Halbmondnacht / Werwolf-Trilogie Bd.2
Roman
Jessica McClain ist die einzige Werwölfin der Welt + das allein bringt schon so manches Problem mit sich. Doch nun gehen auch noch Gerüchte um: Nach einer jahrhundertealten Prophezeiung könnte Jessie zur Herrscherin alles...
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Produktinformationen zu „Halbmondnacht / Werwolf-Trilogie Bd.2 “
Jessica McClain ist die einzige Werwölfin der Welt + das allein bringt schon so manches Problem mit sich. Doch nun gehen auch noch Gerüchte um: Nach einer jahrhundertealten Prophezeiung könnte Jessie zur Herrscherin alles Übernatürlichen geboren sein. Das macht sie vor allem bei den Dämonen nicht gerade beliebt ...
Klappentext zu „Halbmondnacht / Werwolf-Trilogie Bd.2 “
Jessica McClain ist die einzige Werwölfin der Welt - das allein bringt schon so manches Problem mit sich. Doch nun gehen auch noch Gerüchte um: Nach einer jahrhundertealten Prophezeiung könnte Jessie zur Herrscherin alles Übernatürlichen geboren sein. Das macht sie vor allem bei den Dämonen nicht gerade beliebt ...
Lese-Probe zu „Halbmondnacht / Werwolf-Trilogie Bd.2 “
Halbmondnacht von Amanda Carlson Kapitel Eins
Ich war sauer. Das Messer an meiner Kehle war Grund genug, fand ich. »Was soll das werden? Willst du mich auf den Arm nehmen?« Ich konnte nicht sehen, wer hinter mir stand, aber es roch ganz schwach nach faulen Eiern. Einen Herzschlag später witterte ich die Andersartigkeit meines Angreifers. Ich spürte sie auf der Haut, als würde mich jemand streicheln, bei dem ich gern darauf verzichtet hätte. Meine Finger schlossen sich um den Griff der Autotür.
Für derartigen Schwachsinn hatte ich jetzt wirklich keine Zeit. »Schnauze, Miststück!«, zischte es wenige Zentimeter von meinem Ohr entfernt. »Du zahlst jetzt für das, was du ...«
Schneller, als ein Mensch der Bewegung hätte folgen können, riss ich den Ellenbogen hoch und platzierte ihn, während ich herumwirbelte, sauber im Gesicht meines Angreifers. Mit der anderen Hand packte ich ihn am Hals und knallte ihn mit Wucht auf die Motorhaube des Autos neben mir. Mist, das würde eine Delle hinterlassen. Rasch sah ich mich um. Zum Glück kam gerade niemand vorbei. »Was hast du für ein Problem?«, schnarrte ich. »Sieht nicht so aus, als könntest du noch was von mir wollen! «
... mehr
Aus wässrigen Augen starrte mich der Kobold an. Er blinzelte nur ein einziges Mal. Definitionsgemäß war ein Kobold halb Mensch, halb Dämon. Dieses Exemplar hier war jedoch ein gutes Stück mehr Mensch, weshalb keiner meiner neu erwachten Sinne auf ihn reagiert hatte. Übernatürliches von derart schwacher Ausprägung musste in unmittelbarer Nähe sein, damit ich seine Andersheit wahrnahm. Der Kobold war keine Gefahr für mich. Er nervte nur wie ein lästiges Insekt. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt, dass der Kerl auch noch viel mehr nach schmutzigem Penner stank, als nach einem Dämon jedweder Art.
Ich musterte ihn. Es überraschte mich nicht, dass er dem Kobold ähnlich sah, den ich letzte Woche erledigt hatte. Aber dieser hier konnte Drake Jensen nicht das Wasser reichen. Er war viel schwächer. Vielleicht ein entfernter Verwandter, der auf Rache aus war?
Rachsüchtige kleine Bastarde, diese Dämonen.
»Dann ...«, gurgelte er mühsam hervor, da ich ihm gerade die Kehle zudrückte, »stimmt ... es ...«
»Stimmt was?« Ich lockerte meinen Griff um seinen Hals ein wenig, damit er Luft zum Reden bekam. Als er mir trotzdem die Antwort schuldig blieb, packte ich ihn vorn am Hemd, riss ihn hoch und schleuderte ihn gegen mein Auto. »Mir läuft gerade die Zeit weg. Also, lässt du jetzt noch eine Antwort rüberwachsen?« Ich schüttelte ihn ordentlich durch, um meinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Er sollte wissen, dass er gar keine andere Wahl hatte, als mit der Sprache herauszurücken.
In seinen Augen blitzte Überraschung auf, begleitet von einem Lächeln, das Zähne entblößte, die für Menschenzähne ein wenig zu spitz waren. Ich knallte ihn noch einmal gegen die Seitentür und nagelte ihn, den Unterarm quer über seiner Kehle, an der Dachkante fest. Dabei hoffte ich, er würde eine Antwort ausspucken, ehe es richtig unerfreulich für ihn würde und er noch ganz andere Dinge würde von sich geben müssen. »Hör zu«, sagte ich, während er weiterhin beharrlich schwieg, »die letzten Tage waren ein bisschen stressig für mich. Ich bin einfach nicht in der Stimmung, mich vom erstbesten Übernatürlichen anmachen zu lassen, klar? Wenn du mir meine Frage nicht beantwortest, wird unsere kleine Auseinandersetzung für dich nicht gut ausgehen. Also, ich frage dich jetzt noch mal: Was stimmt?« Sein fettiges braunes Haar wischte ihm über die Schultern wie die spärlichen Borsten eines schmuddeligen alten Besens, als ich ihn in eine für mich etwas angenehmere Position brachte. Was war nur los mit diesen Kobolden? Nicht zu duschen schien unter ihresgleichen so etwas wie eine Gewerkschaftsvorschrift zu sein.
»Ich wusste nicht, dass du sie bist«, krächzte er schließlich. Sein Mundgeruch, metallisch wie ein schmutziger Penny, stach mir in die Nase. Ich nahm meinen Arm von seiner Halsschlagader. »Ich wollte bloß meinen Cousin rächen. Aber jetzt rieche ich dich und weiß, wer du bist. Es gehen Gerüchte um. Du kannst dich nicht mehr vor uns verstecken. Wir finden dich. Überall.«
Mich finden? Meine Wölfin erwachte, drang in mein Bewusstsein, kaum dass sie die Drohung, die in diesen Worten lag, gespürt hatte. Ich versteckte mich vor niemandem und schon gar nicht vor Kobolden. Aber anscheinend war mein Geheimnis keines mehr. Womöglich wusste bereits die ganze Welt, dass ich der einzige weibliche Werwolf auf weiter Flur war. Ideal war das nicht gerade, aber mich fragte ja sowieso keiner.
Einen Sekundenbruchteil nach dieser Antwort waren meine Fingernägel widernatürlich spitz und lang geworden. »Was weißt du über mich?« Drohend näherte ich mich Drakes Cousin und atmete seinen widerlichen Gestank ein. Der Gedanke, dass dieser Schwachkopf mehr über mich wusste als ich selbst, stellte mein Mitgefühl für ihn in jeder Hinsicht auf eine harte Probe. »Kobold, du hast drei Sekunden, ehe meine Wölfin das Ruder übernimmt. Und ich garantiere dir, dass dir nicht gefallen wird, was sie dir zu sagen hat.« In meinem Bewusstsein knurrte sie Zustimmung, und ich ahmte um des Effekts willen den Laut nach.
Anstatt mir zu antworten, warf sich der Kobold mir entgegen und versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien. Seine plötzliche Gegenwehr erwischte mich unvorbereitet. Um das Gleichgewicht zu behalten, war ich gezwungen, einen Ausfallschritt nach hinten zu machen. Trotzdem hielt ich den Kerl nach wie vor fest.
Er hatte nicht genug Kraft, und meine Arme waren bereits zu Schmiedehämmern geworden, die mit eiserner Faust darauf warteten, auf den schmierigen, verfilzten Schopf des Kobolds niederzufahren. »Mir reicht's jetzt, du Depp von einem Dämon!« Noch einmal schüttelte ich ihn ordentlich durch. »Du machst jetzt das Maul auf, ob du willst oder nicht!« Um meiner Aufforderung mehr Nachdruck zu verleihen, grub ich meine Nägel in seinen Hals. »Du kannst jetzt gleich damit rausrücken, oder du wartest, bis du meinem Alpha gegenüberstehst. Und der hat sehr viel weniger Geduld als ich.«
»Du wirst nicht über uns herrschen ... Dreckstück!«, spie er mir entgegen. Aus seinen Halswunden sickerte Blut. »Wir sind mächtiger als du. Wir werden nie vor dir kuschen. Eine Abscheulichkeit wie du kann uns nichts anhaben!«
Herrschen? »Wovon zum Henker redest du?« Er sprach ganz offenkundig nicht von der Herrschaft über die Menschheit. Als meine Augen plötzlich in einem bedrohlichen Violett erglühten, zuckte er erschrocken zurück. »Sperr jetzt mal die Ohren auf und hör mir genau zu: Ich will nichts mit euch Dämonen zu tun haben, mit eurer ganzen Art nicht! Jetzt nicht und auch nicht in Zukunft! Über euch zu herrschen, würde mir nichts bringen: Ich bin eine Wölfin, und Dämonen leben in der Unterwelt.« Einem Ort, den niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, freiwillig aufsuchen würde. »Und glaub mir, Kobold, was das angeht, ändere ich meine Meinung nicht. Es gibt nichts an deiner Art, was mich reizen könnte, nähere Bekanntschaft mit euch zu machen.« Stinkende, ungewaschene Schwachköpfe, allesamt.
Er öffnete den Mund. Seine fleckigen Zähne und sein metallisch stinkender Atem waren für mich gleich in mehrfacher Hinsicht kaum zu ertragen. »Wir strecken dich nieder, ehe du auch nur einen Fuß in die Nähe des Throns von Astaroth setzen kannst! Die Prophezeiung wird sich nicht erfüllen, niemals! Denn du wirst schon bald tot sein«, höhnte er, obwohl er kaum Luft bekam. »Du wirst die Macht der Unterwelt nicht brechen. Wir kommen ...«
Ein Faustschlag gegen die Schläfe, und er sank zu Boden wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitten hatte. »Ach ja? Bitte schön. Du wirst dich hinten anstellen müssen, Kumpel, denn hier scheint jeder irgendwas von mir zu wollen, und ich bin sowieso schon spät dran.«
Ich öffnete den Wagenschlag und verfrachtete den Kobold auf den Rücksitz. Er atmete, aber es würde eine Weile dauern, bis er sich von diesem K.o.-Schlag erholt hatte. Unliebsame Überfälle wurden allmählich zur Gewohnheit, aber wenigstens hatte dieser Angreifer kein geiferndes, mit zehn Zentimeter langen Hauern bestücktes Maul. Ich ließ mich auf den Fahrersitz gleiten.
Jetzt musste ich nur noch herausfinden, warum jeder Übernatürliche, egal von welcher Art, mehr über mich zu wissen schien als ich.
»Was hast du gesagt?« Ich sprang so hastig auf, dass mein Stuhl gegen die Wand des Konferenzzimmers krachte. »Wessen Zweite Ankunft? Und wann ... war die erste?«
Devon warf meinem Vater, Callum McClain, einen Blick zu, der Panik verriet. Vielleicht war Panik zu schieben auch angebracht und der Rudelführer der U.S. Northern Territories der rechte Mann, um sich die nötige Unterstützung zu holen. Devon, mein Vater und ich hatten an dem großen Tisch im Konferenz- raum meiner Detektei gesessen. Die Hände meines Vaters lagen immer noch zusammengefaltet auf der Tischplatte. Er wirkte wie die Ruhe selbst, beherrscht; genau der Richtige, um Verantwortung zu übernehmen. Mit einem Kopfnicken forderte er Devon auf, weiterzusprechen, während ich um den Tisch herumtigerte. Die Angst, die Devon, das rudeleigene Computergenie, wie eine Aura umgab, machte meine Wölfin nervös.
