Heillose Zustände
Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht
Eigentlich ist Wachstum gut. Wenn es uns allen bessergehen soll, muss die Wirtschaft wachsen. Wenn aber die Gesundheitsindustrie wachsen soll, müssen mehr Menschen kränker sein. Seit Jahren boomt diese Branche. Warum das so ist und was dies für uns...
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Produktinformationen zu „Heillose Zustände “
Klappentext zu „Heillose Zustände “
Eigentlich ist Wachstum gut. Wenn es uns allen bessergehen soll, muss die Wirtschaft wachsen. Wenn aber die Gesundheitsindustrie wachsen soll, müssen mehr Menschen kränker sein. Seit Jahren boomt diese Branche. Warum das so ist und was dies für uns bedeutet, beleuchtet Deutschlands profiliertester Medizinjournalist Werner Bartens. Er zeigt, dass Krankheiten geradezu erfunden, unnötige Medikamente verschrieben werden, dass die Anzahl intensiver Untersuchungen nicht vom Verlauf der Krankheit abhängt, sondern von der Verfügbarkeit und vom Abschreibebedarf teurer Geräte. Er legt dar, dass die wirkungsvollste Therapie für viele Krankheiten in einem ruhigen Arzt-Patienten-Gespräch liegt und weshalb dafür kein Geld vorhanden ist, obwohl die Gesundheitsausgaben jährlich wachsen. "Heillose Zustände" ist die überfällige Abrechnung eines Insiders mit einem System, das die Menschen kränker, nicht gesünder macht.
Lese-Probe zu „Heillose Zustände “
Heillose Zustände von Werner Bartens Vorwort: Das kranke System
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Was ist los mit der Medizin? Joachim Jähne, Chefarzt der Chirurgie am Henriettenstift in Hannover, beklagt im »Deutschen Ärzteblatt«, dass Ärzte »aufgrund des starken finanziellen Drucks auf die Krankenhäuser « immer mehr operieren und so ihre Patientenzahl steigern - und zwar nicht aus medizinischen, sondern aus ökonomischen Gründen. Der Mann ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Markus Büchler, Chefarzt an der Universitätsklinik Heidelberg, erinnert daran, dass der Entscheidung zur Operation wie auch der Wahl des OP-Verfahrens »ausschließlich medizinische Gründe, keinesfalls aber finanzielle Intentionen zugrunde liegen« sollten. Der Mann, der betont, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, ist Präsident der Chirurgenvereinigung. Was ist da los? Tausende Frauen laufen mit »Schrott in den Brüsten« herum, wie ein Insider die aus minderwertigem Material hergestellten, oft schadhaften Brustimplantate nennt. Ärzte beschweren sich über gefährliche Hüftprothesen mit Metallabrieb - aber wenig später erklärt Susanne Conze, Referatsleiterin Medizinprodukte im Gesundheitsministerium, dass ihr Dienstherr Daniel Bahr deshalb noch lange »keinen Systemwechsel« plane und am laschen Zulassungsverfahren »nichts ändern wolle«. Was ist da los? In der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erklärt Matthias Rothmund, Chef der Gefäßchirurgie und Medizin-Dekan der Universität Marburg: »Das Großexperiment Fusion und Privatisierung zweier Universitätsklinika ist misslungen. Land und Rhön Klinikum AG sind aufgefordert, diese Wahrheit zu erkennen und zu reagieren.« Die Versorgung der Patienten in Mittelhessen dürfe nicht durch weiteren Personalabbau und Einsparungen in Gefahr geraten, weil die Privatisierung der Uniklinika Gießen und Marburg bisher zu wenig Rendite für die Rhön-Aktionäre erbracht habe.
Drei Nachrichten über den Zustand der Medizin - alle drei sind innerhalb von nur einer Woche im April 2012 im offiziellen Standesorgan der Ärzteschaft und dem inoffiziellen Organ des konservativen Bürgertums erschienen - lassen erahnen, wie schlecht es um die Medizin in Deutschland steht. Zwar gibt es Patienten, die mit ihrem Arzt zufrieden sind und ihn loben. Doch die Wut auf die Medizin ist groß. Und fast alle sind wütend: niedergelassene Ärzte, die um die Existenz ihrer Praxis fürchten; Patienten, die beim Arzt zu schnell abgefertigt werden; Klinikärzte, die nicht mehr wissen, wie sie vor lauter Sparzwang gute Medizin machen sollen. Trotzdem sprechen Politiker, wenn Kritik am Gesundheitswesen aufkommt, nur davon, dass sie Details der Gesundheitsreform »nachjustieren« müssen. Doch wer meint, mit ein paar kleinen Veränderungen sei es getan, irrt sich. Der Fehler liegt im System. Im Gesundheitswesen sollte es in erster Linie um die Patienten gehen. Hinter beschönigenden Begriffen wie Gesundheitsreform oder Gesundheitsfonds verbirgt sich hingegen ein bürokratisches Ungetüm, das die Bezahlung der Ärzte und die Verteilung der Kassenbeiträge verkompliziert und kaum die Patienten im Blick hat. Ein Konzept, das sinnvolle Medizin fördert, ist nicht zu erkennen. Die aktuelle Form der Honorierung bietet Ärzten erst recht keine Anreize für eine Heilkunde, die den Kranken zugutekommt. Wird beispielsweise eine Kassenpatientin mit Brustkrebs behandelt, muss der Frauenarzt viel Idealismus und wenig betriebswirtschaftliches Kalkül mitbringen, wenn er gute Medizin betreiben will. Zur Betreuung gehört es, Ängste und Erwartungen zu besprechen, die Abfolge der Chemotherapie zu erläutern und Perspektiven für den oft günstigen Krankheitsverlauf zu eröffnen. Hinzu kommt die medizinische wie die psychologische Begleitung während der Behandlung. Pro Quartal bekommt ein Frauenarzt - je nach Bundesland - pauschal zwischen 15 und 35 Euro dafür. Dass sie für diese zeitintensive und menschlich anspruchsvolle Tätigkeit schlechter bezahlt werden als eine Tankstelle für einen Reifenwechsel, verbittert viele Ärzte zu Recht. Die Patienten haben unter dem falschen Honorarsystem ebenfalls zu leiden. Wenn ein Mensch mit Schwindel zum Arzt kommt, müssten Herz, Hirn, Ohren und Psyche angeschaut werden. Das ist aufwendig. Der Hausarzt begnügt sich womöglich mit einem EKG, der Neurologe mit den Hirnströmen, das irritierte Seelenleben - die häufigste Ursache für Schwindel - kommt in der Regel zu kurz. Der Patient wird von Arzt zu Arzt geschickt, weil keiner die umfangreiche Diagnostik oder ausführliche Gespräche für eine Pauschale von 15 oder 35 Euro auf sich nehmen will, selbst wenn er noch einen kleinen Zuschlag für die Gerätenutzung bekommt. Weil es sich für den niedergelassenen Arzt nicht lohnt, werden immer wieder Patienten mit banalen Beschwerden ins Krankenhaus geschickt. Denn finanziell attraktiv für Ärzte sind nur gesunde Patienten. Diejenigen mit einem Zipperlein, das schnell zu erkennen und zu behandeln ist. Kranke mit verschiedenen oder komplizierten Leiden werden hingegen zum finanziellen Risiko. Die Pauschale deckt nämlich nur eine Behandlung ab. Wer mehrmals kommt, den muss der Arzt zum Nulltarif behandeln. Vor allem geht in dem ständig steigenden Arbeitsdruck etwas verloren, was wesentlich wäre für eine gute Medizin: Zeit für Zuwendung, Zuhören, Trost. Der Patient wird zum Störfaktor.
