Glückstreffer
Roman
Eine Heldin wie "Amélie", die von "Tatsächlich Liebe" träumt und Glückskekse mit Bitter-Chocolat herstellt in einer Konditorei, die in "Notting Hill" liegen könnte!
"Manche Menschen haben Glück in der Liebe. Du ganz bestimmt nicht." In Bitterschokolade...
"Manche Menschen haben Glück in der Liebe. Du ganz bestimmt nicht." In Bitterschokolade...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Glückstreffer “
Eine Heldin wie "Amélie", die von "Tatsächlich Liebe" träumt und Glückskekse mit Bitter-Chocolat herstellt in einer Konditorei, die in "Notting Hill" liegen könnte!
"Manche Menschen haben Glück in der Liebe. Du ganz bestimmt nicht." In Bitterschokolade getunkt, sind die Unglückskekse der Verkaufshit in Sophies Chocolaterie. Doch auch der Erfolg lässt das Herz der jungen Frau nicht höher schlagen, seit sie kurz vor der Hochzeit von Garrett verlassen wurde. Als Garrett eines Tages ihren Laden betritt und sie um Verzeihung bitten möchte, schlägt sie ihm einen Handel vor: Per Anzeige soll er nach dem wahren Glück suchen. Und erst wenn 100 gute Gründe, glücklich zu sein, vor ihr liegen, will sie ihn wiedersehen.
"Manche Menschen haben Glück in der Liebe. Du ganz bestimmt nicht." In Bitterschokolade getunkt, sind die Unglückskekse der Verkaufshit in Sophies Chocolaterie. Doch auch der Erfolg lässt das Herz der jungen Frau nicht höher schlagen, seit sie kurz vor der Hochzeit von Garrett verlassen wurde. Als Garrett eines Tages ihren Laden betritt und sie um Verzeihung bitten möchte, schlägt sie ihm einen Handel vor: Per Anzeige soll er nach dem wahren Glück suchen. Und erst wenn 100 gute Gründe, glücklich zu sein, vor ihr liegen, will sie ihn wiedersehen.
Lese-Probe zu „Glückstreffer “
Glückstreffer von K.A. MilneTeil I
Der Anfang vom Ende
Kapitel 1
Nur Geduld: Es werden sicher bald noch
regnerischere Tage kommen.
21. September 2009
SCHON LANGE BEVOR der Gig-Harbor-Schnellbus nach
Tacoma vor der Haltestelle am Harborview Drive abrupt
zum Stehen kam, wusste Sophie Jones genau, mit welchen
Worten die untersetzte Busfahrerin sie beim Einstieg empfangen
würde. Ihre Begrüßungsfloskeln waren Sophie mittlerweile
ebenso vertraut wie ihr enttäuschter Tonfall und
ihre vorwurfsvolle Mimik. Jede Nuance ihrer Botschaft
folgte in vollem Umfang und konsequent einem vielfach erprobten Muster.
Als sich die Bustür mit zischender Hydraulik öffnete,
machte sich Sophie den Spaß, den bevorstehenden Wortwechsel
stumm für sich vorwegzunehmen: Sie schon wieder?
Was ist eigentlich Ihr Problem, Miss? Lassen Sie das Ding endlich
zu Hause!
Sophie setzte ohne Hast den Fuß aufs Trittbrett, schwang
sich vom Gehsteig in den Bus und klappte dabei den extragroßen
schwarzen Regenschirm zu, den sie über der Schulter
getragen hatte. Sie schenkte der Frau am Steuer ein
schmales Lächeln, kam sich für ihren Versuch, liebenswürdig
zu sein, aber sogleich dumm vor.
Das hätte sie sich sparen können, war als Reaktion darauf
doch nicht einmal die Andeutung eines Lächelns zu erwarten.
Da sie nicht nur wusste, wie, sondern auch wann die Busfahrerin
zu ihrer Tirade ansetzen würde, begann sie schweigend
mit dem Countdown.
Drei ...
Die Busfahrerin verzog das Gesicht, senkte das Kinn und
öffnete den Mund gerade so weit, dass sie Zähne mit blitzenden
Amalgamfüllungen entblößte. Dann musterte sie Sophie
und den sperrigen Schirm mit einem stechenden Blick.
Zwei...
... mehr
Sie nahm beide Hände vom Lenkrad und verschränkte
die Arme vor der Brust unterhalb des Namensschildes und
dem Emblem des Puget-Sound-Verkehrsbundes auf ihrem
gestärkten Baumwollhemd.
Eins...
Tiefes Ausatmen, ein Seufzer, ein enttäuschtes Kopfschütteln
und dann ...
Zero!
»Sie schon wieder? Was ist eigentlich Ihr Problem, Miss?
Lassen Sie das Ding endlich zu Hause! Ist doch ein wunderschöner
Montagmorgen!«
Sophie grinste in sich hinein, während sie ihren Schirm
gegen eine Haltestange lehnte und die Fahrkarte löste. Dabei
fand sie den Kommentar der Busfahrerin nicht einmal
ansatzweise witzig. Es amüsierte sie lediglich, wie vorhersehbar
die Frau auf sie reagierte.
»Und wenn's doch regnet?«, entgegnete Sophie.
»Sehen Sie ein Wölkchen am Himmel? Seit Wochen hat's
keinen Tropfen geregnet - Gott sei Dank! Toi, toi, toi!« Sie
pochte mit den Fingerknöcheln an die Lenksäule.
Sophie schüttelte den Kopf. Auch wenn sie die Vorhersagbarkeit
der Busfahrerin nicht billigte - was das Wetter
anging, musste sie ihr recht geben. Die Luft war zwar frisch,
doch kein einziges Wölkchen trübte den azurblauen Morgenhimmel
an der Pazifikküste. Der örtliche Wetterbericht
hatte nur Sonne vorhergesagt. Doch Sophie kümmerte das
wenig.
»Man sollte immer vom Schlimmsten ausgehen«, sagte sie
nur halb im Scherz.
»O ja, Miss«, blaffte die Busfahrerin. »Und das genau ist
Ihr Problem.«
Während sich Sophie auf die Suche nach einem Sitzplatz
machte, legte die Busfahrerin den Gang ein und murmelte
noch etwas vor sich hin, aber das Motorengeräusch verschluckte
ihre Bemerkung, und selbst an einem guten Tag
hätte Sophie ihr kein weiteres Gehör geschenkt.
Und ein guter Tag war es mitnichten.
Für Sophie war es der mit Abstand schlimmste Tag des
Jahres, ein alljährlich unabwendbar wiederkehrender Albtraum.
Hätte sie ihren Laden nicht, hätte sie zu Hause, ohne
mit der Wimper zu zucken, die Jalousien dichtgemacht, das
Handy ausgeschaltet, sich ins Bett gelegt und den Tag in
Selbstvergessenheit verschlafen.
