Herzschlag der Nacht
Die umwerfend schöne aber den meisten Männern leider ein wenig zu freigeistige Beatrix Hathaway hat die Hoffnung auf einen geeigneten Heiratskandidaten eigentlich schon aufgegeben. Bis Christopher auftaucht, der sich aus gesellschaftlichen...
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Produktinformationen zu „Herzschlag der Nacht “
Die umwerfend schöne aber den meisten Männern leider ein wenig zu freigeistige Beatrix Hathaway hat die Hoffnung auf einen geeigneten Heiratskandidaten eigentlich schon aufgegeben. Bis Christopher auftaucht, der sich aus gesellschaftlichen Konventionen wenig macht und so ganz anders ist als all die verkrampften Gentlemen, die die Londoner Abendgesellschaften bevölkern. Sein einziger Fehler: Er ist eigentlich mit Prudence verlobt – Beatrix` bester Freundin. Wird Beatrix ihren Gefühlen nachgeben und alles aufs Spiel setzen?
Lese-Probe zu „Herzschlag der Nacht “
Herzschlag der Nacht von Lisa Kleypas Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky
Prolog
Captain Christopher Phelan Erstes Bataillon Rifle Brigade Cape Mapan Krim
Juni 1855
Lieber Christopher, $ich darf Ihnen nie wieder schreiben, bin ich doch nicht die, für die Sie mich halten.
Wiewohl es nie meine Absicht war, Ihnen Liebesbriefe zu senden, wurden meine Schriften doch zu selbigen. Auf ihrem Weg zu Ihnen wandelten sich meine Worte zu papiernen Herzenswünschen.
Bitte, kommen Sie heim und suchen Sie nach mir.
(unsigniert)
Kapitel 1
Hampshire, England, acht Monate später
Alles begann mit einem Brief.
Um genauer zu sein: mit der Erwähnung eines Hundes.
»Was war mit dem Hund?«, fragte Beatrix Hathaway. »Wessen Hund?«
Ihre Freundin Prudence, die schönste junge Dame in ganz Hampshire County, blickte von dem Brief ihres Verehrers Captain Christopher Phelan auf.
Da es wider die guten Sitten war, dass ein Gentleman und eine unverheiratete Dame miteinander korrespondierten, hatten die beiden ein Arrangement getroffen, sich Nachrichten über Phelans Schwägerin zukommen zu lassen.
Prudence bedachte Beatrix mit einem übertrieben beleidigten Blick. »Also wirklich, Bea, du sorgst dich mehr um einen Hund als um Captain Phelan?«
»Captain Phelan bedarf meiner Sorge nicht«, antwortete Beatrix ungerührt. »Um ihn sorgen sich bereits sämtliche heiratsfähige Damen in Hampshire. Überdies hat er beschlossen, in den Krieg zu ziehen, und ich bin gewiss, dass er es weidlich genießt, in seiner eleganten Uniform umherzustolzieren.«
... mehr
»Sie ist überhaupt nicht elegant«, erwiderte Prudence finster. »Eher würde man sagen, dass die Uniformen seines neuen Regiments geradezu abscheulich aussehen, so sehr schlicht, dunkelgrün mit schwarzen Aufschlägen und ohne jedes Gold oder sonstige Zier. Und als ich fragte, warum sie so sind, sagte Captain Phelan, es sollte den Schützen helfen, sich versteckt zu halten. Das wiederum ergibt überhaupt keinen Sinn, denn jeder weiß, dass ein britischer Soldat viel zu mutig und stolz ist, um sich während der Schlacht zu verstecken. Aber Christopher, also Captain Phelan, sagte, es hätte etwas mit ... oh, wie hieß noch dieses französische Wort?«
»Camouflage?«, fragte Beatrix interessiert.
»Ja, woher wusstest du das?«
»Man beschreibt damit, was viele Tiere tun, um sich unsichtbar zu machen. Chamäleons zum Beispiel. Oder Eulen mit ihrem gefleckten Gefieder, das genauso aussieht wie die Rinde der Bäume, in denen sie hocken. Auf die Weise ...«
»Du liebe Güte, Beatrix! Nun halt mir bitte nicht schon wieder einen Vortrag über Tiere!«
»Ich höre auf, wenn du mir von dem Hund erzählst.«
Prudence reichte ihr den Brief. »Lies selbst.«
»Aber, Pru«, protestierte Beatrix, als Prudence ihr die kleinen Blätter in die Hand drückte. »Captain Phelan könnte etwas Privates geschrieben haben.«
»Wenn es doch nur so wäre. Nein, sein Brief ist furchtbar düster. Nichts als Schlachten und schlechte Neuigkeiten.«
Auch wenn Christopher Phelan der letzte Mann war, den Beatrix verteidigen wollte, konnte sie nicht umhin zu sagen: »Er kämpft auf der Krim, Pru. Es ist anzunehmen, dass sich inmitten des Kriegstreibens wenig Hübsches zu berichten findet.«
»Nun, mich kümmern fremde Länder nicht, und ich habe niemals etwas anderes vorgegeben.«
Beatrix schmunzelte verhalten. »Pru, bist du dir sicher, dass du die Frau eines Offiziers sein möchtest?«
»Ja, natürlich. Die meisten Offiziere ziehen gar nicht in den Krieg und beschränken sich darauf, elegant auszusehen und vornehm zu sein. Sie können sogar auf halben Sold gehen, was sie von einem Großteil ihrer Pflichten entbindet, sodass sie kaum noch Zeit bei ihrem Regiment verbringen müssen. Captain Phelan war es, bis er in den Auslandsdienst berufen wurde.« Prudence hob eine Schulter. »Nun, Kriege kommen wohl immer zur falschen Zeit. Dem Himmel sei Dank, dass Captain Phelan bald wieder nach Hampshire zurückkehrt.«
»Wird er? Und woher weißt du das?«
»Meine Eltern sagen, dass der Krieg noch vor Weihnachten zu Ende ist.«
»Davon hörte ich auch. Man fragt sich allerdings, ob wir die russische Streitmacht nicht sträflich unterschätzen oder unsere eigene überschätzen.«
»Wie unpatriotisch«, rief Prudence mit einem schelmischen Funkeln in den Augen aus.
»Ich würde indes auch nicht von Patriotismus sprechen, wenn unser Kriegsministerium in seinem Übereifer dreißigtausend Mann auf die Krim schickt, ohne zuvor hinreichend zu planen. Weder verfügen wir über angemessene Kenntnis der örtlichen Bedingungen, noch gibt es eine vernünftige Strategie, wie die Krim einzunehmen ist.«
»Wie kannst du davon wissen?«
»Aus der Times. Jeden Tag wird über den Krieg berichtet. Liest du denn keine Zeitung?«
»Nicht die Artikel über Politik. Meine Eltern sagen, es ziemt sich nicht für eine junge Dame, sich für derlei Angelegenheiten zu interessieren.«
»Meine Familie spricht bei jedem Abendessen über Politik, in Anwesenheit meiner Schwestern und mir.« Beatrix machte absichtlich eine kurze Pause, ehe sie mit einem Grinsen hinzufügte: »Und wir dürfen sogar Meinungen haben.«
Prudence riss die Augen weit auf. »Du liebe Güte! Na, ich sollte mich nicht wundern. Jeder weiß, dass deine Familie ... anders ist.«
»Anders« war ein weit freundlicher Ausdruck als jene, mit denen die Hathaway-Familie gewöhnlich beschrieben wurde. Die Hathaways waren fünf Geschwister: auf Leo, den Ältesten, folgten Amelia, Winnifred, Poppy und Beatrix. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sich das Schicksal der Kinder auf verblüffende Weise gewandelt. Sie waren als Bürgerliche geboren, allerdings entfernt verwandt mit einem adligen Zweig der Familie, und infolge einer Reihe von unerwarteten Ereignissen hatte Leo einen Vicomte-Titel geerbt, auf den er und seine Schwestern nicht im Mindesten vorbereitet waren. Diese Erbschaft verschlug sie aus ihrem kleinen Dorf Primrose Place auf das Ramsay-Anwesen in der südlichen Grafschaft Hampshire.