Er räusperte sich, ehe er fortfuhr: »Ähm, nun, nach dem, was hier steht ...« Ich blieb hinter ihm stehen und beugte mich über seine Schulter. Ich wollte selbst lesen, was auf dem Bildschirm stand. Der Text schien von einem Foto zu stammen, und zwar von einem, das nicht gerade sonderlich scharf war. Das abgebildete Pergament sah brüchig und uralt aus, die Tinte war verblasst. Es wirkte beinahe, als wäre sie irgendwann, bevor das Dokument fotografiert wurde, mit einer scharfen Klinge abgeschabt worden.
Die Prophezeiung von des wahren Lykans Erweckung
Auf Erden wird wieder wandeln die Eine,
geboren zur Herrschaft über alle,
Verborgen in wahrer Gestalt,
der schlafenden Bestie Versteck und Falle,
Von diesem Tage an, so sei's,
zahlen wahrlich die Kinder der Nacht,
Unter allwaltender Herrschaft der Einen die Gerechtigkeit erwacht,
Sie herrscht über Leben und Tod,
niemand kann ihr gleichen,
Denn ihr, dem wahren Lykan,
muss alles Böse weichen.
Ich wandte mich ab und marschierte wieder ruhelos durch das Zimmer. »Was da steht, ergibt doch keinen Sinn. Sollte an der Prophezeiung etwas dran sein, warum haben wir Wölfe dann keine eigenen Aufzeichnungen darüber? Das könnte sich auch irgendjemand aus den Fingern gesogen haben; das Ding da kursiert immerhin im Internet, Herrgott noch mal! Das könnten die dilettantischen Ergüsse eines sechzehnjährigen Nerds und Fantasy-Fans sein, der sich eine Geschichte ausgedacht hat, in der eine Werwölfin die Weltherrschaft übernimmt. Wahrscheinlich hat er irgendwo einen Comic mit einer heißen Tussi gesehen, die sich gerade in eine Wölfin verwandelt, und seine Libido ist durch die Decke geschossen.«
Bis mir endlich jemand antwortete, war ich schon wieder zweimal durch den Raum gewandert.
»Tja.« Devon zögerte, sprach dann aber weiter: »Eigentlich ist das nicht die einzige Referenzstelle, die ich gefunden habe ...«
Ich fuhr herum und starrte ihn an. »Wie bitte? Was soll das nun heißen? Etwa, dass das, was in dieser Prophezeiung steht, tatsächlich wahr sein könnte?« Schon spürte ich direkt unter der Haut das impulsive Kribbeln einer bevorstehenden Wandlung; meine Muskeln in Armen und Beinen spannten sich bereits erwartungsvoll an.
Mit Gefühlswallungen tun sich Wölfe nun einmal schwer.
Je heftiger sie sind, desto mehr lösen sie in uns aus. Man könnte sie mit einem brennenden Streichholz vergleichen, das man an eine Butangasflasche mit offenem Ventil hält. Da eine Wölfin zu sein für mich noch neu war, musste ich mich sehr anstrengen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Dabei half es wenig, dass ich übermüdet war und mir Sorgen darüber machte, wie ich Rourke aufspüren sollte. Nicht zu vergessen das klitzekleine Problem, das ich einer durchgeknallten Gottheit verdankte, die mich umbringen wollte und mich mit einem Todesbann belegt hatte, der nun in meinen Adern zirkulierte.
»Ich fürchte, dass es mehr als nur eine vage Möglichkeit ist«, antwortete Devon. »Die Prophezeiung selbst dürfte sehr alt sein und liegt heute daher in verschiedenen, voneinander mehr oder weniger abweichenden Varianten vor. Denn Texte verändern sich im Laufe ihrer mündlichen und schriftlichen Weitergabe, vor allem wenn sie über Jahrhunderte hinweg in eine ganze Reihe von Sprachen übertragen und dabei jedes Mal neu ausgelegt wurden.
Die handschriftliche Quelle, die uns hier als Faksimile zugänglich ist, ist wahrscheinlich eine relativ freie Übertragung der ursprünglichen Prophezeiung.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Bildschirm, auf dem der Text immer noch zu sehen war. »Ich habe in den ältesten Überlieferungen des Rudels nach Referenzstellen zum Wahren Lykan gesucht und mehrere Querverweise gefunden: Es heißt dort, das wahrhaft Fremde werde über die Erde wandeln. Es sei anders als alle und verschaffe mit allwaltender Herrschaft der Gerechtigkeit Geltung. Die Parallele ist klar. Nur wird nirgends, nicht ein einziges Mal in all den Quellen, grammatisch die weibliche Form benutzt. Allerdings fehlt die männliche Form an allen Stellen, wo sie grammatisch eindeutig wäre. Beispiel: es heißt ›mit seiner Hand‹, was männlich, aber auch sächlich sein könnte. Aber statt einem geschlechtsspezifisch eindeutigen ›der wahrhaft Fremde‹ steht da ›das wahrhaft Fremde›: statt Maskulinum also Neutrum. Es wäre daher durchaus möglich, dass es hier um den Lykan geht, der in dem Faksimile genannt wird, ja, sogar um den weiblichen Lykan, von dem dort die Rede ist. Ich für meinen Teil halte es sogar für sehr wahrscheinlich. « Er zeigte auf den Bildschirm und die Prophezeiung. »Diese Webseite ist erst seit weniger als zwölf Stunden online, und der Link ist direkt an mich gemailt worden. Ich habe keine digitale Signatur zurückverfolgen können. Ich weiß nicht einmal, in welchem Land der Ausgangsserver steht. Der genaue Wortlaut der Prophezeiung, der in der übersandten Faksimile-Kopie zu lesen ist, kommt in den Sammlungen der Rechte und Gesetze des Rudels nicht vor. Daher kann ich die Prophezeiung auch nicht für authentisch erklären. Aber es finden sich genügend Formulierungen, aufgrund derer ich annehme, dass die Prophezeiung echt ist und im Kern auch wahr. Zumindest ist sie eine Version der Wahrheit - und eine Spur zu deiner wahren Identität.«
In der Sammlung der Rechte und Gesetze der Werwölfe, unserer Bibel sozusagen, fehlten manche Einträge, andere waren ruß geschwärzt bis zur Unlesbarkeit; der Codex war einem Feuer zum Opfer gefallen, lange bevor er meinem Vater anvertraut worden war. Wenn es eine Art Werwolf-Prophezeiung gegeben haben sollte, war sie vielleicht in diesen Passagen verzeichnet gewesen. Dass Lykaner in unseren Überlieferungen auftauchten, war keine Überraschung. Schließlich waren sie unsere Vorfahren.
Ich blickte meinen Vater an. »Ich bin nicht bereit, das einfach so als wahr zu akzeptieren. Diese sogenannte Prophezeiung sehen wir zum ersten Mal, und das ausgerechnet im Internet. Außerdem ähnelt sie zu sehr dem Kain-Mythos, das kann kein Zufall sein. Die Person, die den Link zur Lykan-Prophezeiung an Devon geschickt hat, wird auch dahinterstecken, dass das Habitat damals von dem Mythos erfahren hat.«
»Wahrscheinlich.« Mein Vater nickte. »Aber beim Kain-Mythos ist klar zu erkennen, dass er auf unsere Art zugeschnitten worden war - nur auf uns. Ziel war es, Hass gegen dich zu säen, vom Tag deiner Geburt an.«
»Aber aus welchem Grund?«, fragte ich. Für eine Intrige gegen mich kam mir das Ganze viel zu kompliziert vor.
»Angst. Wer uns Mythos und Prophezeiung gezielt zugespielt hat, den beunruhigt, dass du, einmal erwachsen, zu stark werden könntest. Und genau das, dass du stark bist, erweist sich ja gerade. Als der Mythos verbreitet wurde, warst du noch ein Kind. Es gab keine Möglichkeit, dich direkt anzugehen. Der beste Weg, dein Ende heraufzubeschwören, war also, dafür zu sorgen, dass die Wölfe dich von Anfang an am liebsten tot sehen würden. Der Kain-Mythos hat als Instrument gegen dich reibungslos funktioniert. Die Wölfe haben ihren Verstand ausgeschaltet und empfinden dir gegenüber nichts als Angst. Du läutest für sie das Ende unserer Art ein. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hättest du deinen sechzehnten Geburtstag nicht erlebt.«
Ich konnte den Kain-Mythos im Schlaf hersagen.
Wenn das Weib in der Haut des Wolfes heranwächst, ist die ungeborene Tochter des Kain zur Welt gekommen; in ihr wird die Bestie schlummern, verborgen sein wird ihre wahre Gestalt; von diesem Tage an werden die Wölfe der Nacht bezahlen; Fleisch und Blut wird ihre machtvolle Hand ihnen von den Knochen ziehen; die Art der Wölfe wird untergehen; wenn die Tochter des Bösen die Herrschaft ergreift.
Den Blick fest auf meinen Vater gerichtet, hob ich fragend eine Augenbraue. »Wenn es in unseren Überlieferungen bereits Hinweise auf den Wahren Lykan gab, warum haben die Rudel dann nicht schon vor einiger Zeit das Puzzle zusammengesetzt und den Mythos auf mich bezogen? Warum erst jetzt?«
Die Augen meines Vaters blitzten violett auf. Ich empfand, was er empfand. Es prickelte in meinen Adern, als das Blut, das wir seit dem Bluteid teilten, in mir zu brodeln begann. Es waren seine Gefühle, viele unterschiedliche, eine ganze Flut davon. Aber vor allem war es Liebe.
