Hanns Eisler
Komponist, Weltbürger, Revolutionär
Die maßgebliche neue Biografie eines der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts
Hanns Eisler war in Wien einer der bekanntesten Schüler von Arnold Schönberg. Den überzeugten Kommunisten zog es in den 20er Jahren...
Hanns Eisler war in Wien einer der bekanntesten Schüler von Arnold Schönberg. Den überzeugten Kommunisten zog es in den 20er Jahren...
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Produktinformationen zu „Hanns Eisler “
Die maßgebliche neue Biografie eines der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts
Hanns Eisler war in Wien einer der bekanntesten Schüler von Arnold Schönberg. Den überzeugten Kommunisten zog es in den 20er Jahren nach Berlin. Das Elitäre der Avantgarde war ihm stets ein Dorn im Auge, weshalb er Arbeiterlieder und Gassenhauer in 12-Ton-Technik komponierte. Er floh vor den Nazis nach Hollywood, wo er mit Bertolt Brecht, Charlie Chaplin und Thomas Mann zusammenkam und für den Oscar nominierte Filmmusik schrieb. Wegen seiner politischen Haltung aus den USA ausgewiesen, ging er nach dem 2. Weltkrieg in die DDR - und schrieb eine der schönsten Nationalhymnen: »Auferstanden aus Ruinen ...«. Als streitbarer Geist kam er immer wieder in Konflikt mit dem DDR-Regime, weshalb er seine österreichische Staatsbürgerschaft nie ablegte. Friederike Wißmann erzählt eine spannende Komponistenbiografie und ein Stück packende Zeitgeschichte. Erstmals ist darin auch von Eislers Frauen die Rede.
Hanns Eisler war in Wien einer der bekanntesten Schüler von Arnold Schönberg. Den überzeugten Kommunisten zog es in den 20er Jahren nach Berlin. Das Elitäre der Avantgarde war ihm stets ein Dorn im Auge, weshalb er Arbeiterlieder und Gassenhauer in 12-Ton-Technik komponierte. Er floh vor den Nazis nach Hollywood, wo er mit Bertolt Brecht, Charlie Chaplin und Thomas Mann zusammenkam und für den Oscar nominierte Filmmusik schrieb. Wegen seiner politischen Haltung aus den USA ausgewiesen, ging er nach dem 2. Weltkrieg in die DDR - und schrieb eine der schönsten Nationalhymnen: »Auferstanden aus Ruinen ...«. Als streitbarer Geist kam er immer wieder in Konflikt mit dem DDR-Regime, weshalb er seine österreichische Staatsbürgerschaft nie ablegte. Friederike Wißmann erzählt eine spannende Komponistenbiografie und ein Stück packende Zeitgeschichte. Erstmals ist darin auch von Eislers Frauen die Rede.
Klappentext zu „Hanns Eisler “
Die maßgebliche neue Biografie eines der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. JahrhundertsHanns Eisler war in Wien einer der bekanntesten Schüler von Arnold Schönberg. Den überzeugten Kommunisten zog es in den 20er Jahren nach Berlin. Das Elitäre der Avantgarde war ihm stets ein Dorn im Auge, weshalb er Arbeiterlieder und Gassenhauer in 12-Ton-Technik komponierte. Er floh vor den Nazis nach Hollywood, wo er mit Bertolt Brecht, Charlie Chaplin und Thomas Mann zusammenkam und für den Oscar nominierte Filmmusik schrieb. Wegen seiner politischen Haltung aus den USA ausgewiesen, ging er nach dem 2. Weltkrieg in die DDR - und schrieb eine der schönsten Nationalhymnen: "Auferstanden aus Ruinen ...". Als streitbarer Geist kam er immer wieder in Konflikt mit dem DDR-Regime, weshalb er seine österreichische Staatsbürgerschaft nie ablegte. Friederike Wißmann erzählt eine spannende Komponistenbiografie und ein Stück packende Zeitgeschichte. Erstmals ist darin auch von Eislers Frauendie Rede.
Lese-Probe zu „Hanns Eisler “
Hanns Eisler - Komponist, Weltbürger, Revolutionär von Friederike WissmannPeter Hamm
Bekenntnis zu Hanns Eisler
Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts.
Hanns Eisler (nach Lichtenberg)
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Es ist keine Übertreibung: Die Jahre meiner Kindheit und frühen Jugend hätte ich ohne Musik kaum überstanden. Ich war unersättlich nach Musik in jeder Form. Musik schützte mich gegen die Zumutungen eines Lebens, das ich meist in Heimen und Internaten verbrachte. In der Musik fand ich alles, was mir die Realität verwehrte. Musik hatte die Macht, mich meine Ohnmacht (manchmal) vergessen zu lassen. Musik bedeutete Ablenkung, Entrückung, Erhebung, Traum, Rausch, Trost, Vergessen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass Musik auch aufrütteln, ein Instrument der Erweckung, der Empörung, ja des Aufruhrs sein und unmittelbar in die Lebenswirklichkeit eingreifen könnte. Bis ich eines Tages, es war in meinem 16. oder 17. Lebensjahr, in eine Tübinger Gesellschaft von Künstlern und Studenten geriet, in der einer spät in der Nacht eine Platte auflegte, auffällig behutsam - es handelte sich noch um eine Schellackplatte -, und eine wahrhaft unerhörte Musik zu ertönen begann, die mich vom ersten Takt an elektrisierte.
Zu hören war eine heisere, aber trompetenscharfe Männerstimme, die mit höhnischer Ironie und zorniger Wut, begleitet nur von Saxofon, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Banjo und Klavier, die Ballade von den Säckeschmeißern vortrug, eine Anklage gegen die massenweise Vernichtung von Lebensmitteln zum Zwecke der Weltpreissteigerung. Der Komponist dieser Ballade über brasilianische Arbeiter, die tonnenweise Kaffeesäcke ins Meer kippen müssen, hieß Hanns Eisler, und der Sänger, der sich so radikal von den allseits geschätzten Tenören unterschied, hieß Ernst Busch. Für immer prägten sich mir damals die Schlusszeilen dieses mitreißenden Songs ein: »Doch wann schmeißen die Säckeschmeißer / die fetten Räuber hinterher?« Die Rückseite dieser Schellackplatte enthielt ein Lied, mit dem mich Ernst Busch womöglich noch mehr mitriss, Hanns Eislers Solidaritätslied, nach einem Text von Bertolt Brecht, mit der Strophe: »Unsre Herrn, wer sie auch seien, / sehen unsre Zwietracht gern, / denn solang sie uns entzweien, / bleiben sie doch unsre Herrn«, und dem Refrain: »Vorwärts, und nicht vergessen, / worin unsre Stärke besteht! / Beim Hungern und beim Essen, / vorwärts, und nie vergessen / die Solidarität!« Das Lied war zwar im Marschtempo gehalten, aber nicht nur, weil es in Moll stand, konnte man sich dazu unmöglich den dumpfen Gleichschritt marschierender Kolonnen vorstellen, vielmehr hatte es etwas energisch Beschwingtes und ansteckend Aufsässiges.
Dass ich nach meiner ersten Begegnung mit Musik Hanns Eislers mehr von ihm hören, mehr über ihn wissen wollte, versteht sich. Doch im Westdeutschland der 1950er Jahre schien es nahezu unmöglich, an Musik von ihm und Informationen über ihn zu gelangen. Es war die Zeit des kältesten Krieges, in der Hanns Eislers Name und Musik so tabu waren wie alles, was aus der DDR kam, die damals nur in Anführungszeichen existierte oder als »Ostzone«, hatte Eisler doch die als »Spalterhymne« geschmähte Hymne der DDR komponiert (Auferstanden aus Rui nen und der Zukunft zugewandt). Die Adenauer-Jahre erschienen mir (und nicht nur mir) später als bleierne Zeit, eine Metapher aus Hölderlins Gedicht Komm! ins Offene, Freund!, die ich bei niemand anderem als Hanns Eisler fand, der dieses Gedicht in seinen ebenso witzigen wie gescheiten Gesprächen mit Hans Bunge zitiert und interpretiert. Doch diese waren damals noch gar nicht geführt worden, und Hans Bunge war noch nicht mein Freund.
