häusern, die verstreut in der Talsohle standen, brannte kein Licht. Der Onkel hätte während der Nacht Wächter aufstellen sollen, darauf aber offensichtlich verzichtet.
Der Schecke des Mannes wartete an einem Pflock. Als er zauderte, knuffte sie ihn. Da fasste er Mut, hob sie hinauf und schwang sich hinter ihr auf das Pferd. Auf leisen Zuruf setzte sich das Tier in Bewegung.
In der Stille der Sterne ritten Sarah und Sandy Og über das Moor. Sie tauchten ein in die Nebel, ließen Glenlyon hinter sich. Hierher komme ich nicht mehr, dachte Sarah, drehte sich um, wollte nach der Rotbuche und dem Haus der Großmutter sehen, erblickte aber nur des Mannes Schulter, gab sich zufrieden und lehnte sich an. Vernahm sein Herz und den Hufschlag und das Schnaufen seines Atems. »Sandy Og«, flüsterte sie, weil sie wissen wollte, wie sein Name sich anfühlte.
Aus dem Dunkel drang seine Antwort. »Sarah.«
...
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Glenlyon, so erzählten sich die Alten an den Feuern, war das schönste der Täler in Lochaber. Für
Sarah aber, die in sechs Jahren hier nicht hatte heimisch werden können, blieb es das fremde Tal. Sie würde nie eine aus Glenlyon sein.
Sie sah den Männern zu. Hinter der Wurfbahn drängten sich die Bewohner des Tales und Gäste, die zum Leichenbegängnis der Großmutter gekommen waren, so dicht, dass Sarah keinen Zipfel hätte sehen können. Aber Sarah sah alles. Schon immer. Sie war nicht groß und hatte kein Fleisch auf den Knochen, weshalb ihre Tante über sie zeterte: »Die Sarah ist ein komischer Vogel. Mit den besten Bissen kannst du die füttern, die bleibt dürr wie ein Ginsterzweig.« Doch was für ein Ärgernis Sarahs Leichtgewicht auch für andere darstellen mochte, ihr selbst war es nicht ohne Nutzen: Keine, nur sie, hätte gewagt, in die Rotbuche zu klettern und an altersmorschen Ästen zu hangeln, bis sie alles überblickte.
Es war längst Herbst. Aus den bewaldeten Kuppen der Hügel ragte das Schwarzgrün der Tannen aus Tupfen von Lehmgelb, Erdbraun und Rot. Die Buchenzweige leerten sich so geschwind wie die Schüsseln mit Grütze, die die Tante den Basen hinstellte. Man hätte Sarah leicht finden können, aber niemand achtete auf sie. Ihre Großmutter, die alte Jean Campbell, hatte drei Gatten überlebt und sechzehn Kinder geboren, und alle hatten ihrerseits Kinder, die Jean zu sich holte, wenn diese verwaisten. So kam es, dass es im Tal von Jungvolk wimmelte und eine struppige Sechzehnjährige keinem Menschen wichtig war.
Das war nicht so übel. Wer keinem wichtig war, durfte ungestraft in Bäume klettern. Nur einmal in den sechs Jahren, die sie seit dem Tod ihrer Mutter hier lebte, war Sarah geschlagen worden, und da sie die Striemen jener Schläge noch immer als dickliche Würmer auf den Schenkeln spürte, verzichtete sie gern auf Wiederholung. Dennoch wäre es zuweilen schön gewesen, wichtig zu sein. In der Nacht, sooft der Tod um die Häuser schlich, bekam Sarah Angst, weil sie wusste: Wenn er mich holt und ich morgen fehle, fällt es niemandem auf.
Auch jetzt hätte sie gern im Gedränge einen Menschen entdeckt, der ihr Fehlen bemerkte, aber den gab es von nun an weniger denn je. Die Großmutter, die sie zumindest beim Namen gerufen und ihr erklärt hatte, wie es war, wenn eine heiraten musste, die Großmutter, die vor ihr über die Familie gelästert und des Nachts an ihrer Seite geschnarcht hatte, sie lebte nicht mehr.
