Glückstreffer mit Nebenwirkungen
Als Eve sich in Ian verliebt, bekommt sie nicht nur einen tollen Mann, sondern mit ihm auch seine drei Kinder. Und die haben nicht wirklich Lust auf eine Stiefmutter im Haus. Doch Eves Freundin Clare hat eine Idee: Sie gründen einfach eine...
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Produktinformationen zu „Glückstreffer mit Nebenwirkungen “
Als Eve sich in Ian verliebt, bekommt sie nicht nur einen tollen Mann, sondern mit ihm auch seine drei Kinder. Und die haben nicht wirklich Lust auf eine Stiefmutter im Haus. Doch Eves Freundin Clare hat eine Idee: Sie gründen einfach eine Stiefmutter-Selbsthilfegruppe! Wenn das nur so einfach wäre.
Lese-Probe zu „Glückstreffer mit Nebenwirkungen “
Glückstreffer mit Nebenwirkungen von Sam BakerKapitel 1
... mehr
Jetzt komm schon«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen. Es wird bestimmt nett.«
»Ian ...«
»Ehrlich. Ich habe den Kindern gesagt, sie sollen sich benehmen. Hinterher gehen wir zu Hamley's. Ihr braucht euch wirklich nur kurz zu begrüßen.« Vom anderen Ende der Leitung drang ein gedämpftes Geräusch zu ihr. »Okay?«, fragte Ian. Sein Tonfall hatte sich verändert. »Bis bald ... Es ist Eve«, hörte sie ihn sagen. »Das machen wir später, das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Also echt, Dad ...«
Dann war die Leitung tot.
Die Mädchenstimme war das Letzte, was sie hörte. Eine junge, sehr englische Stimme, die sich viel selbstbewusster anhörte als sie, Eve, in diesem Alter. Ob das Hannah gewesen war? Sophie wohl nicht, dazu hatte sie viel zu erwachsen geklungen. Sie grübelte immer noch darüber, als ihr unvermittelt etwas anderes einfiel.
Ich habe den Kindern gesagt, sie sollen sich benehmen.
Warum musste Ian ihnen das eigens sagen? Er beteuerte doch ständig, wie lieb und höflich sie im Grunde seien. Vielleicht steckte der Teufel in diesem »im Grunde«.
Es fühlte sich an, als müsste sie die Fahrprüfung, das Abitur und eine Wurzelbehandlung hinter sich bringen, und zwar alles auf einmal. Nein. Eigentlich war es noch viel schlimmer als das alles zusammen.
Ihr war flau im Magen, schrecklich flau. Und leer war er auch noch. Aber hätte sie irgendetwas gegessen, dann müsste sie sich jetzt übergeben, mitten auf der Charing Cross Road. Am Rand ihres Blickfelds lauerte ein Stresskopfweh, und könnte der erste wirklich schöne Frühlingstag des Jahres durch die riesige Sonnenbrille zu ihren Augen vordringen, würde die Sonne sie schmerzhaft blenden. Eve hatte sich von der Brille eine gewisse Lässigkeit erhofft, aber jetzt fürchtete sie, wie ein Insekt mit Riesenaugen und Kraushaar auszusehen.
Jetzt komm schon, Eve, ermahnte sie sich. Du bist zweiunddreißig, eine erwachsene Frau mit Eigentumswohnung und einem guten Job ... und die sind gerade mal einen Meter groß.
Andererseits lag ihre eigene Zukunft in den schokoladeverschmierten Patschhändchen dieser kniehohen Wesen. Ein erschreckender Gedanke, dem sie eine schlaflose Nacht zu verdanken hatte.
Eine halbe Stunde später konnte sie vom Bürgersteig der Old Compton Street aus im ersten Stock der Patisserie Valerie drei kleine Köpfe sehen. Ians drei Kinder waren blond. Natürlich. Das hatte sie gewusst, sie hatte ja genügend Fotos gesehen. Außerdem, was sollten sie sonst sein? Ians kurz geschorenes Haar war blond. Und Caroline war, wie alle Welt wusste, goldblond gewesen.
Natürlich hatte Eve Caroline nie kennengelernt, aber ihre hohen Wangenknochen, ihr verständiges Lächeln und ihr über die Schulter geworfenes Haar waren berühmt. In der Times war über ihrem Autorennamen immer ihr Bild abgedruckt gewesen, und selbst Leute, die ihre Kolumne nicht lasen, kannten ihr Gesicht von Culture Show und Arena, ganz zu schweigen von ihrem Auftritt bei Jonathan Ross‘ Freitagabend-Talkshow, der jedes Mal erwähnt wurde, wenn Caroline Newsomes Name fiel.
Schlimmer noch, dieses Lächeln fand sich auch auf diversen anrührenden Familienbildern auf Ians Handy. Selbst wenn Caros Haarfarbe künstlich gewesen wäre, dachte Eve gehässig, mit solchen Genen konnte Ian und Caroline Newsomes Nachwuchs nur aussehen wie die Superbabys aus der Pampers-Werbung.
Jetzt krieg dich wieder ein, ermahnte sie sich.
Wenn sie jetzt nicht hinaufging, kam sie zu spät, und sie hatte Hand-auf-Herz-mäßig geschworen, pünktlich zu sein. Außerdem, je später sie dran war, desto nervöser wurde Ian, dabei war er weiß Gott schon genug gestresst.
»Das ist eine ziemlich große Sache für sie«, hatte er ihr am Abend zuvor am Telefon gesagt. Als wüsste sie das nicht. »Ich habe ihnen nie ...« Er schwieg einen Moment. »Sie haben noch nie eine ... eine Freundin von mir kennengelernt.« Seine offenkundige Nervosität trug nicht zu Eves Beruhigung bei. »Und bitte sei pünktlich. Du weißt doch, wie Kinder sind. Man muss tun, was man versprochen hat und wann man es versprochen hat.«
Eve wusste nicht, »wie Kinder sind«. Sie hatte keine.