Das hässlichste Merkmal dieser bleiernen Zeit war die systematische Verdrängung der jüngsten deutschen Vergangenheit mit ihrem beispiellosen Zivilisationsbruch. Die schlauen Deutschen hatten sich eine »Stunde Null« erfunden - und vor der sollte nichts gewesen sein. Allenfalls wurden die eigenen Leiden in der »schrecklichen Zeit« beklagt, doch nach den Ursachen des Schreckens fragte man lieber nicht, das Wirtschaftswunder gebot, »nach vorn« zu schauen, und machte blind und taub gegenüber den Untaten einer blutigen Vergangenheit. Zeitweise lebte ich damals in der einst so schönen Stadt Ulm, die in den letzten Kriegstagen in Schutt und Asche gelegt wurde. Man bewegte sich dort immer noch zwischen Ruinen, aber man nahm sie, das war mein Eindruck, gleichsam als naturgegeben, von Verstörung, Scham, Reue verspürte ich jedenfalls wenig. Allerdings existierte in Ulm ein großes Kino, in dem zwar der übliche Schund der westdeutschen Nachkriegsfilmproduktion lief, Filme, in denen es keine Nazis und schon gar keine Juden gab, dafür viele fidele und rundum zufriedene Dummbeutel, doch da der Sohn des Kinobesitzers von den Nazis wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet worden war, zeigte dieser in seinem Kino an jedem Sonntagmorgen Bei Nacht und Nebel, den Film von Alain Resnais über die Befreiung von Auschwitz - und dort kam es zu meiner zweiten nachhaltigen Begegnung mit der Kunst Hanns Eislers, der zu diesem Film die Musik komponiert hatte.
Was beeindruckte und bewegte mich an dieser Musik so außerordentlich, dass sie für mich sogar zur stärksten Botschaft des Films von Alain Resnais werden konnte? Es war die bestechende musikalische Intelligenz Eislers, der sich verboten hatte, die grauenvollen Bilder der mit Bulldozern zusammengeschaufelten Leichenberge musikalisch zu »illustrieren«, etwa durch eine von Angst und Panik erfüllte Musiksprache, deren Wirkung doch nur eine Steigerung des Grauens bedeutet hätte, sondern der durch äußerste Schlichtheit und Sparsamkeit der musikalischen Mittel - zwei einsame Stimmen von Flöte und Klarinette und, zu den allergrausamsten Szenen, ein fast tonloses Streicher-Pizzicato - eine dialektische Gegenbewegung schuf, die den Zuschauer, den die gezeigten Bilder zu überwältigen drohen, gleichsam in eine andere Richtung weist, in der, wenn auch noch so zaghaft, etwas wie Hoffnung aufkeimt, dass Geschichte nicht für immer identisch sein muss mit Mord und Grauen. Alain Resnais hat später berichtet, wie verblüfft und irritiert er und sein Filmteam bei der Aufnahme von Eislers Musik waren und »wie aufgeregt, daß die üblichen Regeln nicht mehr galten«. Als einer der von den Filmbildern überwältigten Musiker Eisler im Aufnahmestudio fragte, ob das, was er da zu spielen habe, »wirklich alles« sei, soll dieser nur geantwortet haben: »Monsieur, meine Musik ist freundlich.« Die gewaltige Wirkung von Nacht und Nebel »ist mindestens zur Hälfte auf die Musik zurückzuführen«, schrieb der große Dokumentarfilmer Joris Ivens. Leider, so muss man heute hinzufügen, hat Hanns Eislers dialektisches Verfahren beim Schreiben von Filmmusik keine Schule gemacht, heute schwimmen selbst die Filme besserer Regisseure in einer klebrigen Musiksoße, die unablässig über sie ausgegossen wird und alle Bilder aufweicht oder ertränkt. Musikalische Intelligenz aber müsste sich darin zeigen, so Hanns Eisler, Bildern wie Texten »zu widerstehen«.
Was Widerstand angeht: Gegen Eislers Musik war ich bald völlig widerstandslos, und sie wurde mir desto wichtiger und notwendiger, je mehr und genauer ich sie in den späten 1950er und frühen 60er Jahren auf meinen vielen Reisen in die DDR bei Dichterfreunden oder auch bei Theaterbesuchen im Berliner Ensembleendlich kennenlernen durfte. Was an Eisler-Schallplatten in Ostberlin schon wieder vergriffen oder aus dem Verkehr gezogen war, besorgten mir, auf welch krummen Wegen auch immer, zwei leidenschaftliche Eisler-Bewunderer: Wolf Biermann, der sich gern als Eisler-Schüler ausgab, und Hans Bunge, damals noch Leiter des Brecht-Archivs und noch nicht »in Ungnade gefallen«, dem es später dann gelang, Hanns Eisler zu jenen großartigen Gesprächen zu überreden, in denen er ihm, wie Brechts berühmter Zöllner, »seine Weisheit abverlangt« hat. Wenn ich, schwer mit Platten und Büchern bepackt, von meinen Beutezügen aus Ostberlin heimkehrte in die oberschwäbische Provinz, tönte das alte Forstamt in Weingarten, in dem mein Bruder und ich zwei Dachzimmerchen (illegal) bewohnten, bald von Klängen, wie sie dort so ungewohnt und - für manchen Vorübergehenden wohl auch erschreckend - sicher noch nie vernommen wurden, von Ernst Busch gesungene kommunistische Kampflieder wie das Einheitsfrontlied oder Der heimliche Aufmarsch, Lieder zu Brechts Theaterstück Die Mutter wie Das Lied von der Suppe (»Wenn du keine Suppe hast, / wie willst du dich da wehren? / Da musst du den ganzen Staat von unten nach oben kehren, / bis du deine Suppe hast: / dann bist du dein eigener Gast«), das Lob der Dialektik (»Wer noch lebt, sage nicht: niemals«) oder die Grabrede über einen Genossen, der an die Wand gestellt wurde mit ihren unüberhörbaren Anleihen bei Bachs Matthäuspassion, die Eislers hohe »Kunst zu erben« demonstrieren. Die Kunst zu erben, so war ein transkribierter Dialog Eislers mit seinem alten Freund Ernst Bloch überschrieben. Aber auch so schlichte und zarte Lieder wie die Kinderhymne (»Anmut sparet nicht noch Mühe«), eigentlich die ideale deutsche Nationalhymne, wunderbar skurrile Lieder wie Mutter Beimlein hat ein Holzbein und Die haltbare Graugans oder Schubert'sche Innigkeit heraufbeschwörende Lieder wie Vom Sprengen des Gartens, Ostersonntag oder An den kleinen Radioapparat zählten zum festen Repertoire unterm Dach des Forstamts. Auch erklang dort Eislers ebenso originelle wie eindrucksvolle Instrumentalmusik, am häufigsten wohl Eislers bedeutendstes Kammermusikwerk Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben, komponiert für einen Film von Joris Ivens und gewidmet Arnold Schönberg, Eislers Lehrer.
Zum bloßen Genuss des Hörens kam bald auch die intensive Beschäftigung mit Eislers theoretischen Schriften, seinem Werdegang und seinem Verhältnis zu anderen Komponisten und Künstlern. Geradezu missionarisch versuchte ich damals, mit meiner Eisler-Begeisterung möglichst viele Menschen anzustecken, indem ich Aufsätze über ihn schrieb und, nachdem ich 1964 Kulturredakteur beim Rundfunk geworden war, dort nicht nur oft Eislers Musik zu Gehör brachte, sondern auch die aufregendsten seiner Gespräche mit Hans Bunge. Den Rundfunk-Oberen, in meinem Fall ausnahmslos stramme CSU-Mannen, gefiel das naturgemäß wenig, doch sie beließen es bei ein paar Ermahnungen, sie waren, wie mir erst später bewusst wurde, bereits ein wenig in die Defensive geraten, denn unüberhörbar rumorte schon überall die 68er-Bewegung. In diesem Klima einer allseits aufkeimenden Aufsässigkeit, für das Eislers Musik wie geschaffen war, wagte es eine Fernsehredakteurin des Hessischen Rundfunks sogar (wozu immer noch Mut gehörte), mir den Auftrag für einen Eisler-Film zu erteilen. Die Geschichte dieses Films, dem ich den Titel Hanns Eisler - Zu früh? Zu spät? gab, wäre eine eigene Geschichte wert, denn er passte weder ins politische Konzept der DDR noch Westdeutschlands, was bedeutete, dass mir fast kein Filmmaterial über Eisler zur Verfügung stand - die DDR rückte ihres nicht heraus, und im Westen gab es noch nichts (außer ein paar Aufnahmen vom »Steirischen Herbst« in Graz). Immerhin gelang es mir, sozusagen als Ausgleich für fehlende Musikaufnahmen, nicht nur Ernst Bloch und den Wiener Essayisten Ernst Fischer (der inzwischen mit Eislers zweiter Frau Lou verheiratet war) zu Gesprächen über Eisler zu bewegen, sondern auch den übervorsichtigen Theodor W. Adorno, der im kalifornischen Exil zwar gemeinsam mit Eisler das Buch Komposition für den Film verfasst hatte, aber im Kalten Krieg daran nicht gern erinnert werden wollte und auf Abstand zu früheren marxistischen Freunden bedacht war.