»Gerüchte über ein machtvolles Wesen, Y Gwir Lycae, den Wahren Lykan, der sich eines Tages über alle anderen erheben würde, gibt es schon, solange ich denken kann. Sie gehören zu den Märchen, die die Ältesten am Ende langer Tage mit einem Becher Met in der Hand am Feuer zu erzählen pflegten. Ob mir je in den Sinn gekommen ist, dass diese fantastischen Märchen etwas mit meiner Tochter zu tun haben könnten? Nein, niemals. Das wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen. Werwölfe sind eine reine Männergesellschaft, in der allein Stärke zählt. Deine Geburt war eine Anomalie, etwas, das ich immer für etwas Besonderes gehalten habe. Ich habe geglaubt, das Schicksal meine es gut mit uns und eröffne uns die Möglichkeit einer weiblichen Abstammungslinie. Denn ohne eine solche wird unsere Art aussterben. Es gibt nur noch wenige Menschenfrauen, die unseren Nachwuchs austragen können. Ungeachtet des Kain-Mythos und all des Ärgers, der dadurch hervorgerufen wurde, habe ich mich an die Hoffnung geklammert, dass du nicht ohne Grund geboren wurdest. Ich hoffte, dass die Wölfe dich letztendlich doch akzeptieren würden und dich so sehen würden wie ich: als Gewinn für unsere Art. Ich ahnte immer, dass es einen besonderen Grund für deine Existenz geben musste. Aber augenscheinlich ist es nicht ganz der, den ich mir vorgestellt habe.«
»Nein«, sagte ich, »so hat sich das sicher keiner von uns vorgestellt, am wenigsten ich selbst.«
»Nun, damit wäre dazu wohl alles gesagt. Ich für meinen Teil finde, es ist nicht der rechte Zeitpunkt, um mit dem Schicksal zu hadern.« Er klang gelassen, die Stimme fest. »Wenn wir auch in Zukunft handlungsfähig sein wollen - und das wollen wir -, sollten wir uns mit allem Wissen wappnen, das wir zusammentragen können. Und ich stimme mit Devon überein. Der Wortlaut der Prophezeiung in dem an ihn gemailten Link ist nur eine Version von vielen, die auf der ursprünglichen Prophezeiung basieren. Ich will mehr Antworten, und zwar so bald wie möglich.« Mein Vater wandte sich an Devon. »Wenn ich zurückkehre, möchte ich einen umfassenden Bericht, und wenn du in die Alte Heimat reisen musst, um die nötigen Informationen zu bekommen.« In Schottland hatten wir einen Landsitz, der seit vielen, vielen Generationen den McClains gehörte. Es war ein wunderschöner Besitz, eine herrliche, alte Burg voller Antiquitäten und mit einer Bibliothek in den Ausmaßen eines Footballfelds. »Werte sämtliche Quellen und Verweise zu allem aus, was du über Y Gwir Lycaefinden kannst. Es sollten zahlreiche Überlieferungen vorhanden sein. Wenn du damit fertig bist, erwarte ich einen ausführlichen Bericht.«
Devon nickte knapp. »Jawohl, Sir.«
Ich seufzte und massierte mir die Schläfen. »Jetzt habt ihr mich abgehängt. Die Belege dafür, dass die Mythen sich tatsächlich um eine Werwölfin drehen, sind doch eher selten. Und ihr wollt das Risiko, aufzudecken, dass ich die Reinkarnation einer Super-Werwölfin sein könnte, wirklich eingehen? Ihr wollt beweisen, dass ich die prophezeite Herrscherin der Welt der Übernatürlichen bin? Ausgerechnet jetzt?« Na ja, wahrscheinlich gab es dafür nie einen passenden Zeitpunkt. »Und dann sitzt da auch noch ein gut verschnürter und verdammt wütender Cop im Nebenzimmer, um den ich mich neben all dem anderen Mist auch noch kümmern muss - oder sollte ich sagen: den ich beseitigen muss?« Ich rieb mir den Nasenrücken und schüttelte den Kopf. »Vollkommen verrückt das Ganze.«
All das Neue, das in letzter Zeit auf mich hereingestürzt war, brachte mich durcheinander und nahm mich mehr mit, als ich zugeben wollte. Während der ersten paar Tage nach meiner Wandlung zur einzigen Werwölfin der Welt war mir so einiges zugestoßen: Ich war in meinem Zuhause brutal angegriffen worden; mein eigenes Rudel war auf mich losgegangen; ich hatte einen Gefährten gefunden, der nicht Wolf, sondern eine Art Werkatze unbekannter Herkunft war; eine Göttin hatte mich verhext und mir meinen Gefährten wieder genommen; ich war einer Vampirkönigin in die Hände gefallen, die völlig neben der Spur war, und hatte ihr einen Eid geschworen, der mich das Leben kosten könnte. Wenn nun diese sogenannte Prophezeiung einen wahren Kern hatte, würde das in der Welt der Übernatürlichen sofort die Runde machen und Wellen schlagen, gegen die sich jeder Tsunami niedlich ausnähme. Wenn die Katze nicht längst aus dem Sack war. Wer konnte schon wissen, wie viele Personen dieselben Informationen erhalten hatten wie Devon? Es war durchaus möglich, dass man uns den Link mit Absicht als Letzten zugeschickt hatte. Auf jeden Fall ließ es nichts Gutes ahnen, dass dieser stinkende Kobold heute Morgen gleich mehrere Bemerkungen hatte fallen lassen, die sich auf die Prophezeiung bezogen. Und wenn schon so ein kleines Licht davon gehört hatte, dann standen die Chancen gut, dass es bereits alle wussten.
»Jessica«, sagte mein Vater und erhob sich, »wir regeln das. Es ist eine üble Geschichte und alles andere als gut für uns. Aber wir bekommen das in den Griff, keine Frage, so wie wir die Dinge immer in den Griff bekommen haben. Wir sind Wölfe. Wölfe sind Kämpfer - und Sieger.«
»In weniger als fünf Stunden verlasse ich die Stadt.« Ich warf einen Blick auf mein Handgelenk, dabei trug ich schon seit Jahren keine Armbanduhr mehr. Rasch suchte ich den Blick meines Vaters. Seine Besorgnis brachte mein Blut in Wallung und verband sich mit meiner tief sitzenden Angst. »So schnell kriege ich das alles nicht geregelt. Ich brauche einfach mehr Zeit!«
»Tja«, warf Devon ein, »das Ganze hat vielleicht auch eine gute Seite.« Er wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. »Besser die Prophezeiung stimmt als der Kain-Mythos. Denn wenn wir herausfinden, dass du der Wahre Lykan bist, kannst du unmöglich Kains Tochter sein. Das dürfte doch ein bisschen mehr Ruhe ins Rudel bringen, meint ihr nicht?« Er zog die Augenbrauen hoch und nickte. »Richtig?«
Ich funkelte ihn böse an. Devon war kein Wolf, er war ein Reinmensch. Wie so einige von ihnen war er für das Rudel unverzichtbar. Er verfügte über das technische Know-how, das heutzutage nötig und unumgänglich war, deswegen gehörte er dazu. Er war ein netter Kerl und absolut loyal dem Rudel gegenüber. Aber solche dämlichen Kommentare waren das Letzte, was ich jetzt hören wollte.
»Ja, klar doch«, blaffte ich ihn an. »Mein funkelnagelneues Stellenprofil ist um Klassen besser als das alte: Ich überwältige und beherrsche alles Böse. Die Dämonen lieben mich ja jetzt schon heiß und innig, und die Vampirkönigin kann's kaum noch erwarten, mich wieder in die Finger zu bekommen. Mein Leben kann nur noch besser werden, jetzt, da ich jeden Tag meiner allwaltenden Herrschaft für Gerechtigkeit sorgen werde. Ich bringe einfach alle um, die etwas im Schilde führen - was so ungefähr jeden Übernatürlichen mit einschließt.«
Kapitel zwei
»Devon, lass uns jetzt bitte allein«, verlangte mein Vater. Augenblicklich sprang Devon auf und schnappte sich seinen Laptop. In seiner Hast stieß er den leeren Kaffeebecher vom Tisch. Das Klirren des Aufpralls gab ganz wunderbar wieder, wie sich mein Gehirn gerade anfühlte. Meine Wölfin knurrte leise. Ich weiß. Das alles ist ein bisschen viel auf einmal, und wir müssen endlich loslegen. Sie jaulte zustimmend. Nachdem sich die Tür hinter Devon geschlossen hatte, seufzte ich tief. Diesen Seufzer hatte ich schon lange und nur mit Mühe zurückgehalten. »Seit wann hast du geahnt, dass ich anders bin?«, fragte ich meinen Vater ruhig. »Seit ich mich gewandelt habe, muss meine Andersartigkeit doch für dich förmlich mit Händen greifbar gewesen sein.« Mein Vater wandte sich ab und ging um den Tisch herum zu der Reihe von hohen Fenstern, die eine Wand des Konferenzzimmers bildeten. Mit der Hand fuhr er sich durch das schwarze Haar. Als er den Arm beugte, strafften sich seine durchtrainierten Muskeln und zeichneten sich sichtbar unter dem nun sehr eng anliegenden blauen Arbeitshemd ab. »Sicher war ich mir nicht, bis du dich gegen den Eindringling zur Wehr gesetzt hast. Davor hatte ich bloß vage Vermutungen.« Müde wie ich war, ließ ich mich in einen der Sessel fallen, die um den Tisch standen. In meinem Kopf fühlte es sich an wie in einem hoffnungslos überfüllten Lift: Im Augenblick passte sicher kein einziges Fitzelchen Information mehr hinein. Rourke fehlte mir, und das drückte mich nieder, als läge ein Tonnengewicht auf mir. Es nahm mir geradezu die Luft zum Atmen. Wie sehr ich mich nach ihm sehnte, konnte ich nicht in Worte fassen. Das Gefühl war so machtvoll, dass es an die Grenzen des für mich Erträglichen ging. Es gab wirklich schon genug Dinge, über die ich mir Sorgen machen musste. Für fantastische Geschichten über mein absonderliches Ich war einfach kein Platz.
Aber anstatt loszuschimpfen, schwieg ich und wartete darauf, dass mein Vater fortfuhr. Ich wollte unbedingt hören, wie er die Dinge sah.
»Als der Kain-Mythos das erste Mal seinen Weg ins Habitat fand, brach ein regelrechter Aufstand los«, erzählte er, den Blick aus dem Fenster gerichtet. »Es gab massive Sicherheitsbedenken, was dich anging. Gerade du, mit deiner Ausbildung und deinem Beruf, wirst das sicher verstehen. Damals warst du noch ein kleines Kind. Ich habe den Aufstand rasch und unter Einsatz von Gewalt niedergeschlagen. Ich hatte geschworen, dich zu beschützen. Ich habe es mir selbst geschworen - und deiner Mutter.« Meine Mutter starb bei meiner und meines Bruders Geburt. Einen Wolf auszutragen war schon heikel, aber die Geburt von Zwillingen zu überleben war schlichtweg unmöglich. Man hatte mir immer erzählt, es sei ein Wunder gewesen, dass meine Mutter die Schwangerschaft überhaupt bis zum Geburtstermin durchgestanden habe. Annie McClain hatte bis zum letzten Atemzug für ihre Kinder gekämpft. »Nur damit das unmissverständlich klar ist: Ich habe nie geglaubt, am Kain-Mythos sei auch nur ein Wort wahr. Du bist meine Tochter, mein Fleisch und Blut. Aber das Rudel davon zu überzeugen, dass von dir keine Gefahr ausgeht, war schwieriger, als ich je für möglich gehalten hätte. Angst bricht jede Vernunft, wenn sie einen erst im Griff hat. Du bist zwar im Rudel aufgewachsen, doch du warst die ganze Zeit über das lebende Fanal dafür, dass etwas nicht stimmte.« Mein Vater drehte sich zu mir um. »Ich habe mit jeder Faser meines Herzens gehofft, du bliebest ein Mensch. Ich wusste, dass die Gemeinschaft der Übernatürlichen Kopf stehen würde, wenn du die Wandlung durchliefest. Du bist meine Tochter. Mein Bestreben war immer und vor allem, dich zu beschützen.«
Ich hob den Kopf und suchte den Blick meines Vaters. In meinen wie in seinen Augen glühte das gleiche Violett; ein Band, das wie kein anderes bewies, wie nahe wir einander waren. Vor mir stand der Vater, der mich aufgezogen und mich immer bedingungslos geliebt hatte. Dagegen konnte kein Gegenargument, kein Aber etwas ausrichten.
»Ich verstehe, was du mir damit sagen willst«, antwortete ich nachdenklich, und ein Teil meiner Anspannung fiel von mir ab. »Ich weiß, dass du alle Entscheidungen, die mich betrafen, aus Liebe getroffen hast, und diese Entscheidungen haben uns letztendlich hierhergeführt. Aber falls du tatsächlich davon überzeugt bist, die Prophezeiung könnte einen wahren Kern haben, solltest du mir den Grund dafür nennen. Ich muss verstehen, was hier los ist - oder will zumindest so viel verstehen wie möglich, ehe ich die Stadt verlasse. Und viel Zeit bleibt mir nicht mehr.« Dieses Mal konnte ich gerade noch verhindern, auf die nicht existente Uhr an meinem Handgelenk zu schauen.
Mein Vater seufzte und blickte zu Boden. Als er den Kopf hob, war es, als könnte ich für einen Lidschlag tatsächlich sein wahres Alter in seinem Gesicht ablesen. Es lauerte dort in den Falten und Linien um die müde blickenden Augen. Dann blinzelte er, und Müdigkeit und Alter waren wie weggewischt. »Als du dich das erste Mal gewandelt hast, wusste ich sofort, dass etwas anders war. Deine Wölfin hat deine Veränderung signalisiert und das Rudel damit in Alarmbereitschaft versetzt - so läuft es schon immer, und das ist auch richtig so. Aber gleichzeitig hat sie dich mit ihrem Ruf irgendwie ... unterstützt. So etwas ist noch nie geschehen, nicht ein einziges Mal in meinen fünf Jahrhunderten als Alpha. Der erste Ruf, mit dem ein neuer Wolf über den Alpha Verbindung zum Rudel aufnimmt, ist normalerweise urwüchsig, ungezügelt. In diesem Stadium ist ein Wolf normalerweise noch so unbeholfen wie ein Welpe. Aber dein Signal war anders: Es zeigte Intelligenz. In unseren ältesten Überlieferungen heißt es über unsere Lykaner-Vorfahren, sie seien in der Lage gewesen, mit ihrem inneren Wolf in friedlichem Miteinander zu leben. Beide Seiten ihres Wesens hätten miteinander koexistieren können, was sie zu den perfekten Übernatürlichen gemacht hätte: ohnegleichen stark und machtvoll. Du hast mich beim Gedankenkontakt gleich mehrfach abgeblockt, und du hast die Fähigkeit, bei der Wandlung eine Gestalt zwischen Mensch und Wolf beizubehalten - kein anderer Wolf kann das. Damit ist klar, dass du etwas Besonderes bist. Die Zeilen in der Prophezeiung haben mich an die Märchen und Sagen erinnert, die am Feuer über Y Gwir Lycaeerzählt wurden, und mir ging auf, dass diese Geschichten passen. Du, Jessica, bist mehr als ein einfacher Nachkomme unserer Vorfahren. Ich spüre das instinktiv, und ich erkenne es, wenn ich dich ansehe. Es gibt einen Grund dafür, dass unserem Rudel eine Weibliche geboren wurde. Das Schicksal irrt sich niemals.«
Gefühle überfluteten mich.