Wenn Ian ausfiel, dann bestand das Team Eve aus ihr allein. Mit einer solchen Mannschaft konnte sie sich gleich geschlagen geben. Und wie zur Bestärkung des vernichtenden Urteils sah sie in diesem Moment ihr Spiegelbild im Schaufenster. Eine Durchschnittsfrau mit brauner, ziemlich krauser Lockenmähne und Sommersprossen.
Unter ihrem Trenchcoat trug sie ein blauweiß gestreiftes Oberteil und Jeans. Ältere Converse-Trainingsschuhe rundeten das Ganze ab. Kinderfreundlich, aber nicht abgerissen. Ganz der Typ pflegeleichte hübsche Mami, keine Angst vor Dreck und sämtliche Qualifikationen für den Job als Mutter.
Sie wühlte in ihrem Lederbeutel nach einer blauen Plastiktüte und holte die Kinderbücher heraus (Bestechungsmittel, Friedenspfeife, verspätetes Geburtstagsgeschenk, Ostereier-Ersatz ohne Kariesgefahr). Sie steckte sie unter den Arm, stopfte die Plastiktüte zurück in die Tasche und holte tief Luft. Dann marschierte sie zielstrebig durch die Menschentrauben vor dem Café und stieß die Tür auf.
Selbst in einem von Touristen überlaufenen Café waren sie nicht zu übersehen. Der runde Tisch am Fenster sah aus, als wäre eine Kuchenfabrik explodiert. Beim Anblick der diversen Power Rangers, Spider Men und My Little Ponies, denen Cremeschnitten, Eclairs und Croissants als Hindernisse, Barrikaden und Stallwände dienten, musste Eve grinsen.
»Eve!«, rief Ian, sobald er sie sah. Er schob den Stuhl so heftig zurück, dass er eine Plastikfigur vom Tisch fegte. Drei blaue Augenpaare, umrahmt von langen Wimpern richteten sich auf Eve.
»Ich komme doch nicht zu spät, oder?«, fragte Eve.
Ian schaute auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Pünktlich wie die Maurer.« Dann stellte er vor: »Hannah, Sophie, Alfie, das ist Eve Owen, die Freundin, von der ich euch erzählt habe.«
Eve lächelte.
»Eve, das ist meine Älteste, Hannah, sie ist zwölf. Sophie ist acht. Und Alfie ist fünf.«
»Und zwei Monate«, betonte Alfie und wandte sich wieder Spider-Mans Bein zu, um herauszufinden, wie weit es sich drehen ließ, bevor es aus der Hüfte sprang.
Eve lächelte dümmlich. Sie kam sich vor wie die Moderatorin bei einer Kindersendung.
»Hallo«, sagte sie.
Wieder starrten drei Augenpaare sie an.
»Ich bin Eve«, ergänzte sie überflüssigerweise und streckte dem Mädchen, das ihr am nächsten saß, die Hand hin. Hannah sah älter aus als zwölf, wahrscheinlich fand sie, dass sie schon längst kein Kind mehr war. Außerdem war sie viel größer als ein Meter und verströmte jede Menge Selbstbewusstsein. »Hannah, wie nett, dich kennenzulernen.«
»Hi.« Lässig grüßend hob Hannah eine Hand und strich sich dann eine lange, goldblond glänzende Haarsträhne über die Schulter, bevor sie angelegentlich nach ihrem Cappuccino griff.
»Und du musst Sophie sein.«
Das mittlere Kind war eine jüngere, noch etwas hübschere und weitaus kindlichere Version ihrer Schwester. Von der Jeans abgesehen, war alles, was sie trug, rosafarben, von den Converse-Stiefeln bis zu den Barbie-Haarspangen.
»Guten Tag«, sagte Sophie zaghaft und nahm Eves Hand, dann schaute sie zu ihrem Vater. Er nickte beifällig. »Ich bin Alfie«, sagte der Junge.
»Hallo Alfie.«
»Magst du lieber Spider-Man oder Power Ranger? Ich finde Power Ranger besser, aber Spider-Man ist schon okay. Du darfst Venom sein.« Er hob die Plastikfigur vom Boden auf und drückte sie Eve in die ausgestreckte Hand.
»Das ist nett«, sagte sie und empfand tatsächlich eine Art Dankbarkeit.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Ian und fuhr dem Jungen durchs Haar, bis es nach allen Richtungen abstand. »Deine Figur muss die ganzen Prügel einstecken.«
»Venom ist der Böse«, sagte Alfie, als verkündete er eine naturgegebene Tatsache. »Er muss verlieren, so ist es eben. Dad, dürfen wir jetzt unseren Kuchen essen?«
Ohne auf Erlaubnis zu warten, griff er sich das nächstbeste Eclair, das doppelt so groß war wie seine Hand und stopfte es sich in den Mund. Dabei schminkte er sich mit Schokolade und Sahne ein Clownsgesicht.
»Setz dich doch, setz dich doch«, sagte Ian und zog den unbesetzten Stuhl zwischen sich und Hannah heraus. »Ich hole dir einen Kaffee. Ohne Milch und Zucker, oder?«
Du weit, dass ich Kaffee immer ohne Milch und Zucker trinke, hätte sie am liebsten gesagt. Aber sie sagte es nicht, und sie widerstand auch dem Drang, ihm beruhigend die Hand zu drücken. Händchenhalten war tabu, und auch eine beschwichtigende Hand auf dem Arm oder ein höchst distanziertes Wangen-Küsschen waren nicht erlaubt. Sie waren zwar seit neun Monaten zusammen, aber das hier war etwas völlig Neues, und Eve lernte gerade erst die Regeln des Spiels.
Das war mehr als Mädchen trifft Junge, Mädchen verguckt sich in Jungen, Mädchen verabredet sich mit Jungen, verliebt sich usw. ... Das hier war: Mädchen trifft Junge, Mädchen verguckt sich, Mädchen verabredet sich, Mädchen stellt fest, dass Junge schon anderes Mädchen hatte, Mädchen lernt Kinder des Jungen kennen.
Die Situation war also ernst.
Eve hatte nie damit gerechnet, sich in einen verheirateten Mann zu verlieben. Na gut, einen Witwer, um genau zu sein. Aber egal, ob verheiratet, verwitwet, geschieden ... Sie war einfach nie auf die Idee gekom- men, dass ihr das passieren könnte. Wie zu SchönheitsOPs, Botox und Kindern hätte sie dazu Nie im Leben! gesagt.