Wenn und hätte, dachte Sophie, während sie durch den
Mittelgang zu ihrem Lieblingsplatz im Heck des Busses
wanderte. Nur wenige Pendler aus Gig Harbor machten
sich die Mühe, sich eine Sitzgelegenheit in der rückwärtigen
Hälfte des Busses zu suchen. Auf diese Weise hatte Sophie
die erhöhte Rückbank meistens ganz für sich allein. Sie verbrachte
diese frühmorgendlichen Fahrten gern schweigend
und in Gedanken versunken. Der höhere Sitz im Heck des
Busses verschaffte ihr genügend Distanz zu den morgendlichen
Plauderrunden, auf die sich viele andere so bereitwillig
einließen.
Während der Bus holpernd und schwankend seine Fahrt
fortsetzte, starrte sie auf die vorbeiziehende, üppig grüne
Landschaft und die Schiffe, die mit Kurs auf den Sund aus
dem Hafen ausliefen.Wie immer betrachtete sie prüfend die
Kabel und hohen Pylonen der Tacoma-Narrows- Brücke,
die Gig Harbor und die Olympic-Halbinsel mit dem Festland
des Staates Washington verband.
An den meisten Tagen genügte diese Aussicht durchaus,
um sie von den bitteren Realitäten des Lebens abzulenken.
An diesem Tag gelang dies nicht.
Für Sophie war es ein Tag voller Reuegefühle, und
nichts vermochte die Trauer und den Kummer zu vertreiben,
die dieses besondere Datum alljährlich von Neuem in
ihr weckte. Nicht die Natur, nicht die Segelschiffe, nicht
die Brückenkonstruktion vor den fast blinden Busfenstern
konnte die Vergangenheit vergessen machen. Mein Tag
der Selbstgeißelung, sagte sie sich, als sie ihren Schirm in den
Zwischenraum zwischen Sitz und Heizung schob. Meine
ganz persönliche Inszenierung des Selbstmitleids. Ich kann mich so
elend fühlen, wie ich will, an meinem ...
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sophie!«
Sophie zuckte zusammen. Die lauten Worte rissen sie abrupt
aus den Gedanken. »Was zum Teufel ...«, entfuhr es ihr.
Dann erst erkannte sie die Frauenstimme. »Gütiger Himmel,
Evi! Musst du mich derart erschrecken? Was machst du
denn hier?« Sophie ignorierte die neugierigen Blicke einiger
Pendler, die ihre Hälse reckten und sich zu den beiden
Frauen umdrehten.
»Überraschung! Und die ist mir offensichtlich gelungen.«
Evi lächelte entwaffnend, zwinkerte ihr zu und ließ sich
eine Reihe vor ihr auf einen freien Platz fallen.
Sophie musterte sie mit gespielter Missbilligung. »Prima
Idee«, sagte sie trocken. »Meine beste Freundin überfällt
mich hinterrücks und noch dazu in aller Öffentlichkeit mit
Glückwünschen. Du hättest mir genauso gut auflauern und
mich umbringen können! Und alles nur, um mich an ein
bestimmtes Datum zu erinnern.«
Evi strahlte unverdrossen. »Als ob ich dich daran erinnern
müsste«, stichelte sie. »Und hinterrücks war das schon
gar nicht. Ich bin zwei Haltestellen vor dir eingestiegen. Du
hast mich in deinem morgendlichen Tran einfach übersehen.
Ich habe vergeblich versucht, mich bemerkbar zu
machen.« Evi wurde ernst. »Ach, Schwamm drüber. Du hast
Geburtstag, und deshalb verzeihe ich dir.«
»Mein Geburtstag ... der schlimmste Tag des Jahres.«
»Blödsinn«, entgegnete Evi fröhlich. »Wir wissen beide,
dass der schlimmste Tag schon eine Ewigkeit her ist. Heute
ist eine Art Neubeginn! Das Gute ist nah!«
Evi war eine kleine Brünette mit ansteckendem Lächeln,
lebhaftem Humor und einem wunderbar bronzefarbenen
Teint, dem auch der strengste Winter nichts anhaben konnte.
Haarfarbe und Lächeln hatte sie von ihrer Mutter geerbt,
die Hautfarbe von ihrem lateinamerikanischen Vater, den sie
jedoch nie kennengelernt hatte. Ihr Humor half ihr durch
alle Stürme des Lebens hindurch, und sie gehörte zu dem
kleinen Personenkreis, dem Sophie bedingungslos vertraute.
Zu Sophies Kummer war aus ihrer Freundin Evalynn
Marion Mason vor Kurzem Evalynn Marion Mason-Mack
geworden. Das sechs Monate alte Anhängsel an ihrem Namen
war das Resultat ihrer Eheschließung mit Justin Mack,
ihrem Freund aus Collegezeiten. Sophie hatte nichts gegen
Justin, im Gegenteil: Sie freute sich für ihre Freunde.
Doch das Glück der beiden weckte in ihr zunehmend das
Gefühl, ihr eigenes Leben verpasst zu haben; ein Gefühl,
das geradezu beklemmend geworden war, seit Evalynn
vor zwei Monaten ihre Schwangerschaft bekannt gegeben
hatte.
Rein äußerlich waren Evi und Sophie so unterschiedlich
wie Tag und Nacht. Evi war klein. Sophie war groß.
Evi hatte glattes braunes Haar und trug einen kurzen Bob,
während Sophies goldblonde Locken ihr unbändig über die
Schultern fielen. Evi war der kontaktfreudige, Sophie der
eher zurückhaltende Typ. Wer die beiden kannte, musste
einfach davon ausgehen, dass ihre Freundschaft auf dem
Prinzip »Gegensätze ziehen sich an« beruhte. Doch sowohl
Sophie als auch Evalynn wusste, dass dies den Kern ihrer
Beziehung bei Weitem nicht traf. In Wirklichkeit fühlten
sie sich wie Schwestern.Was sie verband, konnte kaum jemand
verstehen, der in normalen Familienverhältnissen
groß geworden war. Denn so unterschiedlich sie äußerlich
auch wirkten, hatten sie doch zweierlei gemeinsam, und das
hielt sie zusammen wie Pech und Schwefel: ein tragisches
Schicksal und ihre Pflegemutter.
Sophie seufzte hörbar. »Ich hasse meinen Geburtstag. Das
weißt du.«
»Stimmt.«
»Du hättest heute Morgen einfach mit deinem Mann im
Bett bleiben und mich in meinem Schmollwinkel allein lassen
sollen.«
»Weiß ich.«
Sophie zog eine Grimasse. »Was willst du dann hier? Und
sag jetzt bloß nicht so etwas wie: ›weil niemand mit seinem
Schmerz gern allein ist‹! Ich bin der lebendige Beweis dafür,
dass das nicht stimmt.«
Evalynn verfiel in den dreisten Ton der Busfahrerin, um
Sophie aufzuheitern: »Wo liegt dein Problem, Miss? Du
weißt genau, dass ich dich an deinem neunundzwanzigsten
Geburtstag nicht allein lasse! Geht's noch? Nächstes Jahr bist
du eine alte Jungfer. Genieß das Leben unter dreißig, solange
noch Zeit ist, Miss!«
»Hör auf! Du machst dich lächerlich.«
Evi entfuhr ein kurzes, leises Lachen. Sie grinste amüsiert.