Die ökonomisierte Medizin gleicht diesen Mangel mit Technik aus: »Kann ein Patient im Krankenhaus nicht mehr genug trinken, bekommt er einen Tropf. Isst er zu wenig oder zu langsam, wird eine Magensonde gelegt. Nässt er ein, wird ein Dauerkatheter gelegt. Verhält er sich unruhig, werden Bett gestelle oder Fixierungen angebracht.« So beschreibt der Marburger Oberarzt Konrad Görg einen Krankenhausalltag, aus dem Fürsorge, Mitgefühl und Menschlichkeit wegrationalisiert wurden. Das gegenwärtige System folgt einer blinden Fortschrittsrhetorik. Medizin ist aber kein Wirtschaftszweig wie jeder andere, in dem mehr Mittel auch mehr Erfolg nach sich ziehen. Mehr Medizin macht nicht zwangsläufig gesünder - sondern manchmal sogar kränker. Gesundheit ist ein Zustand der Selbstvergessenheit, ein »Schweigen der Organe«, das sich nicht immer auf Rezept herstellen lässt. Dennoch verfahren viele Ärzte nach dem zynischen Motto: Es gibt keine Gesunden - nur Menschen, die noch nicht ausreichend untersucht worden sind. Technisch aufwendige Untersuchungen sind lukrativ - etwa mittels CT, Kernspin oder Herzkatheter. Entsprechende Diagnostik machen Ärzte vor allem, weil sie sich separat abrechnen lässt - oder bei Privatpatienten. Gigantische Summen werden so für unnötige Diagnostik und Therapie verschwendet, dabei leiden 40 bis 50 Prozent der Patienten in Arztpraxen unter psychosomatisch überlagerten Beschwerden, die keiner Labor- und Gerätediagnostik, sondern einer geschulten Gesprächsbegleitung bedürfen. Ein irrwitzig hoher Anteil, der die gigantische Verschwendung umso deutlicher macht. Dennoch bestellen Ärzte ihre Patienten nach überstandener Krankheit zu oft unnötigen Nachkontrollen ein. Krebsmediziner stellen Überdiagnosen und verordnen Übertherapien, da Bildgebung und andere Tests inzwischen so genau sind, dass auch Tumore entdeckt und behandelt werden, die nie Beschwerden verursacht hätten. In Fachzeitschriften wird unter dem Motto »Less is more« bereits diskutiert, wie schädlich zu viel Medizin ist. Dabei besteht eine ärztliche Kernkompetenz darin, unnötige Diagnostik zu unterlassen und stattdessen die Ressourcen der Patienten zu aktivieren. Kein Land steckt - neben der Schweiz, den USA und Frankreich - so viel Geld in sein Gesundheitswesen wie Deutschland: mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Von dem Geld kommt jedoch zu wenig dort an, wo es gebraucht wird. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), die das Honorar der Ärzte berechnen und verteilen, sind bürokratisch so aufgebläht, dass viele Ärzte mehr Zeit mit der Abrechnung verbringen als mit ihren Patienten. Ein System, das die Medizin dem freien Spiel des Marktes opfert, ist krank. Eine Option wären Anleihen am Modell Norwegen. Dort ist nicht alles besser, aber einiges kann man sich abschauen: Ärzte bekommen für jeden Patienten, der sich in ihre Liste einschreibt, eine jährliche Pauschale - egal, ob er gar nicht, einmal oder zehnmal kommt. Hinsichtlich der Lebenserwartung und anderer Kriterien für gute Gesundheit steht Norwegen besser da als Deutschland. Vielleicht auch deshalb, weil weniger oft mehr bringt: Norweger gehen im Durchschnitt drei- bis viermal im Jahr zum Arzt, Deutsche hingegen 17- bis 18-mal. Davon haben die Deutschen nicht viel. Im Gegenteil: »Patienten droht ein Desaster.« »Arzneimittel sind nicht mehr sicher.« »Die Gesundheit von Millionen Menschen wird für Wirtschaftsinteressen geopfert.« Was klingt wie eine abstruse Verschwörungstheorie, sind Reaktionen von Ärzten, Patienten und Arzneimittelexperten auf die »Änderungsan träge zum Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes«. FDP und CDU / CSU haben das Gesetz im Sommer 2010 auf den Weg gebracht. 2011 trat es in Kraft. Die Hintergründe sind ähnlich vertrackt wie der Versuch, eine Packungsbeilage zusammenzufalten. In Kürze: Seit 2011 ist die schnellere Zulassung von Medikamenten möglich. Die bringt es mit sich, dass neue Tabletten weniger auf ihre Sicherheit und ihre Vorteile für Patienten geprüft sind. Ob neue Arzneimittel Kranken also mehr Nutzen als Schaden bringen, wie es vernünftigerweise verlangt werden sollte, muss nicht erwiesen sein, damit sie auf den Markt kommen. Die Industrie freut sich, denn je kürzer die Zeit bis zur Zulassung, desto geringer die Entwicklungskosten für ein Medikament. Der Nachteil liegt bei den Verbrauchern. Sie tragen das Risiko und sind unfreiwillig Teilnehmer eines gigantischen Freilandexperiments. Das ist perfide an der gegenwärtigen Medizin: Viele Ärzte und Pflegekräfte geben ihr Bestes für die Patienten, opfern sich in Klinik oder Praxis auf und tragen dazu bei, dass sich die meisten Menschen bei ihrem Arzt gut aufgehoben fühlen. Doch eine Medizinindustrie, die von »Gesundheitspolitikern« unterstützt wird, trägt leider dazu bei, dass Patienten in Gefahr geraten und zu wenig geprüfte Medikamente, zu viele unnötige Untersuchungen und nicht getestete Implantate bekommen. Ein Konzept, das auf mehr Wachstum setzt, ist im Gesundheitswesen fehl am Platz. In der Medizin bedeuten mehr