Aber dann hatte sie vor über einem Jahr den Starbucks im zweiten Stock von Borders an der Oxford Street betreten. Dieser Treffpunkt war Ians Idee gewesen, sie selbst hätte das Café nie für ein Interview gewählt: zu laut, zu öffentlich, zu viele Mithörer. Sie hatte ihn am Tisch sitzen und in Ian McEwans Abbitte lesen sehen, einem Roman, den sie gerade ebenfalls mit Begeisterung gelesen hatte. Und ihr Magen hatte einen Satz gemacht. Ein Satz, der ihr verriet, dass sie gleich einen verhängnisvollen Fehler begehen würde.
Er war groß und schlank, trug Jeans und Jackett und seine Nase war etwas groß geraten, was durch den kurzen Haarschnitt noch betont wurde. Doch was sie ansprach, war die völlige Konzentration, mit der er las. Noch bevor er aufsah, hatte sie sich in ihren Interviewpartner verliebt.
Sie hatte nie damit gerechnet, sich in einen verheirateten Mann zu verlieben.
Eve korrigierte sich. Sie hatte alles dafür getan, sich in überhaupt niemanden zu verlieben. Die Zahl ihrer Liebhaber in den vergangenen zehn Jahren konnte sie an einer Hand abzählen.
Sie hatte ihren Job, war mit zweiunddreißig Kulturredakteurin bei einer großen Zeitschrift, und abgesehen von einer ernsthaften Beziehung im zweiten Jahr an der Uni hatte sie sich nie von irgendjemandem abhalten lassen, genau das zu tun, was sie wollte.
Es war daher mehr als eine Überraschung, als sie sich in Ian Newsome verliebte. Es war ein Schock.
Aber erst einmal veränderte sich gar nichts.
Als Eve Ian interviewte, war Caroline seit neun Monaten tot, und es vergingen weitere sechs Monate, ehe sie das erste Mal im Bett landeten. Na gut, fünf Monate, zwei Wochen und drei Tage. Aber von dem Augenblick an, als er aufstand, um ihr den Stuhl zurechtzustellen, war Eve ihm verfallen. Und dabei war er bei dem schicksalhaften Interview nicht einmal ein sonderlich zuvorkommender Gesprächspartner gewesen.
Zunächst hatte er das Interview rundweg abgelehnt. Dort im Café an der Oxford Street saß er nur, weil Carolines Verleger darauf bestanden hatte. Precious Moments, eine Sammlung ihrer Kolumnen, die ihren drei Jahre währenden Kampf gegen den Brustkrebs dokumentierte, sollte anlässlich ihres ersten Todestags erscheinen. Und Ian war moralisch sowie vertraglich verpflichtet, das Buch zu bewerben. Außerdem sollte ein Großteil des Geldes dem Macmillan Trust zugute kommen, dessen Krankenschwestern Caroline in den letzten Tagen und Wochen zur Seite gestanden hatten.
Es verstand sich von selbst, dass die Times, Carolines ehemaliger Arbeitgeber, einen Vorabdruck des Buchs veröffentlichte, also willigte Ian ein, dem Samstagsmagazin der Zeitung zum Auftakt ein Interview zu geben, und dazu noch ein weiteres Interview in einer anderen Zeitschrift. Von den zahllosen Bewerbern gab er Beau den Zuschlag, der Frauenzeitschrift, bei der Eve das Kulturressort leitete.
Als Erstes sagte er: »Darf ich Ihnen einen Kaffee holen?« (Eve erkannte das sofort als Machtspielchen, ließ ihn aber trotzdem zur Theke gehen.) Dann kam: »Kei- ne Fotos von den Kindern.« Er betrachtete sie mit seinen kühlen blauen Augen, während sie vorsichtig einen Schluck von ihrem dampfend heißen Americano trank, der ihr prompt den Gaumen verbrannte.
Toller Auftakt.
»Es tut mir leid«, sagte Eve. Sie hörte selbst, wie ihre Stimme professionell wurde. »Aber irgendetwas müssen Sie uns schon geben.« Sie versuchte, sich nicht mit der Zunge über die verbrannte Stelle zu fahren. »Das habe ich Ihrer Pressesprecherin klipp und klar gesagt.«
Ian presste die Lippen entschlossen zusammen. »Und ich habe klipp und klar gesagt, keine Fotos von den Kindern«, widersprach er. »Das war meine Bedingung. Nach allem, was sie durchgemacht haben ... der Tod ihrer Mutter und ... und alles. Also, sie zu schützen, ihnen etwas ... etwas Normalität zu geben, das ist jetzt das Wichtigste. Das können Sie sicher verstehen.«
»Natürlich verstehe ich das.«
Eve zwang sich zu einem Lächeln und überlegte verzweifelt, wie sie das Interview retten sollte. Sie verstand ihn, aber sie wusste auch, dass Miriam, ihre Chefredakteurin, sie umbringen würde, wenn sie mit leeren Händen zurückkam. Sicher, Bilder von Caroline konnten sie von der Times kaufen, und es gab auch Schnappschüsse, wie sie das Krankenhaus verließ. Aber Miriam wollte etwas Persönlicheres. Etwas, was die durchschnittliche Beau-Leserin Anfang, Mitte dreißig ansprach. In diesem Alter hatte Caroline beim Stillen von Alfie einen Knoten in der Brust entdeckt. Einen Knoten, den man zunächst für eine nur selten tödlich verlaufende Form von Krebs gehalten hatte.
Eve überlegte. Sie hatte nur eine Stunde Zeit und konnte es sich nicht leisten, die Hälfte davon auf eine Diskussion über Bilder zu verschwenden. Dann kam ihr die rettende Idee. »Sie sind doch Fotograf. In Ihrem Familienalbum haben Sie bestimmt wunderschöne Aufnahmen. Wie wär's mit einem Bild von Caroline und den Kindern, als sie noch klein waren? Bevor ihre Mutter krank wurde? Da muss Ihr Jüngster, Alfie, noch ein Baby gewesen sein. Ein solches Bild würde die Privatsphäre doch nicht verletzen, oder?«
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, sagte Ian widerstrebend. Seine Miene besagte, dass damit das Thema für ihn abgeschlossen war.
