Hexenkind
Die Geschichte einer Frau, die verfolgt wurde
Ihr eigener Vater beschuldigt Joana eine Hexe zu sein, ebenso ihr Ehemann. Für ihn unterzieht Joana sich sogar einem qualvollen Ritual, das sieben Tage dauert. Doch ihre Ehe scheitert und sie geht nach Europa. Jahre später kehrt sie für...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hexenkind “
Ihr eigener Vater beschuldigt Joana eine Hexe zu sein, ebenso ihr Ehemann. Für ihn unterzieht Joana sich sogar einem qualvollen Ritual, das sieben Tage dauert. Doch ihre Ehe scheitert und sie geht nach Europa. Jahre später kehrt sie für eine Dokumentation über Hexenverfolgung zurück nach Afrika. Wieder wird sie Zeugin des Aberglaubens, der auch ihr selbst so viel Leid bereitet hat. Bei einem Treffen mit ihrem Vater kommt es zum Eklat. Doch nun besitzt Joana den Mut und die Kraft sich zu wehren.
Klappentext zu „Hexenkind “
Mit 16 wird die Nigerianerin Joana von ihrem Vater als Hexe ge brand markt und verstoßen. Auch ihr späterer Ehemann beschuldigt sie eine Hexe zu sein und zwingt sie, sich einem qualvollen Ritual zu unterziehen. Dreizehn Jahre später kehrt Joana zurück nach Afrika, an den Ort ihrer schrecklichen Erinnerungen. Erschüttert sieht sie, dass sich nichts verändert hat. Doch diesmal nimmt sie den Kampf gegen Aberglauben und Gewalt auf. Bei einem Treffen mit ihrem Vater kommt es zum Eklat -
Lese-Probe zu „Hexenkind “
Hexenkind von Joana Adesuwa Reiterer 2. Mose 22:18
Du sollst eine Zauberin nicht am Leben lassen
Prolog
... mehr
Am 30. August 2010 stellte sich Godswill Akpabio, der Gouverneur des nigerianischen Bundesstaates Akwa Ibom, einem Interview auf CNN zum Thema Hexenverfolgung in seinem Land. Kurz zuvor hatte der Sender einen Bericht gebracht, der Beweise für die Misshandlung von sogenannten »Hexenkindern« vorlegte. Kinder, denen die Anwendung von schwarzer Magie vorgeworfen wurde, waren zusammengeschlagen und mit kochendem Wasser übergossen worden. Einige der Kinder waren mit Narben übersät, die auf Schnittwunden von Macheten hindeuteten. Andere erzählten, sie wären von ihren Familien verstoßen worden.
Der Gouverneur bezeichnete die Anschuldigungen als übertrieben. Solche Dinge kämen nur sehr selten vor. Außerdem habe er bereits im Jahr 2008 ein Gesetz gegen diese Vorkommnisse erlassen. Das Gesetz machte die Stigmatisierung eines Kindes als Hexe zu einer kriminellen Handlung, die mit bis zu fünfzehn Jahren Gefängnis bestraft werden konnte.
»Das brachte die Situation sofort unter Kontrolle«, sagte Akpabio.
Auf genauere Nachfrage gab er jedoch zu, dass noch niemand nach dem neuen Gesetz verurteilt worden war. Fünf Menschen wären aber bereits angeklagt worden und befänden sich in ihrem Gerichtsverfahren.
Der Gouverneur attackierte einen Bericht scharf, der von Stepping Stones Nigeria, einem Verein, der mit lokalen Straßenkindern arbeitet, an die Vereinten Nationen geschickt worden war. Der Bericht enthielt Beweise dafür, dass eine große Anzahl von Kindern in Akwa Ibom der Hexerei beschuldigt und in die Wälder gebracht worden waren. Dort waren sie mit Säure verätzt, verbrannt oder lebendig begraben worden.
»Dieser Report ist Teil einer medialen Propaganda gegen den Staat und wurde aus finanziellen Gründen verfasst«, behauptete Akpabio.
Er erklärte auch, dass er selbst nicht an Hexerei glaube. Er glaube auch nicht, dass tausende nigerianische Kinder misshandelt würden, weil sie angeblich Hexen seien. Dennoch nähme er diese Anschuldigungen sehr ernst.