»Nein, ich mache nur deutlich, wie lächerlich du dich verhältst.
Das kann ich am besten.« Über den Sitz hinweg versetzte
sie der Freundin einen sanften Stoß an die Schulter.
»Komm schon! Lach endlich, Soph! Sei kein Spielverderber!
Schmoll nicht den ganzen Tag! Das ertrage ich nicht.«
Sophie zog fragend die Augenbrauen hoch. Ansonsten
blieb ihre Miene ausdruckslos. »Den ganzen Tag? Was soll
das heißen?«
»Ich habe diese Busfahrt nicht auf mich genommen, nur
um dir zu gratulieren und dann wieder zu verschwinden.
Meine Chefin hat versprochen, heute mit einer Rechtsgehilfin
weniger auszukommen. Ich hab mir also freigenommen.
Ich helfe dir mit deinen Pralinen und dem ganzen
Kram. Heute lasse ich dich nicht allein.«
»Augenblick! Hilfst du mir bei der Zubereitung oder
beim Probieren der Pralinen? Das letzte Mal war der Zweck
deiner Hilfe nicht ganz eindeutig.«
»Du weißt, dass ich deinen Erdnussbuttertrüffeln nicht
widerstehen kann. Gib mir einfach eine Aufgabe, bei der
ich damit nicht in Berührung komme. Außerdem habe ich
noch andere Pläne mit dir. Abgesehen davon, Förmchen zu
füllen und Kirschen in Schokolade zu dippen, habe ich für
den Nachmittag noch etwas Spezielles arrangiert. Vielleicht
vergisst du darüber deinen Geburtstag.«
»Arrangiert? Etwas Spezielles? Gefällt mir irgendwie
nicht.Was hast du vor, Ev?«
Evalynn zwinkerte ihr zu. »Sorry! Es ist eine Überraschung.
Ich schweige wie ein Grab.Wart's ab!«
Die nächste Haltestelle war der Park-and-ride-Parkplatz
am Kinball Drive. Einige Passagiere stiegen dort aus und
um, und ein gutes Dutzend neuer Fahrgäste drängte in den
Bus.
Unter den Neuzugängen entdeckte Sophie ein ihr fremdes
Gesicht. Der Mann trug einen marineblauen Blazer
über einer Khakihose und war fast einen Meter neunzig
groß. Er musste sich bücken, um beim Einsteigen nicht an
die Decke zu stoßen. Sein welliges braunes Haar kringelte
sich leicht im Nacken, und seine strahlend blauen Augen
blitzten übermütig im Morgenlicht.
Das Thema Männer ist für mich ein für alle Mal erledigt,
dachte Sophie bei sich, aber wäre es das nicht ...
Die meisten neuen Passagiere setzten sich auf die erstbesten
freien Sitze. Der Fremde hingegen ließ seinen Blick
auf der Suche nach einem geeigneten Platz auch dann noch
prüfend durch den Bus schweifen, als sich das Fahrzeug
längst wieder in Bewegung gesetzt hatte. Er tat so, als bemerkte
er nicht, wie schuldbewusst Sophie an ihm vorbeizusehen
versuchte.
Mit der Laptoptasche in der einen Hand und einem Streckenplan
des Verkehrsverbundes in der anderen näherte er
sich dem Heck des Busses. Geschickt balancierte er die sanften
Schlingerbewegungen des Fahrzeugs aus.
Sophie wandte den Kopf ab und starrte unbewegt aus dem Fenster.
»Ist hier noch frei?«, erkundigte sich der Fremde einige
Sekunden später höflich und deutete auf den leeren Sitzplatz
neben ihr.
Sophie stellte sich taub und starrte unbeirrt weiter aus
dem Fenster, während Evalynn die Szene amüsiert beobachtete.
Er räusperte sich. »Entschuldigung! Darf ich?«
Evalynn schnaubte durch die Nase, als Sophie sich unvermittelt
umwandte und den Mann ins Visier nahm. »Dies
hier ist ein öffentliches Verkehrsmittel«, erklärte sie kühl.
»Was passt Ihnen nicht an den zahlreichen freien Plätzen
weiter vorne?« Sie nickte in Richtung der leeren Sitzreihen,
die der Mann auf dem Weg in den Rückteil des Busses
passiert hatte.
Der Mann lächelte charmant, setzte sich, legte die Laptoptasche
auf die Knie und entfaltete den Streckennetzplan.
»Die Aussicht von hier oben ist definitiv besser.« Dabei sah
er Sophie direkt in die Augen.
Sophie richtete sich steif auf. Der Typ neben ihr war ein
angenehmer Anblick, entschied sie. Groß. Gut aussehend.
Selbstsicher. Aber dem Vergleich mit Garrett hielt er trotzdem
nicht stand.
Garrett, ihr Exverlobter.
»Machen Sie's sich ruhig bequem. Ich steige eh an der
nächsten Haltestelle aus.«
Der Mann lächelte unbeirrt. »Können Sie mir helfen? Ich
bin neu hier. Bin am Wochenende aus Oregon hergezogen.
Versuche, mich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anzufreunden.
Wie viele Haltestellen sind es noch bis ins Zentrum
von Seattle?«
»Eine ganze Menge«, erwiderte Sophie und gestattete
sich endlich ein Lächeln, allerdings nur, weil der Fremde
sich so offensichtlich auf dem Holzweg befand. »Sie haben
die falsche Linie erwischt. Dieser Bus verkehrt nur zwischen
Gig Harbor und Tacoma. Sie hätten an Ihrer Haltestelle auf
den nächsten Bus warten müssen.«
»Verstehe.« Er nickte mit fragender Miene. »Dann bin ich
hier also verkehrt?«
»Ziemlich verkehrt.«
Der Fremde ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Wie
gut, dass ich wenigstens Sie getroffen habe. Ich meine, wenn
ich mich schon an meinem ersten Tag verfahre und zu spät
ins Büro komme.«
Sophie war im ersten Moment perplex. »Was soll das? Ist
das Ihre Masche, Frauen aufzureißen? Mit einem Streckennetzplan
im Bus den Ahnungslosen zu mimen?«
Er grinste. »Und wenn ja - hat es denn funktioniert?«
»Nein!«
»War nur ein Scherz«, sagte er lachend. »Ich bin kein Aufreißertyp.«
Er verstummte. »Nicht dass ich Sie für die Art
Frau halte, die ... Na, Sie verstehen schon.«
Sophie schwieg. Was soll's, dachte sie. Soll er doch flirten,
was das Zeug hält. Bei mir ist er an der falschen Adresse. Mit
Männern bin ich durch.