Die alte Jean war weit über Glenlyon hinaus eine Berühmtheit gewesen. Ihr Leichenfest währte bereits drei Tage, und die Menschen von nah und fern prassten, tanzten und wetteiferten zu ihrer Ehre. Am heutigen dritten Tag, dem Höhepunkt, maßen die Männer des Tales ihre Kräfte mit den Gästen im Weitwurf. Aller Augen waren auf die Linie aus Steinen gerichtet, die den Beginn der Wurfbahn markierte. Daneben lag ein Stapel gespitzter Fichtenstämme, ein jeder dick wie eines Mannes Schenkel. Ein Kerl brauchte die Stirn und Stärke eines Bullen, um einen solchen Stamm zu schleudern. Mithin hatte sich nur eine Handvoll Bewerber eingefunden, obgleich ein Goldpreis winkte, das Ersparte der Verstorbenen.
Sarah entdeckte eine Ansammlung lediger Mädchen, die vorne einen Platz ergattert hatten. »Rob Glenlyon«, kreischte die dralle Fiona, »der Stärkste von allen und der Schönste!«
Tänzelnd setzte der Mann mit dem korngelben Haar einen Schritt, bis seine Stiefelspitze an einen Stein der Linie tippte. Sarah zwang sich, ruhig zu bleiben. Das neue Kleid aus in Hast gesponnener Wolle kratzte, doch sie durfte nicht zappeln, wenn sie nicht abrutschen und sich sämtliche Knochen brechen wollte. Ihr Onkel Rob, der sich sonst gern nach Art der Engländer, der Sassenachs, in Kniehosen und Samtröcke kleidete, trug heute das Gewand seines Volkes: die zwei Teile des Feiliadh, das über die Schulter geworfene Plaid, das seine Brust breiter machte, und den Kilt, der die Waden blank ließ. Er löste das Plaid, legte es sorgsam zusammen und entblößte ein zartweißes Hemd, durch das die Haut rosig schimmerte. Verzücktes Raunen vereinte sich aus fünfzig Frauenkehlen.
Als er den Kopf in den Nacken legte, rann ihm das Haar in Wellen auf den Rücken. »Ein Campbell war der Erste im Bett meiner Mutter!«, rief er. »Also soll ein Campbell den ersten Wurf an ihrer Bahre haben!«
Applaus brandete auf. Er kostete ihn weidlich aus, ehe er sich zur Seite neigte und die Arme um einen Fichtenstamm schlang. Fiona gab Laute von sich, als hätte sie Rob gern verspeist. Wahrscheinlich wünschte sie, er möge statt des Stammes sie umarmen. Hinter ihm standen die Männer, die nach ihm an die Reihe kommen würden, und begrabschten gegenseitig die Muskeln ihrer Oberarme. Einer aber stand abseits. Er trug ein ledernes Wams auf bloßen Schultern.
Sarahs Onkel hievte den Stamm vom Stapel, packte ihn und hob ihn über den Kopf. Johlen und Grölen begleitete jede Bewegung, doch als der Stamm über seinem Kopf in der Luft schwankte, wurde die Menge schlagartig still. Als Rob sich hintenüberbeugte, sah Sarah, wie ihm die Beine zitterten, wie sein Gesicht purpurn anlief; mit ihren scharfen Augen sah sie sogar, wie ihm die Ader auf der Stirn schwoll. Der Stamm stand schräg, stak himmelwärts und neigte sich mit jedem Herzschlag schräger. Gleich reißt er den Onkel um, dachte Sarah. Da aber plusterte Rob sich auf und schleuderte das schwere Geschoss mit einem Schrei nach vorn.
Es schlingerte ein wenig im Flug, verlor vor dem Ende der Wurfbahn an Höhe, fuhr nieder und bohrte seine Spitze in die vom Regen aufgeweichte Erde. Prasselnder Beifall setzte ein, während der Onkel sich mit Grazie verbeugte. Man brauchte wahrlich adlerscharfe Augen, um zu bemerken, dass der stolze Herr des Schlosses Meggernie in den Hüften steif und kein junger Mann mehr war.
Auch als einer von Sarahs Vettern vortrat, der ebenso stämmige wie rotblonde Arthur Campell, ebbte der Applaus für Rob noch nicht ab. Erst nach geraumer Zeit gebot er mit einem Lächeln Einhalt und räumte für den Neffen das Feld. Wind kam auf, riss zwei Hände voll Blätter aus der Krone und spielte damit Kreiseln. Arthur bückte sich nach dem Wurfgeschoss. Er wirft weiter als der Onkel, dachte Sarah, er ist jung und säuft nicht so viel.