In den vergangenen sechs Jahren lernten die Hathaways gerade genug, um sich in die gehobenen Kreise einzufügen. Doch gelang es bisher keinem von ihnen, wie der Adel zu denken, geschweige denn sich die Werte oder Manieren der Aristokratie anzueignen. Sie besaßen Vermögen, aber dies war nicht annähernd so wichtig wie Erziehung und Verbindungen. Und während eine andere Familie in vergleichbaren Umständen bestrebt wäre, ihren gesellschaftlichen Rang mittels Heirat zu verbessern, hatten sich die Hathaways, die bislang in den Ehestand getreten waren, jeweils für eine Liebesheirat entschieden.
Was Beatrix betraf, war fraglich, ob sie jemals heiraten würde. Man konnte sie bestenfalls als halb-zivilisiert bezeichnen, verbrachte sie doch den Großteil ihrer Zeit im Freien und streift e zu Pferd oder zu Fuß durch die Wälder, Marschen und Wiesen von Hampshire. Die Gesellschaft von Tieren war Beatrix allemal lieber als die von Menschen. Immerfort sammelte sie verletzte oder verwaiste Kreaturen auf und pflegte sie gesund oder zog sie groß. Diejenigen, die nicht allein in der Wildnis überleben könnten, behielt sie als Haustiere, und mit ihrer Hege beschäftigte Beatrix sich beinahe ausschließlich. So kam es, dass sich Beatrix in der Natur glücklich und erfüllt fühlte; wohingegen sie dem Leben in geschlossenen Räumen sehr wenig abgewinnen konnte.
In jüngster Zeit überkam Beatrix zusehends häufiger ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit, gleich einer unbenennbaren Sehnsucht. Das Problem war, dass Beatrix noch nie einem Mann begegnet war, der für sie in Betracht kam. Von den blassen, überheblichen jungen Herren, auf die sie in den Londoner Salons traf, fühlte sie sich eher abgestoßen, und auch wenn die robusteren Männer auf dem Lande schon eher ihren Vorstellungen entsprachen, fehlte ihnen schlicht das gewisse Etwas, nach dem Beatrix sich sehnte. Sie träumte von einem Mann, dessen Willenskraft ihrer eigenen ebenbürtig war, und sie wünschte sich, leidenschaftlich geliebt, herausgefordert und überwältigt zu werden.
Beatrix blickte auf den zusammengefalteten Brief in ihren Händen.
Nicht dass sie gegen Christopher Phelan eingenommen war; vielmehr schien er alles abzulehnen, was sie verkörperte. Gebildet und von privilegierter Geburt, wusste er sich mit einer Geschmeidigkeit in vornehmer Gesellschaft zu bewegen, die Beatrix vollkommen fremd war. Er war der zweite Sohn einer angesehenen hiesigen Familie, konnte einen Earl als Großvater mütterlicherseits vorweisen und väterlicherseits ein beträchtliches, durch Schifffahrt erworbenes Vermögen.
Die Phelans hatten keine Aussicht auf ein Titelerbe, aber immerhin würde John, der Älteste, nach dem Tod des Earls das Riverton-Anwesen in Warwickshire erben. John war ein ernster, nachdenklicher Mann und liebte seine Frau Audrey hingebungsvoll.
Der jüngere Bruder Christopher war von gänzlich anderem Charakter. Wie so oft bei zweiten Söhnen üblich, hatte Christopher sich mit zweiundzwanzig ein Offi zierspatent gekauft. Zunächst diente er als Fahnenjunker der Kavallerie, was eine ideale Beschäftigung für solch einen formidablen jungen Burschen war. Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, bei Paraden und Übungen die Regimentsfahne zu schwingen. Auch bei den Damen in den Londoner Salons erfreute Christopher sich größter Beliebtheit; dort nämlich hielt er sich fortwährend auf - häufig ohne beurlaubt zu sein
- und verbrachte seine Zeit tanzend, spielend, feine Kleider aussuchend oder skandalösen Liebesaffären frönend. Beatrix hatte Christopher Phelan zweimal getroffen: das erste Mal bei einem Ball hier in Hampshire, wo sie zu dem Schluss kam, dass er der arroganteste Mann im ganzen County sein dürfte. Das zweite Mal begegnete sie ihm bei einem Picknick, auf dem sie ihre Meinung revidierte: Er war der arroganteste Mann auf der ganzen Welt.
»Dieses Hathaway-Mädchen ist ein eigenartiges Geschöpf «, hatte Beatrix ihn zu seinem Begleiter sagen gehört.
»Ich finde sie charmant und originell«, entgegnete sein Gefährte. »Und sie kann mit Pferden umgehen wie keine Frau sonst, die ich kenne.«
»Wen wundert's? Sie passt auch besser in einen Stall als in einen Salon«, hatte Phelan trocken bemerkt.
Von da an mied Beatrix ihn, wo immer sie konnte. Nicht dass ihr der implizite Vergleich mit einem Pferd etwas ausmachte, denn Pferde waren reizende Tiere von edlem, freundlichem Gemüt. Und Beatrix wusste, dass sie keine große Schönheit sein mochte, sehr wohl jedoch ihre eigenen Reize besaß. Manch ein Mann hatte ihr schon Komplimente wegen ihres dunkelbraunen Haars und ihrer blauen Augen gemacht.
Diese bescheidenen Vorzüge jedoch verblassten angesichts von Christopher Phelans goldenem Glanz. Er war wie Lancelot, wie Gabriel, ja, vielleicht wie Luzifer, sofern man glaubte, dass jener einst der schönste aller Engel gewesen war. Phelan war groß, hatte silberne Augen und Haar von der Farbe dunklen sonnengeküssten Winterweizens. Seine Gestalt war stark und soldatisch, die Schultern gerade und breit, die Hüften schmal. Selbst wenn er sich mit lässiger Eleganz bewegte, strahlte er eine unübersehbare Kraft aus, die an ein einzelgängerisches Raubtier gemahnte.
Unlängst war Phelan als einer von wenigen Auserwählten aus mehreren Regimentern zum Mitglied der »Rifle Brigade « ernannt worden. Die »Rifles«, wie sie überall hießen, waren eine außergewöhnliche Gruppe von Soldaten, die man dazu ausbildete, auf eigene Faust zu agieren. Sie wurden angehalten, Stellungen vor den eigenen Frontlinien zu beziehen und berittene Offiziere in den hinteren Linien der Feinde niederzuschlagen. Aufgrund seiner überragenden Fertigkeit als Schütze war Phelan bald zum Captain der Rifle Brigade avanciert.
Beatrix amüsierte der Gedanke, dass diese Ehre ihn alles andere als erfreut haben dürfte. Immerhin war er genötigt gewesen, seine schöne Husarenuniform aus dem schimmernd schwarzen und über und über mit Goldtressen verzierten Stoff gegen eine sehr schlichte dunkelgrüne einzutauschen.
»Lies nur«, sagte Prudence, während sie sich an ihren Frisiertisch setzte. »Ich muss mein Haar richten, bevor wir spazieren gehen können.«
»Dein Haar sieht reizend aus.« Beatrix konnte keinen noch so kleinen Makel an den kunstvoll aufgesteckten blonden Zöpfen entdecken. »Und wir gehen doch nur ins Dorf. Dort würde es niemand erkennen oder gar kümmern, ob deine Frisur tadellos ist.«
»Mich würde es kümmern. Außerdem weiß man nie, wem man begegnet.«
Der überbordende Hang ihrer Freundin, sich immerfort herauszuputzen, entlockte Beatrix nur ein Grinsen und ein Kopfschütteln. »Na schön. Wenn es dir sicher nichts ausmacht, dass ich Captain Phelans Brief ansehe, lese ich nur den Abschnitt über den Hund.«
»Bis du zu dem Hund kommst, wirst du schon eingeschlafen sein«, meinte Prudence, die geübt eine Haarnadel in ihre aufgesteckten Zöpfe fädelte.