Ein weiterer flüchtiger Gedanke an Garrett, den sie schnell
wieder verbannte.
Der Mann sprach munter weiter. »Mein neuer Chef hat
mir geraten, den Bus zu nehmen. Er meinte, das sei besser,
als im Berufsverkehr im Stau stecken zu bleiben. Inzwischen
bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war.«
Sophie zog den Regenschirm aus der Ritze neben dem
Sitz. »Sind Sie wirklich aus Oregon?«
Er nickte. »Aus Astoria.Von der Küste.«
»Willkommen in Washington«, sagte Sophie betont höf-
lich. »Ich muss aussteigen. Lassen Sie mich bitte raus?« Und
an Evalynn gewandt: »Kommst du?«
Evalynn nickte. Die beiden Frauen standen auf.
Der Mann zog die Knie an den Sitz heran, um Sophie
Platz zu machen. »Warten Sie«, sagte er noch, als sie sich
schon in Richtung Bustür gewandt hatten. »Können Sie mir
wenigstens noch sagen, wie ich nach Seattle komme?«
Sophie beugte sich zu ihm und sagte leise, sodass nur er es
hören konnte: »Hier im Bus sitzen so viele Frauen. Hier ist
Hilfe nah. Und vielleicht beißt sogar eine an.«
Der Fremde schwieg betreten.
»Bist du verrückt geworden? Der Typ war gut!«
Sophie schüttelte den Kopf. »Auf Männer kann ich im
Augenblick sehr gut verzichten. Du weißt ganz genau, dass
ich auch ohne Kerl verdammt glücklich bin.«
»Den Bären kannst du mir nicht aufbinden«, murmelte
Evalynn leise.
Sophie rollte die Augen. »Meinst du? Geht's dir denn jetzt
mit Justin so viel besser als früher?«
»Ich bin glücklich mit Justin«, erklärte Evalynn mit Nachdruck.
Dann hielt sie inne und legte sich die Hand auf den
Bauch. »Nur auf sein Geschenk hier könnte ich gut verzichten.«
Sophie lachte, fragte sich aber unwillkürlich, ob Evalynn
die Bemerkung tatsächlich ernst meinte. Es war nicht
das erste Mal, dass Sophie etwas Derartiges von Evalynn
zu hören bekam.Allmählich machte ihr das Sorgen. Offenbar
hatte ihre Freundin Probleme, sich mit ihrer Mutterschaft
abzufinden. Sophie beschloss, das Thema nicht weiter
zu verfolgen. Früher oder später würde Evalynn es von
selbst anschneiden.
Auf dem Weg zu Sophies Laden plauderte Evalynn munter
weiter, während Sophie, den Schirm geschultert, ihr
mehr oder weniger aufmerksam zuhörte. In Gedanken war
sie längst woanders - eingetaucht in die Erinnerung an
längst vergangene Geburtstage, an den alles entscheidenden
Geburtstag vor genau zwanzig Jahren, ein einschneidendes
Erlebnis mit tragischem Ausgang. Ein Tag, der ihr Leben
drastisch verändert hatte.
Für Sophie der Tag, an dem ihr Leben zerbrach.
Kapitel 2
Schlechte Erinnerungen schärfen das Erinnerungsvermögen.
Du hast ein gutes Gedächtnis.
21. September 1989
JACOB BARNES FUHR sich mit dem Ärmel seines Jacketts
übers Gesicht. Es nützte nichts. Der Schleier vor seinen
Augen wollte einfach nicht weichen, und er fühlte sich,
als würde er jeden Moment wieder ohnmächtig werden.
Ihm schwirrte der Kopf. Dennoch versuchte er, die bruchstückhaften
Erinnerungen an die letzte Viertelstunde zu
einem logischen Ganzen zusammenzufügen. Das half ihm,
einen erneuten Schwindelanfall abzuwehren.
Jacob hatte keine Ahnung, wie er hier an den Straßenrand
gekommen war. Er lehnte sich vorsichtig gegen die Straßenlaterne
und zerrte an seiner Seidenkrawatte. Sie hatte
sich wie eine Schlinge um seinen Hals gezogen. Die Vorderseite
seines italienischen Anzugs war völlig durchnässt,
aber er schob das auf den Dauerregen, der auf ihn niederprasselte
- typisch für Seattle, ein wahrhaftes Feuchtbiotop.
»Großer Gott«, entfuhr es ihm laut, als sich sein Blick etwas
aufklarte und er die Welt um sich herum wieder einigermaßen
deutlich wahrnehmen konnte.
Er sah sich heftig blinzelnd um. Er war für seinen schwachen
Magen bekannt, und das, was er sah und was sich allmählich
aus seinen nebulösen Erinnerungen hervorschob,
verursachte ihm Übelkeit. Tapfer kämpfte er den Drang nieder,
sich zu übergeben.
»Es ist meine Schuld«, flüsterte jemand kleinlaut und mit
Panik in der Stimme ganz in seiner Nähe.
Mit weit aufgerissenen Augen suchte Jacob nach dem
Besitzer der Stimme. Nur wenige Schritte von ihm entfernt
saß neben einem gelben Hydranten allein auf der Bordsteinkante
ein kleines Mädchen. Es wischte sich ebenfalls
mit dem Ärmel übers Gesicht. Die Kleine versuchte vergeblich,
ihre Tränen zu trocknen - angesichts des Dauerregens
ein sinnloses Unterfangen. Ihre Nase und Lippen
waren blutig und geschwollen. Aus einer klaffenden Wunde
an der Wange floss ein rotes Rinnsal über Kinn und Hals auf
ihre weiße Bluse.
Das Mädchen schlang die Arme um die Knie, um sich gegen
den Regen und den ungewöhnlich kalten September-
wind zu schützen. »Ich ... ich wollte doch nur ein S-Stück
Schokolade«, schluchzte es. »Nur e-ein Stück.«
Jacob war noch immer benebelt. Er verlagerte seine Position
an der Straßenlaterne in der Hoffnung, nicht wieder
ohnmächtig zu werden.
»Du hast das angerichtet?«, fragte er verwirrt. »Was hat
denn Schokolade mit all dem zu tun?«
Das Mädchen antwortete auf seine erste Frage mit einem
Nicken. Dann wiegte es den Oberkörper langsam vor und
zurück und sah hinüber zu dem Chaos am Ende der Straße.
Jacob folgte seinem Blick - vorbeifahrende Autos, flackerndes,
zuckendes Blaulicht, glutrot aufsteigende Flammen,
kreuz und quer laufende Polizisten, die versuchten, den Ver-
kehr zu regeln, Feuerwehrleute, die Befehle schrien, Ambulanzfahrzeuge,
Glasscherben, verbogene Metallteile und
Blut - sehr viel Blut. Der Anblick und die Geräusche, ja
selbst die Gerüche des Horrorszenarios drohten seine Sinne
zu überwältigen.