Der Artikel wurde ein Erfolg. Nach den Anlaufschwierigkeiten hatte Ian freimütig über Caros Leben und ihren sehr öffentlichen Tod gesprochen. Er hatte Eve sogar ein paar wunderbare Zitate über die Kinder, die er eindeutig vergötterte, in die Feder diktiert. Am nächsten Tag mailte er ihr drei Schnappschüsse, nie veröffentlichte Fotos von Caro mit den Kindern, als sie noch kleiner waren. Erst nach Erscheinen des Interviews, als Eve sich die Seiten genauer anschaute, stellte sie fest, dass Ian nur auf einem der Bilder zu sehen war, ganz im Hintergrund.
»Na ja, schließlich ist er Fotograf«, sagte die Redak-
tionsassistentin. »Er stand immer hinter der Kamera.« Trotzdem, etwas an dem Bild machte Eve stutzig. Sie fiel aus allen Wolken, als Ian sie eine Woche, nach-
dem die Beau-Ausgabe mit dem Interview bereits aus
den Regalen verschwunden war, auf dem Handy anrief. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Nein, gar nicht.« Eve wappnete sich. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er sich in der Woche nach der Veröffentlichung bei ihr melden und sie anblaffen würde, er habe dieses nicht so gesagt und jenes nicht so gemeint; aber sein Tonfall war ganz freundlich. Also, was wollte er?
»Es ist nur ... Ich weiß nicht, vielleicht hätten Sie mal Lust auf einen Kaffee?«
Selbst da war Eve sich nicht sicher, ob er wirklich mit ihr ausgehen wollte. Und anfangs war es auch nur ein gemeinsamer Kaffee. Und dann noch einer. Und noch einer. Seit damals hatte Ian Newsome ihr wirklich schändliche Mengen von Koffein gekauft.
»Ich habe jedem von euch etwas mitgebracht«, sagte Eve jetzt und legte ihren Trenchcoat über die Stuhllehne. Sie tat ihr Bestes, den Blick zu ignorieren, mit dem Hannah ihr gestreiftes T-Shirt bedachte. Schwer zu sagen, ob er missbilligend oder belustigt war. Vielleicht hatte sie sich zu sehr bemüht, dachte Eve. Vielleicht konnte Hannah das riechen, wie Hunde Angst riechen und Katzen zielstrebig auf den einzigen Allergiker im Raum zusteuern.
»Hier«, sagte sie und reichte Hannah eine Ausgabe von Philip Pullmans Der goldene Kompass. »Das hat mir supergut gefallen. Ich hoffe, du kennst es noch nicht.«
Hannah lächelte höflich, streckte aber die Hand nicht danach aus. »Doch, ich habe es schon gelesen. Als ich kleiner war ... «
»Aber danke«, ergänzte sie, als Sophie ihr einen Rippenstoß versetzte. »Es hat mir gut gefallen.«
Das Buch schwebte über Bechern voll heißer Schokolade, die langsam abkühlten. Eve spürte, dass sie puterrot wurde, am liebsten hätte sie Hannah das Buch einfach in die Hand gedrückt. Aber das Mädchen sah demonstrativ daran vorbei.
Eve hätte sich ohrfeigen mögen.
Warum war sie nur so ein Risiko eingegangen? Es wäre viel einfacher gewesen, Ian zu fragen, welche Bücher die Kinder schon hatten. Aber nein, sie hatte ja unbedingt beweisen wollen, dass sie auch ohne seine Hilfe das Richtige fand.
»Ach so«, sagte Eve. Wohl oder übel musste sie ihre Niederlage eingestehen. »Das tut mir leid, ich tausche es um.«
»Danke, nicht nötig.« Hannah hielt eine eselsohrige Zeitschrift hoch, aufgeschlagen bei einem Artikel über Gossip Girl. »Ich mag Zeitschriften sowieso lieber.«
»Was ist mit mir?«, quengelte Alfie. »Was hast du mir mitgebracht?«
»Du bist noch nicht dran«, sagte Sophie und knuffte ihn am Arm. »Jetzt bin ich an der Reihe.«
»Neiiin!« Alfies Gesicht fiel in sich zusammen. Aber als er bemerkte, dass Eve ihn beobachtete, grinste er. Das Gejammer war bloß Schau gewesen.
Eve fasste neuen Mut und reichte Sophie ein buntes Hardcover-Buch. »Die neue Jacqueline Wilson. Ich hoffe, du hast es nicht auch schon gelesen.«
Ian, der gerade mit einer großen Tasse von der Theke zurückkehrte, hörte Sophies Kreischen. »Was ist los?«, fragte er und warf Eve einen Blick zu, der so viel besagte wie: »Ich war doch nur zwei Minuten weg, ist alles in Ordnung?«
»Schau mal!«, sagte Sophie und wedelte das Buch durch die Luft. »Schau, was Eve mir mitgebracht hat!« »Hast du ein Glück!« Ian wirkte zufrieden.
»Und was hat Eve mir mitgebracht?«, fragte Alfie wieder.
»Guter Gott, Alfie«, sagte Hannah. »Denk an deine Manieren.« Sie hörte sich an wie ihre Mutter. Oder so, wie Caro in Eves Erinnerung im Fernsehen geklungen hatte.
»Es reicht«, sagte Ian und verdrehte die Augen. »Hört auf, ihr beiden. Und Hannah, du weißt, ich mag es nicht, wenn du ›guter Gott‹ sagst.«
Hannah verzog das Gesicht.
Nervös reichte Eve dem Jungen eine Ausgabe von Charlie und die Schokoladenfabrik. Sie hatte das Buch mit Roald Dahls Text und Quentin Blakes Illustrationen geliebt und besaß die Ausgabe immer noch.