Leistungen nicht automatisch, dass Kranke besser versorgt werden. Von den etwa 2000 beim Deutschen Bundestag registrierten Lobbyverbänden bearbeiten mehr als 400 das Bundesgesundheitsministerium. In der Gesundheitspolitik scheint es gewollt zu sein, dass die Strukturen kompliziert und wenig transparent sind. Nur so kann weiterhin jede Interessengruppe von dem Milliardenmarkt profitieren. Eine Gesundheitsreform, die diesen Namen verdient, gab es schon lange nicht mehr. Nach medizinischen Kriterien und nach den Bedürfnissen der Kranken wird nicht entschieden. In den Ministerien haben Betriebswirtschaftler das Sagen, in den Kliniken die Kaufleute und Controller. Gute Medizin kommt dabei nicht heraus, sondern nur Interessenpolitik auf Kosten der Patienten.
Die Medizinindustrie
Wahnsinn mit Methode: Zement-Wirbel, Tumormarker, Tinnitustherapie
Für die einen sind sie Spielverderber. Den anderen gelten sie als aufrechte Streiter für eine sinnvolle Medizin, die sich am Nutzen für den Patienten und nicht am Profit der Pharmafirmen, Medizintechnikunternehmen und Ärzte orientieren. Die Waffen im Kampf gegen eine dem ökonomischen Diktat unterworfene Medizin, gegen die Marketingabteilungen der Firmen und Krankenhäuser sind jedoch vergleichsweise stumpf. Lediglich ihre kritische Urteilskraft steht jenen zur Verfügung, die eine bessere Medizin wollen und die in unabhängigen Instituten untersuchen, ob neue Therapien Patienten tatsächlich nutzen oder wie gut die wissenschaftlichen Beweise wirklich sind, wenn in Fachartikeln eine neue Behandlung oder umfangreichere Diagnostik angepriesen wird. »Manchmal hat man den Eindruck, das ist Wahnsinn mit Methode «, sagt Jürgen Windeler. Seit mehr als zwei Jahrzehnten tritt er für eine wissenschaftlich fundierte Medizin ein. In den 1990ern war er daran beteiligt, die immer wieder am politischen und ökonomischen Widerstand gescheiterte Positivliste zu erstellen, in der statt der mittlerweile 60 000 Medikamente auf dem Markt nur 1500 sichere, nützliche und zuverlässige Präparate aufgeführt sind, die Ärzte in der Klinik wirklich brauchen - einer Internistenpraxis würden sogar 500 Arzneien reichen, dem Hausarzt 150. Seit September 2010 bekommt Windeler den Wahnsinn in der Medizin aus nächster Nähe mit. Er leitet seither das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln, das jährlich bis zu 50 diagnostische und therapeutische Verfahren bewertet. Windeler hat Dutzende Beispiele untersucht, in denen der Nutzen einer Behandlung steif und fest behauptet, aber nie belegt wurde. »Die Dreistigkeit, mit der angebliche Vorteile angegeben werden, ist manchmal schon erstaunlich«, sagt der Arzt. »Natürlich ärgere ich mich über die Auswüchse des Systems - und dass es immer wieder ausgenutzt wird.« Im Jahr 2009 berichtete beispielsweise der Bundesverband Medizintechnologie, ein Wirtschaftsverband, der 200 Unternehmen vertritt, von einer neuen Behandlung schmerzhafter Wirbelkörperbrüche. Für Millionen Deutsche mit Osteoporose sei mit einem Zement, mit dem die Wirbelkörper aufgefüllt werden, endlich »ein schonendes Verfahren zur dauerhaften Schmerzbeseitigung« gefunden worden. 2011 erschien im Deutschen »Ärzteblatt« eine Studie von Radiologen aus Recklinghausen, die 1188 Patienten behandelt hatten und schwärmten, dass die Zementspritze »die Schmerzen bei der Wirbelkörperfraktur unmittelbar gelindert«, »die Beweglichkeit verbessert « und »den Schmerzmittelbedarf verringert« habe. 1 Schwer zu sagen, ob es Mut, Voreingenommenheit oder Dreistigkeit bedarf, um so etwas zu behaupten. Im weltweit angesehensten Fachblatt für Ärzte, dem »New England Journal of Medicine«, hatten australische Ärzte um Rachelle Buchbinder schließlich schon 2009 festgestellt, dass es keinen Nutzen der Wirbelzementierung gebe. 2 Im Gegenteil. Die Australier hatten einem Teil ihrer Patienten Zement in lädierte Wirbel injiziert, die andere Hälfte bekam ebenfalls Spritze und Verband, allerdings ohne dass etwas injiziert wurde. Unmittelbar danach, wie auch drei Monate und ein halbes Jahr später, war der Nutzen gegenüber der Scheinbehandlung gleich null. Beide Gruppen klagten über ähnlich starke Schmerzen. Zudem hatte bei manchen Patienten der schwere Zement im Rücken dazu geführt, dass die intakten Wirbelkörper darunter häufiger unter der Last brachen. Die Ärzte aus dem Ruhrgebiet konnten diese Befunde in ihrer Studie nicht nachvollziehen. Wie auch, sie hatten ja keine Vergleichsgruppe untersucht! Bei einem guten Fachartikel über eine neue Therapie wäre das selbstverständlich gewesen. Auf der letzten Seite ihres Beitrags gehen sie auf Buchbinders Studie kurz ein und beklagen, dass dadurch »die Anwendung einer Methode, die sich in den Jahren zuvor zunehmend etabliert hat, stark beeinflusst wurde und dies zu möglichen Missinterpretationen und Unsicherheiten bei Zuweisern und Behandlern geführt« hat. Das muss man übersetzen. Auf Deutsch heißt es: Wir lassen uns doch eine Behandlung nicht miesmachen, nur weil deren Nutzen nicht erwiesen ist. »Wir müssen bessere Untersuchungen einfordern«, sagt Wolf- Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. »Gerade für die derzeit so massiv beworbenen Tumormarker, die eine individualisierte Medizin versprechen, gibt es kaum vernünftige Daten.