Ihre Rohheit war neu für mich. Sie schienen an meiner Haut zu zerren und zu reißen, ich fühlte mich, als würde mein ganzer Körper jucken. Meine Wölfin wurde unruhig, wanderte unaufhörlich in meinem Bewusstsein hin und her wie in einem Käfig. Niemals zuvor hatten mein Vater und ich so offen und ehrlich miteinander gesprochen von einem Erwachsenen zum anderen, auf gleicher Augenhöhe. In diesem Moment gab es nur uns zwei, es war so, als hätte die Welt jenseits dieser vier Wände aufgehört zu existieren.
Mein Vater klang so überzeugt von dem, was er sagte. Über unsere Verbindung ging von seiner Gewissheit auch etwas auf mich über. Dennoch war das, was ich derzeit zu verdauen hatte, eine ganze Menge. »Also für mich ergibt die Prophezeiung immer noch keinen Sinn«, sagte ich schließlich. »Ich weiß nicht, vielleicht, weil ich mich nach wie vor normal fühle. Meinem Gefühl nach bin ich unverändert, weder übermächtig noch dazu gerüstet, für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen - ganz besonders nicht unter den Übernatürlichen. Ich bin immer noch ich, nur dass ich jetzt eine leicht reizbare Wölfin im Kopf habe.« Wie um meine Worte zu unterstreichen, schnappte meine Wölfin in die Luft. Für mich deutlich hörbar schlugen ihre Kiefer aufeinander. Ja, doch, ich weiß, dass ich anders bin. Aber ich fühle mich nicht anders, sondern wie sonst auch. Ich habe nicht plötzlich vergessen, wer ich bin und woher ich stamme. So ist das nicht.
»Jessica, ich weiß, das Ganze ist ein Schock für dich. Das ist es für mich auch, und ich bin ein Werwolf-Alpha. Wer und was du bist, ist beispiellos. Bevor wir also entscheiden, was unsere nächsten Schritte sein werden, brauchen wir, wie gesagt, mehr Informationen. Im Licht der letzten Entwicklungen, vor allem angesichts der Andeutungen, die die Prophezeiung macht, bin ich froh darüber, dass du vorerst die Stadt verlässt. Dann wirst du außer Sichtweite und angemessen geschützt sein, das ist exakt das, was ich will.«
Schlagartig galten all meine Gedanken Rourke. »Gut, denn ich will unverzüglich los. Wenn ich zurück bin, sollten wir immer noch genug Zeit haben, um uns neu aufzustellen und herauszubekommen, was diese Geschichte zu bedeuten hat.«
»Ich möchte dir keine Angst machen.« In seiner Stimme lag ein rauer Unterton, aus dem Furcht und Wut sprachen. »Aber du scheinst keine Vorstellung davon zu haben, welche Auswirkungen die Prophezeiung auf die Gemeinschaft der Übernatürlichen haben wird. Diese Neuigkeiten werden einschlagen wie eine Bombe. Eine Gemeinde wird argwöhnischer und massiver reagieren als die andere. Allenthalben werden Furcht und Schrecken unter den Übernatürlichen herrschen, egal welcher Art sie angehören. Wir können diese Reaktionen weder unterdrücken noch wegdiskutieren. Wir stellen uns dem und werden kämpfen. Wir werden kämpfen müssen, bis man unsere Stärke und Macht fürchtet - bis auch der Letzte, der glaubt, uns nicht fürchten zu müssen, davon überzeugt ist, dass wir die stärksten unter den Übernatürlichen sind. Das ist der einzige Weg, um die anderen Rudel und Gemeinden zum Einlenken zu bewegen. Es ist der einzige Weg, den Angriffen, die sich gegen dich richten werden, einen Riegel vorzuschieben. «
Ich wusste, dass er recht hatte. Gerne hörte ich es trotzdem nicht. Mein ganzes Leben hatte ich gehofft und gebetet, dass die Wölfe meinetwegen niemals in den Krieg ziehen müssten. Immer hatte ich gefürchtet, der Kain-Mythos könnte Wirklichkeit werden - die Vorstellung, ich könnte der Auslöser zur Vernichtung meiner Art sein, lastete von jeher schwer auf mir. Jetzt schien es, als wäre ein Krieg tatsächlich unausweichlich. Ironischerweise würden die Wölfe nicht gegen mich, sondern für mich kämpfen. Sie würden den Krieg zu meinem Schutz führen. Jedenfalls, wenn sie der Prophezeiung mehr Glauben schenken würden als dem Kain-Mythos. Das allerdings war keineswegs sicher. »Selbstverständlich tue ich alles, was notwendig ist«, sagte ich resigniert. »Mir bleibt ja keine andere Wahl. Ich kann mich nicht irgendwo für alle Zeiten verkriechen, ebenso wenig, wie ich aus meiner Haut in eine andere schlüpfen und einfach jemand anders sein kann.« Obwohl diese Möglichkeit momentan in meinen Ohren höchst verführerisch klang. »Wenn wir kämpfen müssen, folge ich dir als meinem Anführer.«
Mein Vater nickte und wirkte dabei sehr entschlossen. Gleichzeitig aber war er sehr erschöpft, das stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sicherlich gab es für Väter, soweit es ihre Töchter betraf, einen ganzen Katalog an Aufgaben, die zu erfüllen sie sich zur Pflicht machten. Damit umgehen zu müssen, dass die eigene Tochter das meistgesuchte weibliche Wesen der ganzen Welt war, gehörte gewiss nicht dazu. Aber über Dinge zu lamentieren, die sich nicht ändern ließen, war nie meine Art gewesen. Mich mit philosophischen Betrachtungen im Sinne von Was-wäre-wenn aufzuhalten auch nicht. Aus dieser Geschichte konnte ich nur heil herauskommen, wenn ich den Blick stur geradeaus richtete und endlich in die Hufe kam.
»Wenn du wieder zurück bist«, sagte mein Vater, »entwerfen wir gemeinsam einen Plan und sehen zu, dass wir alle Vorteile nutzen, die sich uns bieten. Sobald wir mehr über die Prophezeiung wissen, werden wir sehen, wo unsere Möglichkeiten liegen. Dann sind wir in der Lage, uns eine gute Verteidigungsstrategie auszudenken.«
»Ich nehme an, du hast für die Zwischenzeit auch einen Plan parat, richtig?«, wollte ich wissen. Mein Vater wäre nie unvorbereitet zu unserer Besprechung erschienen; nicht wenn er bereits gewusst hatte, dass seine Tochter vielleicht der Y Gwir Lycae sein könnte.
»Ja, habe ich.« Mit wenigen großen Schritten ging er vom Fenster wieder hinüber zum Tisch und setzte sich. Er war ein gut aussehender Mann, das Haar rabenschwarz und voll, und obwohl ihm seine Anspannung anzumerken war, wirkte er keinen Tag älter als fünfunddreißig.
Er beugte sich vor und schenkte mir ein dünnes Lächeln. »James und ich haben gestern Abend und in der Nacht noch einige logistische Probleme gelöst. Wir haben sozusagen die Grundlage für einen Plan geschaffen, der uns eine reelle Chance verschaffen sollte, auf die Verbreitung der Prophezeiung angemessen zu reagieren. Um dich vor all den bevorstehenden Gefahren zu schützen, brauchen wir jeden Wolf, den wir bekommen können. Wie sehr wir auch damit rechnen müssen, dass die anderen Gemeinden uns zukünftig Probleme bereiten, dein Schutz ist meine oberste Priorität. Die Wölfe, die sich in jüngster Zeit von beiden US-amerikanischen Rudeln lossagten, haben uns ins Chaos gestürzt. Wir können dich vor Angriffen aus egal welcher Ecke nicht effektiv bewahren, wenn wir uns nicht wieder zusammen raufen. Interne Machtkämpfe schwächen uns und dünnen unsere Reihen unnötig aus.« Er schwieg einen Augenblick und betrachtete nachdenklich seine Hände. Dann hob er den Blick und sah mich an. »Der Überbrückungsplan sieht vor, dass ich etwas noch nie da Gewesenes tue.«
Lange und eingehend musterte ich ihn. Der Anführer eines Rudels zu sein war keine leichte Aufgabe. Dennoch wusste ich, dass alles, was er unternehmen würde, jeder Schritt, den der Plan erforderte, genau berechnet sein und in die richtige Richtung führen würde. »Was immer es ist, ich bin sicher, du hast die bestmögliche Entscheidung getroffen.«
»Gleich nach unserer Besprechung«, erklärte mir daraufhin mein Vater, »reise ich in die Southern Territories und treffe mich mit Redman.«
»Persönlich?«, fragte ich überrascht. Einen anderen Alpha zu treffen, mit dem man sich befehdete, war in der Tat außergewöhnlich, egal, welche Maßstäbe man anlegte. Nach allen Geschichten, die ich in meinem Leben über Red Martin, den Alpha der U.S. Southern Territories, gehört hatte, war er ein brutaler Mistkerl, der mit eiserner Hand über seine Wölfe regierte. »Wie groß ist sein Rudel heute?«
»Es gehören neunundfünfzig Wölfe dazu«, erwiderte mein Vater. Verachtung gab seiner Stimme eine andere Klangfarbe. »Siebenunddreißig Wölfe weniger als noch vor zwanzig Jahren. Ich habe keine Ahnung, wo sie abgeblieben sind. Denn nur wenige sind zu meinem Rudel zurückgewechselt, und keiner ist als Einzelgänger gelistet. Ich vermute, sie sind irgendwo auf der Welt in neuen Rudeln aufgenommen worden. Entweder das, oder es handelt sich um die Wölfe, die sich zu der neuen Splittergruppe zusammengefunden haben. Dann allerdings hätte Red mit voller Absicht Stillschweigen darüber bewahrt. Was auch immer dahintersteckt: Ich habe vor, es ans Licht zu bringen.«
Vor zweihundert Jahren war Redman Martin verantwortlich dafür gewesen, dass das US-amerikanische Rudel auseinandergebrochen war. Er, der den Bruch vorangetrieben hatte, war Alpha des neuen Rudels in den Southern Territories geworden. Als Alpha des ursprünglichen Rudels hätte mein Vater Reds Leben leicht ein Ende setzen können. Stattdessen hatte er zugelassen, dass sein Widersacher ein neues Rudel gründete. Aus gutem Grund: Unruhige, unberechenbare Wölfe machten jedem Alpha das Leben unnötig schwer, und mit Red war noch nie gut Kirschen essen gewesen. Sein schlechter Einfluss hatte das Rudel ja bereits entzweit. Also war es besser gewesen, gar nicht erst zu versuchen, den Riss wieder zu kitten und Unruhestiftern gewaltsam eine Sinnesänderung aufzuzwingen. Nein, mein Vater hatte keine andere Wahl gehabt. Die Wölfe, die unter Reds Führung zusammen mit ihm das ursprüngliche Rudel verlassen hatten, umgab bereits ein ganz bestimmter Geruch von Aufsässigkeit.