Das Mädchen wandte sich wieder um, sah ihn an, sagte
jedoch nichts.
In diesem Augenblick liefen eine Polizistin und ein Rettungssanitäter
über die Straße auf sie zu. Einen Augenblick
lang befürchtete Jacob, weil er und das Mädchen so weit
vom Unfallgeschehen entfernt waren, mochten die beiden
sie fälschlicherweise für Gaffer und nicht für Unfallopfer
halten. Doch dann rief der Rettungssanitäter ihm zu: »Ich
helfe Ihnen, Sir. Setzen Sie sich bitte.«
Hastig stellte der Sanitäter seinen Erste-Hilfe-Koffer auf
den Boden, schlang einen muskulösen Arm um Jacobs Taille
und schob ihn behutsam auf den Bordstein nieder. »Tun Sie
mir einen Gefallen? Heben Sie Ihre linke Hand über den
Kopf, und halten Sie den Arm so, bis ich das Verbandsmaterial
ausgepackt habe. Schaffen Sie das?«
Die seltsame Bitte des Rettungssanitäters verwirrte Jacob
weit mehr als das junge Mädchen und seine Behauptung,
ein Stück Schokolade habe den Unfall verursacht. »Weshalb?
Mit mir ist alles in Ordnung. Sehen Sie das nicht?
Helfen Sie dem Kind - die Kleine sieht ziemlich mitgenommen
aus.«
»Sir, würden Sie ...«
»Ich heiße Jacob.«
»Also gut, Jacob. Sie haben einen Schock. Und Sie haben
vermutlich viel Blut verloren. Ich möchte verhindern, dass
Sie noch mehr ...«
»Blut? Wo denn? Wieso ich?«
© Weltbild
Sie nahm beide Hände vom Lenkrad und verschränkte
die Arme vor der Brust unterhalb des Namensschildes und
dem Emblem des Puget-Sound-Verkehrsbundes auf ihrem
gestärkten Baumwollhemd.
Eins...
Tiefes Ausatmen, ein Seufzer, ein enttäuschtes Kopfschütteln
und dann ...
Zero!
»Sie schon wieder? Was ist eigentlich Ihr Problem, Miss?
Lassen Sie das Ding endlich zu Hause! Ist doch ein wunderschöner
Montagmorgen!«
Sophie grinste in sich hinein, während sie ihren Schirm
gegen eine Haltestange lehnte und die Fahrkarte löste. Dabei
fand sie den Kommentar der Busfahrerin nicht einmal
ansatzweise witzig. Es amüsierte sie lediglich, wie vorhersehbar
die Frau auf sie reagierte.
»Und wenn's doch regnet?«, entgegnete Sophie.
»Sehen Sie ein Wölkchen am Himmel? Seit Wochen hat's
keinen Tropfen geregnet - Gott sei Dank! Toi, toi, toi!« Sie
pochte mit den Fingerknöcheln an die Lenksäule.
Sophie schüttelte den Kopf. Auch wenn sie die Vorhersagbarkeit
der Busfahrerin nicht billigte - was das Wetter
anging, musste sie ihr recht geben. Die Luft war zwar frisch,
doch kein einziges Wölkchen trübte den azurblauen Morgenhimmel
an der Pazifikküste. Der örtliche Wetterbericht
hatte nur Sonne vorhergesagt. Doch Sophie kümmerte das
wenig.
»Man sollte immer vom Schlimmsten ausgehen«, sagte sie
nur halb im Scherz.
»O ja, Miss«, blaffte die Busfahrerin. »Und das genau ist
Ihr Problem.«
Während sich Sophie auf die Suche nach einem Sitzplatz
machte, legte die Busfahrerin den Gang ein und murmelte
noch etwas vor sich hin, aber das Motorengeräusch verschluckte
ihre Bemerkung, und selbst an einem guten Tag
hätte Sophie ihr kein weiteres Gehör geschenkt.
Und ein guter Tag war es mitnichten.
Für Sophie war es der mit Abstand schlimmste Tag des
Jahres, ein alljährlich unabwendbar wiederkehrender Albtraum.
Hätte sie ihren Laden nicht, hätte sie zu Hause, ohne
mit der Wimper zu zucken, die Jalousien dichtgemacht, das
Handy ausgeschaltet, sich ins Bett gelegt und den Tag in
Selbstvergessenheit verschlafen.
Wenn und hätte, dachte Sophie, während sie durch den
Mittelgang zu ihrem Lieblingsplatz im Heck des Busses
wanderte. Nur wenige Pendler aus Gig Harbor machten
sich die Mühe, sich eine Sitzgelegenheit in der rückwärtigen
Hälfte des Busses zu suchen. Auf diese Weise hatte Sophie
die erhöhte Rückbank meistens ganz für sich allein. Sie verbrachte
diese frühmorgendlichen Fahrten gern schweigend
und in Gedanken versunken. Der höhere Sitz im Heck des
Busses verschaffte ihr genügend Distanz zu den morgendlichen
Plauderrunden, auf die sich viele andere so bereitwillig
einließen.
Während der Bus holpernd und schwankend seine Fahrt
fortsetzte, starrte sie auf die vorbeiziehende, üppig grüne
Landschaft und die Schiffe, die mit Kurs auf den Sund aus
dem Hafen ausliefen.Wie immer betrachtete sie prüfend die
Kabel und hohen Pylonen der Tacoma-Narrows- Brücke,
die Gig Harbor und die Olympic-Halbinsel mit dem Festland
des Staates Washington verband.
An den meisten Tagen genügte diese Aussicht durchaus,
um sie von den bitteren Realitäten des Lebens abzulenken.
An diesem Tag gelang dies nicht.
Für Sophie war es ein Tag voller Reuegefühle, und
nichts vermochte die Trauer und den Kummer zu vertreiben,
die dieses besondere Datum alljährlich von Neuem in
ihr weckte. Nicht die Natur, nicht die Segelschiffe, nicht
die Brückenkonstruktion vor den fast blinden Busfenstern
konnte die Vergangenheit vergessen machen. Mein Tag
der Selbstgeißelung, sagte sie sich, als sie ihren Schirm in den
Zwischenraum zwischen Sitz und Heizung schob. Meine
ganz persönliche Inszenierung des Selbstmitleids. Ich kann mich so
elend fühlen, wie ich will, an meinem ...
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sophie!«
Sophie zuckte zusammen. Die lauten Worte rissen sie abrupt
aus den Gedanken. »Was zum Teufel ...«, entfuhr es ihr.
Dann erst erkannte sie die Frauenstimme. »Gütiger Himmel,
Evi! Musst du mich derart erschrecken? Was machst du
denn hier?« Sophie ignorierte die neugierigen Blicke einiger
Pendler, die ihre Hälse reckten und sich zu den beiden
Frauen umdrehten.
»Überraschung! Und die ist mir offensichtlich gelungen.«
Evi lächelte entwaffnend, zwinkerte ihr zu und ließ sich
eine Reihe vor ihr auf einen freien Platz fallen.