« Ludwig ist wenig euphorisch, was die immer wieder beschriebenen Vorteile für Patienten angeht, »sieht aber die Gefahr, dass alles, was sich Biomarker nennt, vorschnell eingeführt wird, ohne dass der Nutzen für Patienten überhaupt geprüft ist«. Erstaunlich auch die Begründung, warum eine andere Methode, deren Vorteile nicht belegt sind, weiter erstattet werden soll. Der Gemeinsame Bundesausschuss, der entscheidet, welche medizinischen Maßnahmen sinnvoll sind und von der Solidargemeinschaft bezahlt werden, hatte im Oktober 2010 befunden, dass die Positronenemissionstomographie (PET) bei Patienten mit Lymphomen nur noch in Ausnahmen erstattet werden soll. Die Begründung: Es gebe keine zuverlässigen Beweise dafür, dass Patienten, die mit dieser Diagnosetechnik untersucht worden sind, im Anschluss besser behandelt werden oder andere Vorteile hätten. Die mächtige Interessenvertretung der Kliniken, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, veröffentlichte daraufhin einen Beitrag, aus dem deutlich wurde, dass man doch nicht von einer Untersuchung lassen könne, nur weil sie keinen Vorteil bringt 3: »Ist eine Methode wie zum Beispiel die PET bei der Lymphomdiagnostik schon seit längerer Zeit etabliert, in zahlreichen Studien publiziert und Bestandteil nationaler und internationaler Leitlinien, entspricht die Forderung nach Durchführung weiterer randomisiert-kontrollierter Studien zum Nachweis eines patientenrelevanten Nutzens nicht mehr der Versorgungsrealität.« Auch hier braucht man einen Dolmetscher. Der Bandwurmsatz bedeutet: Wir nutzen die Methode schon lange, unsere Gremien finden das gut, und deshalb wollen wir nicht länger mit der lästigen Frage nach Vorteilen für Patienten behelligt werden. Es machen doch alle - daher soll das Verfahren bitte weiterhin erstattet werden, statt »überhöhte Forderungen an die Evidenz« zu stellen, wie die Überschrift des Artikels lautet. Wozu einen Nutzen beweisen, wenn Ärzte wie Patienten mit der Untersuchungsmethode zufrieden sind? »Der wirtschaftliche Druck in der Medizin ist viel zu groß«, sagt Windeler. »Dabei ist für die Mehrzahl der Produkte, die neu in den Markt kommen, gar nicht belegt, dass der Nutzen größer ist als der Schaden.« Immer neue Angebote in der Medizin steigerten nicht unbedingt die Qualität. »Dass weniger oft mehr ist, wollen aber viele Patienten nicht wahrhaben. Sie fürchten, dass man ihnen etwas wegnimmt und sie weniger Wahlmöglichkeiten haben - unabhängig davon, ob ein Nutzen erwiesen ist oder nicht.« Um den Nutzen zu erfassen, gibt es die Evidenzbasierte Medizin (EbM), vorangebracht von Cochrane-Zentren, die nach dem britischen Arzt und Epidemiologen Archie Cochrane benannt sind. Weltweit haben es sich Cochrane-Zentren zur Aufgabe gemacht, in großen Untersuchungen und Meta- Analysen zu zeigen, was methodisch hochwertige Studien ausmacht und wie daraus Empfehlungen für die medizinische Praxis zu gewinnen sind. Das Deutsche Cochrane-Zentrum in Freiburg, das 1997 eröffnet wurde, leitet Gerd Antes. »Wir können es uns nicht leisten, eine Medizin zu betreiben, von der Patienten keine Vorteile haben«, sagt er. »Leider werden gründliche Wirksamkeitsnachweise immer wieder bewusst ausgelassen oder unterlaufen, um Eigeninteressen zu schützen, die durch objektive Studienergebnisse bedroht wären.« Ein anderes Beispiel betrifft die Vermarktung eines »Neurostimulators « gegen Tinnitus. Peter Tass, Direktor am renommierten Forschungszentrum Jülich, hat das Gerät mitentwickelt, die Firma ANM vertreibt es. Der quälende Ton im Ohr lasse sich bekämpfen, wenn ihm eine andere Form der Beschallung entgegengesetzt werde, so die Ankündigung. Klingt logisch, ist aber bisher nicht wissenschaftlich erwiesen und belegt. Obwohl die Initiatoren behaupten, seit eineinhalb Jahren eine entsprechende Studie beendet zu haben, ist diese bis zum Sommer 2012 und der Drucklegung dieses Buches noch nicht erschienen, sondern nur eine Untersuchung, in der entscheidende Belege für den Nutzen nicht erbracht werden konnten. Doch obwohl kein Nutzenbeweis vorliegt, bieten Dutzende Arztpraxen das Verfahren an. Womöglich zeigt sich ja, dass die Töne gegen das Brummen tatsächlich helfen. Peter Tass wurde vorsorglich mit einem mit 100 000 Euro dotierten Innovationspreis ausgezeichnet. Nach dem Motto: erst der Preis, später vielleicht der Beweis. Die Deutsche Tinnitusliga erklärt auf ihrer Homepage: »Die Daten reichen nicht aus, um eine gültige Aussage zur Wirksamkeit und zur Sicherheit dieser Behandlungsmethode zu treffen. Daher rät die Deutsche Tinnitusliga von dieser Therapie zum jetzigen Zeitpunkt ab.«
© 2012 Droemer Verlag
