Gomorrha
Der junge Journalist Roberto Saviano hat in Neapel recherchiert, Beweise geliefert und ein brillantes Buch geschrieben. Wie die Camorra in den Drogenhandel verwickelt ist, Giftmüll verschiebt und Geschäfte mit Billigtextilien macht.
''Roberto...
Der junge Journalist Roberto Saviano hat in Neapel recherchiert, Beweise geliefert und ein brillantes Buch geschrieben. Wie die Camorra in den Drogenhandel verwickelt ist, Giftmüll verschiebt und Geschäfte mit Billigtextilien macht.
''Roberto Savianos Mut kann man nicht genug bewundern. Er hat ein wichtiges Buch geschrieben. Ein unerlässliches.''
Neue Zürcher Zeitung
Gomorrhavon Roberto Saviano
LESEPROBE
Tödliches System
Zwölf Morde binnen weniger Tage und einuntergetauchter Schriftsteller: In Neapel macht das organisierte Verbrechen dasGesetz. Premier Prodi verspricht den »Umbau des Staates«
Von Alexander Smoltczyk
Es ist gefährlich für einenSchriftsteller, zu dicht an der Wahrheit zu schreiben. Vor kurzem noch saß der28jährige Autor Roberto Saviano an der Piazza Dantein Neapel und erzählte, wie Stadtverwaltung und Camorra in Symbiose lebten. Wieeine Kultur der Komplizenschaft und der Resignation gegenüber dem Verbrechenseine Stadt zerfresse. Inzwischen ist SavianosErstlingswerk Gomorrha der Bestsellerdieses Herbstes. Das Buch über die Untergrundökonomie liegt in Italien überallaus. Nur Roberto Saviano ist verschwunden.
Es fing damit an, daß ihm in einer Filiale der neapolitanischenPizzeriakette »Rosso Pomodoro«erklärt wurde, er sei »hier nicht erwünscht«. Dann wurden die Drohungen deutlicher.Seit einigen Wochen lebt der Schriftsteller unter Polizeischutz an einemgeheimen Ort, weit entfernt von Neapel. Die Unterwelt dort ist derzeit zugereizt, um sich ausführlich beschreiben zu lassen. Und sei es literarisch.
Seit dem 22. Oktober sind imStadtgebiet Neapels zwölf Menschen getötet worden. Ein 16 jähriger erstickteseinen Nebenbuhler. Ein Nachwuchskicker starb, weil er mit einem Clanchef verwandtist. Im Vorort Acerra wurde ein Sänger erschossen, ineinem Sportgeschäft eine 45jährige Mutter, die vergangenes Jahr schon ihrebeiden Söhne an die Camorra verloren hatte.
Staatspräsident Giorgio Napolitano gelobte, seiner Geburtsstadt in diesen»schlimmsten Tagen seit langem« beizustehen. Eine halbe Stunde nach der Erklärunglagen zwei Hingerichtete vor der Kaserne der Finanzpolizei von Torre del Greco.
Nicht alle Toten sind dem »System«zuzurechnen, wie die neapolitanische Mafia, die Camorra, genannt wird. UndLokalpolitiker weisen tröstend darauf hin, daß es imVorjahr noch schlimmer gewesen sei.
Doch darum geht es nicht. DerSchrecken, der dem Land in die Glieder gefahren ist, ist der Schrecken des Dejä-vus Nichts hat sich also geändert seit dem letztenKrieg der Clans in der Millionenstadt am Fuße des Vesuv. Wieder liegenJugendliche in Blutlachen, wieder hat niemand etwas gesehen, und im Hintergrundhäufen sich immer noch die Müllberge, als hätte sich der Staat aus dieser Stadtverabschiedet. Der alte Giorgio Bocca,Widerstandskämpfer und Publizist, sagt dazu nur: »Die Camorra hat gewonnen.«
Ein Polizeibericht meldete kürzlich,daß inzwischen kein Bezirk Neapels mehr als befriedetgelten könne. Der Stadtreferent für Kultur, Nicola Oddati,ist ebenso mitten in der Stadt beraubt worden wie die oberste Jugendrichterin Luciana Izzo.