Beatrix sah auf die eng beschriebenen Zeilen. Die Worte wirkten zusammengedrängt wie straffe Federn, die dem Leser jederzeit entgegenspringen könnten.
Teure Prudence,
hier sitze ich in diesem staubigen Zelt und bemühe mich, mir Eloquentes einfallen zu lassen, das ich Ihnen schreiben möchte. Allein, es mag mir keine Idee kommen. Sie verdienen wunderschöne Worte, doch die einzigen, die mir bleiben, sind: Ich denke ohne Unterlass an Sie. Ich stelle mir vor, wie Sie diesen Brief in Ihrer Hand halten und eine süße Note von Parfum von Ihrem Handgelenk aufsteigt. Ich wünsche mir Stille und klare Luft , ein Bett mit einem weichen weißen Kissen ...
Beatrix bemerkte, wie sich ihre Augenbrauen hoben und ihr
unter dem hohen Kragen ihres Kleides warm wurde. Sie hielt
inne und blickte zu Prudence. »Dies findest du langweilig?«,
fragte sie, während sie spürbar errötete. »Der Anfang ist das einzig Hübsche«, antwortete Prudence. »Lies weiter.«
... Vor zwei Tagen kämpften wir auf dem Marsch hinunter nach Sewastopol an der Alma gegen die Russen. Mir wurde erzählt, es wäre ein Sieg für unsere Seite gewesen, doch leider fühlt er sich nicht so an. Wir verloren mindestens zwei Drittel unserer Regimentsoffi ziere und ein Viertel der Männer. Gestern hoben wir Gräber aus. Die letzte Zählung der Toten und Verwundeten nennen sie »die Schlachterrechnung«. Dreihundertundsechzig Briten sind bisher tot, und es werden noch weitere ihren schweren Wunden erliegen.
Captain Brighton, einer der Gefallenen, hatte einen Rauhaarterrier namens Albert bei sich, der zweifellos der ungebärdigste Hund von allen sein dürfte. Nachdem Brighton ins Grab hinabgelassen wurde, setzte sich der Hund neben die Grube, winselte über Stunden und drohte, jeden zu beißen, der sich ihm näherte. Ich beging den Fehler, ihm etwas Zwieback anzubieten, und nun folgt mir die umnachtete Kreatur auf Schritt und Tritt. In diesem Moment sitzt sie in meinem Zelt und glotzt mich mit einem halb wahnsinnigen Blick an. Das Winseln hört so gut wie nie auf, und komme ich dem Hund näher, will er mir sofort die Zähne in den Arm schlagen. Ich würde ihn erschießen, wäre ich des Tötens nicht so gründlich müde.
Familien trauern um jene Leben, die ich nahm, um Söhne, Brüder, Väter. Mit den Dingen, die ich tat, habe ich mir einen Platz in der Hölle verdient, und der Krieg hat kaum begonnen. Ich verändere mich, und das nicht zum Besseren. Der Mann, den Sie kannten, ist auf immer fort, und ich fürchte, Ihnen könnte jener, der an seine Stelle trat, viel weniger gefallen.
Der Gestank des Todes, Pru, ist überall.
Auf dem Schlachtfeld liegen unzählige Gliedmaßen, Kleider, Stiefelsohlen verstreut. Malen Sie sich eine Explosion aus, deren Wucht die Sohlen von Stiefeln abreißt. Man sagt, dass im Jahr nach großen Schlachten die Wildblumen auf den Feldern um ein Vielfaches üppiger blühen - die Erde ist so aufgewühlt und blutgetränkt, dass die Samen leichter wurzeln. Ich möchte trauern, aber dies ist weder der Ort noch die Zeit dafür. Meine Gefühle muss ich vorerst verschließen, wo, weiß ich selbst nicht.
Gibt es noch einen friedlichen Ort auf der Welt? Bitte schreiben Sie mir. Erzählen Sie mir von der Handarbeit, die Sie gerade machen, oder von Ihrem Lieblingslied. Regnet es in Stony Cross? Hat das Laub angefangen, die Farbe zu wechseln?
Ihr Christopher Phelan
Als Beatrix den Brief zu Ende gelesen hatte, wurde sie einer eigenartigen Regung in ihrem Inneren gewahr, einer seltsamen Verwunderung, verquickt mit Mitgefühl, die ihr auf die Brust drückte.
Es schien undenkbar, dass solch ein Brief von dem arroganten Christopher Phelan kam. Er war so gänzlich anders als das, was sie erwartet hatte. Aus seinen Zeilen sprachen Verwundbarkeit, ein stilles Bitten, das Beatrix berührte.
»Du musst ihm schreiben, Pru«, sagte sie und faltete den Brief sehr viel sorgsamer zusammen, als sie ihn zuvor behandelt hatte.
»Ich werde nichts dergleichen tun. Mit einer Antwort würde ich ihn höchstens ermuntern, mir weitere Klagen zu schicken. Ich werde stillschweigen und ihn auf die Weise hoffentlich anregen, das nächste Mal von Angenehmerem zu berichten.«
Beatrix runzelte die Stirn. »Wie du weißt, hege ich keine besondere Vorliebe für Captain Phelan, doch dieser Brief ... Er verdient dein Mitgefühl, Pru. Schreib ihm einfach ein paar Zeilen, einige Worte des Trostes. Es würde dich kaum Zeit kosten, und was den Hund betrifft, hätte ich einen Rat ...«
»Ich schreibe gewiss nicht über diesen verflixten Hund!« Prudence seufzte ungeduldig. »Schreib du ihm.«
»Ich? Er möchte keinen Brief von mir. Mich hält er für eigenartig. «
»Ich wüsste nicht, warum. Nur weil du Medusa zum Picknick mitgebracht hast?«
»Sie ist ein sehr wohlerzogener Igel«, verteidigte Beatrix sich.
»Der Gentleman, dessen Hand durchbohrt wurde, würde dir widersprechen.«
»Was nur geschah, weil er sie vollkommen falsch angefasst hat. Wenn man einen Igel hochhebt ...«
»Nein, es ist sinnlos, mir das zu erklären, denn ich werde niemals einen Igel hochheben wollen. Was nun Captain Phelan angeht, also, wenn dir so sehr daran liegt, schreib ihm eine Antwort und unterzeichne in meinem Namen.«
»Wird er nicht erkennen, dass die Handschrift eine andere ist?«
»Nein, weil ich ihm noch nicht geschrieben habe.«
»Aber er ist nicht mein Verehrer«, sagte Beatrix. »Ich weiß nichts über ihn.«
»Genau genommen weißt du so viel wie ich. Du bist mit seiner Familie bekannt, und du stehst seiner Schwägerin sehr nahe. Überdies würde ich nicht behaupten, dass Captain Phelan mein Verehrer ist, zumindest nicht mein einziger. Ich werde ihm auf keinen Fall versprechen, ihn zu heiraten, ehe er nicht vollkommen unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Schließlich will ich keinen Gemahl, den ich für den Rest meines Lebens in einem Invalidenstuhl umherschiebe. «
»Meine liebe Pru, deine Empfindsamkeit reicht nicht tiefer als eine Pfütze.«
Prudence grinste. »Wenigstens bin ich ehrlich.«
Beatrix musterte sie skeptisch. »Du willst mir allen Ernstes die Aufgabe übertragen, einen Liebesbrief an einen deiner Freunde zu schreiben?«
Prudence winkte ab. »Keinen Liebesbrief. Es war auch keine Spur von Liebe in seinem Brief an mich. Schreib ihm etwas Erheiterndes und Ermutigendes.«
Beatrix tastete nach der Tasche ihres Ausgehkleids und steckte den Brief hinein. Innerlich rang sie mit sich, überlegte, dass es nie gut ausging, etwas moralisch Fragwürdiges zu tun, auch wenn es aus den richtigen Gründen geschah. Andererseits beherrschte das Bild des Soldaten ihre Gedanken, der erschöpft in der Abgeschiedenheit seines Zelts einen eiligen Brief hinkritzelte, die Hände voller Blasen vom Graben der letzten Ruhestätten seiner Kameraden. Und in der Ecke ein winselnder Hund.