Als ein folgenreicher Nebeneffekt der Filmarbeit erwies sich, dass sich unter den Freunden, die ich für eine Filmaufnahme versammelt hatte, bei der wir - wieder eine Notlösung! - Ausschnitte der Bandaufnahme von Hans Bunges Gesprächen mit Hanns Eisler anhörten, auch Margarethe von Trotta befand, die dabei erstmals, aus Eislers Mund, Hölderlins Wort von der bleiernen Zeit vernahm, jene Metapher, die sie dann als Titel für einen Film wählte, der im Ausland, vor allem in Italien, heftige Diskussionen über die prekäre politische Situation in Westdeutschland auslöste. Es stand der deutsche Herbst vor der Tür - und mit ihm begann Eislers Musik endlich auch in die Bundesrepublik einzuziehen, noch nicht in den bürgerlichen Konzertbetrieb, den Eisler ohnehin immer verabscheut hatte, doch in manche Universitäten, an denen sich im Zeichen der APO Eisler-Chöre bildeten, oder bei Plattenfirmen, die plötzlich, wenn auch nicht Eislers Kampflieder, so doch Eislers vorwiegend im Exil entstandenes Kunstlied-Werk entdeckten (wobei es auch zu peinlichen interpretatorischen Missverständnissen von Eislers Intentionen kam, für die etwa Dietrich Fischer-Dieskaus Eisler-Einspielung ein eklatantes Beispiel liefert). Auch erschienen jetzt einige Bücher über Eisler - das vorliegende von Friederike Wißmann, das einen besonders interessanten Ansatz verfolgt, weil es Eislers Haltung und Leben aus seiner Musik heraus entwickelt und nicht umgekehrt, wird nicht das letzte Buch über Hanns Eisler gewesen sein. Irgendwann tauchten dann auch jüngere Musiker auf, die jenseits der eingefahrenen Gleise Eisler-Aktivitäten entfalteten, hervorzuheben etwa Heiner Goebbels, der zunächst das Linksradikale Blasorchester gründete und seine erste Schallplatte Vier Fäuste für Hanns Eisler nannte, später mit dem Ensemble modern eine faszinierende Eisler-Collage schuf, betitelt Eislermaterial, in der er ebenso frei wie überzeugend mit Eislers Musik umgeht und der Schauspieler Josef Bierbichler mit ganz leisen, aber desto eindringlicheren Tönen eine überraschend neue Qualität des EislerGesangs gewinnt. Heiner Goebbels bekannte einmal, dass seine Entscheidung, professionell Musik zu machen, überhaupt erst durch Eislers Musik und dessen Gespräche mit Hans Bunge ausgelöst wurde, an denen ihn neben Eislers »Haltung« am meisten deren »ganze Bandbreite« beeindruckt hätte.
Eislers Haltung. Über Hanns Eisler und seine Haltung wohltemperiert und »ausgewogen« zu schreiben, scheint (mir) eine Sache der schieren Unmöglichkeit. Aus meiner Rundfunkzeit weiß ich nur zu gut, dass »ausgewogen« ein Synonym für Indifferenz war, für Feigheit. Was mich aber an Hanns Eisler von Anfang an so übermächtig anzog, war gerade sein Widerwille und Widerstand gegen jede Form von Indifferenz und Wohltemperiertheit - mit Ausnahme, versteht sich, von Bachs Wohltemperiertem Klavier. Wer sich also zu Eislers Musik bekennt, aber von Eislers Haltung glaubt absehen zu können, verkennt diese Musik, die - in jeder ihrer Formen - ein Resultat seiner Haltung ist.
»Wegen schlechter Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt«: Mit diesem bösen Wort Kurt Tucholskys wollte sich der junge Hanns Eisler nicht abfinden. Eine Revolution, die nur in der Musik stattfindet, also in einer neuen und kühnen Behandlung des musikalischen Materials, wie sie sein Lehrers Arnold Schönberg praktizierte, erschien Eisler, bei aller glühenden Verehrung für seinen Lehrer, reines l'art pour l'art ohne eine mit ihr einhergehende politische Revolution. Erst eine solche, so glaubte Eisler - und mit ihm glaubten es viele fortschrittliche Geister von Walter Benjamin bis Bertolt Brecht -, wäre in der Lage, das Bildungsprivileg zu beseitigen und damit auch jenen das Verständnis eines Komponisten wie Schönberg zu ermöglichen, denen dies bisher in der Klassengesellschaft verwehrt war. Noch ahnten sie alle nicht, dass vor Hitler bald die bürgerlichen Bildungseliten ebenso krass versagen würden wie die proletarischen Massen, die in Scharen von roten zu braunen Kämpfern wurden, während die »besseren Leute« Goethe auf den Lippen und Hitler im Herzen trugen. Noch konnte man mit Eisler davon träumen, dass sich der Graben zwischen E- und U-Musik, ein Spiegelbild des Grabens zwischen den Klassen, aufheben ließe und sich das gute Alte mit dem schlechten Neuen verbünden könnte zu einer neuen produktiven Qualität. Nicht das Neue um des Neuen willen sollte Ziel der kompositorischen Arbeit sein, sondern die Funktion der Musik sollte eine neue sein, von einem Genuss- und Rauschmittel sollte Musik zu einem Mittel der Erkenntnis werden, einem Mittel im Klassenkampf. Entsprechend komponierte Eisler neben seinen frühen zwölftönigen Werken bald auch rasch eingängige Massenlieder, was seinen Lehrer Arnold Schönberg so erzürnte, dass er an einen Freund schrieb, am liebsten würde er Eisler »übers Knie legen« und eine Tracht Prügel verabreichen, um ihm die politischen Flausen auszutreiben.
Es war ein Glücksfall für Eisler (und uns), dass er um 1927 in Bertolt Brecht einen Freund fand, der das radikale Gegenbild zu Schönberg darstellte und ihm den Absprung von diesem erleichterte, einer, der allem bürgerlichen Geniekult ebenso abhold war wie er selbst und auf seinem Gebiet dasselbe Ziel verfolgte, nämlich Literatur umzufunktionieren zu einem Instrument im Klassenkampf. Wir verdanken dieser Freundschaft neben einer Fülle von Liedern zahlreiche Bühnenmusiken, etwa zu den Stücken Die Mutter, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, Schweyk im Zweiten Weltkrieg und Galileo Galilei, Bühnenmusiken, die origineller sind als das meiste, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an sogenannter absoluter Musik entstand. Vorzugsweise gilt das für Eislers Musik zu Brechts Lehrstück Die Maßnahme, die weit mehr als bloße Bühnenmusik ist, durch die vielmehr Brechts Stück erst seine unerbittliche Schlagkraft, aber auch seine bewegende emotionale Dimension erhält. Die Maßnahme ist so etwas wie die Einlösung aller Forderungen, die Eisler und Brecht an die Kunst gestellt haben. Leider kennt kaum jemand Die Maßnahme, weil sie nie aufgeführt wird, was wiederum seinen Grund in ihrem als skandalös empfundenen Inhalt hat, wird hier doch von vier kommunistischen Agitatoren, die sich auf einer geheimen Mission befinden, ein fünfter Kamerad, der undiszipliniert und allzu weichherzig war, zum Tode verurteilt, wofür sich wiederum die vier Agitatoren vor einem Parteigericht rechtfertigen müssen. Bedenkt man die Moskauer Schauprozesse der 30er Jahre mit ihren Selbstbezichtigungen, wirkt Die Maßnahme auf beklemmende Weise prophetisch, stimmt doch der von seinen Genossen zum Tode Verurteilte seiner Liquidierung ausdrücklich selbst zu.