Im August wird einem amerikanischenTouristen die Videokamera entrissen. Beherzte Anwohner sorgen dafür, daß der Täter dem Griff des Überfallenen heil entkommenkann.
Im Oktober kommt es zu einemFlughafenstreik, nachdem ein Crew-Bus auf dem Weg zum Terminal überfallen undaus- geraubt worden war.
Die Camorra hat laut Saviano fünfmal mehr Mitglieder als die Mafia. Sie istnetzartig aufgebaut, ohne »Boss der Bosse«, und deshalb flexibel undunberechenbar. Wenn die Mafia ein Staat im Staate ist, dann ist die Camorra einStaat gegen den Staat.
Der Schriftsteller Roberto Saviano ist in diese Gegenwelt ein- getaucht, monatelang.Er hat erfahren, wie edle Modehäuser in Symbiose mit den Sweatshopsder Clans leben. Wie der Staat mit den Abfallunternehmen der Camorrakollaboriert. Wie die neapolitanische Mafia durch Drogenhandel und viele andereillegale Aktivitäten man spricht von 16 Milliarden Euro Jahresumsatz längstin mittelständischen Unternehmen arbeitet, in Bauunternehmen, Schuhfabriken,Recycling- firmen, Hotels.
Vincenzo »Enzo«Prestigiacomo war ein harmloser Junkie, den jeder imViertel Sanitä kannte und der mit Mutter, Frau, dreiKindern in einer Parterrewohnung in der Via Luigi Settembriniwohnte. Am vergangenen Montag lag er zwischen der »Algida«-Eistruheder Marino-Bar und dem Muttergottesschrein im St.-Gennaro-Tor,tot, hingerichtet von zwei Killern auf einem Motorrad. Sie trugen das istungewöhnlich in Neapel Integralhelme und entkamen unerkannt. Prestigiacomo hatte sich nichts zuschulden kommen lassen.Nur trägt seine Frau Celeste den falschen Mädchennamen: MissoPeppe »Langnase« Misso ist der Camorra-Chef desStadtzentrums von Neapel, ein alter Mann, der der militanten Rechten nahe- stehtund seit vielen Jahren im Gefängnis sitzt. Die Enttäuschung seines Lebens wardie Homosexualität seines einzigen Sohnes. So mußteer seine Neffen als Nachfolger aufbauen, drei Brüder mit den Kampfnamen Emiliano Zapata, Ben Hur undJesus von Nazareth.
Zapata ist im Februar verhaftet worden.Die Ermittler vermuten deshalb, eine andere Camorra-Familie, die Sequino- Torinos, wollten dieSchwächung der Missos ausnutzen und ihrDrogengeschäft erweitern. Eine andere Quelle meint, die jungen Missos hätten den Drogenhandel im Innenstadtviertel Sanitä neu ordnen wollen, gegen den Willen des Alten. Schließlichwar der Tote auch mit dem Torino-Clan verwandt. Aufjeden Fall war der Tod des Vincenzo Prestigiacomo ander Porta San Gennaro keine Rache. Nur eineBotschaft.
In der mit Papstfotos und wehmütigen»Bella Napoli«- Drucken tapezierten Pizzeria vor demTatort stehen vier Kellner, vor sich ausgebreitet die Morgenausgabe des 11Roma. Sie kannten den Toten. »Panne ? Ein Toter ist nie eine Panne«, meintSalvatore. »Das gibt eine Reaktion«, sagt sein Kollege. Er fürchtet, daß wieder Unschuldige unter den Opfern sein werden wiebeim letzten Clankrieg in den Randbezirken Scampiaund Secondigliano.
Damals, zum Jahresbeginn 2005,hatten Abtrünnige des Di-Lauro-Clans ihrem Chef einenTeil der Drogeneinnahmen verweigert und waren vom Juniorboss mit bis dahin unbekannterBrutalität verfolgt worden. Der Bürgerkrieg in den Vorstädten forderte überhundert Tote. Aber die Treulosen behielten ihre Pfründen.