Inzwischen hatte Arthur den Stamm über seinen Kopf gehoben und schleuderte ihn in die Wurfbahn. Selbst einer, der nicht so scharf sehen konnte wie Sarah, hätte bemerkt, dass er nicht mit ganzer Kraft warf. Sein Pfeil kam gut fünf Schritte vor dem des Onkels herunter, noch dazu im falschen Winkel, sodass er sich nicht in den Boden bohrte, sondern polternd aufschlug. Arthur Campell hatte getan, was sich gehörte. Schließlich musste der Onkel das Erbe der Großmutter erhalten; auch wenn sie seinen Namen nie anders als mit hängenden Mundwinkeln ausgesprochen hatte, war er ihr Erstgeborener. Freundlicher Beifall begleitete Arthurs Abgang, während ein neuer Bewerber in die Bahn trat.
Sarah begann sich zu langweilen, und vor Langeweile begann sie zu frieren. Ohne Zweifel würden es die noch wartenden drei Werfer Arthur gleichtun, und sie konnte nur hoffen, dass sie sich beeilten. Den Fremden im Lederwams hatte Sarah vergessen. Er trat als Fünfter und Letzter vor. Merkwürdig sah der aus, die Arme nackt, das dunkle Tartanplaid achtlos vom Leib gestreift, aber am Bonnet ein Zweig Heide. Gelächter platzte in die kühle Luft, in der ein Rest Herbstsonne kläglich flimmerte.
»Wer bist denn du?«, rief die kecke Fiona, da erwartet wurde, dass jeder Kämpe sich mit seinem Namen vorstellte.
»Sandy Og MacDonald aus Glencoe«, murmelte der Fremde, hielt den Blick jedoch gesenkt. Das war unhöflich und zog Rufe des Missfallens nach sich. Sarah aber dachte: Er hat Angst. So wie ich Angst hätte, wenn alle auf mich glotzten.
Noch immer ertönten Schimpfworte, Grollen und Murren. Die aus Glencoe, hatte Sarah sagen hören, waren Mörder und Diebe, und ihr Tal war das Tal im Schatten, hinter dem Moor, das Nebel verhüllten. Der Mann hob den letzten Fichtenstamm auf. Er tat es mit einer Spur Zärtlichkeit, wie einer ein Lamm aufhob, das sich ins Moor verstiegen hatte. Auf einmal fror Sarah nicht mehr. Der Mann aus Glencoe war ein ziemlicher Klotz und wirkte schläfrig, als er den Stamm in die Höhe stemmte und sich das Bonnet vom Kopf wischte. Sobald er sich aber nach hinten lehnte, sah Sarah ein viel schlankeres Geschöpf vor sich. Wie eine Weide oder ein Schilfhalm bog er sich, wurde zur Sehne, schnellte vor und schleuderte sein Gewicht in die Flugbahn, ehe er den Pfeil freigab.
Der schien beim Sausen zu pfeifen. Doch Sarahs Blick folgte ihm nicht, sondern hatte sich an dem Mann verhakt, der seinem Geschoss nachblickte, als glaube er nicht recht, dass er es tatsächlich geworfen hatte. Sein Gesicht war rosig vom Wind, und sein wirres Haar glänzte wie dunkles Buchenlaub. Als Sarah sich endlich dem Pfeil zuwandte, bohrte der sich weit hinter dem Ende der Wurfbahn in die Erde.
Kurz herrschte Stille, dann brüllte der Onkel los: »Betrüger. Falschspieler. Habt ihr gesehen, wie er über die Linie getreten ist, wie er die Regel gebrochen hat, als wäre er nicht bei ehrbaren Leuten? Diebe und Lügner sind die aus Glencoe, die kommen schon mit Falschheit im Herzen zur Welt!«
Entfesselt stimmte die Menge ein. Röhren, Fluchen, Drohen. Das Gesicht des Beschimpften schien unbewegt, doch auf einmal drehte er den Kopf und sah hinauf in den Baum. Auf Sarah.