Was ist los mit der Medizin? Joachim Jähne, Chefarzt der Chirurgie am Henriettenstift in Hannover, beklagt im »Deutschen Ärzteblatt«, dass Ärzte »aufgrund des starken finanziellen Drucks auf die Krankenhäuser « immer mehr operieren und so ihre Patientenzahl steigern - und zwar nicht aus medizinischen, sondern aus ökonomischen Gründen. Der Mann ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Markus Büchler, Chefarzt an der Universitätsklinik Heidelberg, erinnert daran, dass der Entscheidung zur Operation wie auch der Wahl des OP-Verfahrens »ausschließlich medizinische Gründe, keinesfalls aber finanzielle Intentionen zugrunde liegen« sollten. Der Mann, der betont, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, ist Präsident der Chirurgenvereinigung. Was ist da los? Tausende Frauen laufen mit »Schrott in den Brüsten« herum, wie ein Insider die aus minderwertigem Material hergestellten, oft schadhaften Brustimplantate nennt. Ärzte beschweren sich über gefährliche Hüftprothesen mit Metallabrieb - aber wenig später erklärt Susanne Conze, Referatsleiterin Medizinprodukte im Gesundheitsministerium, dass ihr Dienstherr Daniel Bahr deshalb noch lange »keinen Systemwechsel« plane und am laschen Zulassungsverfahren »nichts ändern wolle«. Was ist da los? In der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erklärt Matthias Rothmund, Chef der Gefäßchirurgie und Medizin-Dekan der Universität Marburg: »Das Großexperiment Fusion und Privatisierung zweier Universitätsklinika ist misslungen. Land und Rhön Klinikum AG sind aufgefordert, diese Wahrheit zu erkennen und zu reagieren.« Die Versorgung der Patienten in Mittelhessen dürfe nicht durch weiteren Personalabbau und Einsparungen in Gefahr geraten, weil die Privatisierung der Uniklinika Gießen und Marburg bisher zu wenig Rendite für die Rhön-Aktionäre erbracht habe.
Drei Nachrichten über den Zustand der Medizin - alle drei sind innerhalb von nur einer Woche im April 2012 im offiziellen Standesorgan der Ärzteschaft und dem inoffiziellen Organ des konservativen Bürgertums erschienen - lassen erahnen, wie schlecht es um die Medizin in Deutschland steht. Zwar gibt es Patienten, die mit ihrem Arzt zufrieden sind und ihn loben. Doch die Wut auf die Medizin ist groß. Und fast alle sind wütend: niedergelassene Ärzte, die um die Existenz ihrer Praxis fürchten; Patienten, die beim Arzt zu schnell abgefertigt werden; Klinikärzte, die nicht mehr wissen, wie sie vor lauter Sparzwang gute Medizin machen sollen. Trotzdem sprechen Politiker, wenn Kritik am Gesundheitswesen aufkommt, nur davon, dass sie Details der Gesundheitsreform »nachjustieren« müssen. Doch wer meint, mit ein paar kleinen Veränderungen sei es getan, irrt sich. Der Fehler liegt im System. Im Gesundheitswesen sollte es in erster Linie um die Patienten gehen. Hinter beschönigenden Begriffen wie Gesundheitsreform oder Gesundheitsfonds verbirgt sich hingegen ein bürokratisches Ungetüm, das die Bezahlung der Ärzte und die Verteilung der Kassenbeiträge verkompliziert und kaum die Patienten im Blick hat. Ein Konzept, das sinnvolle Medizin fördert, ist nicht zu erkennen. Die aktuelle Form der Honorierung bietet Ärzten erst recht keine Anreize für eine Heilkunde, die den Kranken zugutekommt. Wird beispielsweise eine Kassenpatientin mit Brustkrebs behandelt, muss der Frauenarzt viel Idealismus und wenig betriebswirtschaftliches Kalkül mitbringen, wenn er gute Medizin betreiben will. Zur Betreuung gehört es, Ängste und Erwartungen zu besprechen, die Abfolge der Chemotherapie zu erläutern und Perspektiven für den oft günstigen Krankheitsverlauf zu eröffnen. Hinzu kommt die medizinische wie die psychologische Begleitung während der Behandlung. Pro Quartal bekommt ein Frauenarzt - je nach Bundesland - pauschal zwischen 15 und 35 Euro dafür. Dass sie für diese zeitintensive und menschlich anspruchsvolle Tätigkeit schlechter bezahlt werden als eine Tankstelle für einen Reifenwechsel, verbittert viele Ärzte zu Recht. Die Patienten haben unter dem falschen Honorarsystem ebenfalls zu leiden. Wenn ein Mensch mit Schwindel zum Arzt kommt, müssten Herz, Hirn, Ohren und Psyche angeschaut werden. Das ist aufwendig. Der Hausarzt begnügt sich womöglich mit einem EKG, der Neurologe mit den Hirnströmen, das irritierte Seelenleben - die häufigste Ursache für Schwindel - kommt in der Regel zu kurz. Der Patient wird von Arzt zu Arzt geschickt, weil keiner die umfangreiche Diagnostik oder ausführliche Gespräche für eine Pauschale von 15 oder 35 Euro auf sich nehmen will, selbst wenn er noch einen kleinen Zuschlag für die Gerätenutzung bekommt. Weil es sich für den niedergelassenen Arzt nicht lohnt, werden immer wieder Patienten mit banalen Beschwerden ins Krankenhaus geschickt. Denn finanziell attraktiv für Ärzte sind nur gesunde Patienten. Diejenigen mit einem Zipperlein, das schnell zu erkennen und zu behandeln ist. Kranke mit verschiedenen oder komplizierten Leiden werden hingegen zum finanziellen Risiko. Die Pauschale deckt nämlich nur eine Behandlung ab. Wer mehrmals kommt, den muss der Arzt zum Nulltarif behandeln. Vor allem geht in dem ständig steigenden Arbeitsdruck etwas verloren, was wesentlich wäre für eine gute Medizin: Zeit für Zuwendung, Zuhören, Trost. Der Patient wird zum Störfaktor.
