Hilflos
Von den Eltern vernachlässigt - vom Nachbarn missbraucht
Ein erschütterndes Porträt einer von Armut und Verzweiflung gezeichneten Kindheit.
Marianne wächst im ländlichen Essex unter ärmlichsten Verhältnissen auf. Von den Eltern vernachlässigt, erfährt...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hilflos “
Ein erschütterndes Porträt einer von Armut und Verzweiflung gezeichneten Kindheit.
Marianne wächst im ländlichen Essex unter ärmlichsten Verhältnissen auf. Von den Eltern vernachlässigt, erfährt sie bei ihrem scheinbar hilfsbereiten Nachbarn Zuwendung und Geborgenheit. Er nennt sie seine "kleine Dame", doch er nutzt Mariannes Not für seine Zwecke aus. Mit 13 erwartet sie ein Kind von ihm - aus Angst und Scham verschweigt sie den Namen des Vaters und gibt ihre Tochter zur Adoption frei. Erst als sie drei Jahre später erneut schwanger wird und vom Vater halbtot geschlagen wird, gelingt ihr die Flucht.
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Lese-Probe zu „Hilflos “
Hilflos von Marianne Marsh und Toni MaguirePROLOG
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Der Mann hatte schon vor meiner Geburt nach einem kleinen Mädchen wie mir gesucht.
Nach einem ganz besonderen kleinen Mädchen, sagte er, nach einem, das Liebe brauchte.
Er suchte die Bekanntschaft junger Ehepaare, beobachtete, wie sie Eltern wurden, und lächelte mit heimlicher Freude, wenn er gebeten wurde, Taufpate zu sein.
»Er kann sehr gut mit Kindern umgehen«, sagten seine ahnungslosen Freunde.
Er heiratete, als ich noch ein Baby war, von dem er nichts wusste, und zog auch in Erwägung, seine Neigung an seiner eigenen kleinen Tochter auszuleben. Doch seine Frau hatte gelernt, in seine Seele zu sehen, und sie schützte ihre Kinder vor ihm. Heimlich verfolgten mich seine Blicke, wenn ich auf dem Weg zur Schule und wieder nach Hause die schmale Landstraße entlangging. Er sah die Anzeichen der Verwahrlosung und wusste, dass ich diejenige war - diejenige, auf die er gewartet hatte. Fortan trank er sein Bier in dem Pub, in dem mein Vater Stammgast war, und freundete sich mit ihm an.
Der Mann hörte sich das Gejammer an - schlechte Bezahlung, kleine hungrige Mäuler zu stopfen - und empfahl meinem Vater eine freie Stelle, von der er erfahren hatte. Auch ein halbwegs geräumiges Haus gehörte mit dazu.
Nicht der Rede wert, sagte er zu meinem Vater. Es sei ihm ein Vergnügen, helfen zu können.
»Was für ein feiner Mann«, sagten die Leute; seine Frau könne sich glücklich schätzen. Und welch ein Segen für meine Eltern, ihn kennengelernt zu haben.
Er war jedermanns Freund, vergaß nie die Geburtstage der Ehefrauen und brachte kleine Geschenke für die Kinder mit. Ein gern gesehener Besucher war er, der Lieblingsonkel, dem man vertraute.
Und immer hatte er Süßigkeiten im Handschuhfach seines Wagens. Ich war sieben, als ich ihn zum ersten Mal sah. Diesen Mann, der mich seine kleine Dame nannte.
Seit er und ich das letzte Mal miteinander gesprochen haben, sind viele Jahre vergangen. Aber noch immer sind die Erinnerungen so tief in meinem Gedächtnis verwurzelt und so klar, als wäre alles, was geschah, erst gestern passiert.
KAPITEL 1
»Erzähl uns eine Geschichte«, baten meine Kinder mich oft.
»Womit soll ich beginnen?«, fragte ich, wenn ich das zerlesene Lieblingsbuch zur Hand nahm.
»Mit dem Anfang natürlich, Mum.« Und ich schlug pflichtschuldig die erste Seite auf.
»Es war einmal ...«, fing ich an.
Aber da es sich nun um meine eigene Geschichte handelt und weil mehr Jahre hinter mir als vor mir liegen, stellt sich erst recht die Frage: Womit fange ich an?
Die Geschichte, die ich am liebsten in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses verbannen möchte, die mich in meinen Träumen verfolgt - sie begann, als ich sieben Jahre alt war. Dabei fing im Grunde alles bereits mit meiner Zeugung an.
Vielleicht sogar schon früher. Aber erst als ich mit einem beidseitig mit kleiner, ordentlicher Schrift beschriebenen Blatt Kanzleipapier in der Küche saß, konnte ich akzeptieren, dass die Zeit, mich meiner Vergangenheit zu stellen, gekommen war.
Aber wo beginnen?