Sophie musterte sie mit gespielter Missbilligung. »Prima
Idee«, sagte sie trocken. »Meine beste Freundin überfällt
mich hinterrücks und noch dazu in aller Öffentlichkeit mit
Glückwünschen. Du hättest mir genauso gut auflauern und
mich umbringen können! Und alles nur, um mich an ein
bestimmtes Datum zu erinnern.«
Evi strahlte unverdrossen. »Als ob ich dich daran erinnern
müsste«, stichelte sie. »Und hinterrücks war das schon
gar nicht. Ich bin zwei Haltestellen vor dir eingestiegen. Du
hast mich in deinem morgendlichen Tran einfach übersehen.
Ich habe vergeblich versucht, mich bemerkbar zu
machen.« Evi wurde ernst. »Ach, Schwamm drüber. Du hast
Geburtstag, und deshalb verzeihe ich dir.«
»Mein Geburtstag ... der schlimmste Tag des Jahres.«
»Blödsinn«, entgegnete Evi fröhlich. »Wir wissen beide,
dass der schlimmste Tag schon eine Ewigkeit her ist. Heute
ist eine Art Neubeginn! Das Gute ist nah!«
Evi war eine kleine Brünette mit ansteckendem Lächeln,
lebhaftem Humor und einem wunderbar bronzefarbenen
Teint, dem auch der strengste Winter nichts anhaben konnte.
Haarfarbe und Lächeln hatte sie von ihrer Mutter geerbt,
die Hautfarbe von ihrem lateinamerikanischen Vater, den sie
jedoch nie kennengelernt hatte. Ihr Humor half ihr durch
alle Stürme des Lebens hindurch, und sie gehörte zu dem
kleinen Personenkreis, dem Sophie bedingungslos vertraute.
Zu Sophies Kummer war aus ihrer Freundin Evalynn
Marion Mason vor Kurzem Evalynn Marion Mason-Mack
geworden. Das sechs Monate alte Anhängsel an ihrem Namen
war das Resultat ihrer Eheschließung mit Justin Mack,
ihrem Freund aus Collegezeiten. Sophie hatte nichts gegen
Justin, im Gegenteil: Sie freute sich für ihre Freunde.
Doch das Glück der beiden weckte in ihr zunehmend das
Gefühl, ihr eigenes Leben verpasst zu haben; ein Gefühl,
das geradezu beklemmend geworden war, seit Evalynn
vor zwei Monaten ihre Schwangerschaft bekannt gegeben
hatte.
Rein äußerlich waren Evi und Sophie so unterschiedlich
wie Tag und Nacht. Evi war klein. Sophie war groß.
Evi hatte glattes braunes Haar und trug einen kurzen Bob,
während Sophies goldblonde Locken ihr unbändig über die
Schultern fielen. Evi war der kontaktfreudige, Sophie der
eher zurückhaltende Typ. Wer die beiden kannte, musste
einfach davon ausgehen, dass ihre Freundschaft auf dem
Prinzip »Gegensätze ziehen sich an« beruhte. Doch sowohl
Sophie als auch Evalynn wusste, dass dies den Kern ihrer
Beziehung bei Weitem nicht traf. In Wirklichkeit fühlten
sie sich wie Schwestern.Was sie verband, konnte kaum jemand
verstehen, der in normalen Familienverhältnissen
groß geworden war. Denn so unterschiedlich sie äußerlich
auch wirkten, hatten sie doch zweierlei gemeinsam, und das
hielt sie zusammen wie Pech und Schwefel: ein tragisches
Schicksal und ihre Pflegemutter.
Sophie seufzte hörbar. »Ich hasse meinen Geburtstag. Das
weißt du.«
»Stimmt.«
»Du hättest heute Morgen einfach mit deinem Mann im
Bett bleiben und mich in meinem Schmollwinkel allein lassen
sollen.«
»Weiß ich.«
Sophie zog eine Grimasse. »Was willst du dann hier? Und
sag jetzt bloß nicht so etwas wie: ›weil niemand mit seinem
Schmerz gern allein ist‹! Ich bin der lebendige Beweis dafür,
dass das nicht stimmt.«
Evalynn verfiel in den dreisten Ton der Busfahrerin, um
Sophie aufzuheitern: »Wo liegt dein Problem, Miss? Du
weißt genau, dass ich dich an deinem neunundzwanzigsten
Geburtstag nicht allein lasse! Geht's noch? Nächstes Jahr bist
du eine alte Jungfer. Genieß das Leben unter dreißig, solange
noch Zeit ist, Miss!«
»Hör auf! Du machst dich lächerlich.«
Evi entfuhr ein kurzes, leises Lachen. Sie grinste amüsiert.
»Nein, ich mache nur deutlich, wie lächerlich du dich verhältst.
Das kann ich am besten.« Über den Sitz hinweg versetzte
sie der Freundin einen sanften Stoß an die Schulter.
»Komm schon! Lach endlich, Soph! Sei kein Spielverderber!
Schmoll nicht den ganzen Tag! Das ertrage ich nicht.«
Sophie zog fragend die Augenbrauen hoch. Ansonsten
blieb ihre Miene ausdruckslos. »Den ganzen Tag? Was soll
das heißen?«
»Ich habe diese Busfahrt nicht auf mich genommen, nur
um dir zu gratulieren und dann wieder zu verschwinden.
Meine Chefin hat versprochen, heute mit einer Rechtsgehilfin
weniger auszukommen. Ich hab mir also freigenommen.
Ich helfe dir mit deinen Pralinen und dem ganzen
Kram. Heute lasse ich dich nicht allein.«
»Augenblick! Hilfst du mir bei der Zubereitung oder
beim Probieren der Pralinen? Das letzte Mal war der Zweck
deiner Hilfe nicht ganz eindeutig.«
»Du weißt, dass ich deinen Erdnussbuttertrüffeln nicht
widerstehen kann. Gib mir einfach eine Aufgabe, bei der
ich damit nicht in Berührung komme. Außerdem habe ich
noch andere Pläne mit dir. Abgesehen davon, Förmchen zu
füllen und Kirschen in Schokolade zu dippen, habe ich für
den Nachmittag noch etwas Spezielles arrangiert. Vielleicht
vergisst du darüber deinen Geburtstag.«
»Arrangiert? Etwas Spezielles? Gefällt mir irgendwie
nicht.Was hast du vor, Ev?«
Evalynn zwinkerte ihr zu. »Sorry! Es ist eine Überraschung.
Ich schweige wie ein Grab.Wart's ab!«
Die nächste Haltestelle war der Park-and-ride-Parkplatz
am Kinball Drive. Einige Passagiere stiegen dort aus und
um, und ein gutes Dutzend neuer Fahrgäste drängte in den
Bus.