Der Aufgabe, ihm zu schreiben, fühlte sie sich alles andere als gewachsen.
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es für Christopher sein musste, sein vornehmes Leben hinter sich zu lassen und sich in einer Welt wiederzufinden, in der ihm täglich das Ende drohte. Minütlich. Es war unmöglich, sich einen verwöhnten, schönen Mann wie Christopher Phelan auszumalen, der Gefahr und Entbehrung, Hunger und Einsamkeit erduldete.
Beatrix sah nachdenklich ihre Freundin an, und ihre Blicke begegneten sich im Spiegel der Frisierkommode. »Was ist dein Lieblingslied, Pru?«
»Ich habe keins. Nenn ihm deins.«
»Sollten wir uns vielleicht mit Audrey besprechen?«, fragte Beatrix. Gemeint war Phelans Schwägerin.
»Gewiss nicht. Audrey hat ein Problem mit Aufrichtigkeit.
Sie würde den Brief nicht weiterschicken, wüsste sie, dass ich ihn nicht geschrieben habe.«
Beatrix entfuhr ein Laut, der ein Lachen wie ein Stöhnen hätte sein können. »Ich würde das nicht ein Problem mit Aufrichtigkeit nennen. Ach, Pru, bitte überleg es dir und schreib ihm. Das wäre so viel einfacher.«
Aber Prudence zierte sich besonders, bedrängte man sie, etwas zu tun, und diese Situation bildete keine Ausnahme. »Einfacher für alle außer für mich«, erwiderte sie spitz. »Ich weiß ganz und gar nicht, was ich auf solch einen Brief antworten soll. Wahrscheinlich hat er schon vergessen, dass er ihn überhaupt geschrieben hat.« Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und trug etwas Rosenblütensalbe auf ihre Lippen auf.
Wie liebreizend Prudence mit ihrem herzförmigen Gesicht und den schmalen Brauen über den großen grünen Augen war. Doch wie wenig Persönliches war an ihrem Abbild im Spiegel zu erkennen. Es ließ sich nicht einmal erraten, was sie wirklich für Christopher Phelan empfinden mochte. Eines nur war sicher: Es war besser, seinen Brief zu beantworten, ganz gleich wie unpassend, als ihm eine Antwort zu versagen. Denn bisweilen riss Nichtbeachtung ebensolch tiefe Wunden wie eine Kugel.
Beatrix saß allein in ihrem Zimmer in Ramsay House am Sekretär und tauchte ihre Schreibfeder in das Fässchen mit blauer Tinte. Eine dreibeinige Katze namens Lucky lag auf der Ecke des Schreibtisches und beobachtete Beatrix aufmerksam. Beatrix' Igel Medusa besetzte die andere Ecke. Lucky war ein überaus vernünftiges Wesen, weshalb sie nicht auf die Idee käme, dem kleinen Igel zu nahe zu treten.
Nachdem sie den Brief von Phelan ein weiteres Mal gelesen hatte, schrieb Beatrix:
Captain Christopher Phelan
Erstes Batallion Rifle Brigade
Zweites Divisionslager, Krim
17. Oktober 1854 Beatrix hielt inne und streichelte Luckys verbliebene Vorderpfote mit der Fingerspitze. »Wie würde Pru einen Brief beginnen?«, fragte sie sich laut. »Würde sie ihn ›Liebster‹ nennen? ›Teuerster‹?« Sie rümpfte die Nase.
Briefe zu schreiben zählte nicht zu Beatrix' Stärken. Obwohl sie einer überaus redegewandten Familie entstammte, hatte sie Instinkt und Handeln stets mehr geschätzt als Worte. Ja, sie fand sogar, dass man einen Menschen deutlich besser kennenlernte, indem man mit ihm einen kurzen Spaziergang machte, als es in Stunden höfl icher Konversation zu erreichen wäre.
Nachdem sie mehrere Dinge erwogen und verworfen hatte, die man einem vollkommen Fremden unter der Vorgabe, selbst jemand anderer zu sein, schreiben könnte, gab Beatrix es schließlich auf. »Ach, zum Teufel damit! Ich schreibe eben, wie es mir gefällt. Wahrscheinlich wird er ohnedies viel zu müde und abgekämpft sein, um zu merken, dass der Brief nicht nach Pru klingt.«
Lucky legte ihr Kinn neben die Pfote und schloss die Augen halb, wobei sie schnurrend seufzte.
Beatrix begann zu schreiben.
Lieber Christopher,
ich habe die Berichte über die Schlacht an der Alma gelesen. Wie Mr. Russell in der Times schrieb, sind Sie und zwei andere der Rifle Brigade den Coldstream Guards vorausgegangen und haben mehrere feindliche Offiziere erschossen, womit Sie deren Züge auflösten. Mr. Russell bemerkte überdies bewundernd, dass die Rifles sich nie zurückzogen oder auch nur die Köpfe einzogen, als die Kugeln flogen.
Während ich seine Wertschätzung teile, möchte ich Ihnen dennoch sagen, dass es meiner Meinung nach Ihren Mut nicht schmälerte, den Kopf einzuziehen, wenn auf Sie geschossen wird. Ducken Sie sich nur, weichen Sie zur Seite aus oder verstecken Sie sich vorzugsweise hinter einem Felsen, und ich verspreche Ihnen, es wird meine Achtung für Sie nicht schmälern!
Ist Albert noch bei Ihnen? Beißt er noch? Meiner Freundin Beatrix gemäß (die den Igel zum Picknick mitbrachte) ist der Hund überreizt und ängstlich. Da Hunde im Herzen Wölfe sind und einen Rudelführer brauchen, müssen Sie sich ihm dominant zeigen. Wann immer er versucht, Sie zu beißen, umklammern Sie seine Schnauze mit der Hand, üben leichten Druck aus und sagen mit fester Stimme Nein.
Mein Lieblingslied ist »Over the Hills and Far Away«. Gestern regnete es in Hampshire. Es war ein mildes Herbstunwetter, das kaum Blätter von den Bäumen wusch. Die Dahlien blühen nicht mehr, und der Frost hat die Chrysanthemen welken lassen, aber die Luft duftet herrlich nach altem Laub, feuchter Rinde und reifen Äpfeln. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass jeder Monat seinen eigenen Geruch hat? Für mich duften der Mai und der Oktober am schönsten.
Sie fragten, ob es einen friedlichen Ort auf der Welt gibt, und ich bedaure, sagen zu müssen, dass es nicht Stony Cross ist. Unlängst brach Mr. Mawdsleys Esel aus seinem Stall aus, rannte die Straße hinunter und verschaffte sich Zutritt auf eine eingezäunte Weide. Mr. Cairds preisgekrönte Stute graste dort nichtsahnend, als der ungezogene Verführer sie sich zu Willen machte. Nun scheint es, als hätte die Stute empfangen, und es entbrennt eine Fehde zwischen Caird, der finanzielle Entschädigung fordert, und Mawdsley, der darauf besteht, dass ein weniger stümperhaft er Weidezaun eine solche heimliche Begegnung gar nicht erst ermöglicht hätte. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, wurde hie und da laut, dass sich die Stute als schamlos erwiesen haben soll und nicht annähernd die Gegenwehr leistete, die man von ihr erwartete.
Glauben Sie wirklich, dass Sie einen Platz in der Hölle verdienen? Ich glaube nicht an die Hölle, zumindest nicht im Leben nach dem Tode, sondern denke, dass die Hölle hier auf Erden bereitet wird, und zwar von Menschen für andere Menschen.