»Es gibt keine Regierung, die zusehen würde, wie Kinder lebendig verbrannt und umgebracht werden, ohne Maßnahmen zu ergreifen.«
1
Sommer 2008
Die feuchte Hitze machte den Wagen zu einem Dampfbad. Unser Fahrer kurbelte sein Fenster herunter und heiße, trockene Luft mischte sich mit dem Dampf im Inneren des Fahrzeugs. Mit erhobenem Kopf und ausgestreckter Hand versuchte der Fahrer, die Aufmerksamkeit einiger Soldaten, die neben der Straße standen, auf sich zu ziehen.
»Was ist denn schon wieder?«, rief er.
Niemand kümmerte sich um ihn. Frustriert klopfte er gegen die Außenseite der Fahrertür.
»Nutzloses Pack. Statt Verbrecher zu jagen, stehen sie herum und halten ordentliche Leute auf.«
Laut wagte er seine Beschwerde nicht vorzutragen, um die Soldaten nicht zu verärgern. »Motherfuckers«, schimpfte er leise. Er drehte sich zu uns um. »Habt ihr ein bisschen Kleingeld?«
Ich durchsuchte meine Handtasche.
»Etwa hundert Naira«, sagte ich. Den irritierten Gesichtsausdruck meines Mannes Harald ignorierte ich. Ich wusste, was gleich geschehen würde.
Einer der Soldaten kam zum Fenster.
»Well done«, begrüßte er den Fahrer. Er meinte damit wohl die Tatsache, dass wir angehalten hatten.
Unser Fahrer lächelte nun höflich.
»Danke, Boss! Wie geht es heute?«
Nigeria war voller Schauspieler. Dieses Talent zur Verstellung unterstützte den Erfolg von Nollywood, der nigerianischen Filmszene.
Ein zweiter Soldat kam näher. Er umrundete unseren Wagen und spähte herein. Seine Mimik war starr und seine Augen waren blutunterlaufen. Ich sah weg. Der erste Soldat beugte sich durch das halb offene Fenster zu uns.
»Wohin fahrt ihr?«, fragte er.
Ein Windstoß trieb den Geruch von Alkohol durch den Bus. Meine Schwester Itohan, die hinter mir saß, kommentierte das flüsternd.
»Betrunken. Wie immer.«
Unser Fahrer rückte so weit wie möglich vom Fenster weg. Es sah aus, als hätte er Angst, sich bei dem Betrunkenen mit dessen Fahne anzustecken.
»Nach Benin City«, sagte er zu dem Soldaten. Dann drehte er sich zu uns um. »Die Kontrollen sind notwendig. Räuber machen seit Jahren diese Strecke unsicher.« Entweder wollte er uns damit beruhigen oder dem Soldaten noch mehr von seiner gespielten Wertschätzung zeigen.
Harald verzog das Gesicht. Er brauchte für seine bissigen Kommentare nicht zu flüstern. Er sprach einfach deutsch.
»Ich bezweifle stark, dass uns dieser Haufen von Betrunkenen vor irgendjemandem retten könnte«, sagte er.
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Wer ist das weiße Kind?«, fragte der Soldat. Er hatte meinen Sohn Roland gesehen.
»Er gehört zu den anderen«, antwortete der Fahrer schnell. »Sie sind eine Familie.«
»Oh, well done, sister!« Der Soldat schenkte mir ein zweideutiges Lächeln, das seine braunen Zähne zeigte.
Ich bedankte mich höflich.
»Wird das hier noch lange dauern?«, fragte ich. »Es ist schon recht spät, und Sie wissen ja, wie gefährlich die Straßen in der Nacht sind.«
Wie gefährlich sie waren, wusste ich seit meiner letzten Reise auf der A121 von Lagos nach Benin. Das war sechs Jahre zuvor gewesen, einen Tag vor dem Geburtstag meiner Schwester. Geburtstage bedeuteten uns viel, und ich wollte ihren auf keinen Fall verpassen, insbesondere nicht nach der Trennung unserer Eltern. Also nahm ich einen Nachtbus nach Benin.
Auf halbem Weg fuhr der Bus über ein Brett, das quer über die Straße gelegt worden war. Es war gespickt mit Nägeln, die die Reifen des Busses sofort zum Platzen brachten. Der Wagen kam ins Schleudern und es fielen Schüsse. Die Menschen schrien und beteten. Blut spritzte an die Fenster. Ein brennender Schmerz durchfuhr mich, eine Schrotkugel ha e sich in meine rechte Schulter gebohrt. Irgendwie schaffen wir es, durch die zerbrochenen Fenster ins Freie zu kriechen. Dort warteten schon die Räuber, eine Bande Jugendliche, auf uns. Wir mussten uns flach auf den Boden legen.