Die Vertreibung Eislers und Brechts aus Deutschland durch die Nazis bedeutete für beide nicht nur den schmerzlichen Verlust der Heimat und die Konfrontation mit einer radikal anderen Lebenswirklichkeit, sondern auch den Verlust jenes Publikums, an das sie bisher ihre Werke adressiert hatten. Im kalifornischen Exil, in dem uneingeschränkt die kapitalistischen Marktgesetze regierten, waren beide ganz auf sich zurückgeworfen, wodurch auch ihre Kunst Gefahr lief, monologisch zu werden. Ein Umstand, der Eisler wohl weniger zu schaffen machte als Brecht, nicht nur weil Eisler, im Gegensatz zu Brecht, bald Arbeit fand und in Hollywood zum gefragten Filmkomponisten wurde, was gleichzeitig auch gesellschaftlichen Umgang mit Berühmtheiten wie Charlie Chaplin oder Thomas Mann bedeutete, sondern weil die isolierte Exilsituation sein Liedschaffen in gewisser Weise sogar begünstigte. Eisler musste nun nicht mehr auf unmittelbar aktivierende Wirkung bedacht sein und entsprechend eingängig schreiben, sondern konnte sich im Vertrauen auf das Musikverständnis »besserer Zeiten« auch wieder avancierter musikalischer Mittel bedienen, wie sie ihm durch seinen Lehrer Schönberg vermittelt worden waren, l'art pour l'art war kein Schreckgespenst mehr. Angesichts der »aktivierenden Musik«, die in den USA täglich aus dem Radio töne, »nämlich Chöre, die zum Kauf von Coca-Cola animieren«, könne man, so Eisler, »nur noch verzweifelt nach l'art pour l'art rufen«. Im Exil durfte Eisler auch wieder jene Gefühle in seiner Musik zulassen, die er sich früher zumeist verboten hatte: Trauer, Resignation, sogar Verzweiflung. Neu war das Heimweh. Wie herzzerreißend tönt die Klage in Eislers Vertonung des Brecht-Gedichts Und ich werde nicht mehr sehen / das Land, aus dem ich gekommen bin (»nicht die bayrischen Wälder, nicht das Gebirge im Süden, / nicht das Meer, nicht die märkische Heide, / die Föhre nicht, noch die Wein hügel am Fluß im Frankenland, / nicht in der grauen Frühe, nicht am Mittag / und nicht wenn der Abend herabsteigt...«), welch abgrundtiefe Verzweiflung spricht aus dem im Werk Eislers beispiellos finsteren Lied Über den Selbstmord (»In diesem Lande und in dieser Zeit / dürfte es trübe Abende nicht geben, / auch hohe Brücken über die Flüsse nicht«)!
Zweifellos ist Eislers umfangreiches amerikanisches Liedwerk seine kostbarste, dauerhafteste musikalische Hinterlassenschaft. Es belegt zudem, was für ein kolossaler Leser Eisler war, finden sich in ihm doch neben den vielen vertonten Brecht-Gedichten - es sind etwa 200 Gedichte! - auch Lieder nach Texten von Anakreon, Xenophanes, Shakespeare, Pascal, Goethe, Hölderlin, Heine, Karl Kraus oder Peter Altenberg. Eislers wahrhaft staunenswerte literarische und auch philosophische Belesenheit beeindruckte ausnahmslos alle, die ihm je begegnen durften. Thomas Mann, den Eisler bei der Arbeit am Doktor Faustus musikalisch beriet (ebenso wie Theodor W. Adorno), rühmte ihn nicht nur als einen der witzigsten und amüsantesten, sondern auch als einen der klügsten unter seinen Freunden. Ob Stendhal oder Proust, Swift oder Joyce, Goethe oder Kafka, Cervantes oder Tolstoi, Hegel oder Marx, sie und viele andere waren Eisler im Gespräch ebenso selbstverständlich präsent wie etwa große Memoiren- und Geschichtswerke. Dass er Literatur, die er liebte, stets auch nach ihrer »Brauchbarkeit« im politischen Kampf befragte, zeigt am eindrücklichsten sein von vielen als respektlos empfundener Umgang mit Hölderlin, dessen Gedichte er für seine Vertonungen hemmungslos kürzte und ummontierte, nicht nur um ihnen ihre schon von Schiller beklagte »Überfülle« zu nehmen, sondern auch um den »frühen Jakobiner«, den er in Hölderlin sah, deutlicher hervortreten zu lassen.
Hanns Eisler war ein erklärter Feind der Dummheit, vor allem auch der Dummheit in der Musik, in der sie sich seiner Ansicht nach vorzugsweise »erhaben« gibt. Den begnadeten Polemiker zeigen nicht nur seine frühen Musikkritiken für die Rote Fahne, in denen er lustvoll die Musikgrößen der 20er Jahre a ttackiert, sondern auch noch seine späten Gespräche mit Hans Bunge. Wie erfrischend, wenn er sich etwa die simple musikalische Illustrations technik im Rosenkavalier von Richard Strauss vornimmt (und dabei implizit Strawinskys Wort vom »Sklerosenkavalier« bestätigt): »Wenn von einem Hund gesprochen wird, bellt es im Orchester, wenn von einem Vogel gesprochen wird, zwitschert es, wenn vom Tod gesprochen wird, werden die Herren Posaunisten bemüht, in der Liebe gibt es die geteilten Geigen in E-Dur, und beim Triumph setzt auch noch das bewährte Schlagwerk ein, das ist unerträglich.« Auch wo Dummheit sich avantgardistisch aufzäumt, ließ Eisler sich nicht täuschen. Über Karlheinz Stockhausens elektronisches Werk Drei Jünglinge im Feuerofen urteilte er: »Dieser Bibelabschnitt ist in der Übersetzung Luthers sprachlich ein herrliches Stück, ein Bericht vorgeschichtlicher Résistance. Was macht Stockhausen daraus? Der Text wird durch die Behandlung der Tonbänder bewußt unverständlich gemacht und damit der eigentliche soziale Sinn dieser Bibelstelle wegeskamotiert. Was verständlich bleibt, ist ›Großer Gott, wir loben dich‹. Sie müssen zugeben, daß es dazu die Technifizierung nicht gebraucht hätte . Es ist, als ob die Musikriege des Vereins ›Königin Luise‹ mit Raketenflugzeugen in die nächste Dorfkirche gebracht würde.«
Das erste Gebot für den Komponisten wie den Interpreten sei es, so Eisler, »die Gefühle zu reinigen«. Eisler verabscheute in der Musik alles Dumpfe, Dunstige, Pappige, Pompöse, Schwülstige ebenso wie das Weinerliche und Süßliche. Im Widerwillen gegen »Musik, die schwitzt« war er sich sogar mit dem ansonsten wenig geschätzten Nietzsche einig, mit dem er allerdings auch die Ambivalenz gegenüber Richard Wagner teilte. Eisler wollte, wie Ernst Bloch es ausdrückte, »der Musik den schweren Schritt abgewöhnen«. Entsprechend bemühte er sich in seiner Musik um Leichtigkeit, Eleganz, Durchsichtigkeit, Heiterkeit und - auch solche Attribute verschmähte er nicht zur Charakterisierung guter Musik - um Freundlichkeit und Höflichkeit. Brechts Maxime »Allem, was du empfindest, gib die kleinste Größe!« könnte auch die seine gewesen sein.
Eislers von vielen Solidaritätskundgebungen begleitete Ausweisung aus den USA durch den McCarthy-Ausschuss für »unamerikanische Umtriebe« hätte, denkt man, für den alten Klassenkämpfer eigentlich ein Glücksfall sein müssen, hatte sie doch seinen Umzug in den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden zur Folge. Doch die Mühen der Ebenen, die auf die Mühen der Gebirge folgten, erwiesen sich als ungleich schwieriger und letztlich unbezwingbar, kamen doch die Geister der Revolution, die Eisler einst gerufen hatte, nun als das Gespenst kleinbürgerlicher Funktionäre aus der Sowjetunion zurück in die sowjetisch besetzte Zone und spätere DDR. Die ästhetischen Vorstellungen dieser Apparatschiks unterschieden sich oft kaum von jenen derer, die Eisler 1933 aus Deutschland vertrieben hatten. Sogar von »volksfremder Dekadenz« war schon wieder die Rede, und es machte Eisler nicht beliebter, dass er öffentlich erklärte, »die volksnahe Dekadenz« sei das ungleich schlimmere Übel. Es half keine Anpassungsakrobatik, wie Eisler sie in einigen allzu gefällig wirkenden frühen DDR-Werken praktizierte, etwa den Neuen Deutschen Volksliedern (nach einfältigen Gedichten des zum Kulturminister aufgestiegenen Johannes R. Becher): Eisler war in der DDR ein Fremdkörper - und man ließ es ihn spüren, auch wenn man ihm den Nationalpreis und andere zweifelhafte Ehrungen zukommen ließ. Das 1953 vorab publizierte Libretto seiner projektierten Oper Johann Faustus wurde in endlosen und entwürdigenden Diskussionen zwischen Kulturfunktionären und Künstlern so scharf, ja geradezu feindlich attackiert, dass das für Eisler einem Verbot seiner Oper gleichkam und er die Arbeit an ihr für immer einstellte.