Sie sagen, der Gentleman, den ich kannte, wurde zu einem anderen. Wie sehr wünschte ich, ich könnte Ihnen angemesseneren Trost spenden als den, dass es mir gleich ist, wie Sie sich verändern, und Sie bei Ihrer Rückkehr so oder so willkommen sind. Tun Sie, was Sie tun müssen. Wenn es Ihnen durchzuhalten hilft , schließen Sie Ihre Gefühle fort. Vielleicht können wir sie eines Tages gemeinsam wieder aus ihrem Verlies befreien.
Ihre Prudence
Beatrix hatte noch nie absichtlich jemanden hinters Licht geführt. Und ihr wäre unendlich wohler, könnte sie Phelan in ihrem eigenen Namen schreiben. Doch leider entsann sie sich auch allzu gut seiner Bemerkungen über sie. Er würde keinen Brief von dieser »eigenartigen Beatrix Hathaway« wollen. Nein, er hatte um einen Brief der wunderschönen Prudence Mercer mit dem güldenen Haar gebeten. Und war ein vermeintlich von Prudence stammender Brief nicht besser als gar keiner? Ein Mann in Christophers Lage brauchte jede Ermutigung, die irgend zu haben war.
Er musste erfahren, dass er anderen Menschen nicht gleichgültig war.
Und erstaunlicherweise stellte Beatrix fest, dass er ihr, nachdem sie seinen Brief gelesen hatte, nicht gleichgültig war.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Sie ist überhaupt nicht elegant«, erwiderte Prudence finster. »Eher würde man sagen, dass die Uniformen seines neuen Regiments geradezu abscheulich aussehen, so sehr schlicht, dunkelgrün mit schwarzen Aufschlägen und ohne jedes Gold oder sonstige Zier. Und als ich fragte, warum sie so sind, sagte Captain Phelan, es sollte den Schützen helfen, sich versteckt zu halten. Das wiederum ergibt überhaupt keinen Sinn, denn jeder weiß, dass ein britischer Soldat viel zu mutig und stolz ist, um sich während der Schlacht zu verstecken. Aber Christopher, also Captain Phelan, sagte, es hätte etwas mit ... oh, wie hieß noch dieses französische Wort?«
»Camouflage?«, fragte Beatrix interessiert.
»Ja, woher wusstest du das?«
»Man beschreibt damit, was viele Tiere tun, um sich unsichtbar zu machen. Chamäleons zum Beispiel. Oder Eulen mit ihrem gefleckten Gefieder, das genauso aussieht wie die Rinde der Bäume, in denen sie hocken. Auf die Weise ...«
»Du liebe Güte, Beatrix! Nun halt mir bitte nicht schon wieder einen Vortrag über Tiere!«
»Ich höre auf, wenn du mir von dem Hund erzählst.«
Prudence reichte ihr den Brief. »Lies selbst.«
»Aber, Pru«, protestierte Beatrix, als Prudence ihr die kleinen Blätter in die Hand drückte. »Captain Phelan könnte etwas Privates geschrieben haben.«
»Wenn es doch nur so wäre. Nein, sein Brief ist furchtbar düster. Nichts als Schlachten und schlechte Neuigkeiten.«
Auch wenn Christopher Phelan der letzte Mann war, den Beatrix verteidigen wollte, konnte sie nicht umhin zu sagen: »Er kämpft auf der Krim, Pru. Es ist anzunehmen, dass sich inmitten des Kriegstreibens wenig Hübsches zu berichten findet.«
»Nun, mich kümmern fremde Länder nicht, und ich habe niemals etwas anderes vorgegeben.«
Beatrix schmunzelte verhalten. »Pru, bist du dir sicher, dass du die Frau eines Offiziers sein möchtest?«
»Ja, natürlich. Die meisten Offiziere ziehen gar nicht in den Krieg und beschränken sich darauf, elegant auszusehen und vornehm zu sein. Sie können sogar auf halben Sold gehen, was sie von einem Großteil ihrer Pflichten entbindet, sodass sie kaum noch Zeit bei ihrem Regiment verbringen müssen. Captain Phelan war es, bis er in den Auslandsdienst berufen wurde.« Prudence hob eine Schulter. »Nun, Kriege kommen wohl immer zur falschen Zeit. Dem Himmel sei Dank, dass Captain Phelan bald wieder nach Hampshire zurückkehrt.«
»Wird er? Und woher weißt du das?«
»Meine Eltern sagen, dass der Krieg noch vor Weihnachten zu Ende ist.«
»Davon hörte ich auch. Man fragt sich allerdings, ob wir die russische Streitmacht nicht sträflich unterschätzen oder unsere eigene überschätzen.«
»Wie unpatriotisch«, rief Prudence mit einem schelmischen Funkeln in den Augen aus.
»Ich würde indes auch nicht von Patriotismus sprechen, wenn unser Kriegsministerium in seinem Übereifer dreißigtausend Mann auf die Krim schickt, ohne zuvor hinreichend zu planen. Weder verfügen wir über angemessene Kenntnis der örtlichen Bedingungen, noch gibt es eine vernünftige Strategie, wie die Krim einzunehmen ist.«
»Wie kannst du davon wissen?«
»Aus der Times. Jeden Tag wird über den Krieg berichtet. Liest du denn keine Zeitung?«
»Nicht die Artikel über Politik. Meine Eltern sagen, es ziemt sich nicht für eine junge Dame, sich für derlei Angelegenheiten zu interessieren.«
»Meine Familie spricht bei jedem Abendessen über Politik, in Anwesenheit meiner Schwestern und mir.« Beatrix machte absichtlich eine kurze Pause, ehe sie mit einem Grinsen hinzufügte: »Und wir dürfen sogar Meinungen haben.«
Prudence riss die Augen weit auf. »Du liebe Güte! Na, ich sollte mich nicht wundern. Jeder weiß, dass deine Familie ... anders ist.«
»Anders« war ein weit freundlicher Ausdruck als jene, mit denen die Hathaway-Familie gewöhnlich beschrieben wurde. Die Hathaways waren fünf Geschwister: auf Leo, den Ältesten, folgten Amelia, Winnifred, Poppy und Beatrix. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sich das Schicksal der Kinder auf verblüffende Weise gewandelt. Sie waren als Bürgerliche geboren, allerdings entfernt verwandt mit einem adligen Zweig der Familie, und infolge einer Reihe von unerwarteten Ereignissen hatte Leo einen Vicomte-Titel geerbt, auf den er und seine Schwestern nicht im Mindesten vorbereitet waren. Diese Erbschaft verschlug sie aus ihrem kleinen Dorf Primrose Place auf das Ramsay-Anwesen in der südlichen Grafschaft Hampshire.
In den vergangenen sechs Jahren lernten die Hathaways gerade genug, um sich in die gehobenen Kreise einzufügen. Doch gelang es bisher keinem von ihnen, wie der Adel zu denken, geschweige denn sich die Werte oder Manieren der Aristokratie anzueignen. Sie besaßen Vermögen, aber dies war nicht annähernd so wichtig wie Erziehung und Verbindungen. Und während eine andere Familie in vergleichbaren Umständen bestrebt wäre, ihren gesellschaftlichen Rang mittels Heirat zu verbessern, hatten sich die Hathaways, die bislang in den Ehestand getreten waren, jeweils für eine Liebesheirat entschieden.
Was Beatrix betraf, war fraglich, ob sie jemals heiraten würde. Man konnte sie bestenfalls als halb-zivilisiert bezeichnen, verbrachte sie doch den Großteil ihrer Zeit im Freien und streift e zu Pferd oder zu Fuß durch die Wälder, Marschen und Wiesen von Hampshire. Die Gesellschaft von Tieren war Beatrix allemal lieber als die von Menschen. Immerfort sammelte sie verletzte oder verwaiste Kreaturen auf und pflegte sie gesund oder zog sie groß. Diejenigen, die nicht allein in der Wildnis überleben könnten, behielt sie als Haustiere, und mit ihrer Hege beschäftigte Beatrix sich beinahe ausschließlich. So kam es, dass sich Beatrix in der Natur glücklich und erfüllt fühlte; wohingegen sie dem Leben in geschlossenen Räumen sehr wenig abgewinnen konnte.