»Geld her oder ihr seid tot!«, schrien sie uns an.
Einige Menschen starben noch vor Ort. Andere, die Geld hatten, konnten sich freikaufen und durften in den Wald flüchten. Ich gab den Räubern alles, was ich hatte, und rannte. Erst drei Stunden später kam die Polizei.
Diese Nacht war mir eine Lehre gewesen, die Straße nach Benin nie mehr nach Einbruch der Dunkelheit zu nehmen. Die Narbe, die mir von der Schusswunde geblieben war, erinnerte mich immer wieder daran.
Der Soldat antwortete nicht. Mein Mann wurde immer unruhiger.
»Was wollen die eigentlich? Geld?« Der Ärger in seiner Stimme war unüberhörbar.
Ich betete, dass wir die Kontrolle unbeschadet überstehen würden und dass alles bald vorbei sein würde. Auch für mich waren diese sogenannten Checkpoints nervenaufreibend, insbesondere weil wir auf dieser Straße alle fünf Minuten einen passieren mussten.
»Wir sind sehr froh, dass Sie diese Autobahn sichern, das ist wirklich gute Arbeit«, sagte ich rasch zu dem Soldaten.
»Danke«, antwortete er. »Diese Idioten von Fahrern verstehen das leider nicht. Gestern erst haben wir wieder einen gerettet.«
Ich versuchte, interessiert auszusehen.
Der Fahrer suchte in seinen Taschen nach Kleingeld. Zumindest tat er so. Minuten verstrichen.
Der Soldat hatte keine Eile. Wild gestikulierend erzählte er uns von seinem tapferen Einsatz in der vergangenen Nacht, von Schüssen und von seinem Sieg gegen die Räuber. Mit einer Flasche Dry Gin aus seiner Hosentasche prostete er Gott im Himmel zu, der ihn heil aus der Sache herausgebracht hatte.
Zum Glück kannte sich unser Fahrer aus. Er war bei jedem Checkpoint stehen geblieben und hatte die Anweisungen der Soldaten mit einem verständnisvollen Lächeln befolgt. Solange ein Fahrer kooperativ war, machten sie keinen Gebrauch von den braunen Gewehren, die über ihren Schultern hingen.
Der Soldat vor unserem Fenster wurde ungeduldig und unterbrach seine Lobrede auf sich selbst.
»Beeil dich, Fahrer«, sagte er. »Du verzögerst alles.«
Mit der Spitze seines Gewehrs deutete er auf die Schlange wartender Autos hinter uns. Ich sah mich um. Links und rechts der Straße war der Busch. Die Pflanzen waren so braun wie der lehmige Boden, ausgetrocknet und mit Staub bedeckt. Frauen und Kinder liefen mit Obstschalen auf dem Kopf zwischen den Autos durch. Sie nutzten die Gelegenheit, um etwas zu verkaufen. Ich sah nach Roland. Er lächelte und zeigte mit seinem Kinderfinger auf den Soldaten.
»Oyibo Baby, du schwitzt aber sehr.« Der Soldat lachte Roland freundlich an. Dann wandte er sich wieder an mich. »Sister, putz seine Stirn. Er ist zu schön, um zu schwitzen.«
»Du bist es, der ihn in dieser Hitze warten lässt«, sagte ich steif. Ich nahm meine Tasche und suchte nach einem Geldschein.
»Gib ihm nichts«, sagte Harald. »Er bekommt genug Gehalt fürs Nichtstun.«
Ich ignorierte meinen Mann. Ich wollte dieses korrupte System natürlich nicht unterstützen, doch mehr als alles andere wollte ich weg von dieser Straße. Der Soldat spazierte inzwischen zu dem Auto hinter uns, während ein anderer unseren Bus umrundete. Die Sonne stand schon tief am Himmel. Je länger wir warteten, desto ängstlicher wurde ich. Vor allem wegen Roland. Er saß auf meinem Schoß, denn Kindersitze gab es in Nigeria nicht. Das machte mich fast noch nervöser als die Gewehre der Soldaten. Ich selbst war ebenfalls ohne Kindersitz aufgewachsen, doch in Europa ha e ich mich an die höheren Sicherheitsstandards gewöhnt. Hier, auf der staubigen Autobahn zwischen Lagos und Benin, schien Europa allerdings so fern zu sein wie der Mond.