Die ökonomisierte Medizin gleicht diesen Mangel mit Technik aus: »Kann ein Patient im Krankenhaus nicht mehr genug trinken, bekommt er einen Tropf. Isst er zu wenig oder zu langsam, wird eine Magensonde gelegt. Nässt er ein, wird ein Dauerkatheter gelegt. Verhält er sich unruhig, werden Bett gestelle oder Fixierungen angebracht.« So beschreibt der Marburger Oberarzt Konrad Görg einen Krankenhausalltag, aus dem Fürsorge, Mitgefühl und Menschlichkeit wegrationalisiert wurden. Das gegenwärtige System folgt einer blinden Fortschrittsrhetorik. Medizin ist aber kein Wirtschaftszweig wie jeder andere, in dem mehr Mittel auch mehr Erfolg nach sich ziehen. Mehr Medizin macht nicht zwangsläufig gesünder - sondern manchmal sogar kränker. Gesundheit ist ein Zustand der Selbstvergessenheit, ein »Schweigen der Organe«, das sich nicht immer auf Rezept herstellen lässt. Dennoch verfahren viele Ärzte nach dem zynischen Motto: Es gibt keine Gesunden - nur Menschen, die noch nicht ausreichend untersucht worden sind. Technisch aufwendige Untersuchungen sind lukrativ - etwa mittels CT, Kernspin oder Herzkatheter. Entsprechende Diagnostik machen Ärzte vor allem, weil sie sich separat abrechnen lässt - oder bei Privatpatienten. Gigantische Summen werden so für unnötige Diagnostik und Therapie verschwendet, dabei leiden 40 bis 50 Prozent der Patienten in Arztpraxen unter psychosomatisch überlagerten Beschwerden, die keiner Labor- und Gerätediagnostik, sondern einer geschulten Gesprächsbegleitung bedürfen. Ein irrwitzig hoher Anteil, der die gigantische Verschwendung umso deutlicher macht. Dennoch bestellen Ärzte ihre Patienten nach überstandener Krankheit zu oft unnötigen Nachkontrollen ein. Krebsmediziner stellen Überdiagnosen und verordnen Übertherapien, da Bildgebung und andere Tests inzwischen so genau sind, dass auch Tumore entdeckt und behandelt werden, die nie Beschwerden verursacht hätten. In Fachzeitschriften wird unter dem Motto »Less is more« bereits diskutiert, wie schädlich zu viel Medizin ist. Dabei besteht eine ärztliche Kernkompetenz darin, unnötige Diagnostik zu unterlassen und stattdessen die Ressourcen der Patienten zu aktivieren. Kein Land steckt - neben der Schweiz, den USA und Frankreich - so viel Geld in sein Gesundheitswesen wie Deutschland: mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Von dem Geld kommt jedoch zu wenig dort an, wo es gebraucht wird. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), die das Honorar der Ärzte berechnen und verteilen, sind bürokratisch so aufgebläht, dass viele Ärzte mehr Zeit mit der Abrechnung verbringen als mit ihren Patienten. Ein System, das die Medizin dem freien Spiel des Marktes opfert, ist krank. Eine Option wären Anleihen am Modell Norwegen. Dort ist nicht alles besser, aber einiges kann man sich abschauen: Ärzte bekommen für jeden Patienten, der sich in ihre Liste einschreibt, eine jährliche Pauschale - egal, ob er gar nicht, einmal oder zehnmal kommt. Hinsichtlich der Lebenserwartung und anderer Kriterien für gute Gesundheit steht Norwegen besser da als Deutschland. Vielleicht auch deshalb, weil weniger oft mehr bringt: Norweger gehen im Durchschnitt drei- bis viermal im Jahr zum Arzt, Deutsche hingegen 17- bis 18-mal. Davon haben die Deutschen nicht viel. Im Gegenteil: »Patienten droht ein Desaster.« »Arzneimittel sind nicht mehr sicher.« »Die Gesundheit von Millionen Menschen wird für Wirtschaftsinteressen geopfert.« Was klingt wie eine abstruse Verschwörungstheorie, sind Reaktionen von Ärzten, Patienten und Arzneimittelexperten auf die »Änderungsan träge zum Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes«. FDP und CDU / CSU haben das Gesetz im Sommer 2010 auf den Weg gebracht. 2011 trat es in Kraft. Die Hintergründe sind ähnlich vertrackt wie der Versuch, eine Packungsbeilage zusammenzufalten. In Kürze: Seit 2011 ist die schnellere Zulassung von Medikamenten möglich. Die bringt es mit sich, dass neue Tabletten weniger auf ihre Sicherheit und ihre Vorteile für Patienten geprüft sind. Ob neue Arzneimittel Kranken also mehr Nutzen als Schaden bringen, wie es vernünftigerweise verlangt werden sollte, muss nicht erwiesen sein, damit sie auf den Markt kommen. Die Industrie freut sich, denn je kürzer die Zeit bis zur Zulassung, desto geringer die Entwicklungskosten für ein Medikament. Der Nachteil liegt bei den Verbrauchern. Sie tragen das Risiko und sind unfreiwillig Teilnehmer eines gigantischen Freilandexperiments. Das ist perfide an der gegenwärtigen Medizin: Viele Ärzte und Pflegekräfte geben ihr Bestes für die Patienten, opfern sich in Klinik oder Praxis auf und tragen dazu bei, dass sich die meisten Menschen bei ihrem Arzt gut aufgehoben fühlen. Doch eine Medizinindustrie, die von »Gesundheitspolitikern« unterstützt wird, trägt leider dazu bei, dass Patienten in Gefahr geraten und zu wenig geprüfte Medikamente, zu viele unnötige Untersuchungen und nicht getestete Implantate bekommen. Ein Konzept, das auf mehr Wachstum setzt, ist im Gesundheitswesen fehl am Platz. In der Medizin bedeuten mehr Leistungen nicht automatisch, dass Kranke besser versorgt werden. Von den etwa 2000 beim Deutschen Bundestag registrierten Lobbyverbänden bearbeiten mehr als 400 das Bundesgesundheitsministerium. In der Gesundheitspolitik scheint es gewollt zu sein, dass die Strukturen kompliziert und wenig transparent sind. Nur so kann weiterhin jede Interessengruppe von dem Milliardenmarkt profitieren. Eine Gesundheitsreform, die diesen Namen verdient, gab es schon lange nicht mehr. Nach medizinischen Kriterien und nach den Bedürfnissen der Kranken wird nicht entschieden. In den Ministerien haben Betriebswirtschaftler das Sagen, in den Kliniken die Kaufleute und Controller. Gute Medizin kommt dabei nicht heraus, sondern nur Interessenpolitik auf Kosten der Patienten.