»Hey, Dad, guck mal«, sagte Alfie und griff danach. Sofort war alle Schokolade, die nicht über sein Gesicht verteilt war, auf dem Buchcover verschmiert. »SpiderMan hat ein neues Luftkissenboot.« Er setzte eine seiner Plastikfiguren auf das Buch, dann sagte er zu Eve: »Und jetzt spielst du Venom.«
»Später«, sagte Ian. »Lass Eve erst mal ihren Kuchen essen.« Er warf ihr ein Lächeln zu, dann runzelte er die Stirn. »Alfie«, sagte er. »Wo ist Eves Eclair?«
Übersetzung: Ursula Wulfekamp
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Jetzt komm schon«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen. Es wird bestimmt nett.«
»Ian ...«
»Ehrlich. Ich habe den Kindern gesagt, sie sollen sich benehmen. Hinterher gehen wir zu Hamley's. Ihr braucht euch wirklich nur kurz zu begrüßen.« Vom anderen Ende der Leitung drang ein gedämpftes Geräusch zu ihr. »Okay?«, fragte Ian. Sein Tonfall hatte sich verändert. »Bis bald ... Es ist Eve«, hörte sie ihn sagen. »Das machen wir später, das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Also echt, Dad ...«
Dann war die Leitung tot.
Die Mädchenstimme war das Letzte, was sie hörte. Eine junge, sehr englische Stimme, die sich viel selbstbewusster anhörte als sie, Eve, in diesem Alter. Ob das Hannah gewesen war? Sophie wohl nicht, dazu hatte sie viel zu erwachsen geklungen. Sie grübelte immer noch darüber, als ihr unvermittelt etwas anderes einfiel.
Ich habe den Kindern gesagt, sie sollen sich benehmen.
Warum musste Ian ihnen das eigens sagen? Er beteuerte doch ständig, wie lieb und höflich sie im Grunde seien. Vielleicht steckte der Teufel in diesem »im Grunde«.
Es fühlte sich an, als müsste sie die Fahrprüfung, das Abitur und eine Wurzelbehandlung hinter sich bringen, und zwar alles auf einmal. Nein. Eigentlich war es noch viel schlimmer als das alles zusammen.
Ihr war flau im Magen, schrecklich flau. Und leer war er auch noch. Aber hätte sie irgendetwas gegessen, dann müsste sie sich jetzt übergeben, mitten auf der Charing Cross Road. Am Rand ihres Blickfelds lauerte ein Stresskopfweh, und könnte der erste wirklich schöne Frühlingstag des Jahres durch die riesige Sonnenbrille zu ihren Augen vordringen, würde die Sonne sie schmerzhaft blenden. Eve hatte sich von der Brille eine gewisse Lässigkeit erhofft, aber jetzt fürchtete sie, wie ein Insekt mit Riesenaugen und Kraushaar auszusehen.
Jetzt komm schon, Eve, ermahnte sie sich. Du bist zweiunddreißig, eine erwachsene Frau mit Eigentumswohnung und einem guten Job ... und die sind gerade mal einen Meter groß.
Andererseits lag ihre eigene Zukunft in den schokoladeverschmierten Patschhändchen dieser kniehohen Wesen. Ein erschreckender Gedanke, dem sie eine schlaflose Nacht zu verdanken hatte.
Eine halbe Stunde später konnte sie vom Bürgersteig der Old Compton Street aus im ersten Stock der Patisserie Valerie drei kleine Köpfe sehen. Ians drei Kinder waren blond. Natürlich. Das hatte sie gewusst, sie hatte ja genügend Fotos gesehen. Außerdem, was sollten sie sonst sein? Ians kurz geschorenes Haar war blond. Und Caroline war, wie alle Welt wusste, goldblond gewesen.
Natürlich hatte Eve Caroline nie kennengelernt, aber ihre hohen Wangenknochen, ihr verständiges Lächeln und ihr über die Schulter geworfenes Haar waren berühmt. In der Times war über ihrem Autorennamen immer ihr Bild abgedruckt gewesen, und selbst Leute, die ihre Kolumne nicht lasen, kannten ihr Gesicht von Culture Show und Arena, ganz zu schweigen von ihrem Auftritt bei Jonathan Ross‘ Freitagabend-Talkshow, der jedes Mal erwähnt wurde, wenn Caroline Newsomes Name fiel.
Schlimmer noch, dieses Lächeln fand sich auch auf diversen anrührenden Familienbildern auf Ians Handy. Selbst wenn Caros Haarfarbe künstlich gewesen wäre, dachte Eve gehässig, mit solchen Genen konnte Ian und Caroline Newsomes Nachwuchs nur aussehen wie die Superbabys aus der Pampers-Werbung.
Jetzt krieg dich wieder ein, ermahnte sie sich.
Wenn sie jetzt nicht hinaufging, kam sie zu spät, und sie hatte Hand-auf-Herz-mäßig geschworen, pünktlich zu sein. Außerdem, je später sie dran war, desto nervöser wurde Ian, dabei war er weiß Gott schon genug gestresst.
»Das ist eine ziemlich große Sache für sie«, hatte er ihr am Abend zuvor am Telefon gesagt. Als wüsste sie das nicht. »Ich habe ihnen nie ...« Er schwieg einen Moment. »Sie haben noch nie eine ... eine Freundin von mir kennengelernt.« Seine offenkundige Nervosität trug nicht zu Eves Beruhigung bei. »Und bitte sei pünktlich. Du weißt doch, wie Kinder sind. Man muss tun, was man versprochen hat und wann man es versprochen hat.«
Eve wusste nicht, »wie Kinder sind«. Sie hatte keine.
Wenn Ian ausfiel, dann bestand das Team Eve aus ihr allein. Mit einer solchen Mannschaft konnte sie sich gleich geschlagen geben. Und wie zur Bestärkung des vernichtenden Urteils sah sie in diesem Moment ihr Spiegelbild im Schaufenster. Eine Durchschnittsfrau mit brauner, ziemlich krauser Lockenmähne und Sommersprossen.
Unter ihrem Trenchcoat trug sie ein blauweiß gestreiftes Oberteil und Jeans. Ältere Converse-Trainingsschuhe rundeten das Ganze ab. Kinderfreundlich, aber nicht abgerissen. Ganz der Typ pflegeleichte hübsche Mami, keine Angst vor Dreck und sämtliche Qualifikationen für den Job als Mutter.