Nachdem der Soldat seine zweite Runde vollendet hatte, steckte unser Fahrer seine Hand erneut aus dem Fenster. Der Soldat ergriff sie und zwanzig Naira wechselten unauffällig den Besitzer. So regelt man die Dinge hier.
Nachdem wir losgefahren waren, sprang die Klimaanlage an und die Temperatur im Auto war bald wieder angenehm. Ich sah von meinem Mann zu meinem Kind, dann aus dem Fenster auf die staubige Straße. Die nigerianische Sonne stand tief am Himmel und schien mir ins Gesicht.
Ich war zum ersten Mal seit vielen Jahren zurück in meiner Heimat. Offiziell war es eine Geschäftsreise. Vor fünf Jahren hatte ich in Wien einen Verein zur Bekämpfung von Menschenhandel gegründet, der hier in Nigeria eine Niederlassung hatte. Ich war gekommen, um einige Projekte voranzutreiben und mich mit der Leiterin vor Ort zu besprechen. Gleichzeitig wollte ich die Zeit nutzen, um meine Mutter, meine Geschwister und meine Großmutter wiederzusehen, die alle noch hier lebten. Seit ich aus Afrika fortgegangen war, hatte ich nur noch telefonisch Kontakt zu ihnen gehabt.
Dann war da auch noch mein Vater. Ich hatte niemandem von meinem heimlichen Wunsch, auch ihn zu treffen, erzählt. Meinem Mann Harald nicht und schon gar nicht meiner Mutter, die am wenigsten Verständnis dafür gehabt hätte. Mein Vater hatte unsere Familie zerstört. Wegen ihm hatte ich viele Nächte auf der Straße verbringen müssen. Doch er war auch der Grund, warum ich nächtelang wach lag und mich nach Hause sehnte. Er war immer noch mein Daddy, und ich wünschte mir nichts mehr als einen Neuanfang mit ihm. Doch was zwischen uns vorgefallen war, war nicht so einfach zu vergessen.
2
1997 - 2008
Meine Eltern hatten immer schon viel gestritten. Anfangs, als ich noch klein war, war alles noch nicht so schlimm gewesen. Mein Vater führte eine erfolgreiche Tankstelle, von deren Einnahmen unsere Familie gut leben konnte. Wir waren eine normale Familie der nigerianischen Mittelschicht. Meine Mutter arbeitete als Lehrerin. Meine beiden Brüder, meine kleine Schwester und ich besuchten gute Schulen. Mein Vater war geschäftlich viel unterwegs. Oft nahm er uns auf seine Reisen mit und wir verbrachten viele schöne Tage an den Stränden von Nigeria.
Irgendwann änderte sich etwas. Ich weiß nicht genau wann, und ich weiß bis heute nicht, warum es gerade zu diesem Zeitpunkt geschah. Eines Tages sah mein Vater meine Mutter mit anderen Augen an. Hatten sie sich zuvor immer wieder kurz wegen Kleinigkeiten gezankt, so stritten sie jetzt heftig und lange, bis meine Mutter nach- oder aufgab und weinend in die Küche flüchtete. Ich sah sie zu keinem Zeitpunkt mehr ohne blaue Flecken. Sie trug eine riesige Sonnenbrille, doch ihre geschwollenen Augen und die Schrammen waren nicht zu übersehen. Niemand wagte es, sich einzumischen. Bekannte und Verwandte sahen einfach weg.
»Das ist eine familieninterne Angelegenheit«, sagten sie.
Es war der Vorwurf der Hexerei, der im Raum stand, und in so etwas wollte niemand hineingezogen werden. Meine Großmutter war die Einzige, die uns zu helfen versuchte. Doch mein Vater verbot ihr, unser Haus zu betreten, und so konnte sie nicht viel tun. Sie durfte nicht einmal mit meiner Mutter, ihrer eigenen Tochter, reden. Ich wusste, dass sich meine Eltern früher oder später trennen würden.
Mein Vater hatte Probleme mit seinem Geschäft. Da die Schuld dafür seiner Meinung nach unmöglich bei ihm liegen konnte, musste er sie bei jemandem anderen suchen. Zuerst beschuldigte er seine eigenen Eltern, insbesondere seinen Vater. Zu ihm durften wir daher keinen Kontakt haben. Auch seine Geschwister verdächtigte er, ihm aus Eifersucht auf seinen Erfolg schaden zu wollen. Deshalb ging er gemeinsam mit seiner Cousine, meiner Tante Clara, von einer Kirche zur nächsten, um sich Rat zu holen. Zum Schluss landete er bei einem Juju-Priester, der schnell eine Schuldige fand: meine Mutter. Sie sollte meinen Vater verhext haben.