Ganz am Anfang, Marianne, antwortete meine innere Stimme. An deinem Anfang. Denn du musst dich an die Jahre davor erinnern, um verstehen zu können, was passiert ist. Und so habe ich es gemacht. In der Zeit, in der ich noch zu Hause wohnte, erzählte mir meine Mutter an jedem einzelnen meiner Geburtstage - noch bevor ich eine Karte gelesen oder ein Geschenk bekommen hatte, - dass der Tag, an dem ich geboren wurde, ein Regentag gewesen sei. Das waren keine gewöhnlichen Schauer, sagte sie immer, sondern wahre Fluten, die gegen die Fassade prasselten und die Feldwege in Schlammwüsten verwandelten.
Die Dachrinnen, aus denen mein Vater nie die welken Blätter entfernte, liefen über. Regenwasser floss an der Hauswand hinab und strömte gurgelnd zu den Kanalisationsschächten, die das viele Wasser längst nicht mehr aufnehmen konnten. Im Laufe der Jahre hatten sich an der Fassade moosgrüne Flecken gebildet und innen an den Zimmerwänden große Schimmelflächen. Auch das lag an den verstopften Dachrinnen.
In den frühen Morgenstunden, noch bevor die Hähne des Farmers lautstark den Tag begrüßt hatten, beschloss ich wohl, das Licht der Welt zu erblicken. Stechende Schmerzen rissen meine Mutter aus dem Schlaf. Ihr Nachthemd war feucht, und sie wusste, dass ich nun bald kommen würde. Plötzlich hatte sie schreckliche Angst.
Sie rüttelte meinen Vater wach. Erbost über meine Rücksichtslosigkeit zog er sich hastig an, stopfte die Hosenbeine in die klobigen Arbeitsstiefel, befestigte die Fahrradklammern und verließ eilig das Haus, um die Hebamme zu holen. Meine Mutter hörte noch die Worte »Weiberzeug« und »nichts für einen Mann«. Dann schlug die Haustür zu, und sie war mit ihren Schmerzen und ihrer Angst allein. Ihr schien es, als dauerte es Stunden, doch nach kaum zwanzig Minuten, wie sie letztendlich immer zugeben musste, stand die Hebamme an ihrem Bett.
Die kleine gedrungene Frau übernahm umgehend das Kommando und versuchte, meine Mutter zu beruhigen, indem sie ihr sagte, sie habe bereits Hunderten von Kindern auf die Welt geholfen. Nach einer flüchtigen Untersuchung bestätigte sie meine bevorstehende Ankunft.
»Und weißt du, was sie dann sagte?«, fragte meine Mutter jedes Mal an dieser Stelle ihrer Erzählung. Pflichtschuldig schüttelte ich dann den Kopf und spielte das Spiel mit.
»Sie sagte, sie könne erst etwas tun, wenn die Wehen in kürzeren Abständen kämen, und dass«, hier holte meine Mutter immer tief Luft, um den folgenden Worten mehr Bedeutung zu verleihen, »ich dann einfach nur pressen müsse! Anschließend fragte sie, wo die sauberen Handtücher seien, um die sie gebeten hätte.« Immer folgte dann die Schilderung des langen, schmerzerfüllten Tages.
Mit missbilligenden »Ts-Ts«-Lauten quittierte die Hebamme die Tatsache, dass mein verkaterter Vater vergessen hatte, ihr all die Dinge herauszulegen, die sie ihm aufgezählt hatte. Doch mit der Hilfe meiner Mutter fand sie schließlich, was sie brauchte. Als Nächstes nötigte sie eine Nachbarin dazu, herüberzukommen. Sie sollte helfen, wenn es schließlich so weit war. Doch bis dahin gab es wenig zu tun. Meine Mutter hörte, wie die beiden unten redeten, wie zahllose Tassen Tee gekocht und Tratschgeschichten ausgetauscht wurden. Im Laufe des Tages brachte man ihr gelegentlich etwas zu trinken und wischte ihr mit einem kalten Lappen übers Gesicht. Doch die meiste Zeit blieb sie sich selbst überlassen.
»Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen«, waren die Worte der Hebamme, die meine Mutter natürlich nicht beruhigten, geschweige denn trösteten. Dann ging die Frau wieder hinunter und setzte sich an das gerade entfachte Feuer.
Manchmal fragte ich mich, ob es tatsächlich sein konnte, dass sich meine Mutter so genau an alle Einzelheiten erinnerte. Aber sie versicherte mir stets, dass alles wirklich so gewesen sei. Den ganzen Tag über lag sie mit hochgelegten Beinen und gespreizten Knien auf dem Rücken. Mit vor Angst und Schmerz feuchten Händen krallte sie sich in das zerwühlte Bettlaken. Und während sie vom Bett aus zusah, wie das Wasser über die Fensterscheiben strömte, wurde ihr Körper von unvorstellbar schlimmeren Schmerzen gemartert.
Ihre Kehle brannte von den Schreien, die sie nicht zurückhalten konnte. Sie war triefnass. Das Haar klebte ihr an der Kopfhaut, der Schweiß lief ihr übers Gesicht, tropfte ihr vom Kinn. Mehr als alles andere wollte sie jemanden bei sich haben, der sie liebte; jemanden, der ihre Hand hielt, ihr den Schweiß von der Stirn wischte und ihr sagte, alles werde gut. Aber nur die Hebamme schaute hin und wieder herein.