Sie wühlte in ihrem Lederbeutel nach einer blauen Plastiktüte und holte die Kinderbücher heraus (Bestechungsmittel, Friedenspfeife, verspätetes Geburtstagsgeschenk, Ostereier-Ersatz ohne Kariesgefahr). Sie steckte sie unter den Arm, stopfte die Plastiktüte zurück in die Tasche und holte tief Luft. Dann marschierte sie zielstrebig durch die Menschentrauben vor dem Café und stieß die Tür auf.
Selbst in einem von Touristen überlaufenen Café waren sie nicht zu übersehen. Der runde Tisch am Fenster sah aus, als wäre eine Kuchenfabrik explodiert. Beim Anblick der diversen Power Rangers, Spider Men und My Little Ponies, denen Cremeschnitten, Eclairs und Croissants als Hindernisse, Barrikaden und Stallwände dienten, musste Eve grinsen.
»Eve!«, rief Ian, sobald er sie sah. Er schob den Stuhl so heftig zurück, dass er eine Plastikfigur vom Tisch fegte. Drei blaue Augenpaare, umrahmt von langen Wimpern richteten sich auf Eve.
»Ich komme doch nicht zu spät, oder?«, fragte Eve.
Ian schaute auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Pünktlich wie die Maurer.« Dann stellte er vor: »Hannah, Sophie, Alfie, das ist Eve Owen, die Freundin, von der ich euch erzählt habe.«
Eve lächelte.
»Eve, das ist meine Älteste, Hannah, sie ist zwölf. Sophie ist acht. Und Alfie ist fünf.«
»Und zwei Monate«, betonte Alfie und wandte sich wieder Spider-Mans Bein zu, um herauszufinden, wie weit es sich drehen ließ, bevor es aus der Hüfte sprang.
Eve lächelte dümmlich. Sie kam sich vor wie die Moderatorin bei einer Kindersendung.
»Hallo«, sagte sie.
Wieder starrten drei Augenpaare sie an.
»Ich bin Eve«, ergänzte sie überflüssigerweise und streckte dem Mädchen, das ihr am nächsten saß, die Hand hin. Hannah sah älter aus als zwölf, wahrscheinlich fand sie, dass sie schon längst kein Kind mehr war. Außerdem war sie viel größer als ein Meter und verströmte jede Menge Selbstbewusstsein. »Hannah, wie nett, dich kennenzulernen.«
»Hi.« Lässig grüßend hob Hannah eine Hand und strich sich dann eine lange, goldblond glänzende Haarsträhne über die Schulter, bevor sie angelegentlich nach ihrem Cappuccino griff.
»Und du musst Sophie sein.«
Das mittlere Kind war eine jüngere, noch etwas hübschere und weitaus kindlichere Version ihrer Schwester. Von der Jeans abgesehen, war alles, was sie trug, rosafarben, von den Converse-Stiefeln bis zu den Barbie-Haarspangen.
»Guten Tag«, sagte Sophie zaghaft und nahm Eves Hand, dann schaute sie zu ihrem Vater. Er nickte beifällig. »Ich bin Alfie«, sagte der Junge.
»Hallo Alfie.«
»Magst du lieber Spider-Man oder Power Ranger? Ich finde Power Ranger besser, aber Spider-Man ist schon okay. Du darfst Venom sein.« Er hob die Plastikfigur vom Boden auf und drückte sie Eve in die ausgestreckte Hand.
»Das ist nett«, sagte sie und empfand tatsächlich eine Art Dankbarkeit.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Ian und fuhr dem Jungen durchs Haar, bis es nach allen Richtungen abstand. »Deine Figur muss die ganzen Prügel einstecken.«
»Venom ist der Böse«, sagte Alfie, als verkündete er eine naturgegebene Tatsache. »Er muss verlieren, so ist es eben. Dad, dürfen wir jetzt unseren Kuchen essen?«
Ohne auf Erlaubnis zu warten, griff er sich das nächstbeste Eclair, das doppelt so groß war wie seine Hand und stopfte es sich in den Mund. Dabei schminkte er sich mit Schokolade und Sahne ein Clownsgesicht.
»Setz dich doch, setz dich doch«, sagte Ian und zog den unbesetzten Stuhl zwischen sich und Hannah heraus. »Ich hole dir einen Kaffee. Ohne Milch und Zucker, oder?«
Du weit, dass ich Kaffee immer ohne Milch und Zucker trinke, hätte sie am liebsten gesagt. Aber sie sagte es nicht, und sie widerstand auch dem Drang, ihm beruhigend die Hand zu drücken. Händchenhalten war tabu, und auch eine beschwichtigende Hand auf dem Arm oder ein höchst distanziertes Wangen-Küsschen waren nicht erlaubt. Sie waren zwar seit neun Monaten zusammen, aber das hier war etwas völlig Neues, und Eve lernte gerade erst die Regeln des Spiels.
Das war mehr als Mädchen trifft Junge, Mädchen verguckt sich in Jungen, Mädchen verabredet sich mit Jungen, verliebt sich usw. ... Das hier war: Mädchen trifft Junge, Mädchen verguckt sich, Mädchen verabredet sich, Mädchen stellt fest, dass Junge schon anderes Mädchen hatte, Mädchen lernt Kinder des Jungen kennen.
Die Situation war also ernst.
Eve hatte nie damit gerechnet, sich in einen verheirateten Mann zu verlieben. Na gut, einen Witwer, um genau zu sein. Aber egal, ob verheiratet, verwitwet, geschieden ... Sie war einfach nie auf die Idee gekom- men, dass ihr das passieren könnte. Wie zu SchönheitsOPs, Botox und Kindern hätte sie dazu Nie im Leben! gesagt.
Aber dann hatte sie vor über einem Jahr den Starbucks im zweiten Stock von Borders an der Oxford Street betreten. Dieser Treffpunkt war Ians Idee gewesen, sie selbst hätte das Café nie für ein Interview gewählt: zu laut, zu öffentlich, zu viele Mithörer. Sie hatte ihn am Tisch sitzen und in Ian McEwans Abbitte lesen sehen, einem Roman, den sie gerade ebenfalls mit Begeisterung gelesen hatte. Und ihr Magen hatte einen Satz gemacht. Ein Satz, der ihr verriet, dass sie gleich einen verhängnisvollen Fehler begehen würde.