Jeden Tag kam mein Vater nun mit neuen Beschuldigungen nach Hause. Er drängte meine Mutter, zuzugeben, dass sie eine Hexe sei. Das wäre ihre einzige Chance, sein Geschäft und ihre Ehe zu retten.
»Wenn du es zugibst, bezahle ich sogar die notwendigen Rituale, um deine bösen Kräfte zu vertreiben«, bot er ihr an.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Am 30. August 2010 stellte sich Godswill Akpabio, der Gouverneur des nigerianischen Bundesstaates Akwa Ibom, einem Interview auf CNN zum Thema Hexenverfolgung in seinem Land. Kurz zuvor hatte der Sender einen Bericht gebracht, der Beweise für die Misshandlung von sogenannten »Hexenkindern« vorlegte. Kinder, denen die Anwendung von schwarzer Magie vorgeworfen wurde, waren zusammengeschlagen und mit kochendem Wasser übergossen worden. Einige der Kinder waren mit Narben übersät, die auf Schnittwunden von Macheten hindeuteten. Andere erzählten, sie wären von ihren Familien verstoßen worden.
Der Gouverneur bezeichnete die Anschuldigungen als übertrieben. Solche Dinge kämen nur sehr selten vor. Außerdem habe er bereits im Jahr 2008 ein Gesetz gegen diese Vorkommnisse erlassen. Das Gesetz machte die Stigmatisierung eines Kindes als Hexe zu einer kriminellen Handlung, die mit bis zu fünfzehn Jahren Gefängnis bestraft werden konnte.
»Das brachte die Situation sofort unter Kontrolle«, sagte Akpabio.
Auf genauere Nachfrage gab er jedoch zu, dass noch niemand nach dem neuen Gesetz verurteilt worden war. Fünf Menschen wären aber bereits angeklagt worden und befänden sich in ihrem Gerichtsverfahren.
Der Gouverneur attackierte einen Bericht scharf, der von Stepping Stones Nigeria, einem Verein, der mit lokalen Straßenkindern arbeitet, an die Vereinten Nationen geschickt worden war. Der Bericht enthielt Beweise dafür, dass eine große Anzahl von Kindern in Akwa Ibom der Hexerei beschuldigt und in die Wälder gebracht worden waren. Dort waren sie mit Säure verätzt, verbrannt oder lebendig begraben worden.
»Dieser Report ist Teil einer medialen Propaganda gegen den Staat und wurde aus finanziellen Gründen verfasst«, behauptete Akpabio.
Er erklärte auch, dass er selbst nicht an Hexerei glaube. Er glaube auch nicht, dass tausende nigerianische Kinder misshandelt würden, weil sie angeblich Hexen seien. Dennoch nähme er diese Anschuldigungen sehr ernst.
»Es gibt keine Regierung, die zusehen würde, wie Kinder lebendig verbrannt und umgebracht werden, ohne Maßnahmen zu ergreifen.«
1
Sommer 2008
Die feuchte Hitze machte den Wagen zu einem Dampfbad. Unser Fahrer kurbelte sein Fenster herunter und heiße, trockene Luft mischte sich mit dem Dampf im Inneren des Fahrzeugs. Mit erhobenem Kopf und ausgestreckter Hand versuchte der Fahrer, die Aufmerksamkeit einiger Soldaten, die neben der Straße standen, auf sich zu ziehen.
»Was ist denn schon wieder?«, rief er.
Niemand kümmerte sich um ihn. Frustriert klopfte er gegen die Außenseite der Fahrertür.
»Nutzloses Pack. Statt Verbrecher zu jagen, stehen sie herum und halten ordentliche Leute auf.«
Laut wagte er seine Beschwerde nicht vorzutragen, um die Soldaten nicht zu verärgern. »Motherfuckers«, schimpfte er leise. Er drehte sich zu uns um. »Habt ihr ein bisschen Kleingeld?«
Ich durchsuchte meine Handtasche.
»Etwa hundert Naira«, sagte ich. Den irritierten Gesichtsausdruck meines Mannes Harald ignorierte ich. Ich wusste, was gleich geschehen würde.
Einer der Soldaten kam zum Fenster.
»Well done«, begrüßte er den Fahrer. Er meinte damit wohl die Tatsache, dass wir angehalten hatten.