Die Medizinindustrie
Wahnsinn mit Methode: Zement-Wirbel, Tumormarker, Tinnitustherapie
Für die einen sind sie Spielverderber. Den anderen gelten sie als aufrechte Streiter für eine sinnvolle Medizin, die sich am Nutzen für den Patienten und nicht am Profit der Pharmafirmen, Medizintechnikunternehmen und Ärzte orientieren. Die Waffen im Kampf gegen eine dem ökonomischen Diktat unterworfene Medizin, gegen die Marketingabteilungen der Firmen und Krankenhäuser sind jedoch vergleichsweise stumpf. Lediglich ihre kritische Urteilskraft steht jenen zur Verfügung, die eine bessere Medizin wollen und die in unabhängigen Instituten untersuchen, ob neue Therapien Patienten tatsächlich nutzen oder wie gut die wissenschaftlichen Beweise wirklich sind, wenn in Fachartikeln eine neue Behandlung oder umfangreichere Diagnostik angepriesen wird. »Manchmal hat man den Eindruck, das ist Wahnsinn mit Methode «, sagt Jürgen Windeler. Seit mehr als zwei Jahrzehnten tritt er für eine wissenschaftlich fundierte Medizin ein. In den 1990ern war er daran beteiligt, die immer wieder am politischen und ökonomischen Widerstand gescheiterte Positivliste zu erstellen, in der statt der mittlerweile 60 000 Medikamente auf dem Markt nur 1500 sichere, nützliche und zuverlässige Präparate aufgeführt sind, die Ärzte in der Klinik wirklich brauchen - einer Internistenpraxis würden sogar 500 Arzneien reichen, dem Hausarzt 150. Seit September 2010 bekommt Windeler den Wahnsinn in der Medizin aus nächster Nähe mit. Er leitet seither das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln, das jährlich bis zu 50 diagnostische und therapeutische Verfahren bewertet. Windeler hat Dutzende Beispiele untersucht, in denen der Nutzen einer Behandlung steif und fest behauptet, aber nie belegt wurde. »Die Dreistigkeit, mit der angebliche Vorteile angegeben werden, ist manchmal schon erstaunlich«, sagt der Arzt. »Natürlich ärgere ich mich über die Auswüchse des Systems - und dass es immer wieder ausgenutzt wird.« Im Jahr 2009 berichtete beispielsweise der Bundesverband Medizintechnologie, ein Wirtschaftsverband, der 200 Unternehmen vertritt, von einer neuen Behandlung schmerzhafter Wirbelkörperbrüche. Für Millionen Deutsche mit Osteoporose sei mit einem Zement, mit dem die Wirbelkörper aufgefüllt werden, endlich »ein schonendes Verfahren zur dauerhaften Schmerzbeseitigung« gefunden worden. 2011 erschien im Deutschen »Ärzteblatt« eine Studie von Radiologen aus Recklinghausen, die 1188 Patienten behandelt hatten und schwärmten, dass die Zementspritze »die Schmerzen bei der Wirbelkörperfraktur unmittelbar gelindert«, »die Beweglichkeit verbessert « und »den Schmerzmittelbedarf verringert« habe. 1 Schwer zu sagen, ob es Mut, Voreingenommenheit oder Dreistigkeit bedarf, um so etwas zu behaupten. Im weltweit angesehensten Fachblatt für Ärzte, dem »New England Journal of Medicine«, hatten australische Ärzte um Rachelle Buchbinder schließlich schon 2009 festgestellt, dass es keinen Nutzen der Wirbelzementierung gebe. 2 Im Gegenteil. Die Australier hatten einem Teil ihrer Patienten Zement in lädierte Wirbel injiziert, die andere Hälfte bekam ebenfalls Spritze und Verband, allerdings ohne dass etwas injiziert wurde. Unmittelbar danach, wie auch drei Monate und ein halbes Jahr später, war der Nutzen gegenüber der Scheinbehandlung gleich null. Beide Gruppen klagten über ähnlich starke Schmerzen. Zudem hatte bei manchen Patienten der schwere Zement im Rücken dazu geführt, dass die intakten Wirbelkörper darunter häufiger unter der Last brachen. Die Ärzte aus dem Ruhrgebiet konnten diese Befunde in ihrer Studie nicht nachvollziehen. Wie auch, sie hatten ja keine Vergleichsgruppe untersucht! Bei einem guten Fachartikel über eine neue Therapie wäre das selbstverständlich gewesen. Auf der letzten Seite ihres Beitrags gehen sie auf Buchbinders Studie kurz ein und beklagen, dass dadurch »die Anwendung einer Methode, die sich in den Jahren zuvor zunehmend etabliert hat, stark beeinflusst wurde und dies zu möglichen Missinterpretationen und Unsicherheiten bei Zuweisern und Behandlern geführt« hat. Das muss man übersetzen. Auf Deutsch heißt es: Wir lassen uns doch eine Behandlung nicht miesmachen, nur weil deren Nutzen nicht erwiesen ist. »Wir müssen bessere Untersuchungen einfordern«, sagt Wolf- Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. »Gerade für die derzeit so massiv beworbenen Tumormarker, die eine individualisierte Medizin versprechen, gibt es kaum vernünftige Daten.« Ludwig ist wenig euphorisch, was die immer wieder beschriebenen Vorteile für Patienten angeht, »sieht aber die Gefahr, dass alles, was sich Biomarker nennt, vorschnell eingeführt wird, ohne dass der Nutzen für Patienten überhaupt geprüft ist«. Erstaunlich auch die Begründung, warum eine andere Methode, deren Vorteile nicht belegt sind, weiter erstattet werden soll. Der Gemeinsame Bundesausschuss, der entscheidet, welche medizinischen Maßnahmen sinnvoll sind und von der Solidargemeinschaft bezahlt werden, hatte im Oktober 2010 befunden, dass die Positronenemissionstomographie (PET) bei Patienten mit Lymphomen nur noch in Ausnahmen erstattet werden soll. Die Begründung: Es gebe keine zuverlässigen Beweise dafür, dass Patienten, die mit dieser Diagnosetechnik untersucht worden sind, im Anschluss besser behandelt werden oder andere Vorteile hätten. Die mächtige Interessenvertretung der Kliniken, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, veröffentlichte daraufhin einen Beitrag, aus dem deutlich wurde, dass man doch nicht von einer Untersuchung lassen könne, nur weil sie keinen Vorteil bringt 3: »Ist eine Methode wie zum Beispiel die PET bei der Lymphomdiagnostik schon seit längerer Zeit etabliert, in zahlreichen Studien publiziert und Bestandteil nationaler und internationaler Leitlinien, entspricht die Forderung nach Durchführung weiterer randomisiert-kontrollierter Studien zum Nachweis eines patientenrelevanten Nutzens nicht mehr der Versorgungsrealität.