Eigentlich war mein Vater gar nicht so traurig darüber gewesen, dass sich diese Querulanten endlich verzogen hatten.
»Glaubst du, Redman könnte hinter der neuen Splittergruppe stecken?«, fragte ich. »Nach allem, was ich im Laufe der Jahre über ihn gehört habe, wäre ihm das durchaus zuzutrauen.«
»Nun, ausschließen lässt sich das momentan noch nicht. Aber der einzige Grund, warum Red meinem Kommen zugestimmt hat, ist ja gerade, um mir zu beweisen, dass er mit der neuen Splittergruppe nichts zu tun hat.« Dad schwieg einen Moment. »Er weiß, dass ein Krieg unmittelbar bevorsteht. Und er weiß, dass der Norden den Süden in einem solchen Bruderkrieg auslöschen würde. Sein Rudel ist bis zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Es ist ihm daher sehr daran gelegen zu beweisen, dass er Verrätern keinen Unterschlupf gewährt. Aber irgendwo müssen sie ja stecken, und Red hat keine Erklärungen dafür geliefert, wo seine fehlenden Wölfe abgeblieben sind. Diese Splittergruppe muss einen Stützpunkt in den USA haben, und der muss nahe genug sein, dass sie im Bedarfsfall rasch zuschlagen können.«
© 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Aus wässrigen Augen starrte mich der Kobold an. Er blinzelte nur ein einziges Mal. Definitionsgemäß war ein Kobold halb Mensch, halb Dämon. Dieses Exemplar hier war jedoch ein gutes Stück mehr Mensch, weshalb keiner meiner neu erwachten Sinne auf ihn reagiert hatte. Übernatürliches von derart schwacher Ausprägung musste in unmittelbarer Nähe sein, damit ich seine Andersheit wahrnahm. Der Kobold war keine Gefahr für mich. Er nervte nur wie ein lästiges Insekt. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt, dass der Kerl auch noch viel mehr nach schmutzigem Penner stank, als nach einem Dämon jedweder Art.
Ich musterte ihn. Es überraschte mich nicht, dass er dem Kobold ähnlich sah, den ich letzte Woche erledigt hatte. Aber dieser hier konnte Drake Jensen nicht das Wasser reichen. Er war viel schwächer. Vielleicht ein entfernter Verwandter, der auf Rache aus war?
Rachsüchtige kleine Bastarde, diese Dämonen.
»Dann ...«, gurgelte er mühsam hervor, da ich ihm gerade die Kehle zudrückte, »stimmt ... es ...«
»Stimmt was?« Ich lockerte meinen Griff um seinen Hals ein wenig, damit er Luft zum Reden bekam. Als er mir trotzdem die Antwort schuldig blieb, packte ich ihn vorn am Hemd, riss ihn hoch und schleuderte ihn gegen mein Auto. »Mir läuft gerade die Zeit weg. Also, lässt du jetzt noch eine Antwort rüberwachsen?« Ich schüttelte ihn ordentlich durch, um meinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Er sollte wissen, dass er gar keine andere Wahl hatte, als mit der Sprache herauszurücken.
In seinen Augen blitzte Überraschung auf, begleitet von einem Lächeln, das Zähne entblößte, die für Menschenzähne ein wenig zu spitz waren. Ich knallte ihn noch einmal gegen die Seitentür und nagelte ihn, den Unterarm quer über seiner Kehle, an der Dachkante fest. Dabei hoffte ich, er würde eine Antwort ausspucken, ehe es richtig unerfreulich für ihn würde und er noch ganz andere Dinge würde von sich geben müssen. »Hör zu«, sagte ich, während er weiterhin beharrlich schwieg, »die letzten Tage waren ein bisschen stressig für mich. Ich bin einfach nicht in der Stimmung, mich vom erstbesten Übernatürlichen anmachen zu lassen, klar? Wenn du mir meine Frage nicht beantwortest, wird unsere kleine Auseinandersetzung für dich nicht gut ausgehen. Also, ich frage dich jetzt noch mal: Was stimmt?« Sein fettiges braunes Haar wischte ihm über die Schultern wie die spärlichen Borsten eines schmuddeligen alten Besens, als ich ihn in eine für mich etwas angenehmere Position brachte. Was war nur los mit diesen Kobolden? Nicht zu duschen schien unter ihresgleichen so etwas wie eine Gewerkschaftsvorschrift zu sein.
»Ich wusste nicht, dass du sie bist«, krächzte er schließlich. Sein Mundgeruch, metallisch wie ein schmutziger Penny, stach mir in die Nase. Ich nahm meinen Arm von seiner Halsschlagader. »Ich wollte bloß meinen Cousin rächen. Aber jetzt rieche ich dich und weiß, wer du bist. Es gehen Gerüchte um. Du kannst dich nicht mehr vor uns verstecken. Wir finden dich. Überall.«
Mich finden? Meine Wölfin erwachte, drang in mein Bewusstsein, kaum dass sie die Drohung, die in diesen Worten lag, gespürt hatte. Ich versteckte mich vor niemandem und schon gar nicht vor Kobolden. Aber anscheinend war mein Geheimnis keines mehr. Womöglich wusste bereits die ganze Welt, dass ich der einzige weibliche Werwolf auf weiter Flur war. Ideal war das nicht gerade, aber mich fragte ja sowieso keiner.
Einen Sekundenbruchteil nach dieser Antwort waren meine Fingernägel widernatürlich spitz und lang geworden. »Was weißt du über mich?« Drohend näherte ich mich Drakes Cousin und atmete seinen widerlichen Gestank ein. Der Gedanke, dass dieser Schwachkopf mehr über mich wusste als ich selbst, stellte mein Mitgefühl für ihn in jeder Hinsicht auf eine harte Probe. »Kobold, du hast drei Sekunden, ehe meine Wölfin das Ruder übernimmt. Und ich garantiere dir, dass dir nicht gefallen wird, was sie dir zu sagen hat.« In meinem Bewusstsein knurrte sie Zustimmung, und ich ahmte um des Effekts willen den Laut nach.
Anstatt mir zu antworten, warf sich der Kobold mir entgegen und versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien. Seine plötzliche Gegenwehr erwischte mich unvorbereitet. Um das Gleichgewicht zu behalten, war ich gezwungen, einen Ausfallschritt nach hinten zu machen. Trotzdem hielt ich den Kerl nach wie vor fest.
Er hatte nicht genug Kraft, und meine Arme waren bereits zu Schmiedehämmern geworden, die mit eiserner Faust darauf warteten, auf den schmierigen, verfilzten Schopf des Kobolds niederzufahren. »Mir reicht's jetzt, du Depp von einem Dämon!« Noch einmal schüttelte ich ihn ordentlich durch. »Du machst jetzt das Maul auf, ob du willst oder nicht!« Um meiner Aufforderung mehr Nachdruck zu verleihen, grub ich meine Nägel in seinen Hals. »Du kannst jetzt gleich damit rausrücken, oder du wartest, bis du meinem Alpha gegenüberstehst. Und der hat sehr viel weniger Geduld als ich.«
»Du wirst nicht über uns herrschen ... Dreckstück!«, spie er mir entgegen. Aus seinen Halswunden sickerte Blut. »Wir sind mächtiger als du. Wir werden nie vor dir kuschen. Eine Abscheulichkeit wie du kann uns nichts anhaben!«
Herrschen? »Wovon zum Henker redest du?« Er sprach ganz offenkundig nicht von der Herrschaft über die Menschheit. Als meine Augen plötzlich in einem bedrohlichen Violett erglühten, zuckte er erschrocken zurück. »Sperr jetzt mal die Ohren auf und hör mir genau zu: Ich will nichts mit euch Dämonen zu tun haben, mit eurer ganzen Art nicht! Jetzt nicht und auch nicht in Zukunft! Über euch zu herrschen, würde mir nichts bringen: Ich bin eine Wölfin, und Dämonen leben in der Unterwelt.« Einem Ort, den niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, freiwillig aufsuchen würde. »Und glaub mir, Kobold, was das angeht, ändere ich meine Meinung nicht. Es gibt nichts an deiner Art, was mich reizen könnte, nähere Bekanntschaft mit euch zu machen.« Stinkende, ungewaschene Schwachköpfe, allesamt.
Er öffnete den Mund. Seine fleckigen Zähne und sein metallisch stinkender Atem waren für mich gleich in mehrfacher Hinsicht kaum zu ertragen. »Wir strecken dich nieder, ehe du auch nur einen Fuß in die Nähe des Throns von Astaroth setzen kannst! Die Prophezeiung wird sich nicht erfüllen, niemals! Denn du wirst schon bald tot sein«, höhnte er, obwohl er kaum Luft bekam. »Du wirst die Macht der Unterwelt nicht brechen. Wir kommen ...«
Ein Faustschlag gegen die Schläfe, und er sank zu Boden wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitten hatte. »Ach ja? Bitte schön. Du wirst dich hinten anstellen müssen, Kumpel, denn hier scheint jeder irgendwas von mir zu wollen, und ich bin sowieso schon spät dran.«
Ich öffnete den Wagenschlag und verfrachtete den Kobold auf den Rücksitz. Er atmete, aber es würde eine Weile dauern, bis er sich von diesem K.o.-Schlag erholt hatte. Unliebsame Überfälle wurden allmählich zur Gewohnheit, aber wenigstens hatte dieser Angreifer kein geiferndes, mit zehn Zentimeter langen Hauern bestücktes Maul. Ich ließ mich auf den Fahrersitz gleiten.
Jetzt musste ich nur noch herausfinden, warum jeder Übernatürliche, egal von welcher Art, mehr über mich zu wissen schien als ich.
»Was hast du gesagt?« Ich sprang so hastig auf, dass mein Stuhl gegen die Wand des Konferenzzimmers krachte. »Wessen Zweite Ankunft? Und wann ... war die erste?«
Devon warf meinem Vater, Callum McClain, einen Blick zu, der Panik verriet. Vielleicht war Panik zu schieben auch angebracht und der Rudelführer der U.S. Northern Territories der rechte Mann, um sich die nötige Unterstützung zu holen. Devon, mein Vater und ich hatten an dem großen Tisch im Konferenz- raum meiner Detektei gesessen. Die Hände meines Vaters lagen immer noch zusammengefaltet auf der Tischplatte. Er wirkte wie die Ruhe selbst, beherrscht; genau der Richtige, um Verantwortung zu übernehmen. Mit einem Kopfnicken forderte er Devon auf, weiterzusprechen, während ich um den Tisch herumtigerte. Die Angst, die Devon, das rudeleigene Computergenie, wie eine Aura umgab, machte meine Wölfin nervös.
Er räusperte sich, ehe er fortfuhr: »Ähm, nun, nach dem, was hier steht ...« Ich blieb hinter ihm stehen und beugte mich über seine Schulter. Ich wollte selbst lesen, was auf dem Bildschirm stand. Der Text schien von einem Foto zu stammen, und zwar von einem, das nicht gerade sonderlich scharf war. Das abgebildete Pergament sah brüchig und uralt aus, die Tinte war verblasst. Es wirkte beinahe, als wäre sie irgendwann, bevor das Dokument fotografiert wurde, mit einer scharfen Klinge abgeschabt worden.
Die Prophezeiung von des wahren Lykans Erweckung
Auf Erden wird wieder wandeln die Eine,
geboren zur Herrschaft über alle,
Verborgen in wahrer Gestalt,
der schlafenden Bestie Versteck und Falle,
Von diesem Tage an, so sei's,
zahlen wahrlich die Kinder der Nacht,
Unter allwaltender Herrschaft der Einen die Gerechtigkeit erwacht,
Sie herrscht über Leben und Tod,
niemand kann ihr gleichen,
Denn ihr, dem wahren Lykan,
muss alles Böse weichen.