Eislers Situation in der DDR glich exakt jener Brechts, der sie damals mit den Versen umschrieb: »Den Haien entrann ich, / die Tiger erlegte ich, / aufgefressen wurde ich von den Wanzen.« Nach Brechts überraschendem Tod im Jahr 1956 und dem Ende ihrer Zusammenarbeit wurde es sehr einsam um Eisler, der sich nicht mehr gebraucht fühlte. Eisler musste erleben, wie der Musikbetrieb der DDR zur jämmerlichen Kopie des verhassten bürgerlichen Musikbetriebs wurde, auch im sozialistischen Staat wurden lieber die Werke eines Kommunistenfressers wie Rachmaninow aufgeführt als jene des Genossen Eisler. Dass nicht Brecht, sondern Kafka der wahre Realist des 20. Jahrhunderts war, lehrte Eisler im selben Jahr, 1956, dann der XX. Parteitag der KPdSU mit seinen Enthüllungen über Stalins Verbrechen. Es war wohl der schwerste Schlag seines Lebens. Die Gefühle der Trauer und Resignation, die sich seiner längst bemächtigt hatten, verstärkten sich nun noch und trieben ihn in Depressionen, denen er auch durch internationale Erfolge wie die Londoner Erstaufführung seiner Deutschen Sinfonie im Januar 1962 oder Fluchten nach Wien und in den Alkohol nicht zu entkommen vermochte. Ernste Gesänge ist Eislers letzte Botschaft an die Nachgeborenen betitelt, und schon das Hölderlin-Motto dieser sieben Gesänge - »Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen, / Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus« - signalisiert Eislers Rückzug aus der geschichtlichen Welt der Klassenkämpfe ins Reich der Kunst, ein Rückzug, den der Schluss des ersten Gesangs, wieder eine Hölderlin-Vertonung, noch bestätigt: »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl.« Wer hätte es für möglich gehalten, dass Hanns Eisler, der Kämpfer für eine bessere Welt, einmal Zeilen wie diese aus einem Gedicht von Leopardi vertonen würde: »Nichts gibt's, was würdig wäre deiner Bemühungen, / Und keinen Seufzer verdient die Erde. / Schmerz und Langeweile sind unser Los / Und Schmutz die Welt, nichts andres, / Beruhige dich.« Sich zu beruhigen und in Ruhe dahinzuleben lag nicht in Eislers Natur. Am 6. September 1962 machte eine Herzattacke, es war nicht die erste, seinem Leben ein Ende.
(Januar 2012)
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© der Originalausgabe 2012 by Edition Elke Heidenreich
bei C. Bertelsmann, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es ist keine Übertreibung: Die Jahre meiner Kindheit und frühen Jugend hätte ich ohne Musik kaum überstanden. Ich war unersättlich nach Musik in jeder Form. Musik schützte mich gegen die Zumutungen eines Lebens, das ich meist in Heimen und Internaten verbrachte. In der Musik fand ich alles, was mir die Realität verwehrte. Musik hatte die Macht, mich meine Ohnmacht (manchmal) vergessen zu lassen. Musik bedeutete Ablenkung, Entrückung, Erhebung, Traum, Rausch, Trost, Vergessen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass Musik auch aufrütteln, ein Instrument der Erweckung, der Empörung, ja des Aufruhrs sein und unmittelbar in die Lebenswirklichkeit eingreifen könnte. Bis ich eines Tages, es war in meinem 16. oder 17. Lebensjahr, in eine Tübinger Gesellschaft von Künstlern und Studenten geriet, in der einer spät in der Nacht eine Platte auflegte, auffällig behutsam - es handelte sich noch um eine Schellackplatte -, und eine wahrhaft unerhörte Musik zu ertönen begann, die mich vom ersten Takt an elektrisierte.
Zu hören war eine heisere, aber trompetenscharfe Männerstimme, die mit höhnischer Ironie und zorniger Wut, begleitet nur von Saxofon, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Banjo und Klavier, die Ballade von den Säckeschmeißern vortrug, eine Anklage gegen die massenweise Vernichtung von Lebensmitteln zum Zwecke der Weltpreissteigerung. Der Komponist dieser Ballade über brasilianische Arbeiter, die tonnenweise Kaffeesäcke ins Meer kippen müssen, hieß Hanns Eisler, und der Sänger, der sich so radikal von den allseits geschätzten Tenören unterschied, hieß Ernst Busch. Für immer prägten sich mir damals die Schlusszeilen dieses mitreißenden Songs ein: »Doch wann schmeißen die Säckeschmeißer / die fetten Räuber hinterher?« Die Rückseite dieser Schellackplatte enthielt ein Lied, mit dem mich Ernst Busch womöglich noch mehr mitriss, Hanns Eislers Solidaritätslied, nach einem Text von Bertolt Brecht, mit der Strophe: »Unsre Herrn, wer sie auch seien, / sehen unsre Zwietracht gern, / denn solang sie uns entzweien, / bleiben sie doch unsre Herrn«, und dem Refrain: »Vorwärts, und nicht vergessen, / worin unsre Stärke besteht! / Beim Hungern und beim Essen, / vorwärts, und nie vergessen / die Solidarität!« Das Lied war zwar im Marschtempo gehalten, aber nicht nur, weil es in Moll stand, konnte man sich dazu unmöglich den dumpfen Gleichschritt marschierender Kolonnen vorstellen, vielmehr hatte es etwas energisch Beschwingtes und ansteckend Aufsässiges.
Dass ich nach meiner ersten Begegnung mit Musik Hanns Eislers mehr von ihm hören, mehr über ihn wissen wollte, versteht sich. Doch im Westdeutschland der 1950er Jahre schien es nahezu unmöglich, an Musik von ihm und Informationen über ihn zu gelangen. Es war die Zeit des kältesten Krieges, in der Hanns Eislers Name und Musik so tabu waren wie alles, was aus der DDR kam, die damals nur in Anführungszeichen existierte oder als »Ostzone«, hatte Eisler doch die als »Spalterhymne« geschmähte Hymne der DDR komponiert (Auferstanden aus Rui nen und der Zukunft zugewandt). Die Adenauer-Jahre erschienen mir (und nicht nur mir) später als bleierne Zeit, eine Metapher aus Hölderlins Gedicht Komm! ins Offene, Freund!, die ich bei niemand anderem als Hanns Eisler fand, der dieses Gedicht in seinen ebenso witzigen wie gescheiten Gesprächen mit Hans Bunge zitiert und interpretiert. Doch diese waren damals noch gar nicht geführt worden, und Hans Bunge war noch nicht mein Freund.
Das hässlichste Merkmal dieser bleiernen Zeit war die systematische Verdrängung der jüngsten deutschen Vergangenheit mit ihrem beispiellosen Zivilisationsbruch. Die schlauen Deutschen hatten sich eine »Stunde Null« erfunden - und vor der sollte nichts gewesen sein. Allenfalls wurden die eigenen Leiden in der »schrecklichen Zeit« beklagt, doch nach den Ursachen des Schreckens fragte man lieber nicht, das Wirtschaftswunder gebot, »nach vorn« zu schauen, und machte blind und taub gegenüber den Untaten einer blutigen Vergangenheit. Zeitweise lebte ich damals in der einst so schönen Stadt Ulm, die in den letzten Kriegstagen in Schutt und Asche gelegt wurde. Man bewegte sich dort immer noch zwischen Ruinen, aber man nahm sie, das war mein Eindruck, gleichsam als naturgegeben, von Verstörung, Scham, Reue verspürte ich jedenfalls wenig. Allerdings existierte in Ulm ein großes Kino, in dem zwar der übliche Schund der westdeutschen Nachkriegsfilmproduktion lief, Filme, in denen es keine Nazis und schon gar keine Juden gab, dafür viele fidele und rundum zufriedene Dummbeutel, doch da der Sohn des Kinobesitzers von den Nazis wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet worden war, zeigte dieser in seinem Kino an jedem Sonntagmorgen Bei Nacht und Nebel, den Film von Alain Resnais über die Befreiung von Auschwitz - und dort kam es zu meiner zweiten nachhaltigen Begegnung mit der Kunst Hanns Eislers, der zu diesem Film die Musik komponiert hatte.
Was beeindruckte und bewegte mich an dieser Musik so außerordentlich, dass sie für mich sogar zur stärksten Botschaft des Films von Alain Resnais werden konnte? Es war die bestechende musikalische Intelligenz Eislers, der sich verboten hatte, die grauenvollen Bilder der mit Bulldozern zusammengeschaufelten Leichenberge musikalisch zu »illustrieren«, etwa durch eine von Angst und Panik erfüllte Musiksprache, deren Wirkung doch nur eine Steigerung des Grauens bedeutet hätte, sondern der durch äußerste Schlichtheit und Sparsamkeit der musikalischen Mittel - zwei einsame Stimmen von Flöte und Klarinette und, zu den allergrausamsten Szenen, ein fast tonloses Streicher-Pizzicato - eine dialektische Gegenbewegung schuf, die den Zuschauer, den die gezeigten Bilder zu überwältigen drohen, gleichsam in eine andere Richtung weist, in der, wenn auch noch so zaghaft, etwas wie Hoffnung aufkeimt, dass Geschichte nicht für immer identisch sein muss mit Mord und Grauen. Alain Resnais hat später berichtet, wie verblüfft und irritiert er und sein Filmteam bei der Aufnahme von Eislers Musik waren und »wie aufgeregt, daß die üblichen Regeln nicht mehr galten«. Als einer der von den Filmbildern überwältigten Musiker Eisler im Aufnahmestudio fragte, ob das, was er da zu spielen habe, »wirklich alles« sei, soll dieser nur geantwortet haben: »Monsieur, meine Musik ist freundlich.« Die gewaltige Wirkung von Nacht und Nebel »ist mindestens zur Hälfte auf die Musik zurückzuführen«, schrieb der große Dokumentarfilmer Joris Ivens. Leider, so muss man heute hinzufügen, hat Hanns Eislers dialektisches Verfahren beim Schreiben von Filmmusik keine Schule gemacht, heute schwimmen selbst die Filme besserer Regisseure in einer klebrigen Musiksoße, die unablässig über sie ausgegossen wird und alle Bilder aufweicht oder ertränkt. Musikalische Intelligenz aber müsste sich darin zeigen, so Hanns Eisler, Bildern wie Texten »zu widerstehen«.