« Auch hier braucht man einen Dolmetscher. Der Bandwurmsatz bedeutet: Wir nutzen die Methode schon lange, unsere Gremien finden das gut, und deshalb wollen wir nicht länger mit der lästigen Frage nach Vorteilen für Patienten behelligt werden. Es machen doch alle - daher soll das Verfahren bitte weiterhin erstattet werden, statt »überhöhte Forderungen an die Evidenz« zu stellen, wie die Überschrift des Artikels lautet. Wozu einen Nutzen beweisen, wenn Ärzte wie Patienten mit der Untersuchungsmethode zufrieden sind? »Der wirtschaftliche Druck in der Medizin ist viel zu groß«, sagt Windeler. »Dabei ist für die Mehrzahl der Produkte, die neu in den Markt kommen, gar nicht belegt, dass der Nutzen größer ist als der Schaden.« Immer neue Angebote in der Medizin steigerten nicht unbedingt die Qualität. »Dass weniger oft mehr ist, wollen aber viele Patienten nicht wahrhaben. Sie fürchten, dass man ihnen etwas wegnimmt und sie weniger Wahlmöglichkeiten haben - unabhängig davon, ob ein Nutzen erwiesen ist oder nicht.« Um den Nutzen zu erfassen, gibt es die Evidenzbasierte Medizin (EbM), vorangebracht von Cochrane-Zentren, die nach dem britischen Arzt und Epidemiologen Archie Cochrane benannt sind. Weltweit haben es sich Cochrane-Zentren zur Aufgabe gemacht, in großen Untersuchungen und Meta- Analysen zu zeigen, was methodisch hochwertige Studien ausmacht und wie daraus Empfehlungen für die medizinische Praxis zu gewinnen sind. Das Deutsche Cochrane-Zentrum in Freiburg, das 1997 eröffnet wurde, leitet Gerd Antes. »Wir können es uns nicht leisten, eine Medizin zu betreiben, von der Patienten keine Vorteile haben«, sagt er. »Leider werden gründliche Wirksamkeitsnachweise immer wieder bewusst ausgelassen oder unterlaufen, um Eigeninteressen zu schützen, die durch objektive Studienergebnisse bedroht wären.« Ein anderes Beispiel betrifft die Vermarktung eines »Neurostimulators « gegen Tinnitus. Peter Tass, Direktor am renommierten Forschungszentrum Jülich, hat das Gerät mitentwickelt, die Firma ANM vertreibt es. Der quälende Ton im Ohr lasse sich bekämpfen, wenn ihm eine andere Form der Beschallung entgegengesetzt werde, so die Ankündigung. Klingt logisch, ist aber bisher nicht wissenschaftlich erwiesen und belegt. Obwohl die Initiatoren behaupten, seit eineinhalb Jahren eine entsprechende Studie beendet zu haben, ist diese bis zum Sommer 2012 und der Drucklegung dieses Buches noch nicht erschienen, sondern nur eine Untersuchung, in der entscheidende Belege für den Nutzen nicht erbracht werden konnten. Doch obwohl kein Nutzenbeweis vorliegt, bieten Dutzende Arztpraxen das Verfahren an. Womöglich zeigt sich ja, dass die Töne gegen das Brummen tatsächlich helfen. Peter Tass wurde vorsorglich mit einem mit 100 000 Euro dotierten Innovationspreis ausgezeichnet. Nach dem Motto: erst der Preis, später vielleicht der Beweis. Die Deutsche Tinnitusliga erklärt auf ihrer Homepage: »Die Daten reichen nicht aus, um eine gültige Aussage zur Wirksamkeit und zur Sicherheit dieser Behandlungsmethode zu treffen. Daher rät die Deutsche Tinnitusliga von dieser Therapie zum jetzigen Zeitpunkt ab.«
© 2012 Droemer Verlag
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Autoren-Porträt von Werner Bartens
Dr. med. Werner Bartens, geboren 1966, hat Medizin, Geschichte und Germanistik studiert. Der leitende Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" wurde u.a. als "Wissenschaftsjournalist des Jahres" ausgezeichnet. Er hat als Arzt und in der Forschung gearbeitet und ist Autor u.a. von Bestsellern wie "Was Paare zusammenhält" und "Körperglück".https://www.youtube.com/channel/UCL7pQAF4Mek16CrpNEwF-ag
Bibliographische Angaben
- Autor: Werner Bartens
- 2012, 2. Aufl., 224 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426275813
- ISBN-13: 9783426275818
- Erscheinungsdatum: 25.09.2012
Pressezitat
"Gewohnt klar und deutlich formuliert der Mediziner und Journalist Werner Bartens von der ersten Zeile an, was in unserem Medizinsystem alles schief läuft. Sein Bericht ist eine sehr gut recherchierte Anklageschrift, wie Staatsanwälte sie sich wünschen würden, hätten Sie über den Medizinapparat zu verhandeln.... Mehr Aufklärung geht nicht...... Fast verwegen fordert er am Ende die Abschaffung des Bundesgesundheitsministeriums. Das ist ernst gemeint und logisch, denn es entscheiden nicht unabhängige Ärzte und Patienten über die Zulassung von Medikamenten und Bezahlung von medizinischen Dienstleistungen, sondern Politiker, die sich der Medizinindustrie verpflichtet sehen.....Werner Bartens hat die Finger mal wieder gekonnt und diesmal äußerst tief in die Wunde gelegt." Susanne Nessler Deutschlandfunk Kultur 20130107
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