Ich wandte mich ab und marschierte wieder ruhelos durch das Zimmer. »Was da steht, ergibt doch keinen Sinn. Sollte an der Prophezeiung etwas dran sein, warum haben wir Wölfe dann keine eigenen Aufzeichnungen darüber? Das könnte sich auch irgendjemand aus den Fingern gesogen haben; das Ding da kursiert immerhin im Internet, Herrgott noch mal! Das könnten die dilettantischen Ergüsse eines sechzehnjährigen Nerds und Fantasy-Fans sein, der sich eine Geschichte ausgedacht hat, in der eine Werwölfin die Weltherrschaft übernimmt. Wahrscheinlich hat er irgendwo einen Comic mit einer heißen Tussi gesehen, die sich gerade in eine Wölfin verwandelt, und seine Libido ist durch die Decke geschossen.«
Bis mir endlich jemand antwortete, war ich schon wieder zweimal durch den Raum gewandert.
»Tja.« Devon zögerte, sprach dann aber weiter: »Eigentlich ist das nicht die einzige Referenzstelle, die ich gefunden habe ...«
Ich fuhr herum und starrte ihn an. »Wie bitte? Was soll das nun heißen? Etwa, dass das, was in dieser Prophezeiung steht, tatsächlich wahr sein könnte?« Schon spürte ich direkt unter der Haut das impulsive Kribbeln einer bevorstehenden Wandlung; meine Muskeln in Armen und Beinen spannten sich bereits erwartungsvoll an.
Mit Gefühlswallungen tun sich Wölfe nun einmal schwer.
Je heftiger sie sind, desto mehr lösen sie in uns aus. Man könnte sie mit einem brennenden Streichholz vergleichen, das man an eine Butangasflasche mit offenem Ventil hält. Da eine Wölfin zu sein für mich noch neu war, musste ich mich sehr anstrengen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Dabei half es wenig, dass ich übermüdet war und mir Sorgen darüber machte, wie ich Rourke aufspüren sollte. Nicht zu vergessen das klitzekleine Problem, das ich einer durchgeknallten Gottheit verdankte, die mich umbringen wollte und mich mit einem Todesbann belegt hatte, der nun in meinen Adern zirkulierte.
»Ich fürchte, dass es mehr als nur eine vage Möglichkeit ist«, antwortete Devon. »Die Prophezeiung selbst dürfte sehr alt sein und liegt heute daher in verschiedenen, voneinander mehr oder weniger abweichenden Varianten vor. Denn Texte verändern sich im Laufe ihrer mündlichen und schriftlichen Weitergabe, vor allem wenn sie über Jahrhunderte hinweg in eine ganze Reihe von Sprachen übertragen und dabei jedes Mal neu ausgelegt wurden.
Die handschriftliche Quelle, die uns hier als Faksimile zugänglich ist, ist wahrscheinlich eine relativ freie Übertragung der ursprünglichen Prophezeiung.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Bildschirm, auf dem der Text immer noch zu sehen war. »Ich habe in den ältesten Überlieferungen des Rudels nach Referenzstellen zum Wahren Lykan gesucht und mehrere Querverweise gefunden: Es heißt dort, das wahrhaft Fremde werde über die Erde wandeln. Es sei anders als alle und verschaffe mit allwaltender Herrschaft der Gerechtigkeit Geltung. Die Parallele ist klar. Nur wird nirgends, nicht ein einziges Mal in all den Quellen, grammatisch die weibliche Form benutzt. Allerdings fehlt die männliche Form an allen Stellen, wo sie grammatisch eindeutig wäre. Beispiel: es heißt ›mit seiner Hand‹, was männlich, aber auch sächlich sein könnte. Aber statt einem geschlechtsspezifisch eindeutigen ›der wahrhaft Fremde‹ steht da ›das wahrhaft Fremde›: statt Maskulinum also Neutrum. Es wäre daher durchaus möglich, dass es hier um den Lykan geht, der in dem Faksimile genannt wird, ja, sogar um den weiblichen Lykan, von dem dort die Rede ist. Ich für meinen Teil halte es sogar für sehr wahrscheinlich. « Er zeigte auf den Bildschirm und die Prophezeiung. »Diese Webseite ist erst seit weniger als zwölf Stunden online, und der Link ist direkt an mich gemailt worden. Ich habe keine digitale Signatur zurückverfolgen können. Ich weiß nicht einmal, in welchem Land der Ausgangsserver steht. Der genaue Wortlaut der Prophezeiung, der in der übersandten Faksimile-Kopie zu lesen ist, kommt in den Sammlungen der Rechte und Gesetze des Rudels nicht vor. Daher kann ich die Prophezeiung auch nicht für authentisch erklären. Aber es finden sich genügend Formulierungen, aufgrund derer ich annehme, dass die Prophezeiung echt ist und im Kern auch wahr. Zumindest ist sie eine Version der Wahrheit - und eine Spur zu deiner wahren Identität.«
In der Sammlung der Rechte und Gesetze der Werwölfe, unserer Bibel sozusagen, fehlten manche Einträge, andere waren ruß geschwärzt bis zur Unlesbarkeit; der Codex war einem Feuer zum Opfer gefallen, lange bevor er meinem Vater anvertraut worden war. Wenn es eine Art Werwolf-Prophezeiung gegeben haben sollte, war sie vielleicht in diesen Passagen verzeichnet gewesen. Dass Lykaner in unseren Überlieferungen auftauchten, war keine Überraschung. Schließlich waren sie unsere Vorfahren.
Ich blickte meinen Vater an. »Ich bin nicht bereit, das einfach so als wahr zu akzeptieren. Diese sogenannte Prophezeiung sehen wir zum ersten Mal, und das ausgerechnet im Internet. Außerdem ähnelt sie zu sehr dem Kain-Mythos, das kann kein Zufall sein. Die Person, die den Link zur Lykan-Prophezeiung an Devon geschickt hat, wird auch dahinterstecken, dass das Habitat damals von dem Mythos erfahren hat.«
»Wahrscheinlich.« Mein Vater nickte. »Aber beim Kain-Mythos ist klar zu erkennen, dass er auf unsere Art zugeschnitten worden war - nur auf uns. Ziel war es, Hass gegen dich zu säen, vom Tag deiner Geburt an.«
»Aber aus welchem Grund?«, fragte ich. Für eine Intrige gegen mich kam mir das Ganze viel zu kompliziert vor.
»Angst. Wer uns Mythos und Prophezeiung gezielt zugespielt hat, den beunruhigt, dass du, einmal erwachsen, zu stark werden könntest. Und genau das, dass du stark bist, erweist sich ja gerade. Als der Mythos verbreitet wurde, warst du noch ein Kind. Es gab keine Möglichkeit, dich direkt anzugehen. Der beste Weg, dein Ende heraufzubeschwören, war also, dafür zu sorgen, dass die Wölfe dich von Anfang an am liebsten tot sehen würden. Der Kain-Mythos hat als Instrument gegen dich reibungslos funktioniert. Die Wölfe haben ihren Verstand ausgeschaltet und empfinden dir gegenüber nichts als Angst. Du läutest für sie das Ende unserer Art ein. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hättest du deinen sechzehnten Geburtstag nicht erlebt.«
Ich konnte den Kain-Mythos im Schlaf hersagen.
Wenn das Weib in der Haut des Wolfes heranwächst, ist die ungeborene Tochter des Kain zur Welt gekommen; in ihr wird die Bestie schlummern, verborgen sein wird ihre wahre Gestalt; von diesem Tage an werden die Wölfe der Nacht bezahlen; Fleisch und Blut wird ihre machtvolle Hand ihnen von den Knochen ziehen; die Art der Wölfe wird untergehen; wenn die Tochter des Bösen die Herrschaft ergreift.
Den Blick fest auf meinen Vater gerichtet, hob ich fragend eine Augenbraue. »Wenn es in unseren Überlieferungen bereits Hinweise auf den Wahren Lykan gab, warum haben die Rudel dann nicht schon vor einiger Zeit das Puzzle zusammengesetzt und den Mythos auf mich bezogen? Warum erst jetzt?«
Die Augen meines Vaters blitzten violett auf. Ich empfand, was er empfand. Es prickelte in meinen Adern, als das Blut, das wir seit dem Bluteid teilten, in mir zu brodeln begann. Es waren seine Gefühle, viele unterschiedliche, eine ganze Flut davon. Aber vor allem war es Liebe.
»Gerüchte über ein machtvolles Wesen, Y Gwir Lycae, den Wahren Lykan, der sich eines Tages über alle anderen erheben würde, gibt es schon, solange ich denken kann. Sie gehören zu den Märchen, die die Ältesten am Ende langer Tage mit einem Becher Met in der Hand am Feuer zu erzählen pflegten. Ob mir je in den Sinn gekommen ist, dass diese fantastischen Märchen etwas mit meiner Tochter zu tun haben könnten? Nein, niemals. Das wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen. Werwölfe sind eine reine Männergesellschaft, in der allein Stärke zählt. Deine Geburt war eine Anomalie, etwas, das ich immer für etwas Besonderes gehalten habe. Ich habe geglaubt, das Schicksal meine es gut mit uns und eröffne uns die Möglichkeit einer weiblichen Abstammungslinie. Denn ohne eine solche wird unsere Art aussterben. Es gibt nur noch wenige Menschenfrauen, die unseren Nachwuchs austragen können. Ungeachtet des Kain-Mythos und all des Ärgers, der dadurch hervorgerufen wurde, habe ich mich an die Hoffnung geklammert, dass du nicht ohne Grund geboren wurdest. Ich hoffte, dass die Wölfe dich letztendlich doch akzeptieren würden und dich so sehen würden wie ich: als Gewinn für unsere Art. Ich ahnte immer, dass es einen besonderen Grund für deine Existenz geben musste. Aber augenscheinlich ist es nicht ganz der, den ich mir vorgestellt habe.«
»Nein«, sagte ich, »so hat sich das sicher keiner von uns vorgestellt, am wenigsten ich selbst.«
»Nun, damit wäre dazu wohl alles gesagt. Ich für meinen Teil finde, es ist nicht der rechte Zeitpunkt, um mit dem Schicksal zu hadern.« Er klang gelassen, die Stimme fest. »Wenn wir auch in Zukunft handlungsfähig sein wollen - und das wollen wir -, sollten wir uns mit allem Wissen wappnen, das wir zusammentragen können. Und ich stimme mit Devon überein. Der Wortlaut der Prophezeiung in dem an ihn gemailten Link ist nur eine Version von vielen, die auf der ursprünglichen Prophezeiung basieren. Ich will mehr Antworten, und zwar so bald wie möglich.« Mein Vater wandte sich an Devon. »Wenn ich zurückkehre, möchte ich einen umfassenden Bericht, und wenn du in die Alte Heimat reisen musst, um die nötigen Informationen zu bekommen.« In Schottland hatten wir einen Landsitz, der seit vielen, vielen Generationen den McClains gehörte. Es war ein wunderschöner Besitz, eine herrliche, alte Burg voller Antiquitäten und mit einer Bibliothek in den Ausmaßen eines Footballfelds. »Werte sämtliche Quellen und Verweise zu allem aus, was du über Y Gwir Lycaefinden kannst. Es sollten zahlreiche Überlieferungen vorhanden sein. Wenn du damit fertig bist, erwarte ich einen ausführlichen Bericht.«
Devon nickte knapp. »Jawohl, Sir.«
Ich seufzte und massierte mir die Schläfen. »Jetzt habt ihr mich abgehängt. Die Belege dafür, dass die Mythen sich tatsächlich um eine Werwölfin drehen, sind doch eher selten. Und ihr wollt das Risiko, aufzudecken, dass ich die Reinkarnation einer Super-Werwölfin sein könnte, wirklich eingehen? Ihr wollt beweisen, dass ich die prophezeite Herrscherin der Welt der Übernatürlichen bin? Ausgerechnet jetzt?« Na ja, wahrscheinlich gab es dafür nie einen passenden Zeitpunkt. »Und dann sitzt da auch noch ein gut verschnürter und verdammt wütender Cop im Nebenzimmer, um den ich mich neben all dem anderen Mist auch noch kümmern muss - oder sollte ich sagen: den ich beseitigen muss?« Ich rieb mir den Nasenrücken und schüttelte den Kopf. »Vollkommen verrückt das Ganze.«
All das Neue, das in letzter Zeit auf mich hereingestürzt war, brachte mich durcheinander und nahm mich mehr mit, als ich zugeben wollte. Während der ersten paar Tage nach meiner Wandlung zur einzigen Werwölfin der Welt war mir so einiges zugestoßen: Ich war in meinem Zuhause brutal angegriffen worden; mein eigenes Rudel war auf mich losgegangen; ich hatte einen Gefährten gefunden, der nicht Wolf, sondern eine Art Werkatze unbekannter Herkunft war; eine Göttin hatte mich verhext und mir meinen Gefährten wieder genommen; ich war einer Vampirkönigin in die Hände gefallen, die völlig neben der Spur war, und hatte ihr einen Eid geschworen, der mich das Leben kosten könnte. Wenn nun diese sogenannte Prophezeiung einen wahren Kern hatte, würde das in der Welt der Übernatürlichen sofort die Runde machen und Wellen schlagen, gegen die sich jeder Tsunami niedlich ausnähme. Wenn die Katze nicht längst aus dem Sack war. Wer konnte schon wissen, wie viele Personen dieselben Informationen erhalten hatten wie Devon? Es war durchaus möglich, dass man uns den Link mit Absicht als Letzten zugeschickt hatte. Auf jeden Fall ließ es nichts Gutes ahnen, dass dieser stinkende Kobold heute Morgen gleich mehrere Bemerkungen hatte fallen lassen, die sich auf die Prophezeiung bezogen. Und wenn schon so ein kleines Licht davon gehört hatte, dann standen die Chancen gut, dass es bereits alle wussten.