Was Widerstand angeht: Gegen Eislers Musik war ich bald völlig widerstandslos, und sie wurde mir desto wichtiger und notwendiger, je mehr und genauer ich sie in den späten 1950er und frühen 60er Jahren auf meinen vielen Reisen in die DDR bei Dichterfreunden oder auch bei Theaterbesuchen im Berliner Ensembleendlich kennenlernen durfte. Was an Eisler-Schallplatten in Ostberlin schon wieder vergriffen oder aus dem Verkehr gezogen war, besorgten mir, auf welch krummen Wegen auch immer, zwei leidenschaftliche Eisler-Bewunderer: Wolf Biermann, der sich gern als Eisler-Schüler ausgab, und Hans Bunge, damals noch Leiter des Brecht-Archivs und noch nicht »in Ungnade gefallen«, dem es später dann gelang, Hanns Eisler zu jenen großartigen Gesprächen zu überreden, in denen er ihm, wie Brechts berühmter Zöllner, »seine Weisheit abverlangt« hat. Wenn ich, schwer mit Platten und Büchern bepackt, von meinen Beutezügen aus Ostberlin heimkehrte in die oberschwäbische Provinz, tönte das alte Forstamt in Weingarten, in dem mein Bruder und ich zwei Dachzimmerchen (illegal) bewohnten, bald von Klängen, wie sie dort so ungewohnt und - für manchen Vorübergehenden wohl auch erschreckend - sicher noch nie vernommen wurden, von Ernst Busch gesungene kommunistische Kampflieder wie das Einheitsfrontlied oder Der heimliche Aufmarsch, Lieder zu Brechts Theaterstück Die Mutter wie Das Lied von der Suppe (»Wenn du keine Suppe hast, / wie willst du dich da wehren? / Da musst du den ganzen Staat von unten nach oben kehren, / bis du deine Suppe hast: / dann bist du dein eigener Gast«), das Lob der Dialektik (»Wer noch lebt, sage nicht: niemals«) oder die Grabrede über einen Genossen, der an die Wand gestellt wurde mit ihren unüberhörbaren Anleihen bei Bachs Matthäuspassion, die Eislers hohe »Kunst zu erben« demonstrieren. Die Kunst zu erben, so war ein transkribierter Dialog Eislers mit seinem alten Freund Ernst Bloch überschrieben. Aber auch so schlichte und zarte Lieder wie die Kinderhymne (»Anmut sparet nicht noch Mühe«), eigentlich die ideale deutsche Nationalhymne, wunderbar skurrile Lieder wie Mutter Beimlein hat ein Holzbein und Die haltbare Graugans oder Schubert'sche Innigkeit heraufbeschwörende Lieder wie Vom Sprengen des Gartens, Ostersonntag oder An den kleinen Radioapparat zählten zum festen Repertoire unterm Dach des Forstamts. Auch erklang dort Eislers ebenso originelle wie eindrucksvolle Instrumentalmusik, am häufigsten wohl Eislers bedeutendstes Kammermusikwerk Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben, komponiert für einen Film von Joris Ivens und gewidmet Arnold Schönberg, Eislers Lehrer.
Zum bloßen Genuss des Hörens kam bald auch die intensive Beschäftigung mit Eislers theoretischen Schriften, seinem Werdegang und seinem Verhältnis zu anderen Komponisten und Künstlern. Geradezu missionarisch versuchte ich damals, mit meiner Eisler-Begeisterung möglichst viele Menschen anzustecken, indem ich Aufsätze über ihn schrieb und, nachdem ich 1964 Kulturredakteur beim Rundfunk geworden war, dort nicht nur oft Eislers Musik zu Gehör brachte, sondern auch die aufregendsten seiner Gespräche mit Hans Bunge. Den Rundfunk-Oberen, in meinem Fall ausnahmslos stramme CSU-Mannen, gefiel das naturgemäß wenig, doch sie beließen es bei ein paar Ermahnungen, sie waren, wie mir erst später bewusst wurde, bereits ein wenig in die Defensive geraten, denn unüberhörbar rumorte schon überall die 68er-Bewegung. In diesem Klima einer allseits aufkeimenden Aufsässigkeit, für das Eislers Musik wie geschaffen war, wagte es eine Fernsehredakteurin des Hessischen Rundfunks sogar (wozu immer noch Mut gehörte), mir den Auftrag für einen Eisler-Film zu erteilen. Die Geschichte dieses Films, dem ich den Titel Hanns Eisler - Zu früh? Zu spät? gab, wäre eine eigene Geschichte wert, denn er passte weder ins politische Konzept der DDR noch Westdeutschlands, was bedeutete, dass mir fast kein Filmmaterial über Eisler zur Verfügung stand - die DDR rückte ihres nicht heraus, und im Westen gab es noch nichts (außer ein paar Aufnahmen vom »Steirischen Herbst« in Graz). Immerhin gelang es mir, sozusagen als Ausgleich für fehlende Musikaufnahmen, nicht nur Ernst Bloch und den Wiener Essayisten Ernst Fischer (der inzwischen mit Eislers zweiter Frau Lou verheiratet war) zu Gesprächen über Eisler zu bewegen, sondern auch den übervorsichtigen Theodor W. Adorno, der im kalifornischen Exil zwar gemeinsam mit Eisler das Buch Komposition für den Film verfasst hatte, aber im Kalten Krieg daran nicht gern erinnert werden wollte und auf Abstand zu früheren marxistischen Freunden bedacht war.
Als ein folgenreicher Nebeneffekt der Filmarbeit erwies sich, dass sich unter den Freunden, die ich für eine Filmaufnahme versammelt hatte, bei der wir - wieder eine Notlösung! - Ausschnitte der Bandaufnahme von Hans Bunges Gesprächen mit Hanns Eisler anhörten, auch Margarethe von Trotta befand, die dabei erstmals, aus Eislers Mund, Hölderlins Wort von der bleiernen Zeit vernahm, jene Metapher, die sie dann als Titel für einen Film wählte, der im Ausland, vor allem in Italien, heftige Diskussionen über die prekäre politische Situation in Westdeutschland auslöste. Es stand der deutsche Herbst vor der Tür - und mit ihm begann Eislers Musik endlich auch in die Bundesrepublik einzuziehen, noch nicht in den bürgerlichen Konzertbetrieb, den Eisler ohnehin immer verabscheut hatte, doch in manche Universitäten, an denen sich im Zeichen der APO Eisler-Chöre bildeten, oder bei Plattenfirmen, die plötzlich, wenn auch nicht Eislers Kampflieder, so doch Eislers vorwiegend im Exil entstandenes Kunstlied-Werk entdeckten (wobei es auch zu peinlichen interpretatorischen Missverständnissen von Eislers Intentionen kam, für die etwa Dietrich Fischer-Dieskaus Eisler-Einspielung ein eklatantes Beispiel liefert). Auch erschienen jetzt einige Bücher über Eisler - das vorliegende von Friederike Wißmann, das einen besonders interessanten Ansatz verfolgt, weil es Eislers Haltung und Leben aus seiner Musik heraus entwickelt und nicht umgekehrt, wird nicht das letzte Buch über Hanns Eisler gewesen sein. Irgendwann tauchten dann auch jüngere Musiker auf, die jenseits der eingefahrenen Gleise Eisler-Aktivitäten entfalteten, hervorzuheben etwa Heiner Goebbels, der zunächst das Linksradikale Blasorchester gründete und seine erste Schallplatte Vier Fäuste für Hanns Eisler nannte, später mit dem Ensemble modern eine faszinierende Eisler-Collage schuf, betitelt Eislermaterial, in der er ebenso frei wie überzeugend mit Eislers Musik umgeht und der Schauspieler Josef Bierbichler mit ganz leisen, aber desto eindringlicheren Tönen eine überraschend neue Qualität des EislerGesangs gewinnt. Heiner Goebbels bekannte einmal, dass seine Entscheidung, professionell Musik zu machen, überhaupt erst durch Eislers Musik und dessen Gespräche mit Hans Bunge ausgelöst wurde, an denen ihn neben Eislers »Haltung« am meisten deren »ganze Bandbreite« beeindruckt hätte.