Unter den Neuzugängen entdeckte Sophie ein ihr fremdes
Gesicht. Der Mann trug einen marineblauen Blazer
über einer Khakihose und war fast einen Meter neunzig
groß. Er musste sich bücken, um beim Einsteigen nicht an
die Decke zu stoßen. Sein welliges braunes Haar kringelte
sich leicht im Nacken, und seine strahlend blauen Augen
blitzten übermütig im Morgenlicht.
Das Thema Männer ist für mich ein für alle Mal erledigt,
dachte Sophie bei sich, aber wäre es das nicht ...
Die meisten neuen Passagiere setzten sich auf die erstbesten
freien Sitze. Der Fremde hingegen ließ seinen Blick
auf der Suche nach einem geeigneten Platz auch dann noch
prüfend durch den Bus schweifen, als sich das Fahrzeug
längst wieder in Bewegung gesetzt hatte. Er tat so, als bemerkte
er nicht, wie schuldbewusst Sophie an ihm vorbeizusehen
versuchte.
Mit der Laptoptasche in der einen Hand und einem Streckenplan
des Verkehrsverbundes in der anderen näherte er
sich dem Heck des Busses. Geschickt balancierte er die sanften
Schlingerbewegungen des Fahrzeugs aus.
Sophie wandte den Kopf ab und starrte unbewegt aus dem Fenster.
»Ist hier noch frei?«, erkundigte sich der Fremde einige
Sekunden später höflich und deutete auf den leeren Sitzplatz
neben ihr.
Sophie stellte sich taub und starrte unbeirrt weiter aus
dem Fenster, während Evalynn die Szene amüsiert beobachtete.
Er räusperte sich. »Entschuldigung! Darf ich?«
Evalynn schnaubte durch die Nase, als Sophie sich unvermittelt
umwandte und den Mann ins Visier nahm. »Dies
hier ist ein öffentliches Verkehrsmittel«, erklärte sie kühl.
»Was passt Ihnen nicht an den zahlreichen freien Plätzen
weiter vorne?« Sie nickte in Richtung der leeren Sitzreihen,
die der Mann auf dem Weg in den Rückteil des Busses
passiert hatte.
Der Mann lächelte charmant, setzte sich, legte die Laptoptasche
auf die Knie und entfaltete den Streckennetzplan.
»Die Aussicht von hier oben ist definitiv besser.« Dabei sah
er Sophie direkt in die Augen.
Sophie richtete sich steif auf. Der Typ neben ihr war ein
angenehmer Anblick, entschied sie. Groß. Gut aussehend.
Selbstsicher. Aber dem Vergleich mit Garrett hielt er trotzdem
nicht stand.
Garrett, ihr Exverlobter.
»Machen Sie's sich ruhig bequem. Ich steige eh an der
nächsten Haltestelle aus.«
Der Mann lächelte unbeirrt. »Können Sie mir helfen? Ich
bin neu hier. Bin am Wochenende aus Oregon hergezogen.
Versuche, mich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anzufreunden.
Wie viele Haltestellen sind es noch bis ins Zentrum
von Seattle?«
»Eine ganze Menge«, erwiderte Sophie und gestattete
sich endlich ein Lächeln, allerdings nur, weil der Fremde
sich so offensichtlich auf dem Holzweg befand. »Sie haben
die falsche Linie erwischt. Dieser Bus verkehrt nur zwischen
Gig Harbor und Tacoma. Sie hätten an Ihrer Haltestelle auf
den nächsten Bus warten müssen.«
»Verstehe.« Er nickte mit fragender Miene. »Dann bin ich
hier also verkehrt?«
»Ziemlich verkehrt.«
Der Fremde ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Wie
gut, dass ich wenigstens Sie getroffen habe. Ich meine, wenn
ich mich schon an meinem ersten Tag verfahre und zu spät
ins Büro komme.«
Sophie war im ersten Moment perplex. »Was soll das? Ist
das Ihre Masche, Frauen aufzureißen? Mit einem Streckennetzplan
im Bus den Ahnungslosen zu mimen?«
Er grinste. »Und wenn ja - hat es denn funktioniert?«
»Nein!«
»War nur ein Scherz«, sagte er lachend. »Ich bin kein Aufreißertyp.«
Er verstummte. »Nicht dass ich Sie für die Art
Frau halte, die ... Na, Sie verstehen schon.«
Sophie schwieg. Was soll's, dachte sie. Soll er doch flirten,
was das Zeug hält. Bei mir ist er an der falschen Adresse. Mit
Männern bin ich durch.
Ein weiterer flüchtiger Gedanke an Garrett, den sie schnell
wieder verbannte.
Der Mann sprach munter weiter. »Mein neuer Chef hat
mir geraten, den Bus zu nehmen. Er meinte, das sei besser,
als im Berufsverkehr im Stau stecken zu bleiben. Inzwischen
bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war.«
Sophie zog den Regenschirm aus der Ritze neben dem
Sitz. »Sind Sie wirklich aus Oregon?«
Er nickte. »Aus Astoria.Von der Küste.«
»Willkommen in Washington«, sagte Sophie betont höf-
lich. »Ich muss aussteigen. Lassen Sie mich bitte raus?« Und
an Evalynn gewandt: »Kommst du?«
Evalynn nickte. Die beiden Frauen standen auf.
Der Mann zog die Knie an den Sitz heran, um Sophie
Platz zu machen. »Warten Sie«, sagte er noch, als sie sich
schon in Richtung Bustür gewandt hatten. »Können Sie mir
wenigstens noch sagen, wie ich nach Seattle komme?«
Sophie beugte sich zu ihm und sagte leise, sodass nur er es
hören konnte: »Hier im Bus sitzen so viele Frauen. Hier ist
Hilfe nah. Und vielleicht beißt sogar eine an.«
Der Fremde schwieg betreten.
»Bist du verrückt geworden? Der Typ war gut!«
Sophie schüttelte den Kopf. »Auf Männer kann ich im
Augenblick sehr gut verzichten. Du weißt ganz genau, dass
ich auch ohne Kerl verdammt glücklich bin.«
»Den Bären kannst du mir nicht aufbinden«, murmelte
Evalynn leise.
Sophie rollte die Augen. »Meinst du? Geht's dir denn jetzt
mit Justin so viel besser als früher?«
»Ich bin glücklich mit Justin«, erklärte Evalynn mit Nachdruck.
Dann hielt sie inne und legte sich die Hand auf den
Bauch. »Nur auf sein Geschenk hier könnte ich gut verzichten.«
Sophie lachte, fragte sich aber unwillkürlich, ob Evalynn
die Bemerkung tatsächlich ernst meinte. Es war nicht
das erste Mal, dass Sophie etwas Derartiges von Evalynn
zu hören bekam.Allmählich machte ihr das Sorgen. Offenbar
hatte ihre Freundin Probleme, sich mit ihrer Mutterschaft
abzufinden. Sophie beschloss, das Thema nicht weiter
zu verfolgen. Früher oder später würde Evalynn es von
selbst anschneiden.