»Jessica«, sagte mein Vater und erhob sich, »wir regeln das. Es ist eine üble Geschichte und alles andere als gut für uns. Aber wir bekommen das in den Griff, keine Frage, so wie wir die Dinge immer in den Griff bekommen haben. Wir sind Wölfe. Wölfe sind Kämpfer - und Sieger.«
»In weniger als fünf Stunden verlasse ich die Stadt.« Ich warf einen Blick auf mein Handgelenk, dabei trug ich schon seit Jahren keine Armbanduhr mehr. Rasch suchte ich den Blick meines Vaters. Seine Besorgnis brachte mein Blut in Wallung und verband sich mit meiner tief sitzenden Angst. »So schnell kriege ich das alles nicht geregelt. Ich brauche einfach mehr Zeit!«
»Tja«, warf Devon ein, »das Ganze hat vielleicht auch eine gute Seite.« Er wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. »Besser die Prophezeiung stimmt als der Kain-Mythos. Denn wenn wir herausfinden, dass du der Wahre Lykan bist, kannst du unmöglich Kains Tochter sein. Das dürfte doch ein bisschen mehr Ruhe ins Rudel bringen, meint ihr nicht?« Er zog die Augenbrauen hoch und nickte. »Richtig?«
Ich funkelte ihn böse an. Devon war kein Wolf, er war ein Reinmensch. Wie so einige von ihnen war er für das Rudel unverzichtbar. Er verfügte über das technische Know-how, das heutzutage nötig und unumgänglich war, deswegen gehörte er dazu. Er war ein netter Kerl und absolut loyal dem Rudel gegenüber. Aber solche dämlichen Kommentare waren das Letzte, was ich jetzt hören wollte.
»Ja, klar doch«, blaffte ich ihn an. »Mein funkelnagelneues Stellenprofil ist um Klassen besser als das alte: Ich überwältige und beherrsche alles Böse. Die Dämonen lieben mich ja jetzt schon heiß und innig, und die Vampirkönigin kann's kaum noch erwarten, mich wieder in die Finger zu bekommen. Mein Leben kann nur noch besser werden, jetzt, da ich jeden Tag meiner allwaltenden Herrschaft für Gerechtigkeit sorgen werde. Ich bringe einfach alle um, die etwas im Schilde führen - was so ungefähr jeden Übernatürlichen mit einschließt.«
Kapitel zwei
»Devon, lass uns jetzt bitte allein«, verlangte mein Vater. Augenblicklich sprang Devon auf und schnappte sich seinen Laptop. In seiner Hast stieß er den leeren Kaffeebecher vom Tisch. Das Klirren des Aufpralls gab ganz wunderbar wieder, wie sich mein Gehirn gerade anfühlte. Meine Wölfin knurrte leise. Ich weiß. Das alles ist ein bisschen viel auf einmal, und wir müssen endlich loslegen. Sie jaulte zustimmend. Nachdem sich die Tür hinter Devon geschlossen hatte, seufzte ich tief. Diesen Seufzer hatte ich schon lange und nur mit Mühe zurückgehalten. »Seit wann hast du geahnt, dass ich anders bin?«, fragte ich meinen Vater ruhig. »Seit ich mich gewandelt habe, muss meine Andersartigkeit doch für dich förmlich mit Händen greifbar gewesen sein.« Mein Vater wandte sich ab und ging um den Tisch herum zu der Reihe von hohen Fenstern, die eine Wand des Konferenzzimmers bildeten. Mit der Hand fuhr er sich durch das schwarze Haar. Als er den Arm beugte, strafften sich seine durchtrainierten Muskeln und zeichneten sich sichtbar unter dem nun sehr eng anliegenden blauen Arbeitshemd ab. »Sicher war ich mir nicht, bis du dich gegen den Eindringling zur Wehr gesetzt hast. Davor hatte ich bloß vage Vermutungen.« Müde wie ich war, ließ ich mich in einen der Sessel fallen, die um den Tisch standen. In meinem Kopf fühlte es sich an wie in einem hoffnungslos überfüllten Lift: Im Augenblick passte sicher kein einziges Fitzelchen Information mehr hinein. Rourke fehlte mir, und das drückte mich nieder, als läge ein Tonnengewicht auf mir. Es nahm mir geradezu die Luft zum Atmen. Wie sehr ich mich nach ihm sehnte, konnte ich nicht in Worte fassen. Das Gefühl war so machtvoll, dass es an die Grenzen des für mich Erträglichen ging. Es gab wirklich schon genug Dinge, über die ich mir Sorgen machen musste. Für fantastische Geschichten über mein absonderliches Ich war einfach kein Platz.
Aber anstatt loszuschimpfen, schwieg ich und wartete darauf, dass mein Vater fortfuhr. Ich wollte unbedingt hören, wie er die Dinge sah.
»Als der Kain-Mythos das erste Mal seinen Weg ins Habitat fand, brach ein regelrechter Aufstand los«, erzählte er, den Blick aus dem Fenster gerichtet. »Es gab massive Sicherheitsbedenken, was dich anging. Gerade du, mit deiner Ausbildung und deinem Beruf, wirst das sicher verstehen. Damals warst du noch ein kleines Kind. Ich habe den Aufstand rasch und unter Einsatz von Gewalt niedergeschlagen. Ich hatte geschworen, dich zu beschützen. Ich habe es mir selbst geschworen - und deiner Mutter.« Meine Mutter starb bei meiner und meines Bruders Geburt. Einen Wolf auszutragen war schon heikel, aber die Geburt von Zwillingen zu überleben war schlichtweg unmöglich. Man hatte mir immer erzählt, es sei ein Wunder gewesen, dass meine Mutter die Schwangerschaft überhaupt bis zum Geburtstermin durchgestanden habe. Annie McClain hatte bis zum letzten Atemzug für ihre Kinder gekämpft. »Nur damit das unmissverständlich klar ist: Ich habe nie geglaubt, am Kain-Mythos sei auch nur ein Wort wahr. Du bist meine Tochter, mein Fleisch und Blut. Aber das Rudel davon zu überzeugen, dass von dir keine Gefahr ausgeht, war schwieriger, als ich je für möglich gehalten hätte. Angst bricht jede Vernunft, wenn sie einen erst im Griff hat. Du bist zwar im Rudel aufgewachsen, doch du warst die ganze Zeit über das lebende Fanal dafür, dass etwas nicht stimmte.« Mein Vater drehte sich zu mir um. »Ich habe mit jeder Faser meines Herzens gehofft, du bliebest ein Mensch. Ich wusste, dass die Gemeinschaft der Übernatürlichen Kopf stehen würde, wenn du die Wandlung durchliefest. Du bist meine Tochter. Mein Bestreben war immer und vor allem, dich zu beschützen.«
Ich hob den Kopf und suchte den Blick meines Vaters. In meinen wie in seinen Augen glühte das gleiche Violett; ein Band, das wie kein anderes bewies, wie nahe wir einander waren. Vor mir stand der Vater, der mich aufgezogen und mich immer bedingungslos geliebt hatte. Dagegen konnte kein Gegenargument, kein Aber etwas ausrichten.
»Ich verstehe, was du mir damit sagen willst«, antwortete ich nachdenklich, und ein Teil meiner Anspannung fiel von mir ab. »Ich weiß, dass du alle Entscheidungen, die mich betrafen, aus Liebe getroffen hast, und diese Entscheidungen haben uns letztendlich hierhergeführt. Aber falls du tatsächlich davon überzeugt bist, die Prophezeiung könnte einen wahren Kern haben, solltest du mir den Grund dafür nennen. Ich muss verstehen, was hier los ist - oder will zumindest so viel verstehen wie möglich, ehe ich die Stadt verlasse. Und viel Zeit bleibt mir nicht mehr.« Dieses Mal konnte ich gerade noch verhindern, auf die nicht existente Uhr an meinem Handgelenk zu schauen.
Mein Vater seufzte und blickte zu Boden. Als er den Kopf hob, war es, als könnte ich für einen Lidschlag tatsächlich sein wahres Alter in seinem Gesicht ablesen. Es lauerte dort in den Falten und Linien um die müde blickenden Augen. Dann blinzelte er, und Müdigkeit und Alter waren wie weggewischt. »Als du dich das erste Mal gewandelt hast, wusste ich sofort, dass etwas anders war. Deine Wölfin hat deine Veränderung signalisiert und das Rudel damit in Alarmbereitschaft versetzt - so läuft es schon immer, und das ist auch richtig so. Aber gleichzeitig hat sie dich mit ihrem Ruf irgendwie ... unterstützt. So etwas ist noch nie geschehen, nicht ein einziges Mal in meinen fünf Jahrhunderten als Alpha. Der erste Ruf, mit dem ein neuer Wolf über den Alpha Verbindung zum Rudel aufnimmt, ist normalerweise urwüchsig, ungezügelt. In diesem Stadium ist ein Wolf normalerweise noch so unbeholfen wie ein Welpe. Aber dein Signal war anders: Es zeigte Intelligenz. In unseren ältesten Überlieferungen heißt es über unsere Lykaner-Vorfahren, sie seien in der Lage gewesen, mit ihrem inneren Wolf in friedlichem Miteinander zu leben. Beide Seiten ihres Wesens hätten miteinander koexistieren können, was sie zu den perfekten Übernatürlichen gemacht hätte: ohnegleichen stark und machtvoll. Du hast mich beim Gedankenkontakt gleich mehrfach abgeblockt, und du hast die Fähigkeit, bei der Wandlung eine Gestalt zwischen Mensch und Wolf beizubehalten - kein anderer Wolf kann das. Damit ist klar, dass du etwas Besonderes bist. Die Zeilen in der Prophezeiung haben mich an die Märchen und Sagen erinnert, die am Feuer über Y Gwir Lycaeerzählt wurden, und mir ging auf, dass diese Geschichten passen. Du, Jessica, bist mehr als ein einfacher Nachkomme unserer Vorfahren. Ich spüre das instinktiv, und ich erkenne es, wenn ich dich ansehe. Es gibt einen Grund dafür, dass unserem Rudel eine Weibliche geboren wurde. Das Schicksal irrt sich niemals.«
Gefühle überfluteten mich.
Ihre Rohheit war neu für mich. Sie schienen an meiner Haut zu zerren und zu reißen, ich fühlte mich, als würde mein ganzer Körper jucken. Meine Wölfin wurde unruhig, wanderte unaufhörlich in meinem Bewusstsein hin und her wie in einem Käfig. Niemals zuvor hatten mein Vater und ich so offen und ehrlich miteinander gesprochen von einem Erwachsenen zum anderen, auf gleicher Augenhöhe. In diesem Moment gab es nur uns zwei, es war so, als hätte die Welt jenseits dieser vier Wände aufgehört zu existieren.