»Der meint, ich ließe ihn mit dem Gold meiner Mutter ziehen!«, schrie der Onkel. »Aber da irrt er. Eine Tracht Prügel ist alles, was er in Glenlyon einsacken kann - kein Gold und schon gar keine Braut. Los, Männer, her zu mir, zeigt dem Dreckskerl, wer ihr seid!«
In dem Gewirr der Leiber sah Sarah Waffen zucken, Knüppel, Gerten, Klingen. Der Fremde senkte eine Hand auf seinen Dirk, den Dolch in seinem Gurt. »Behalt dein Gold, Rob Glenlyon, doch auf die Braut habe ich ein Anrecht. Ohne die geh ich von hier nicht weg.«
Vier Männer traten zu ihm. Sie trugen Heide an den Bonnets, und einer von ihnen war noch größer und stämmiger als er. »Wir sind gekommen, um die Braut meines Bruders abzuholen«, sagte der Große. »Gebt sie heraus, und ihr seid uns los.«
»Du hast mich gehört!«, schrie der Onkel. »Einen verbläuten Buckel kann er sich holen, aber keine Jungfer aus Glenlyon.«
Der Große zog den Dirk und sprang auf Rob und seinen Haufen zu, aber Sandy Og riss ihn zurück. »Lass gut sein, John. Das hier ist meine Sache.«
Die Männer von Glenlyon rückten vor und hoben ihre Waffen. Dass der Mann, auf den sie einprügeln wollten, den Kopf duckte und die Schultern krümmte, sah nur Sarah. Rob holte mit der Gerte aus und traf den Fremden am Hals. Wie eine Welle türmte und schloss sich die Menge, reckten sich Arme, pfiffen Stöcke, um auf ihn niederzuprasseln.
Vielleicht hätten sie ihn totgeschlagen, das stille Gesicht, die schönen Schultern, alles zu einem Brei aus Blut und Knochen, hätte Sarah ihm nicht das Leben gerettet. Sie hatte ihn angestiert und einen Augenblick lang nicht achtgegeben, und auf einmal glitt sie vom Ast, verlor den Halt und stürzte in die Tiefe. Ich brech mir den Hals, dachte sie im Fall, aber wenigstens lassen sie den aus Glencoe laufen.
Dann prallte sie auf.
Es hatte höllisch wehgetan. Als zerschelle das Häuflein Sarah wie gebrannter Ton. Aber sie war nicht zerschellt. Kaum kam sie zu sich, wurde ihr klar, dass sie sich keinen Knochen gebrochen, sondern nur Schulter und Hüfte geprellt hatte. Auch erhielt sie keine strenge Strafe - dazu war sie in dem Wirrwarr nicht wichtig genug. Als die Menge schon wieder auseinander-strömte, blieb nur Robs Frau Helen bei ihr, zerrte sie auf die Füße und ohrfeigte sie. »Komm mit jetzt. Keine Feier mehr für dich.« Damit war sie abgefertigt.
Sarah trottete hinter der Tante her. Sie drehte sich nicht um und stellte keine Frage, sondern ging stumm den Weg bis zum Torhaus des Schlösschens, das wie überzuckert auf seinem Vorsprung thronte. Meggernie, der Sitz des Onkels. Rob, der Tropf, hatte die Großmutter stets gewettert. Seinen Bälgern setzt er Lehm und Wasser vor, und aus dem gottverfluchten Meggernie macht er einen Palast. Sollte Sarah etwa fortan in diesem Palast schlafen, in dem man mit jedem Atemzug ein Stück kostbaren Inventars beschädigte? Die Großmutter hatte sich dem stets widersetzt und war stur in ihrem windschiefen Haus geblieben.
Es dämmerte schon, als sie das Tor passierten und sich die Schuhe auszogen, wie der Onkel es zur Schonung der Böden verlangte. »Beeil dich«, sagte die Tante und zerrte Sarah mit sich durch die Halle, »komm in die kleine Stube und setz dich zu Tisch.«
Für ihren Frevel erwartete Sarah, kein Nachtmahl zu erhalten, aber die Tante ging doch hinüber ins Küchenhaus und ließ ihr einen Napf mit Suppe auffüllen. Den stellte sie vor Sarah. »Iss.«
Sarah nahm den Löffel, konnte aber nicht essen, denn von dem Sturz tat ihr alles weh und etwas brannte in ihrem Kopf.