In jüngster Zeit überkam Beatrix zusehends häufiger ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit, gleich einer unbenennbaren Sehnsucht. Das Problem war, dass Beatrix noch nie einem Mann begegnet war, der für sie in Betracht kam. Von den blassen, überheblichen jungen Herren, auf die sie in den Londoner Salons traf, fühlte sie sich eher abgestoßen, und auch wenn die robusteren Männer auf dem Lande schon eher ihren Vorstellungen entsprachen, fehlte ihnen schlicht das gewisse Etwas, nach dem Beatrix sich sehnte. Sie träumte von einem Mann, dessen Willenskraft ihrer eigenen ebenbürtig war, und sie wünschte sich, leidenschaftlich geliebt, herausgefordert und überwältigt zu werden.
Beatrix blickte auf den zusammengefalteten Brief in ihren Händen.
Nicht dass sie gegen Christopher Phelan eingenommen war; vielmehr schien er alles abzulehnen, was sie verkörperte. Gebildet und von privilegierter Geburt, wusste er sich mit einer Geschmeidigkeit in vornehmer Gesellschaft zu bewegen, die Beatrix vollkommen fremd war. Er war der zweite Sohn einer angesehenen hiesigen Familie, konnte einen Earl als Großvater mütterlicherseits vorweisen und väterlicherseits ein beträchtliches, durch Schifffahrt erworbenes Vermögen.
Die Phelans hatten keine Aussicht auf ein Titelerbe, aber immerhin würde John, der Älteste, nach dem Tod des Earls das Riverton-Anwesen in Warwickshire erben. John war ein ernster, nachdenklicher Mann und liebte seine Frau Audrey hingebungsvoll.
Der jüngere Bruder Christopher war von gänzlich anderem Charakter. Wie so oft bei zweiten Söhnen üblich, hatte Christopher sich mit zweiundzwanzig ein Offi zierspatent gekauft. Zunächst diente er als Fahnenjunker der Kavallerie, was eine ideale Beschäftigung für solch einen formidablen jungen Burschen war. Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, bei Paraden und Übungen die Regimentsfahne zu schwingen. Auch bei den Damen in den Londoner Salons erfreute Christopher sich größter Beliebtheit; dort nämlich hielt er sich fortwährend auf - häufig ohne beurlaubt zu sein
- und verbrachte seine Zeit tanzend, spielend, feine Kleider aussuchend oder skandalösen Liebesaffären frönend. Beatrix hatte Christopher Phelan zweimal getroffen: das erste Mal bei einem Ball hier in Hampshire, wo sie zu dem Schluss kam, dass er der arroganteste Mann im ganzen County sein dürfte. Das zweite Mal begegnete sie ihm bei einem Picknick, auf dem sie ihre Meinung revidierte: Er war der arroganteste Mann auf der ganzen Welt.
»Dieses Hathaway-Mädchen ist ein eigenartiges Geschöpf «, hatte Beatrix ihn zu seinem Begleiter sagen gehört.
»Ich finde sie charmant und originell«, entgegnete sein Gefährte. »Und sie kann mit Pferden umgehen wie keine Frau sonst, die ich kenne.«
»Wen wundert's? Sie passt auch besser in einen Stall als in einen Salon«, hatte Phelan trocken bemerkt.
Von da an mied Beatrix ihn, wo immer sie konnte. Nicht dass ihr der implizite Vergleich mit einem Pferd etwas ausmachte, denn Pferde waren reizende Tiere von edlem, freundlichem Gemüt. Und Beatrix wusste, dass sie keine große Schönheit sein mochte, sehr wohl jedoch ihre eigenen Reize besaß. Manch ein Mann hatte ihr schon Komplimente wegen ihres dunkelbraunen Haars und ihrer blauen Augen gemacht.
Diese bescheidenen Vorzüge jedoch verblassten angesichts von Christopher Phelans goldenem Glanz. Er war wie Lancelot, wie Gabriel, ja, vielleicht wie Luzifer, sofern man glaubte, dass jener einst der schönste aller Engel gewesen war. Phelan war groß, hatte silberne Augen und Haar von der Farbe dunklen sonnengeküssten Winterweizens. Seine Gestalt war stark und soldatisch, die Schultern gerade und breit, die Hüften schmal. Selbst wenn er sich mit lässiger Eleganz bewegte, strahlte er eine unübersehbare Kraft aus, die an ein einzelgängerisches Raubtier gemahnte.
Unlängst war Phelan als einer von wenigen Auserwählten aus mehreren Regimentern zum Mitglied der »Rifle Brigade « ernannt worden. Die »Rifles«, wie sie überall hießen, waren eine außergewöhnliche Gruppe von Soldaten, die man dazu ausbildete, auf eigene Faust zu agieren. Sie wurden angehalten, Stellungen vor den eigenen Frontlinien zu beziehen und berittene Offiziere in den hinteren Linien der Feinde niederzuschlagen. Aufgrund seiner überragenden Fertigkeit als Schütze war Phelan bald zum Captain der Rifle Brigade avanciert.
Beatrix amüsierte der Gedanke, dass diese Ehre ihn alles andere als erfreut haben dürfte. Immerhin war er genötigt gewesen, seine schöne Husarenuniform aus dem schimmernd schwarzen und über und über mit Goldtressen verzierten Stoff gegen eine sehr schlichte dunkelgrüne einzutauschen.
»Lies nur«, sagte Prudence, während sie sich an ihren Frisiertisch setzte. »Ich muss mein Haar richten, bevor wir spazieren gehen können.«
»Dein Haar sieht reizend aus.« Beatrix konnte keinen noch so kleinen Makel an den kunstvoll aufgesteckten blonden Zöpfen entdecken. »Und wir gehen doch nur ins Dorf. Dort würde es niemand erkennen oder gar kümmern, ob deine Frisur tadellos ist.«
»Mich würde es kümmern. Außerdem weiß man nie, wem man begegnet.«
Der überbordende Hang ihrer Freundin, sich immerfort herauszuputzen, entlockte Beatrix nur ein Grinsen und ein Kopfschütteln. »Na schön. Wenn es dir sicher nichts ausmacht, dass ich Captain Phelans Brief ansehe, lese ich nur den Abschnitt über den Hund.«
»Bis du zu dem Hund kommst, wirst du schon eingeschlafen sein«, meinte Prudence, die geübt eine Haarnadel in ihre aufgesteckten Zöpfe fädelte.
Beatrix sah auf die eng beschriebenen Zeilen. Die Worte wirkten zusammengedrängt wie straffe Federn, die dem Leser jederzeit entgegenspringen könnten.
Teure Prudence,
hier sitze ich in diesem staubigen Zelt und bemühe mich, mir Eloquentes einfallen zu lassen, das ich Ihnen schreiben möchte. Allein, es mag mir keine Idee kommen. Sie verdienen wunderschöne Worte, doch die einzigen, die mir bleiben, sind: Ich denke ohne Unterlass an Sie. Ich stelle mir vor, wie Sie diesen Brief in Ihrer Hand halten und eine süße Note von Parfum von Ihrem Handgelenk aufsteigt. Ich wünsche mir Stille und klare Luft , ein Bett mit einem weichen weißen Kissen ...
Beatrix bemerkte, wie sich ihre Augenbrauen hoben und ihr
unter dem hohen Kragen ihres Kleides warm wurde. Sie hielt
inne und blickte zu Prudence. »Dies findest du langweilig?«,
fragte sie, während sie spürbar errötete. »Der Anfang ist das einzig Hübsche«, antwortete Prudence. »Lies weiter.«
... Vor zwei Tagen kämpften wir auf dem Marsch hinunter nach Sewastopol an der Alma gegen die Russen. Mir wurde erzählt, es wäre ein Sieg für unsere Seite gewesen, doch leider fühlt er sich nicht so an. Wir verloren mindestens zwei Drittel unserer Regimentsoffi ziere und ein Viertel der Männer. Gestern hoben wir Gräber aus. Die letzte Zählung der Toten und Verwundeten nennen sie »die Schlachterrechnung«. Dreihundertundsechzig Briten sind bisher tot, und es werden noch weitere ihren schweren Wunden erliegen.