Unser Fahrer lächelte nun höflich.
»Danke, Boss! Wie geht es heute?«
Nigeria war voller Schauspieler. Dieses Talent zur Verstellung unterstützte den Erfolg von Nollywood, der nigerianischen Filmszene.
Ein zweiter Soldat kam näher. Er umrundete unseren Wagen und spähte herein. Seine Mimik war starr und seine Augen waren blutunterlaufen. Ich sah weg. Der erste Soldat beugte sich durch das halb offene Fenster zu uns.
»Wohin fahrt ihr?«, fragte er.
Ein Windstoß trieb den Geruch von Alkohol durch den Bus. Meine Schwester Itohan, die hinter mir saß, kommentierte das flüsternd.
»Betrunken. Wie immer.«
Unser Fahrer rückte so weit wie möglich vom Fenster weg. Es sah aus, als hätte er Angst, sich bei dem Betrunkenen mit dessen Fahne anzustecken.
»Nach Benin City«, sagte er zu dem Soldaten. Dann drehte er sich zu uns um. »Die Kontrollen sind notwendig. Räuber machen seit Jahren diese Strecke unsicher.« Entweder wollte er uns damit beruhigen oder dem Soldaten noch mehr von seiner gespielten Wertschätzung zeigen.
Harald verzog das Gesicht. Er brauchte für seine bissigen Kommentare nicht zu flüstern. Er sprach einfach deutsch.
»Ich bezweifle stark, dass uns dieser Haufen von Betrunkenen vor irgendjemandem retten könnte«, sagte er.
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Wer ist das weiße Kind?«, fragte der Soldat. Er hatte meinen Sohn Roland gesehen.
»Er gehört zu den anderen«, antwortete der Fahrer schnell. »Sie sind eine Familie.«
»Oh, well done, sister!« Der Soldat schenkte mir ein zweideutiges Lächeln, das seine braunen Zähne zeigte.
Ich bedankte mich höflich.
»Wird das hier noch lange dauern?«, fragte ich. »Es ist schon recht spät, und Sie wissen ja, wie gefährlich die Straßen in der Nacht sind.«
Wie gefährlich sie waren, wusste ich seit meiner letzten Reise auf der A121 von Lagos nach Benin. Das war sechs Jahre zuvor gewesen, einen Tag vor dem Geburtstag meiner Schwester. Geburtstage bedeuteten uns viel, und ich wollte ihren auf keinen Fall verpassen, insbesondere nicht nach der Trennung unserer Eltern. Also nahm ich einen Nachtbus nach Benin.
Auf halbem Weg fuhr der Bus über ein Brett, das quer über die Straße gelegt worden war. Es war gespickt mit Nägeln, die die Reifen des Busses sofort zum Platzen brachten. Der Wagen kam ins Schleudern und es fielen Schüsse. Die Menschen schrien und beteten. Blut spritzte an die Fenster. Ein brennender Schmerz durchfuhr mich, eine Schrotkugel ha e sich in meine rechte Schulter gebohrt. Irgendwie schaffen wir es, durch die zerbrochenen Fenster ins Freie zu kriechen. Dort warteten schon die Räuber, eine Bande Jugendliche, auf uns. Wir mussten uns flach auf den Boden legen.
»Geld her oder ihr seid tot!«, schrien sie uns an.
Einige Menschen starben noch vor Ort. Andere, die Geld hatten, konnten sich freikaufen und durften in den Wald flüchten. Ich gab den Räubern alles, was ich hatte, und rannte. Erst drei Stunden später kam die Polizei.
Diese Nacht war mir eine Lehre gewesen, die Straße nach Benin nie mehr nach Einbruch der Dunkelheit zu nehmen. Die Narbe, die mir von der Schusswunde geblieben war, erinnerte mich immer wieder daran.
Der Soldat antwortete nicht. Mein Mann wurde immer unruhiger.
»Was wollen die eigentlich? Geld?« Der Ärger in seiner Stimme war unüberhörbar.
Ich betete, dass wir die Kontrolle unbeschadet überstehen würden und dass alles bald vorbei sein würde. Auch für mich waren diese sogenannten Checkpoints nervenaufreibend, insbesondere weil wir auf dieser Straße alle fünf Minuten einen passieren mussten.
»Wir sind sehr froh, dass Sie diese Autobahn sichern, das ist wirklich gute Arbeit«, sagte ich rasch zu dem Soldaten.