Er war groß und schlank, trug Jeans und Jackett und seine Nase war etwas groß geraten, was durch den kurzen Haarschnitt noch betont wurde. Doch was sie ansprach, war die völlige Konzentration, mit der er las. Noch bevor er aufsah, hatte sie sich in ihren Interviewpartner verliebt.
Sie hatte nie damit gerechnet, sich in einen verheirateten Mann zu verlieben.
Eve korrigierte sich. Sie hatte alles dafür getan, sich in überhaupt niemanden zu verlieben. Die Zahl ihrer Liebhaber in den vergangenen zehn Jahren konnte sie an einer Hand abzählen.
Sie hatte ihren Job, war mit zweiunddreißig Kulturredakteurin bei einer großen Zeitschrift, und abgesehen von einer ernsthaften Beziehung im zweiten Jahr an der Uni hatte sie sich nie von irgendjemandem abhalten lassen, genau das zu tun, was sie wollte.
Es war daher mehr als eine Überraschung, als sie sich in Ian Newsome verliebte. Es war ein Schock.
Aber erst einmal veränderte sich gar nichts.
Als Eve Ian interviewte, war Caroline seit neun Monaten tot, und es vergingen weitere sechs Monate, ehe sie das erste Mal im Bett landeten. Na gut, fünf Monate, zwei Wochen und drei Tage. Aber von dem Augenblick an, als er aufstand, um ihr den Stuhl zurechtzustellen, war Eve ihm verfallen. Und dabei war er bei dem schicksalhaften Interview nicht einmal ein sonderlich zuvorkommender Gesprächspartner gewesen.
Zunächst hatte er das Interview rundweg abgelehnt. Dort im Café an der Oxford Street saß er nur, weil Carolines Verleger darauf bestanden hatte. Precious Moments, eine Sammlung ihrer Kolumnen, die ihren drei Jahre währenden Kampf gegen den Brustkrebs dokumentierte, sollte anlässlich ihres ersten Todestags erscheinen. Und Ian war moralisch sowie vertraglich verpflichtet, das Buch zu bewerben. Außerdem sollte ein Großteil des Geldes dem Macmillan Trust zugute kommen, dessen Krankenschwestern Caroline in den letzten Tagen und Wochen zur Seite gestanden hatten.
Es verstand sich von selbst, dass die Times, Carolines ehemaliger Arbeitgeber, einen Vorabdruck des Buchs veröffentlichte, also willigte Ian ein, dem Samstagsmagazin der Zeitung zum Auftakt ein Interview zu geben, und dazu noch ein weiteres Interview in einer anderen Zeitschrift. Von den zahllosen Bewerbern gab er Beau den Zuschlag, der Frauenzeitschrift, bei der Eve das Kulturressort leitete.
Als Erstes sagte er: »Darf ich Ihnen einen Kaffee holen?« (Eve erkannte das sofort als Machtspielchen, ließ ihn aber trotzdem zur Theke gehen.) Dann kam: »Kei- ne Fotos von den Kindern.« Er betrachtete sie mit seinen kühlen blauen Augen, während sie vorsichtig einen Schluck von ihrem dampfend heißen Americano trank, der ihr prompt den Gaumen verbrannte.
Toller Auftakt.
»Es tut mir leid«, sagte Eve. Sie hörte selbst, wie ihre Stimme professionell wurde. »Aber irgendetwas müssen Sie uns schon geben.« Sie versuchte, sich nicht mit der Zunge über die verbrannte Stelle zu fahren. »Das habe ich Ihrer Pressesprecherin klipp und klar gesagt.«
Ian presste die Lippen entschlossen zusammen. »Und ich habe klipp und klar gesagt, keine Fotos von den Kindern«, widersprach er. »Das war meine Bedingung. Nach allem, was sie durchgemacht haben ... der Tod ihrer Mutter und ... und alles. Also, sie zu schützen, ihnen etwas ... etwas Normalität zu geben, das ist jetzt das Wichtigste. Das können Sie sicher verstehen.«
»Natürlich verstehe ich das.«
Eve zwang sich zu einem Lächeln und überlegte verzweifelt, wie sie das Interview retten sollte. Sie verstand ihn, aber sie wusste auch, dass Miriam, ihre Chefredakteurin, sie umbringen würde, wenn sie mit leeren Händen zurückkam. Sicher, Bilder von Caroline konnten sie von der Times kaufen, und es gab auch Schnappschüsse, wie sie das Krankenhaus verließ. Aber Miriam wollte etwas Persönlicheres. Etwas, was die durchschnittliche Beau-Leserin Anfang, Mitte dreißig ansprach. In diesem Alter hatte Caroline beim Stillen von Alfie einen Knoten in der Brust entdeckt. Einen Knoten, den man zunächst für eine nur selten tödlich verlaufende Form von Krebs gehalten hatte.
Eve überlegte. Sie hatte nur eine Stunde Zeit und konnte es sich nicht leisten, die Hälfte davon auf eine Diskussion über Bilder zu verschwenden. Dann kam ihr die rettende Idee. »Sie sind doch Fotograf. In Ihrem Familienalbum haben Sie bestimmt wunderschöne Aufnahmen. Wie wär's mit einem Bild von Caroline und den Kindern, als sie noch klein waren? Bevor ihre Mutter krank wurde? Da muss Ihr Jüngster, Alfie, noch ein Baby gewesen sein. Ein solches Bild würde die Privatsphäre doch nicht verletzen, oder?«
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, sagte Ian widerstrebend. Seine Miene besagte, dass damit das Thema für ihn abgeschlossen war.