Eislers Haltung. Über Hanns Eisler und seine Haltung wohltemperiert und »ausgewogen« zu schreiben, scheint (mir) eine Sache der schieren Unmöglichkeit. Aus meiner Rundfunkzeit weiß ich nur zu gut, dass »ausgewogen« ein Synonym für Indifferenz war, für Feigheit. Was mich aber an Hanns Eisler von Anfang an so übermächtig anzog, war gerade sein Widerwille und Widerstand gegen jede Form von Indifferenz und Wohltemperiertheit - mit Ausnahme, versteht sich, von Bachs Wohltemperiertem Klavier. Wer sich also zu Eislers Musik bekennt, aber von Eislers Haltung glaubt absehen zu können, verkennt diese Musik, die - in jeder ihrer Formen - ein Resultat seiner Haltung ist.
»Wegen schlechter Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt«: Mit diesem bösen Wort Kurt Tucholskys wollte sich der junge Hanns Eisler nicht abfinden. Eine Revolution, die nur in der Musik stattfindet, also in einer neuen und kühnen Behandlung des musikalischen Materials, wie sie sein Lehrers Arnold Schönberg praktizierte, erschien Eisler, bei aller glühenden Verehrung für seinen Lehrer, reines l'art pour l'art ohne eine mit ihr einhergehende politische Revolution. Erst eine solche, so glaubte Eisler - und mit ihm glaubten es viele fortschrittliche Geister von Walter Benjamin bis Bertolt Brecht -, wäre in der Lage, das Bildungsprivileg zu beseitigen und damit auch jenen das Verständnis eines Komponisten wie Schönberg zu ermöglichen, denen dies bisher in der Klassengesellschaft verwehrt war. Noch ahnten sie alle nicht, dass vor Hitler bald die bürgerlichen Bildungseliten ebenso krass versagen würden wie die proletarischen Massen, die in Scharen von roten zu braunen Kämpfern wurden, während die »besseren Leute« Goethe auf den Lippen und Hitler im Herzen trugen. Noch konnte man mit Eisler davon träumen, dass sich der Graben zwischen E- und U-Musik, ein Spiegelbild des Grabens zwischen den Klassen, aufheben ließe und sich das gute Alte mit dem schlechten Neuen verbünden könnte zu einer neuen produktiven Qualität. Nicht das Neue um des Neuen willen sollte Ziel der kompositorischen Arbeit sein, sondern die Funktion der Musik sollte eine neue sein, von einem Genuss- und Rauschmittel sollte Musik zu einem Mittel der Erkenntnis werden, einem Mittel im Klassenkampf. Entsprechend komponierte Eisler neben seinen frühen zwölftönigen Werken bald auch rasch eingängige Massenlieder, was seinen Lehrer Arnold Schönberg so erzürnte, dass er an einen Freund schrieb, am liebsten würde er Eisler »übers Knie legen« und eine Tracht Prügel verabreichen, um ihm die politischen Flausen auszutreiben.
Es war ein Glücksfall für Eisler (und uns), dass er um 1927 in Bertolt Brecht einen Freund fand, der das radikale Gegenbild zu Schönberg darstellte und ihm den Absprung von diesem erleichterte, einer, der allem bürgerlichen Geniekult ebenso abhold war wie er selbst und auf seinem Gebiet dasselbe Ziel verfolgte, nämlich Literatur umzufunktionieren zu einem Instrument im Klassenkampf. Wir verdanken dieser Freundschaft neben einer Fülle von Liedern zahlreiche Bühnenmusiken, etwa zu den Stücken Die Mutter, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, Schweyk im Zweiten Weltkrieg und Galileo Galilei, Bühnenmusiken, die origineller sind als das meiste, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an sogenannter absoluter Musik entstand. Vorzugsweise gilt das für Eislers Musik zu Brechts Lehrstück Die Maßnahme, die weit mehr als bloße Bühnenmusik ist, durch die vielmehr Brechts Stück erst seine unerbittliche Schlagkraft, aber auch seine bewegende emotionale Dimension erhält. Die Maßnahme ist so etwas wie die Einlösung aller Forderungen, die Eisler und Brecht an die Kunst gestellt haben. Leider kennt kaum jemand Die Maßnahme, weil sie nie aufgeführt wird, was wiederum seinen Grund in ihrem als skandalös empfundenen Inhalt hat, wird hier doch von vier kommunistischen Agitatoren, die sich auf einer geheimen Mission befinden, ein fünfter Kamerad, der undiszipliniert und allzu weichherzig war, zum Tode verurteilt, wofür sich wiederum die vier Agitatoren vor einem Parteigericht rechtfertigen müssen. Bedenkt man die Moskauer Schauprozesse der 30er Jahre mit ihren Selbstbezichtigungen, wirkt Die Maßnahme auf beklemmende Weise prophetisch, stimmt doch der von seinen Genossen zum Tode Verurteilte seiner Liquidierung ausdrücklich selbst zu.
Die Vertreibung Eislers und Brechts aus Deutschland durch die Nazis bedeutete für beide nicht nur den schmerzlichen Verlust der Heimat und die Konfrontation mit einer radikal anderen Lebenswirklichkeit, sondern auch den Verlust jenes Publikums, an das sie bisher ihre Werke adressiert hatten. Im kalifornischen Exil, in dem uneingeschränkt die kapitalistischen Marktgesetze regierten, waren beide ganz auf sich zurückgeworfen, wodurch auch ihre Kunst Gefahr lief, monologisch zu werden. Ein Umstand, der Eisler wohl weniger zu schaffen machte als Brecht, nicht nur weil Eisler, im Gegensatz zu Brecht, bald Arbeit fand und in Hollywood zum gefragten Filmkomponisten wurde, was gleichzeitig auch gesellschaftlichen Umgang mit Berühmtheiten wie Charlie Chaplin oder Thomas Mann bedeutete, sondern weil die isolierte Exilsituation sein Liedschaffen in gewisser Weise sogar begünstigte. Eisler musste nun nicht mehr auf unmittelbar aktivierende Wirkung bedacht sein und entsprechend eingängig schreiben, sondern konnte sich im Vertrauen auf das Musikverständnis »besserer Zeiten« auch wieder avancierter musikalischer Mittel bedienen, wie sie ihm durch seinen Lehrer Schönberg vermittelt worden waren, l'art pour l'art war kein Schreckgespenst mehr. Angesichts der »aktivierenden Musik«, die in den USA täglich aus dem Radio töne, »nämlich Chöre, die zum Kauf von Coca-Cola animieren«, könne man, so Eisler, »nur noch verzweifelt nach l'art pour l'art rufen«. Im Exil durfte Eisler auch wieder jene Gefühle in seiner Musik zulassen, die er sich früher zumeist verboten hatte: Trauer, Resignation, sogar Verzweiflung. Neu war das Heimweh. Wie herzzerreißend tönt die Klage in Eislers Vertonung des Brecht-Gedichts Und ich werde nicht mehr sehen / das Land, aus dem ich gekommen bin (»nicht die bayrischen Wälder, nicht das Gebirge im Süden, / nicht das Meer, nicht die märkische Heide, / die Föhre nicht, noch die Wein hügel am Fluß im Frankenland, / nicht in der grauen Frühe, nicht am Mittag / und nicht wenn der Abend herabsteigt...«), welch abgrundtiefe Verzweiflung spricht aus dem im Werk Eislers beispiellos finsteren Lied Über den Selbstmord (»In diesem Lande und in dieser Zeit / dürfte es trübe Abende nicht geben, / auch hohe Brücken über die Flüsse nicht«)!
Zweifellos ist Eislers umfangreiches amerikanisches Liedwerk seine kostbarste, dauerhafteste musikalische Hinterlassenschaft. Es belegt zudem, was für ein kolossaler Leser Eisler war, finden sich in ihm doch neben den vielen vertonten Brecht-Gedichten - es sind etwa 200 Gedichte! - auch Lieder nach Texten von Anakreon, Xenophanes, Shakespeare, Pascal, Goethe, Hölderlin, Heine, Karl Kraus oder Peter Altenberg. Eislers wahrhaft staunenswerte literarische und auch philosophische Belesenheit beeindruckte ausnahmslos alle, die ihm je begegnen durften. Thomas Mann, den Eisler bei der Arbeit am Doktor Faustus musikalisch beriet (ebenso wie Theodor W. Adorno), rühmte ihn nicht nur als einen der witzigsten und amüsantesten, sondern auch als einen der klügsten unter seinen Freunden. Ob Stendhal oder Proust, Swift oder Joyce, Goethe oder Kafka, Cervantes oder Tolstoi, Hegel oder Marx, sie und viele andere waren Eisler im Gespräch ebenso selbstverständlich präsent wie etwa große Memoiren- und Geschichtswerke. Dass er Literatur, die er liebte, stets auch nach ihrer »Brauchbarkeit« im politischen Kampf befragte, zeigt am eindrücklichsten sein von vielen als respektlos empfundener Umgang mit Hölderlin, dessen Gedichte er für seine Vertonungen hemmungslos kürzte und ummontierte, nicht nur um ihnen ihre schon von Schiller beklagte »Überfülle« zu nehmen, sondern auch um den »frühen Jakobiner«, den er in Hölderlin sah, deutlicher hervortreten zu lassen.