»Danke«, antwortete er. »Diese Idioten von Fahrern verstehen das leider nicht. Gestern erst haben wir wieder einen gerettet.«
Ich versuchte, interessiert auszusehen.
Der Fahrer suchte in seinen Taschen nach Kleingeld. Zumindest tat er so. Minuten verstrichen.
Der Soldat hatte keine Eile. Wild gestikulierend erzählte er uns von seinem tapferen Einsatz in der vergangenen Nacht, von Schüssen und von seinem Sieg gegen die Räuber. Mit einer Flasche Dry Gin aus seiner Hosentasche prostete er Gott im Himmel zu, der ihn heil aus der Sache herausgebracht hatte.
Zum Glück kannte sich unser Fahrer aus. Er war bei jedem Checkpoint stehen geblieben und hatte die Anweisungen der Soldaten mit einem verständnisvollen Lächeln befolgt. Solange ein Fahrer kooperativ war, machten sie keinen Gebrauch von den braunen Gewehren, die über ihren Schultern hingen.
Der Soldat vor unserem Fenster wurde ungeduldig und unterbrach seine Lobrede auf sich selbst.
»Beeil dich, Fahrer«, sagte er. »Du verzögerst alles.«
Mit der Spitze seines Gewehrs deutete er auf die Schlange wartender Autos hinter uns. Ich sah mich um. Links und rechts der Straße war der Busch. Die Pflanzen waren so braun wie der lehmige Boden, ausgetrocknet und mit Staub bedeckt. Frauen und Kinder liefen mit Obstschalen auf dem Kopf zwischen den Autos durch. Sie nutzten die Gelegenheit, um etwas zu verkaufen. Ich sah nach Roland. Er lächelte und zeigte mit seinem Kinderfinger auf den Soldaten.
»Oyibo Baby, du schwitzt aber sehr.« Der Soldat lachte Roland freundlich an. Dann wandte er sich wieder an mich. »Sister, putz seine Stirn. Er ist zu schön, um zu schwitzen.«
»Du bist es, der ihn in dieser Hitze warten lässt«, sagte ich steif. Ich nahm meine Tasche und suchte nach einem Geldschein.
»Gib ihm nichts«, sagte Harald. »Er bekommt genug Gehalt fürs Nichtstun.«
Ich ignorierte meinen Mann. Ich wollte dieses korrupte System natürlich nicht unterstützen, doch mehr als alles andere wollte ich weg von dieser Straße. Der Soldat spazierte inzwischen zu dem Auto hinter uns, während ein anderer unseren Bus umrundete. Die Sonne stand schon tief am Himmel. Je länger wir warteten, desto ängstlicher wurde ich. Vor allem wegen Roland. Er saß auf meinem Schoß, denn Kindersitze gab es in Nigeria nicht. Das machte mich fast noch nervöser als die Gewehre der Soldaten. Ich selbst war ebenfalls ohne Kindersitz aufgewachsen, doch in Europa ha e ich mich an die höheren Sicherheitsstandards gewöhnt. Hier, auf der staubigen Autobahn zwischen Lagos und Benin, schien Europa allerdings so fern zu sein wie der Mond.
Nachdem der Soldat seine zweite Runde vollendet hatte, steckte unser Fahrer seine Hand erneut aus dem Fenster. Der Soldat ergriff sie und zwanzig Naira wechselten unauffällig den Besitzer. So regelt man die Dinge hier.
Nachdem wir losgefahren waren, sprang die Klimaanlage an und die Temperatur im Auto war bald wieder angenehm. Ich sah von meinem Mann zu meinem Kind, dann aus dem Fenster auf die staubige Straße. Die nigerianische Sonne stand tief am Himmel und schien mir ins Gesicht.
Ich war zum ersten Mal seit vielen Jahren zurück in meiner Heimat. Offiziell war es eine Geschäftsreise. Vor fünf Jahren hatte ich in Wien einen Verein zur Bekämpfung von Menschenhandel gegründet, der hier in Nigeria eine Niederlassung hatte. Ich war gekommen, um einige Projekte voranzutreiben und mich mit der Leiterin vor Ort zu besprechen. Gleichzeitig wollte ich die Zeit nutzen, um meine Mutter, meine Geschwister und meine Großmutter wiederzusehen, die alle noch hier lebten. Seit ich aus Afrika fortgegangen war, hatte ich nur noch telefonisch Kontakt zu ihnen gehabt.