»Wird nicht leicht werden, dich durchzufüttern«, sagte die Tante. »Reicht ja kaum für die eigene Brut.«
Dann lass mich doch verhungern, dachte Sarah trotzig. Vor deiner Suppe packt mich ohnehin das Grausen. Auf Meggernie wirkte zwar selbst der Napf für alltägliche Speisen teuer und zerbrechlich, aber das Essen war schaurig und erinnerte Sarah an aus Trögen gekratzte Reste. »Was ist mit denen aus Glencoe geworden?«, fragte sie.
Die Tante seufzte. »Die haben deinen Unfug ausgenutzt, sind auf ihre Gäule und über alle Berge. John, der Tagedieb, hat sich den Goldtopf geschnappt, dabei hätte der uns notgetan und war bis obenhin voll. Die Alte war eine Spielerin vor dem Herrn, aber anders als ihr Sohn hat sie kaum verloren.«
»Hieß der, der geworfen hat, denn John? Nein, er hieß doch Sandy Og, und er hat gesagt, der Onkel solle das Gold behalten, er wolle nur die Braut.«
»John ist der Erstgeborene«, erwiderte die Tante und stützte den Kopf in die Hände, »der Erbe des alten MacIain. Du weißt ja, was über die geredet wird: Die stehlen unser Vieh, schneiden unsern Knechten die Ohren ab und singen dabei noch ihr verfluchtes Lied. Jetzt ist das Gold verloren, das deinem Onkel zugestanden hätte, und weißt du, wer daran schuld ist? Keine andere als deine Großmutter, die dem Pack aus Glencoe eine von uns als Braut versprochen hat!«
»Die Großmutter hat das versprochen?«
»In der Tat. John war schon verlobt, aber für Sandy Og hat sie's dem MacIain zugesagt.«
»Dann müssen wir ihm die Braut doch geben.«
»Das entscheidet dein Onkel«, wies die Tante sie zurecht. »Wenn man mich fragt, kann Sandy Og mit der Braut zum Teufel gehen, dann hätten wir sie wenigstens vom Hals.«
Sarah legte den Löffel beiseite. »Wer ist denn die Braut?«
Die Tante stand auf, ging zum Wandarm und wärmte sich die Hände an der Flamme. »Du«, sagte sie.
Sarah blieb nicht lange auf Meggernie, sondern wurde bald von Robs Knecht ins leere Haus der Großmutter gebracht. Ihr war es recht so. Sie fühlte sich wund und verstört, stopfte das offene Fenster der winzigen Kammer mit Wollzeug aus, damit der Wind nicht gar so gnadenlos ins Innere pfiff, und legte sich gleich schlafen.
Sarah fror trotzdem, denn das Fenster hatte keine Laden, und kein Feuer hatte die Hütte an diesem Tag geheizt. Sie zog sich ein Fell bis an die Ohren und wickelte sich, so fest sie konnte, in ihr Plaid. Sie war nicht überrascht, als es am verstopften Fenster erst zu rascheln, dann zu kratzen begann, denn die Großmutter hatte ihr die alten Geschichten von Cumhaill erzählt, dem Vater des Riesen Finn, der die Druidentochter Muirne liebte und auszog, sie zu rauben, als ihre Hand ihm verwehrt wurde. Ist es denn möglich? Wählt einer mich zu seiner Muirne? Gibt es einen, dem ich wichtig bin?
Sie zwang sich zur Ruhe, kroch aus dem Bett und steckte ihre Kerze an. Schlang das Tuch der Großmutter ums Hemd und richtete sich mit flinken Händen den Zopf. Kein Mensch hatte sie je hübsch genannt, aber sie hatte schönes Haar, dicht und kräftig, wenn auch von aschenem Blond. Ihre Schnallenschuhe, ein weiteres Erbe der Großmutter, sahen an ihren Füßen sehr ordentlich aus.
Ein Hochländer, der kam, um seine Braut auf sein Pferd zu heben, sang ihr für gewöhnlich sein Werbelied, und wie keine anderen wurden die Männer aus Glencoe als Sänger geboren. Der Mann vor Sarahs Fenster aber sang nicht. Stattdessen schlug er Mauerwerk weg, da das Fenster für ihn zu klein war, um hin-durchzuschlüpfen.