Der Artikel wurde ein Erfolg. Nach den Anlaufschwierigkeiten hatte Ian freimütig über Caros Leben und ihren sehr öffentlichen Tod gesprochen. Er hatte Eve sogar ein paar wunderbare Zitate über die Kinder, die er eindeutig vergötterte, in die Feder diktiert. Am nächsten Tag mailte er ihr drei Schnappschüsse, nie veröffentlichte Fotos von Caro mit den Kindern, als sie noch kleiner waren. Erst nach Erscheinen des Interviews, als Eve sich die Seiten genauer anschaute, stellte sie fest, dass Ian nur auf einem der Bilder zu sehen war, ganz im Hintergrund.
»Na ja, schließlich ist er Fotograf«, sagte die Redak-
tionsassistentin. »Er stand immer hinter der Kamera.« Trotzdem, etwas an dem Bild machte Eve stutzig. Sie fiel aus allen Wolken, als Ian sie eine Woche, nach-
dem die Beau-Ausgabe mit dem Interview bereits aus
den Regalen verschwunden war, auf dem Handy anrief. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Nein, gar nicht.« Eve wappnete sich. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er sich in der Woche nach der Veröffentlichung bei ihr melden und sie anblaffen würde, er habe dieses nicht so gesagt und jenes nicht so gemeint; aber sein Tonfall war ganz freundlich. Also, was wollte er?
»Es ist nur ... Ich weiß nicht, vielleicht hätten Sie mal Lust auf einen Kaffee?«
Selbst da war Eve sich nicht sicher, ob er wirklich mit ihr ausgehen wollte. Und anfangs war es auch nur ein gemeinsamer Kaffee. Und dann noch einer. Und noch einer. Seit damals hatte Ian Newsome ihr wirklich schändliche Mengen von Koffein gekauft.
»Ich habe jedem von euch etwas mitgebracht«, sagte Eve jetzt und legte ihren Trenchcoat über die Stuhllehne. Sie tat ihr Bestes, den Blick zu ignorieren, mit dem Hannah ihr gestreiftes T-Shirt bedachte. Schwer zu sagen, ob er missbilligend oder belustigt war. Vielleicht hatte sie sich zu sehr bemüht, dachte Eve. Vielleicht konnte Hannah das riechen, wie Hunde Angst riechen und Katzen zielstrebig auf den einzigen Allergiker im Raum zusteuern.
»Hier«, sagte sie und reichte Hannah eine Ausgabe von Philip Pullmans Der goldene Kompass. »Das hat mir supergut gefallen. Ich hoffe, du kennst es noch nicht.«
Hannah lächelte höflich, streckte aber die Hand nicht danach aus. »Doch, ich habe es schon gelesen. Als ich kleiner war ... «
»Aber danke«, ergänzte sie, als Sophie ihr einen Rippenstoß versetzte. »Es hat mir gut gefallen.«
Das Buch schwebte über Bechern voll heißer Schokolade, die langsam abkühlten. Eve spürte, dass sie puterrot wurde, am liebsten hätte sie Hannah das Buch einfach in die Hand gedrückt. Aber das Mädchen sah demonstrativ daran vorbei.
Eve hätte sich ohrfeigen mögen.
Warum war sie nur so ein Risiko eingegangen? Es wäre viel einfacher gewesen, Ian zu fragen, welche Bücher die Kinder schon hatten. Aber nein, sie hatte ja unbedingt beweisen wollen, dass sie auch ohne seine Hilfe das Richtige fand.
»Ach so«, sagte Eve. Wohl oder übel musste sie ihre Niederlage eingestehen. »Das tut mir leid, ich tausche es um.«
»Danke, nicht nötig.« Hannah hielt eine eselsohrige Zeitschrift hoch, aufgeschlagen bei einem Artikel über Gossip Girl. »Ich mag Zeitschriften sowieso lieber.«
»Was ist mit mir?«, quengelte Alfie. »Was hast du mir mitgebracht?«
»Du bist noch nicht dran«, sagte Sophie und knuffte ihn am Arm. »Jetzt bin ich an der Reihe.«
»Neiiin!« Alfies Gesicht fiel in sich zusammen. Aber als er bemerkte, dass Eve ihn beobachtete, grinste er. Das Gejammer war bloß Schau gewesen.
Eve fasste neuen Mut und reichte Sophie ein buntes Hardcover-Buch. »Die neue Jacqueline Wilson. Ich hoffe, du hast es nicht auch schon gelesen.«
Ian, der gerade mit einer großen Tasse von der Theke zurückkehrte, hörte Sophies Kreischen. »Was ist los?«, fragte er und warf Eve einen Blick zu, der so viel besagte wie: »Ich war doch nur zwei Minuten weg, ist alles in Ordnung?«
»Schau mal!«, sagte Sophie und wedelte das Buch durch die Luft. »Schau, was Eve mir mitgebracht hat!« »Hast du ein Glück!« Ian wirkte zufrieden.
»Und was hat Eve mir mitgebracht?«, fragte Alfie wieder.
»Guter Gott, Alfie«, sagte Hannah. »Denk an deine Manieren.« Sie hörte sich an wie ihre Mutter. Oder so, wie Caro in Eves Erinnerung im Fernsehen geklungen hatte.
»Es reicht«, sagte Ian und verdrehte die Augen. »Hört auf, ihr beiden. Und Hannah, du weißt, ich mag es nicht, wenn du ›guter Gott‹ sagst.«
Hannah verzog das Gesicht.
Nervös reichte Eve dem Jungen eine Ausgabe von Charlie und die Schokoladenfabrik. Sie hatte das Buch mit Roald Dahls Text und Quentin Blakes Illustrationen geliebt und besaß die Ausgabe immer noch.
»Hey, Dad, guck mal«, sagte Alfie und griff danach. Sofort war alle Schokolade, die nicht über sein Gesicht verteilt war, auf dem Buchcover verschmiert. »SpiderMan hat ein neues Luftkissenboot.« Er setzte eine seiner Plastikfiguren auf das Buch, dann sagte er zu Eve: »Und jetzt spielst du Venom.«
»Später«, sagte Ian. »Lass Eve erst mal ihren Kuchen essen.« Er warf ihr ein Lächeln zu, dann runzelte er die Stirn. »Alfie«, sagte er. »Wo ist Eves Eclair?«
Übersetzung: Ursula Wulfekamp
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sam Baker
- 494 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800842X
- ISBN-13: 9783868008425
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