Auf dem Weg zu Sophies Laden plauderte Evalynn munter
weiter, während Sophie, den Schirm geschultert, ihr
mehr oder weniger aufmerksam zuhörte. In Gedanken war
sie längst woanders - eingetaucht in die Erinnerung an
längst vergangene Geburtstage, an den alles entscheidenden
Geburtstag vor genau zwanzig Jahren, ein einschneidendes
Erlebnis mit tragischem Ausgang. Ein Tag, der ihr Leben
drastisch verändert hatte.
Für Sophie der Tag, an dem ihr Leben zerbrach.
Kapitel 2
Schlechte Erinnerungen schärfen das Erinnerungsvermögen.
Du hast ein gutes Gedächtnis.
21. September 1989
JACOB BARNES FUHR sich mit dem Ärmel seines Jacketts
übers Gesicht. Es nützte nichts. Der Schleier vor seinen
Augen wollte einfach nicht weichen, und er fühlte sich,
als würde er jeden Moment wieder ohnmächtig werden.
Ihm schwirrte der Kopf. Dennoch versuchte er, die bruchstückhaften
Erinnerungen an die letzte Viertelstunde zu
einem logischen Ganzen zusammenzufügen. Das half ihm,
einen erneuten Schwindelanfall abzuwehren.
Jacob hatte keine Ahnung, wie er hier an den Straßenrand
gekommen war. Er lehnte sich vorsichtig gegen die Straßenlaterne
und zerrte an seiner Seidenkrawatte. Sie hatte
sich wie eine Schlinge um seinen Hals gezogen. Die Vorderseite
seines italienischen Anzugs war völlig durchnässt,
aber er schob das auf den Dauerregen, der auf ihn niederprasselte
- typisch für Seattle, ein wahrhaftes Feuchtbiotop.
»Großer Gott«, entfuhr es ihm laut, als sich sein Blick etwas
aufklarte und er die Welt um sich herum wieder einigermaßen
deutlich wahrnehmen konnte.
Er sah sich heftig blinzelnd um. Er war für seinen schwachen
Magen bekannt, und das, was er sah und was sich allmählich
aus seinen nebulösen Erinnerungen hervorschob,
verursachte ihm Übelkeit. Tapfer kämpfte er den Drang nieder,
sich zu übergeben.
»Es ist meine Schuld«, flüsterte jemand kleinlaut und mit
Panik in der Stimme ganz in seiner Nähe.
Mit weit aufgerissenen Augen suchte Jacob nach dem
Besitzer der Stimme. Nur wenige Schritte von ihm entfernt
saß neben einem gelben Hydranten allein auf der Bordsteinkante
ein kleines Mädchen. Es wischte sich ebenfalls
mit dem Ärmel übers Gesicht. Die Kleine versuchte vergeblich,
ihre Tränen zu trocknen - angesichts des Dauerregens
ein sinnloses Unterfangen. Ihre Nase und Lippen
waren blutig und geschwollen. Aus einer klaffenden Wunde
an der Wange floss ein rotes Rinnsal über Kinn und Hals auf
ihre weiße Bluse.
Das Mädchen schlang die Arme um die Knie, um sich gegen
den Regen und den ungewöhnlich kalten September-
wind zu schützen. »Ich ... ich wollte doch nur ein S-Stück
Schokolade«, schluchzte es. »Nur e-ein Stück.«
Jacob war noch immer benebelt. Er verlagerte seine Position
an der Straßenlaterne in der Hoffnung, nicht wieder
ohnmächtig zu werden.
»Du hast das angerichtet?«, fragte er verwirrt. »Was hat
denn Schokolade mit all dem zu tun?«
Das Mädchen antwortete auf seine erste Frage mit einem
Nicken. Dann wiegte es den Oberkörper langsam vor und
zurück und sah hinüber zu dem Chaos am Ende der Straße.
Jacob folgte seinem Blick - vorbeifahrende Autos, flackerndes,
zuckendes Blaulicht, glutrot aufsteigende Flammen,
kreuz und quer laufende Polizisten, die versuchten, den Ver-
kehr zu regeln, Feuerwehrleute, die Befehle schrien, Ambulanzfahrzeuge,
Glasscherben, verbogene Metallteile und
Blut - sehr viel Blut. Der Anblick und die Geräusche, ja
selbst die Gerüche des Horrorszenarios drohten seine Sinne
zu überwältigen.
Das Mädchen wandte sich wieder um, sah ihn an, sagte
jedoch nichts.
In diesem Augenblick liefen eine Polizistin und ein Rettungssanitäter
über die Straße auf sie zu. Einen Augenblick
lang befürchtete Jacob, weil er und das Mädchen so weit
vom Unfallgeschehen entfernt waren, mochten die beiden
sie fälschlicherweise für Gaffer und nicht für Unfallopfer
halten. Doch dann rief der Rettungssanitäter ihm zu: »Ich
helfe Ihnen, Sir. Setzen Sie sich bitte.«
Hastig stellte der Sanitäter seinen Erste-Hilfe-Koffer auf
den Boden, schlang einen muskulösen Arm um Jacobs Taille
und schob ihn behutsam auf den Bordstein nieder. »Tun Sie
mir einen Gefallen? Heben Sie Ihre linke Hand über den
Kopf, und halten Sie den Arm so, bis ich das Verbandsmaterial
ausgepackt habe. Schaffen Sie das?«
Die seltsame Bitte des Rettungssanitäters verwirrte Jacob
weit mehr als das junge Mädchen und seine Behauptung,
ein Stück Schokolade habe den Unfall verursacht. »Weshalb?
Mit mir ist alles in Ordnung. Sehen Sie das nicht?
Helfen Sie dem Kind - die Kleine sieht ziemlich mitgenommen
aus.«
»Sir, würden Sie ...«
»Ich heiße Jacob.«
»Also gut, Jacob. Sie haben einen Schock. Und Sie haben
vermutlich viel Blut verloren. Ich möchte verhindern, dass
Sie noch mehr ...«
»Blut? Wo denn? Wieso ich?«
© Weltbild
... weniger
Autoren-Porträt von Kevin A. Milne
Kevin A. Milne wurde 1973 in Portland, Oregon, geboren. Nach der Highschool konnte er sich nicht recht entscheiden, was er studieren sollte, und probierte von A wie Arbeitsrecht über P wie Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie und Publizistik bis hin zu Z wie Zahnmedizin ein Dutzend Studienfächer aus, entschied sich am Ende jedoch für einen Wirtschaftsstudiengang an der Penn State University. Heute arbeitet er tagsüber in einem Büro, nachts als Autor und währenddessen und eigentlich immerzu als treusorgender Vater von fünf Kindern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kevin A. Milne
- 2011, 351 Seiten, Maße: 12 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übers. v. Christine Frauendorf-Mössel
- Übersetzer: Christine Mössel
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442377064
- ISBN-13: 9783442377060
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