Captain Brighton, einer der Gefallenen, hatte einen Rauhaarterrier namens Albert bei sich, der zweifellos der ungebärdigste Hund von allen sein dürfte. Nachdem Brighton ins Grab hinabgelassen wurde, setzte sich der Hund neben die Grube, winselte über Stunden und drohte, jeden zu beißen, der sich ihm näherte. Ich beging den Fehler, ihm etwas Zwieback anzubieten, und nun folgt mir die umnachtete Kreatur auf Schritt und Tritt. In diesem Moment sitzt sie in meinem Zelt und glotzt mich mit einem halb wahnsinnigen Blick an. Das Winseln hört so gut wie nie auf, und komme ich dem Hund näher, will er mir sofort die Zähne in den Arm schlagen. Ich würde ihn erschießen, wäre ich des Tötens nicht so gründlich müde.
Familien trauern um jene Leben, die ich nahm, um Söhne, Brüder, Väter. Mit den Dingen, die ich tat, habe ich mir einen Platz in der Hölle verdient, und der Krieg hat kaum begonnen. Ich verändere mich, und das nicht zum Besseren. Der Mann, den Sie kannten, ist auf immer fort, und ich fürchte, Ihnen könnte jener, der an seine Stelle trat, viel weniger gefallen.
Der Gestank des Todes, Pru, ist überall.
Auf dem Schlachtfeld liegen unzählige Gliedmaßen, Kleider, Stiefelsohlen verstreut. Malen Sie sich eine Explosion aus, deren Wucht die Sohlen von Stiefeln abreißt. Man sagt, dass im Jahr nach großen Schlachten die Wildblumen auf den Feldern um ein Vielfaches üppiger blühen - die Erde ist so aufgewühlt und blutgetränkt, dass die Samen leichter wurzeln. Ich möchte trauern, aber dies ist weder der Ort noch die Zeit dafür. Meine Gefühle muss ich vorerst verschließen, wo, weiß ich selbst nicht.
Gibt es noch einen friedlichen Ort auf der Welt? Bitte schreiben Sie mir. Erzählen Sie mir von der Handarbeit, die Sie gerade machen, oder von Ihrem Lieblingslied. Regnet es in Stony Cross? Hat das Laub angefangen, die Farbe zu wechseln?
Ihr Christopher Phelan
Als Beatrix den Brief zu Ende gelesen hatte, wurde sie einer eigenartigen Regung in ihrem Inneren gewahr, einer seltsamen Verwunderung, verquickt mit Mitgefühl, die ihr auf die Brust drückte.
Es schien undenkbar, dass solch ein Brief von dem arroganten Christopher Phelan kam. Er war so gänzlich anders als das, was sie erwartet hatte. Aus seinen Zeilen sprachen Verwundbarkeit, ein stilles Bitten, das Beatrix berührte.
»Du musst ihm schreiben, Pru«, sagte sie und faltete den Brief sehr viel sorgsamer zusammen, als sie ihn zuvor behandelt hatte.
»Ich werde nichts dergleichen tun. Mit einer Antwort würde ich ihn höchstens ermuntern, mir weitere Klagen zu schicken. Ich werde stillschweigen und ihn auf die Weise hoffentlich anregen, das nächste Mal von Angenehmerem zu berichten.«
Beatrix runzelte die Stirn. »Wie du weißt, hege ich keine besondere Vorliebe für Captain Phelan, doch dieser Brief ... Er verdient dein Mitgefühl, Pru. Schreib ihm einfach ein paar Zeilen, einige Worte des Trostes. Es würde dich kaum Zeit kosten, und was den Hund betrifft, hätte ich einen Rat ...«
»Ich schreibe gewiss nicht über diesen verflixten Hund!« Prudence seufzte ungeduldig. »Schreib du ihm.«
»Ich? Er möchte keinen Brief von mir. Mich hält er für eigenartig. «
»Ich wüsste nicht, warum. Nur weil du Medusa zum Picknick mitgebracht hast?«
»Sie ist ein sehr wohlerzogener Igel«, verteidigte Beatrix sich.
»Der Gentleman, dessen Hand durchbohrt wurde, würde dir widersprechen.«
»Was nur geschah, weil er sie vollkommen falsch angefasst hat. Wenn man einen Igel hochhebt ...«
»Nein, es ist sinnlos, mir das zu erklären, denn ich werde niemals einen Igel hochheben wollen. Was nun Captain Phelan angeht, also, wenn dir so sehr daran liegt, schreib ihm eine Antwort und unterzeichne in meinem Namen.«
»Wird er nicht erkennen, dass die Handschrift eine andere ist?«
»Nein, weil ich ihm noch nicht geschrieben habe.«
»Aber er ist nicht mein Verehrer«, sagte Beatrix. »Ich weiß nichts über ihn.«
»Genau genommen weißt du so viel wie ich. Du bist mit seiner Familie bekannt, und du stehst seiner Schwägerin sehr nahe. Überdies würde ich nicht behaupten, dass Captain Phelan mein Verehrer ist, zumindest nicht mein einziger. Ich werde ihm auf keinen Fall versprechen, ihn zu heiraten, ehe er nicht vollkommen unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Schließlich will ich keinen Gemahl, den ich für den Rest meines Lebens in einem Invalidenstuhl umherschiebe. «
»Meine liebe Pru, deine Empfindsamkeit reicht nicht tiefer als eine Pfütze.«
Prudence grinste. »Wenigstens bin ich ehrlich.«
Beatrix musterte sie skeptisch. »Du willst mir allen Ernstes die Aufgabe übertragen, einen Liebesbrief an einen deiner Freunde zu schreiben?«
Prudence winkte ab. »Keinen Liebesbrief. Es war auch keine Spur von Liebe in seinem Brief an mich. Schreib ihm etwas Erheiterndes und Ermutigendes.«
Beatrix tastete nach der Tasche ihres Ausgehkleids und steckte den Brief hinein. Innerlich rang sie mit sich, überlegte, dass es nie gut ausging, etwas moralisch Fragwürdiges zu tun, auch wenn es aus den richtigen Gründen geschah. Andererseits beherrschte das Bild des Soldaten ihre Gedanken, der erschöpft in der Abgeschiedenheit seines Zelts einen eiligen Brief hinkritzelte, die Hände voller Blasen vom Graben der letzten Ruhestätten seiner Kameraden. Und in der Ecke ein winselnder Hund.
Der Aufgabe, ihm zu schreiben, fühlte sie sich alles andere als gewachsen.
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es für Christopher sein musste, sein vornehmes Leben hinter sich zu lassen und sich in einer Welt wiederzufinden, in der ihm täglich das Ende drohte. Minütlich. Es war unmöglich, sich einen verwöhnten, schönen Mann wie Christopher Phelan auszumalen, der Gefahr und Entbehrung, Hunger und Einsamkeit erduldete.
Beatrix sah nachdenklich ihre Freundin an, und ihre Blicke begegneten sich im Spiegel der Frisierkommode. »Was ist dein Lieblingslied, Pru?«
»Ich habe keins. Nenn ihm deins.«
»Sollten wir uns vielleicht mit Audrey besprechen?«, fragte Beatrix. Gemeint war Phelans Schwägerin.
»Gewiss nicht. Audrey hat ein Problem mit Aufrichtigkeit.
Sie würde den Brief nicht weiterschicken, wüsste sie, dass ich ihn nicht geschrieben habe.«
Beatrix entfuhr ein Laut, der ein Lachen wie ein Stöhnen hätte sein können. »Ich würde das nicht ein Problem mit Aufrichtigkeit nennen. Ach, Pru, bitte überleg es dir und schreib ihm. Das wäre so viel einfacher.«
Aber Prudence zierte sich besonders, bedrängte man sie, etwas zu tun, und diese Situation bildete keine Ausnahme. »Einfacher für alle außer für mich«, erwiderte sie spitz. »Ich weiß ganz und gar nicht, was ich auf solch einen Brief antworten soll. Wahrscheinlich hat er schon vergessen, dass er ihn überhaupt geschrieben hat.« Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und trug etwas Rosenblütensalbe auf ihre Lippen auf.