Das hätte, meint Saviano,andere Camorristen ermutigt, es ebenfalls mit derSelbständigkeit zu versuchen. Man müsse nur mit derselben Brutalitätzuschlagen, so die Lehre. Der Autor ist in seinem Versteck dieser Tage nur fürwenige Freunde zu erreichen. Sie erzählen, es werde noch viele Tote geben indiesem Jahr.
Premierminister Romano Prodi kam am Totengedenktag nachNeapel, einem windigen, kalten Donnerstagmorgen. Die Regierung in Rom mußte sich Kritik anhören, sie habe durch einAmnestiegesetz die Kleinkriminellen wieder auf die Straße gebracht und mitihrem Sparhaushalt die Städte finanziell stranguliert.
Rom werde Neapel nicht aufgeben,sagte Prodi und kündigte einen weiteren umfassenden»Plan für Neapel« an, »einen Umbau des gesamten Staates und nicht allein derPolizei«. 135o Beamte sollen aus den Büros auf dieStraßen abkommandiert oder neu eingestellt werden. Die Videoüberwachung desZentrums wird ausgebaut. »Das Militär ist zur Stunde nicht notwendig«, erklärteProdi den Bürgern der Stadt. Es sollte beruhigendwirken.
Der Staatsanwalt RaffaeleCantone fordert statt des Heeres Arbeitsbedingungen,die denen der Camorra gleichkommen: »Es kann nicht klappen, wenn in den BürosKopierpapier fehlt und in den Autos der Justizpolizei kein Benzin ist.« Vicenzo Di Lauro,Sohn des Superbosses von Scampia, wurde versehentlichfreigelassen, weil die Fotokopie seiner Anklageschrift nicht zu lesen war.
Innenminister Giuliano Amatoversprach bei seinem Besuch am Freitag Besserung und schickte zusätzliche 1000Polizisten. Zuvor hatte er den illegalen Mopedfahrern Neapels den »wütendenund erbarmungslosen« Krieg erklärt, würden doch die meisten Verbrechen vonnicht ordnungsgemäß angemeldeten Motorrädern aus verübt.
An der Kirche St. Maria Donnareginawohnt, hinter einer Tag und Nacht beleuchteten Stahltür, ein Greis mit zurückgekämmtemHaar und braunen, hasenartig vorstehenden Schneidezähnen: Umberto Misso, einst Herrscher über den neapolitanischenTabakschmuggel und Bruder des inhaftierten Paten Peppe »Langnase« Misso. Auch Umberto Misso hat 20 Jahreabgesessen. Tags zuvor hat er seinen Schwiegersohn Vincenzo begraben »ohnekirchliche Zeremonie«, wie er erwähnt. »Ich bin zerstört und müde«, sagt er.Und daß es so etwas früher nicht gegeben hätte.
Am vergangenen Dienstag tat Misso etwas, dessen er sich immer geschämt hätte. Er gingzur Polizei. Er erstattete Anzeige gegen diejenigen, die er für die Mörderseines Schwiegersohns hält. Das hätte er früher nie getan. Es sind ebenhärtere Zeiten, jetzt.
Der Spiegel vom 6. November 2006
© Carl HanserVerlag
Übersetzung: Friederike Hausmann undRita Seuß
Friederike Hausmann, geboren 1945, Studium der Geschichte und Altphilologie in Berlin. Nach Promotion tätig als Lehrerin. Nach langjährigem Aufenthalt in Italien lebt sie heute als Autorin und Übersetzerin in München. Als Italien-Expertin schreibt sie für den Rundfunk sowie überregionale Tages- und Wochenzeitungen.Rita Seuß arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren mit Bernhard Jendricke zusammen. Gemeinsam haben sie neben Romanen von Clare Clark Werke von Gore Vidal, Peter Heather und Jeremy Scahill ins Deutsche übertragen.
- Autor: Roberto Saviano
- 2008, Nachdr., 364 Seiten, Maße: 13 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Hausmann, Friederike; Seuß, Rita
- Übersetzer: Friederike Hausmann, Rita Seuß
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446209492
- ISBN-13: 9783446209497
- Erscheinungsdatum: 25.08.2007
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