Hanns Eisler war ein erklärter Feind der Dummheit, vor allem auch der Dummheit in der Musik, in der sie sich seiner Ansicht nach vorzugsweise »erhaben« gibt. Den begnadeten Polemiker zeigen nicht nur seine frühen Musikkritiken für die Rote Fahne, in denen er lustvoll die Musikgrößen der 20er Jahre a ttackiert, sondern auch noch seine späten Gespräche mit Hans Bunge. Wie erfrischend, wenn er sich etwa die simple musikalische Illustrations technik im Rosenkavalier von Richard Strauss vornimmt (und dabei implizit Strawinskys Wort vom »Sklerosenkavalier« bestätigt): »Wenn von einem Hund gesprochen wird, bellt es im Orchester, wenn von einem Vogel gesprochen wird, zwitschert es, wenn vom Tod gesprochen wird, werden die Herren Posaunisten bemüht, in der Liebe gibt es die geteilten Geigen in E-Dur, und beim Triumph setzt auch noch das bewährte Schlagwerk ein, das ist unerträglich.« Auch wo Dummheit sich avantgardistisch aufzäumt, ließ Eisler sich nicht täuschen. Über Karlheinz Stockhausens elektronisches Werk Drei Jünglinge im Feuerofen urteilte er: »Dieser Bibelabschnitt ist in der Übersetzung Luthers sprachlich ein herrliches Stück, ein Bericht vorgeschichtlicher Résistance. Was macht Stockhausen daraus? Der Text wird durch die Behandlung der Tonbänder bewußt unverständlich gemacht und damit der eigentliche soziale Sinn dieser Bibelstelle wegeskamotiert. Was verständlich bleibt, ist ›Großer Gott, wir loben dich‹. Sie müssen zugeben, daß es dazu die Technifizierung nicht gebraucht hätte . Es ist, als ob die Musikriege des Vereins ›Königin Luise‹ mit Raketenflugzeugen in die nächste Dorfkirche gebracht würde.«
Das erste Gebot für den Komponisten wie den Interpreten sei es, so Eisler, »die Gefühle zu reinigen«. Eisler verabscheute in der Musik alles Dumpfe, Dunstige, Pappige, Pompöse, Schwülstige ebenso wie das Weinerliche und Süßliche. Im Widerwillen gegen »Musik, die schwitzt« war er sich sogar mit dem ansonsten wenig geschätzten Nietzsche einig, mit dem er allerdings auch die Ambivalenz gegenüber Richard Wagner teilte. Eisler wollte, wie Ernst Bloch es ausdrückte, »der Musik den schweren Schritt abgewöhnen«. Entsprechend bemühte er sich in seiner Musik um Leichtigkeit, Eleganz, Durchsichtigkeit, Heiterkeit und - auch solche Attribute verschmähte er nicht zur Charakterisierung guter Musik - um Freundlichkeit und Höflichkeit. Brechts Maxime »Allem, was du empfindest, gib die kleinste Größe!« könnte auch die seine gewesen sein.
Eislers von vielen Solidaritätskundgebungen begleitete Ausweisung aus den USA durch den McCarthy-Ausschuss für »unamerikanische Umtriebe« hätte, denkt man, für den alten Klassenkämpfer eigentlich ein Glücksfall sein müssen, hatte sie doch seinen Umzug in den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden zur Folge. Doch die Mühen der Ebenen, die auf die Mühen der Gebirge folgten, erwiesen sich als ungleich schwieriger und letztlich unbezwingbar, kamen doch die Geister der Revolution, die Eisler einst gerufen hatte, nun als das Gespenst kleinbürgerlicher Funktionäre aus der Sowjetunion zurück in die sowjetisch besetzte Zone und spätere DDR. Die ästhetischen Vorstellungen dieser Apparatschiks unterschieden sich oft kaum von jenen derer, die Eisler 1933 aus Deutschland vertrieben hatten. Sogar von »volksfremder Dekadenz« war schon wieder die Rede, und es machte Eisler nicht beliebter, dass er öffentlich erklärte, »die volksnahe Dekadenz« sei das ungleich schlimmere Übel. Es half keine Anpassungsakrobatik, wie Eisler sie in einigen allzu gefällig wirkenden frühen DDR-Werken praktizierte, etwa den Neuen Deutschen Volksliedern (nach einfältigen Gedichten des zum Kulturminister aufgestiegenen Johannes R. Becher): Eisler war in der DDR ein Fremdkörper - und man ließ es ihn spüren, auch wenn man ihm den Nationalpreis und andere zweifelhafte Ehrungen zukommen ließ. Das 1953 vorab publizierte Libretto seiner projektierten Oper Johann Faustus wurde in endlosen und entwürdigenden Diskussionen zwischen Kulturfunktionären und Künstlern so scharf, ja geradezu feindlich attackiert, dass das für Eisler einem Verbot seiner Oper gleichkam und er die Arbeit an ihr für immer einstellte.
Eislers Situation in der DDR glich exakt jener Brechts, der sie damals mit den Versen umschrieb: »Den Haien entrann ich, / die Tiger erlegte ich, / aufgefressen wurde ich von den Wanzen.« Nach Brechts überraschendem Tod im Jahr 1956 und dem Ende ihrer Zusammenarbeit wurde es sehr einsam um Eisler, der sich nicht mehr gebraucht fühlte. Eisler musste erleben, wie der Musikbetrieb der DDR zur jämmerlichen Kopie des verhassten bürgerlichen Musikbetriebs wurde, auch im sozialistischen Staat wurden lieber die Werke eines Kommunistenfressers wie Rachmaninow aufgeführt als jene des Genossen Eisler. Dass nicht Brecht, sondern Kafka der wahre Realist des 20. Jahrhunderts war, lehrte Eisler im selben Jahr, 1956, dann der XX. Parteitag der KPdSU mit seinen Enthüllungen über Stalins Verbrechen. Es war wohl der schwerste Schlag seines Lebens. Die Gefühle der Trauer und Resignation, die sich seiner längst bemächtigt hatten, verstärkten sich nun noch und trieben ihn in Depressionen, denen er auch durch internationale Erfolge wie die Londoner Erstaufführung seiner Deutschen Sinfonie im Januar 1962 oder Fluchten nach Wien und in den Alkohol nicht zu entkommen vermochte. Ernste Gesänge ist Eislers letzte Botschaft an die Nachgeborenen betitelt, und schon das Hölderlin-Motto dieser sieben Gesänge - »Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen, / Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus« - signalisiert Eislers Rückzug aus der geschichtlichen Welt der Klassenkämpfe ins Reich der Kunst, ein Rückzug, den der Schluss des ersten Gesangs, wieder eine Hölderlin-Vertonung, noch bestätigt: »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl.« Wer hätte es für möglich gehalten, dass Hanns Eisler, der Kämpfer für eine bessere Welt, einmal Zeilen wie diese aus einem Gedicht von Leopardi vertonen würde: »Nichts gibt's, was würdig wäre deiner Bemühungen, / Und keinen Seufzer verdient die Erde. / Schmerz und Langeweile sind unser Los / Und Schmutz die Welt, nichts andres, / Beruhige dich.« Sich zu beruhigen und in Ruhe dahinzuleben lag nicht in Eislers Natur. Am 6. September 1962 machte eine Herzattacke, es war nicht die erste, seinem Leben ein Ende.
(Januar 2012)
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© der Originalausgabe 2012 by Edition Elke Heidenreich
bei C. Bertelsmann, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Friederike Wißmann
Friederike Wißmann, geboren 1973 in Münster, lehrt derzeit Historische Musikwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Wißmann wurde 2003 mit einer Arbeit über Faust im Musiktheater des 20. Jahrhunderts promoviert und 2009 mit einer Arbeit zu Händels Opern habilitiert. Von 1998 bis 2002 war sie Mitarbeiterin der Hanns-Eisler-Gesamtausgabe.
Bibliographische Angaben
- Autor: Friederike Wißmann
- 2012, 300 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570580296
- ISBN-13: 9783570580295
Rezension zu „Hanns Eisler “
"Nach Lektüre dieses in jeder Hinsicht interessanten Buches hat man Lust, Hanns Eislers Lieder, seine Film- und Kammermusiken mit neuen Ohren zu hören."
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