Dann war da auch noch mein Vater. Ich hatte niemandem von meinem heimlichen Wunsch, auch ihn zu treffen, erzählt. Meinem Mann Harald nicht und schon gar nicht meiner Mutter, die am wenigsten Verständnis dafür gehabt hätte. Mein Vater hatte unsere Familie zerstört. Wegen ihm hatte ich viele Nächte auf der Straße verbringen müssen. Doch er war auch der Grund, warum ich nächtelang wach lag und mich nach Hause sehnte. Er war immer noch mein Daddy, und ich wünschte mir nichts mehr als einen Neuanfang mit ihm. Doch was zwischen uns vorgefallen war, war nicht so einfach zu vergessen.
2
1997 - 2008
Meine Eltern hatten immer schon viel gestritten. Anfangs, als ich noch klein war, war alles noch nicht so schlimm gewesen. Mein Vater führte eine erfolgreiche Tankstelle, von deren Einnahmen unsere Familie gut leben konnte. Wir waren eine normale Familie der nigerianischen Mittelschicht. Meine Mutter arbeitete als Lehrerin. Meine beiden Brüder, meine kleine Schwester und ich besuchten gute Schulen. Mein Vater war geschäftlich viel unterwegs. Oft nahm er uns auf seine Reisen mit und wir verbrachten viele schöne Tage an den Stränden von Nigeria.
Irgendwann änderte sich etwas. Ich weiß nicht genau wann, und ich weiß bis heute nicht, warum es gerade zu diesem Zeitpunkt geschah. Eines Tages sah mein Vater meine Mutter mit anderen Augen an. Hatten sie sich zuvor immer wieder kurz wegen Kleinigkeiten gezankt, so stritten sie jetzt heftig und lange, bis meine Mutter nach- oder aufgab und weinend in die Küche flüchtete. Ich sah sie zu keinem Zeitpunkt mehr ohne blaue Flecken. Sie trug eine riesige Sonnenbrille, doch ihre geschwollenen Augen und die Schrammen waren nicht zu übersehen. Niemand wagte es, sich einzumischen. Bekannte und Verwandte sahen einfach weg.
»Das ist eine familieninterne Angelegenheit«, sagten sie.
Es war der Vorwurf der Hexerei, der im Raum stand, und in so etwas wollte niemand hineingezogen werden. Meine Großmutter war die Einzige, die uns zu helfen versuchte. Doch mein Vater verbot ihr, unser Haus zu betreten, und so konnte sie nicht viel tun. Sie durfte nicht einmal mit meiner Mutter, ihrer eigenen Tochter, reden. Ich wusste, dass sich meine Eltern früher oder später trennen würden.
Mein Vater hatte Probleme mit seinem Geschäft. Da die Schuld dafür seiner Meinung nach unmöglich bei ihm liegen konnte, musste er sie bei jemandem anderen suchen. Zuerst beschuldigte er seine eigenen Eltern, insbesondere seinen Vater. Zu ihm durften wir daher keinen Kontakt haben. Auch seine Geschwister verdächtigte er, ihm aus Eifersucht auf seinen Erfolg schaden zu wollen. Deshalb ging er gemeinsam mit seiner Cousine, meiner Tante Clara, von einer Kirche zur nächsten, um sich Rat zu holen. Zum Schluss landete er bei einem Juju-Priester, der schnell eine Schuldige fand: meine Mutter. Sie sollte meinen Vater verhext haben.
Jeden Tag kam mein Vater nun mit neuen Beschuldigungen nach Hause. Er drängte meine Mutter, zuzugeben, dass sie eine Hexe sei. Das wäre ihre einzige Chance, sein Geschäft und ihre Ehe zu retten.
»Wenn du es zugibst, bezahle ich sogar die notwendigen Rituale, um deine bösen Kräfte zu vertreiben«, bot er ihr an.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Joana A. Reiterer
Joana Adesuwa Reiterer wurde 1981 in Nigeria geboren und arbeitete in der nigerianischen Film- und Entertainment-Industrie als Schauspielerin, Ausstatterin und Event-Produzentin. 2003 kam sie nach Österreich, wo sie 2006 den Verein EXIT gründete, der den Frauenhandel in Afrika bekämpft. Für ihr Engagement im Kampf gegen den Menschenhandel und die Hexenverfolgung in Afrika wurde sie unter anderem von der Women s Federation for World Peace mit dem Titel "Ambassador of Peace" geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joana A. Reiterer
- 2013, 2. Aufl., 192 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404607007
- ISBN-13: 9783404607006
- Erscheinungsdatum: 19.07.2013
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