Wie liebreizend Prudence mit ihrem herzförmigen Gesicht und den schmalen Brauen über den großen grünen Augen war. Doch wie wenig Persönliches war an ihrem Abbild im Spiegel zu erkennen. Es ließ sich nicht einmal erraten, was sie wirklich für Christopher Phelan empfinden mochte. Eines nur war sicher: Es war besser, seinen Brief zu beantworten, ganz gleich wie unpassend, als ihm eine Antwort zu versagen. Denn bisweilen riss Nichtbeachtung ebensolch tiefe Wunden wie eine Kugel.
Beatrix saß allein in ihrem Zimmer in Ramsay House am Sekretär und tauchte ihre Schreibfeder in das Fässchen mit blauer Tinte. Eine dreibeinige Katze namens Lucky lag auf der Ecke des Schreibtisches und beobachtete Beatrix aufmerksam. Beatrix' Igel Medusa besetzte die andere Ecke. Lucky war ein überaus vernünftiges Wesen, weshalb sie nicht auf die Idee käme, dem kleinen Igel zu nahe zu treten.
Nachdem sie den Brief von Phelan ein weiteres Mal gelesen hatte, schrieb Beatrix:
Captain Christopher Phelan
Erstes Batallion Rifle Brigade
Zweites Divisionslager, Krim
17. Oktober 1854 Beatrix hielt inne und streichelte Luckys verbliebene Vorderpfote mit der Fingerspitze. »Wie würde Pru einen Brief beginnen?«, fragte sie sich laut. »Würde sie ihn ›Liebster‹ nennen? ›Teuerster‹?« Sie rümpfte die Nase.
Briefe zu schreiben zählte nicht zu Beatrix' Stärken. Obwohl sie einer überaus redegewandten Familie entstammte, hatte sie Instinkt und Handeln stets mehr geschätzt als Worte. Ja, sie fand sogar, dass man einen Menschen deutlich besser kennenlernte, indem man mit ihm einen kurzen Spaziergang machte, als es in Stunden höfl icher Konversation zu erreichen wäre.
Nachdem sie mehrere Dinge erwogen und verworfen hatte, die man einem vollkommen Fremden unter der Vorgabe, selbst jemand anderer zu sein, schreiben könnte, gab Beatrix es schließlich auf. »Ach, zum Teufel damit! Ich schreibe eben, wie es mir gefällt. Wahrscheinlich wird er ohnedies viel zu müde und abgekämpft sein, um zu merken, dass der Brief nicht nach Pru klingt.«
Lucky legte ihr Kinn neben die Pfote und schloss die Augen halb, wobei sie schnurrend seufzte.
Beatrix begann zu schreiben.
Lieber Christopher,
ich habe die Berichte über die Schlacht an der Alma gelesen. Wie Mr. Russell in der Times schrieb, sind Sie und zwei andere der Rifle Brigade den Coldstream Guards vorausgegangen und haben mehrere feindliche Offiziere erschossen, womit Sie deren Züge auflösten. Mr. Russell bemerkte überdies bewundernd, dass die Rifles sich nie zurückzogen oder auch nur die Köpfe einzogen, als die Kugeln flogen.
Während ich seine Wertschätzung teile, möchte ich Ihnen dennoch sagen, dass es meiner Meinung nach Ihren Mut nicht schmälerte, den Kopf einzuziehen, wenn auf Sie geschossen wird. Ducken Sie sich nur, weichen Sie zur Seite aus oder verstecken Sie sich vorzugsweise hinter einem Felsen, und ich verspreche Ihnen, es wird meine Achtung für Sie nicht schmälern!
Ist Albert noch bei Ihnen? Beißt er noch? Meiner Freundin Beatrix gemäß (die den Igel zum Picknick mitbrachte) ist der Hund überreizt und ängstlich. Da Hunde im Herzen Wölfe sind und einen Rudelführer brauchen, müssen Sie sich ihm dominant zeigen. Wann immer er versucht, Sie zu beißen, umklammern Sie seine Schnauze mit der Hand, üben leichten Druck aus und sagen mit fester Stimme Nein.
Mein Lieblingslied ist »Over the Hills and Far Away«. Gestern regnete es in Hampshire. Es war ein mildes Herbstunwetter, das kaum Blätter von den Bäumen wusch. Die Dahlien blühen nicht mehr, und der Frost hat die Chrysanthemen welken lassen, aber die Luft duftet herrlich nach altem Laub, feuchter Rinde und reifen Äpfeln. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass jeder Monat seinen eigenen Geruch hat? Für mich duften der Mai und der Oktober am schönsten.
Sie fragten, ob es einen friedlichen Ort auf der Welt gibt, und ich bedaure, sagen zu müssen, dass es nicht Stony Cross ist. Unlängst brach Mr. Mawdsleys Esel aus seinem Stall aus, rannte die Straße hinunter und verschaffte sich Zutritt auf eine eingezäunte Weide. Mr. Cairds preisgekrönte Stute graste dort nichtsahnend, als der ungezogene Verführer sie sich zu Willen machte. Nun scheint es, als hätte die Stute empfangen, und es entbrennt eine Fehde zwischen Caird, der finanzielle Entschädigung fordert, und Mawdsley, der darauf besteht, dass ein weniger stümperhaft er Weidezaun eine solche heimliche Begegnung gar nicht erst ermöglicht hätte. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, wurde hie und da laut, dass sich die Stute als schamlos erwiesen haben soll und nicht annähernd die Gegenwehr leistete, die man von ihr erwartete.
Glauben Sie wirklich, dass Sie einen Platz in der Hölle verdienen? Ich glaube nicht an die Hölle, zumindest nicht im Leben nach dem Tode, sondern denke, dass die Hölle hier auf Erden bereitet wird, und zwar von Menschen für andere Menschen.
Sie sagen, der Gentleman, den ich kannte, wurde zu einem anderen. Wie sehr wünschte ich, ich könnte Ihnen angemesseneren Trost spenden als den, dass es mir gleich ist, wie Sie sich verändern, und Sie bei Ihrer Rückkehr so oder so willkommen sind. Tun Sie, was Sie tun müssen. Wenn es Ihnen durchzuhalten hilft , schließen Sie Ihre Gefühle fort. Vielleicht können wir sie eines Tages gemeinsam wieder aus ihrem Verlies befreien.
Ihre Prudence
Beatrix hatte noch nie absichtlich jemanden hinters Licht geführt. Und ihr wäre unendlich wohler, könnte sie Phelan in ihrem eigenen Namen schreiben. Doch leider entsann sie sich auch allzu gut seiner Bemerkungen über sie. Er würde keinen Brief von dieser »eigenartigen Beatrix Hathaway« wollen. Nein, er hatte um einen Brief der wunderschönen Prudence Mercer mit dem güldenen Haar gebeten. Und war ein vermeintlich von Prudence stammender Brief nicht besser als gar keiner? Ein Mann in Christophers Lage brauchte jede Ermutigung, die irgend zu haben war.
Er musste erfahren, dass er anderen Menschen nicht gleichgültig war.
Und erstaunlicherweise stellte Beatrix fest, dass er ihr, nachdem sie seinen Brief gelesen hatte, nicht gleichgültig war.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Lisa Kleypas
Lisa Kleypas ist eine Meisterin ihres Fachs: Mit ihren zahlreichen historischen Liebesromanen nimmt sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen für sich ein, sondern auch die internationalen Bestsellerlisten. Die Autorin schreibt und lebt mit ihrer Familie in Washington State.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Kleypas
- 2013, 1, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863657985
- ISBN-13: 9783863657987
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