Um ein Haar hätte Sarah gelacht. Bist du dumm?, wollte sie ihn fragen, warum bittest du mich nicht, dir die Tür aufzutun? Sie lachte trotzdem nicht, denn zu lachen fiel ihr nicht leicht, und sie sprach auch nicht, denn Sprechen fiel ihr nicht leichter.
Als das Loch groß genug schien, zwängte der Mann Kopf und Schultern hindurch. Doch die Öffnung war immer noch nicht groß genug, und so blieb er stecken, ein Arm drinnen, ein Arm draußen. Jetzt hätte Sarah erst recht lachen sollen, aber in ihr war kein Lachen. Der Mann klemmte fest wie im Schandbalken, rang und wand sich und litt wahrscheinlich Schmerzen. An seinem Hals klebte noch immer eine dünne Spur Blut, wo der Onkel ihn geschlagen hatte. Er wollte sprechen, öffnete zweimal den Mund, doch von den schnappenden Lippen kam kein Wort.
Dem fällt das Sprechen noch schwerer als mir, erkannte Sarah. Sie ging zu ihm hin, legte ihm zwei Finger auf die Wange und strich daran hinab. Zart wie Kinderhaut. Nie zuvor ertastet. Hastig zog sie die Hand zurück und barg sie in der anderen.
Er sah zu ihr auf. »Ich bin Sandy Og MacDonald aus Glencoe«, sagte er. »Sohn des MacIain, Bruder von John.«
Sie nickte.
»Ich will dich zur Frau.«
Wieder nickte sie, sah, dass er in der Faust etwas umklammert hielt, das sich auf seiner Handfläche offenbarte, als er die zitternden Finger auffaltete. Ein Haferkuchen, zur Kugel zerdrückt. »Magst du Süßes?«
Sarah streckte ihm die Hand hin, und er legte die Süßigkeit hinein. Sie schob sie sich auf die Zunge, kaute nicht, sondern ließ sie schmelzen.
»Magst du's?«, fragte er.
»Ich glaube ja«, sagte sie und blies die Kerze aus.
Im Dunkeln fiel es ihr leichter zu lächeln, und seltsamerweise konnte man im Dunkeln hören, ob einer lächelte. Sarah packte die Schultern des Mannes und schob ihn mit aller Kraft zurück; er stöhnte kurz auf, und dann war er frei. Ihm hinterdrein stieg Sarah aus dem Fenster.
In den Häusern, die verstreut in der Talsohle standen, brannte kein Licht. Der Onkel hätte während der Nacht Wächter aufstellen sollen, darauf aber offensichtlich verzichtet.
Der Schecke des Mannes wartete an einem Pflock. Als er zauderte, knuffte sie ihn. Da fasste er Mut, hob sie hinauf und schwang sich hinter ihr auf das Pferd. Auf leisen Zuruf setzte sich das Tier in Bewegung.
In der Stille der Sterne ritten Sarah und Sandy Og über das Moor. Sie tauchten ein in die Nebel, ließen Glenlyon hinter sich. Hierher komme ich nicht mehr, dachte Sarah, drehte sich um, wollte nach der Rotbuche und dem Haus der Großmutter sehen, erblickte aber nur des Mannes Schulter, gab sich zufrieden und lehnte sich an. Vernahm sein Herz und den Hufschlag und das Schnaufen seines Atems. »Sandy Og«, flüsterte sie, weil sie wissen wollte, wie sein Name sich anfühlte.
Aus dem Dunkel drang seine Antwort. »Sarah.«
...
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
... weniger
Autoren-Porträt von Charlotte Lyne
Charlotte Lyne, geboren 1965 in Berlin, studierte Germanistik, Latein, Anglistik und Italienische Literatur in Berlin, Neapel und London. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in London, und wenn sie nicht gerade schreibt, ist sie Übersetzerin und Lektorin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Lyne
- 2012, 1. Aufl., 637 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166884
- ISBN-13: 9783404166886
Kommentare zu "Glencoe"
0 Gebrauchte Artikel zu „Glencoe“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Glencoe".
Kommentar verfassen