Mein Vater klang so überzeugt von dem, was er sagte. Über unsere Verbindung ging von seiner Gewissheit auch etwas auf mich über. Dennoch war das, was ich derzeit zu verdauen hatte, eine ganze Menge. »Also für mich ergibt die Prophezeiung immer noch keinen Sinn«, sagte ich schließlich. »Ich weiß nicht, vielleicht, weil ich mich nach wie vor normal fühle. Meinem Gefühl nach bin ich unverändert, weder übermächtig noch dazu gerüstet, für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen - ganz besonders nicht unter den Übernatürlichen. Ich bin immer noch ich, nur dass ich jetzt eine leicht reizbare Wölfin im Kopf habe.« Wie um meine Worte zu unterstreichen, schnappte meine Wölfin in die Luft. Für mich deutlich hörbar schlugen ihre Kiefer aufeinander. Ja, doch, ich weiß, dass ich anders bin. Aber ich fühle mich nicht anders, sondern wie sonst auch. Ich habe nicht plötzlich vergessen, wer ich bin und woher ich stamme. So ist das nicht.
»Jessica, ich weiß, das Ganze ist ein Schock für dich. Das ist es für mich auch, und ich bin ein Werwolf-Alpha. Wer und was du bist, ist beispiellos. Bevor wir also entscheiden, was unsere nächsten Schritte sein werden, brauchen wir, wie gesagt, mehr Informationen. Im Licht der letzten Entwicklungen, vor allem angesichts der Andeutungen, die die Prophezeiung macht, bin ich froh darüber, dass du vorerst die Stadt verlässt. Dann wirst du außer Sichtweite und angemessen geschützt sein, das ist exakt das, was ich will.«
Schlagartig galten all meine Gedanken Rourke. »Gut, denn ich will unverzüglich los. Wenn ich zurück bin, sollten wir immer noch genug Zeit haben, um uns neu aufzustellen und herauszubekommen, was diese Geschichte zu bedeuten hat.«
»Ich möchte dir keine Angst machen.« In seiner Stimme lag ein rauer Unterton, aus dem Furcht und Wut sprachen. »Aber du scheinst keine Vorstellung davon zu haben, welche Auswirkungen die Prophezeiung auf die Gemeinschaft der Übernatürlichen haben wird. Diese Neuigkeiten werden einschlagen wie eine Bombe. Eine Gemeinde wird argwöhnischer und massiver reagieren als die andere. Allenthalben werden Furcht und Schrecken unter den Übernatürlichen herrschen, egal welcher Art sie angehören. Wir können diese Reaktionen weder unterdrücken noch wegdiskutieren. Wir stellen uns dem und werden kämpfen. Wir werden kämpfen müssen, bis man unsere Stärke und Macht fürchtet - bis auch der Letzte, der glaubt, uns nicht fürchten zu müssen, davon überzeugt ist, dass wir die stärksten unter den Übernatürlichen sind. Das ist der einzige Weg, um die anderen Rudel und Gemeinden zum Einlenken zu bewegen. Es ist der einzige Weg, den Angriffen, die sich gegen dich richten werden, einen Riegel vorzuschieben. «
Ich wusste, dass er recht hatte. Gerne hörte ich es trotzdem nicht. Mein ganzes Leben hatte ich gehofft und gebetet, dass die Wölfe meinetwegen niemals in den Krieg ziehen müssten. Immer hatte ich gefürchtet, der Kain-Mythos könnte Wirklichkeit werden - die Vorstellung, ich könnte der Auslöser zur Vernichtung meiner Art sein, lastete von jeher schwer auf mir. Jetzt schien es, als wäre ein Krieg tatsächlich unausweichlich. Ironischerweise würden die Wölfe nicht gegen mich, sondern für mich kämpfen. Sie würden den Krieg zu meinem Schutz führen. Jedenfalls, wenn sie der Prophezeiung mehr Glauben schenken würden als dem Kain-Mythos. Das allerdings war keineswegs sicher. »Selbstverständlich tue ich alles, was notwendig ist«, sagte ich resigniert. »Mir bleibt ja keine andere Wahl. Ich kann mich nicht irgendwo für alle Zeiten verkriechen, ebenso wenig, wie ich aus meiner Haut in eine andere schlüpfen und einfach jemand anders sein kann.« Obwohl diese Möglichkeit momentan in meinen Ohren höchst verführerisch klang. »Wenn wir kämpfen müssen, folge ich dir als meinem Anführer.«
Mein Vater nickte und wirkte dabei sehr entschlossen. Gleichzeitig aber war er sehr erschöpft, das stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sicherlich gab es für Väter, soweit es ihre Töchter betraf, einen ganzen Katalog an Aufgaben, die zu erfüllen sie sich zur Pflicht machten. Damit umgehen zu müssen, dass die eigene Tochter das meistgesuchte weibliche Wesen der ganzen Welt war, gehörte gewiss nicht dazu. Aber über Dinge zu lamentieren, die sich nicht ändern ließen, war nie meine Art gewesen. Mich mit philosophischen Betrachtungen im Sinne von Was-wäre-wenn aufzuhalten auch nicht. Aus dieser Geschichte konnte ich nur heil herauskommen, wenn ich den Blick stur geradeaus richtete und endlich in die Hufe kam.
»Wenn du wieder zurück bist«, sagte mein Vater, »entwerfen wir gemeinsam einen Plan und sehen zu, dass wir alle Vorteile nutzen, die sich uns bieten. Sobald wir mehr über die Prophezeiung wissen, werden wir sehen, wo unsere Möglichkeiten liegen. Dann sind wir in der Lage, uns eine gute Verteidigungsstrategie auszudenken.«
»Ich nehme an, du hast für die Zwischenzeit auch einen Plan parat, richtig?«, wollte ich wissen. Mein Vater wäre nie unvorbereitet zu unserer Besprechung erschienen; nicht wenn er bereits gewusst hatte, dass seine Tochter vielleicht der Y Gwir Lycae sein könnte.
»Ja, habe ich.« Mit wenigen großen Schritten ging er vom Fenster wieder hinüber zum Tisch und setzte sich. Er war ein gut aussehender Mann, das Haar rabenschwarz und voll, und obwohl ihm seine Anspannung anzumerken war, wirkte er keinen Tag älter als fünfunddreißig.
Er beugte sich vor und schenkte mir ein dünnes Lächeln. »James und ich haben gestern Abend und in der Nacht noch einige logistische Probleme gelöst. Wir haben sozusagen die Grundlage für einen Plan geschaffen, der uns eine reelle Chance verschaffen sollte, auf die Verbreitung der Prophezeiung angemessen zu reagieren. Um dich vor all den bevorstehenden Gefahren zu schützen, brauchen wir jeden Wolf, den wir bekommen können. Wie sehr wir auch damit rechnen müssen, dass die anderen Gemeinden uns zukünftig Probleme bereiten, dein Schutz ist meine oberste Priorität. Die Wölfe, die sich in jüngster Zeit von beiden US-amerikanischen Rudeln lossagten, haben uns ins Chaos gestürzt. Wir können dich vor Angriffen aus egal welcher Ecke nicht effektiv bewahren, wenn wir uns nicht wieder zusammen raufen. Interne Machtkämpfe schwächen uns und dünnen unsere Reihen unnötig aus.« Er schwieg einen Augenblick und betrachtete nachdenklich seine Hände. Dann hob er den Blick und sah mich an. »Der Überbrückungsplan sieht vor, dass ich etwas noch nie da Gewesenes tue.«
Lange und eingehend musterte ich ihn. Der Anführer eines Rudels zu sein war keine leichte Aufgabe. Dennoch wusste ich, dass alles, was er unternehmen würde, jeder Schritt, den der Plan erforderte, genau berechnet sein und in die richtige Richtung führen würde. »Was immer es ist, ich bin sicher, du hast die bestmögliche Entscheidung getroffen.«
»Gleich nach unserer Besprechung«, erklärte mir daraufhin mein Vater, »reise ich in die Southern Territories und treffe mich mit Redman.«
»Persönlich?«, fragte ich überrascht. Einen anderen Alpha zu treffen, mit dem man sich befehdete, war in der Tat außergewöhnlich, egal, welche Maßstäbe man anlegte. Nach allen Geschichten, die ich in meinem Leben über Red Martin, den Alpha der U.S. Southern Territories, gehört hatte, war er ein brutaler Mistkerl, der mit eiserner Hand über seine Wölfe regierte. »Wie groß ist sein Rudel heute?«
»Es gehören neunundfünfzig Wölfe dazu«, erwiderte mein Vater. Verachtung gab seiner Stimme eine andere Klangfarbe. »Siebenunddreißig Wölfe weniger als noch vor zwanzig Jahren. Ich habe keine Ahnung, wo sie abgeblieben sind. Denn nur wenige sind zu meinem Rudel zurückgewechselt, und keiner ist als Einzelgänger gelistet. Ich vermute, sie sind irgendwo auf der Welt in neuen Rudeln aufgenommen worden. Entweder das, oder es handelt sich um die Wölfe, die sich zu der neuen Splittergruppe zusammengefunden haben. Dann allerdings hätte Red mit voller Absicht Stillschweigen darüber bewahrt. Was auch immer dahintersteckt: Ich habe vor, es ans Licht zu bringen.«
Vor zweihundert Jahren war Redman Martin verantwortlich dafür gewesen, dass das US-amerikanische Rudel auseinandergebrochen war. Er, der den Bruch vorangetrieben hatte, war Alpha des neuen Rudels in den Southern Territories geworden. Als Alpha des ursprünglichen Rudels hätte mein Vater Reds Leben leicht ein Ende setzen können. Stattdessen hatte er zugelassen, dass sein Widersacher ein neues Rudel gründete. Aus gutem Grund: Unruhige, unberechenbare Wölfe machten jedem Alpha das Leben unnötig schwer, und mit Red war noch nie gut Kirschen essen gewesen. Sein schlechter Einfluss hatte das Rudel ja bereits entzweit. Also war es besser gewesen, gar nicht erst zu versuchen, den Riss wieder zu kitten und Unruhestiftern gewaltsam eine Sinnesänderung aufzuzwingen. Nein, mein Vater hatte keine andere Wahl gehabt. Die Wölfe, die unter Reds Führung zusammen mit ihm das ursprüngliche Rudel verlassen hatten, umgab bereits ein ganz bestimmter Geruch von Aufsässigkeit.
Eigentlich war mein Vater gar nicht so traurig darüber gewesen, dass sich diese Querulanten endlich verzogen hatten.
»Glaubst du, Redman könnte hinter der neuen Splittergruppe stecken?«, fragte ich. »Nach allem, was ich im Laufe der Jahre über ihn gehört habe, wäre ihm das durchaus zuzutrauen.«
»Nun, ausschließen lässt sich das momentan noch nicht. Aber der einzige Grund, warum Red meinem Kommen zugestimmt hat, ist ja gerade, um mir zu beweisen, dass er mit der neuen Splittergruppe nichts zu tun hat.« Dad schwieg einen Moment. »Er weiß, dass ein Krieg unmittelbar bevorsteht. Und er weiß, dass der Norden den Süden in einem solchen Bruderkrieg auslöschen würde. Sein Rudel ist bis zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Es ist ihm daher sehr daran gelegen zu beweisen, dass er Verrätern keinen Unterschlupf gewährt. Aber irgendwo müssen sie ja stecken, und Red hat keine Erklärungen dafür geliefert, wo seine fehlenden Wölfe abgeblieben sind. Diese Splittergruppe muss einen Stützpunkt in den USA haben, und der muss nahe genug sein, dass sie im Bedarfsfall rasch zuschlagen können.«
© 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Amanda Carlson
- 2014, 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Ritgen, Beke
- Übersetzer: Beke Ritgen
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404169042
- ISBN-13: 9783404169047
- Erscheinungsdatum: 14.02.2014
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