Es wurde Abend, und es regnete immer noch. Mutter sah ihr Spiegelbild im Fenster. Es war von Regentropfen überströmt, so als würden tausend Tränen über ihr Gesicht rinnen.
Achtzehn Stunden, nachdem ich die Fruchtblase meiner Mutter durchstoßen hatte, kamen die letzten Presswehen - meine Mutter war sicher, dass sie nicht eine einzige weitere überlebt hätte -, und endlich erblickte ich das Licht der Welt.
Als ich aus der Wärme des mütterlichen Schoßes glitt, wusste ich zum Glück nicht, wie wenig willkommen ich war. Bis ich das herausfand, vergingen einige Jahre.
Mein Vater kam erst nach der Sperrstunde nach Hause und hörte, dass sein erstes Kind ein Mädchen war.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihn sehr freute.
KAPITEL 2
Meine früheste Erinnerung stammt aus einer Zeit, in der ich noch zu klein war, um längere Strecken laufen zu können. Ich saß in einem Kinderwagen. Wieder einmal spürte ich das Gerüttel und dann die plötzliche Last der Einkaufstaschen, die achtlos auf mich geworfen wurden. Ich sehnte mich danach, dass meine Mutter sich zu mir herunterbeugte, mich hochhob und in ihre warmen Arme nahm. Ich hörte die Stimmen aus den verwischten Gesichtern über mir, sah, wie sie auf mich herunterblickten, doch mich selbst konnte ich noch nicht sehen.
Mich selbst als Dreijährige, klein für mein Alter, mit strähnigem hellbraunen Haar, einem blassen Gesicht, das oft alles andere als sauber war, und runden blauen Augen, die schon jetzt die Welt mit einem zaghaften und etwas misstrauischen Blick betrachteten. Noch wusste ich nicht, dass ich ein ungeliebtes Kind war. Zwar herzte mich niemand, niemand deckte mich fürsorglich zu und las mir eine Geschichte vor, und keiner gab mir das wunderbare Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Aber ich kannte es ja nicht anders.
Auch meine Angst konnte ich nicht in Worte fassen. Ich hätte nicht erklären können, was ich empfand, wenn mir eine Gänsehaut über die Arme kroch, wenn mein Nacken prickelte und mein Magen sich anfühlte, als flatterte ein Schwarm Motten darin umher.
Aber als ich meine ersten unsicheren Schritte machte und meine ersten Worte stammelte, wusste ich, dass es der Klang der erhobenen Stimme meines Vaters war, der diese Gefühle in mir auslöste.
Kaum hatte er die Haustür geöffnet und war ins Zimmer gewankt, schrie er schon: »Warum starrst du mich so an?« Anfangs verstand ich die Worte noch nicht, spürte aber den Zorn. Ich machte den Mund auf und stieß ein lautes Geheul aus, was dazu führte, dass er mich so lange weiter anschrie, bis meine Mutter mich genervt aus seinem Blickfeld entfernte. Später lernte ich, mich von dem Augenblick an, in dem er mit seiner Präsenz den Raum erfüllte, klein zu machen und still zu sein - oder besser noch unsichtbar.
Das Zuhause, in dem ich meine ersten sieben Lebensjahre verbrachte, war eines von sechs kleinen Häuschen, die in einer Reihe standen. Durch die Eingangstür trat man direkt ins Wohnzimmer, von wo aus eine schmale Treppe zu den Schlafzimmern hinaufführte. Im Elternschlafzimmer war gerade genügend Platz für ein Doppelbett und eine Kommode. Mein Zimmer mit dem kahlen Verputz und dem rissigen braunen Linoleumboden war kaum größer als ein Schrank. Als einziges Möbelstück stand darin ein kleines Bett, an der Wand gegenüber dem Fenster ohne Gardinen. Auf dem zerschlissenen Bettzeug lag anstelle einer Decke ein Stapel alter Mäntel und Jacken.
Das Häuschen gehörte zu der Farm, auf der mein Vater arbeitete, und wie bei vielen Landarbeitern war die freie Unterkunft ein Teil der Entlohnung.
Der Farmer, ein altmodischer und streitlustiger Mann, wollte von steigenden Lebenshaltungskosten nichts hören und speiste seine unzufriedenen Arbeiter mit einem Hungerlohn ab. »Schließlich wohnen sie hier doch umsonst«, verteidigte er sich. Leider war er auch der Ansicht, dass eine mietfreie Bleibe ihm als Hausbesitzer keinerlei Instandhaltungskosten verursachen dürfe. So war das Häuschen während der Wintermonate kalt und feucht. Weder die zusammengerollten Zeitungen unten an den Türen noch die an den verrotteten Fensterrahmen befestigten Plastikfolien hielten die eisige Zugluft ab, die in die Ohren und Nasen biss und ihre kalten Finger um bloße Beinchen krallte. Zitternd drängten wir uns am Feuer zusammen. Vorn leidlich warm, aber mit eiskaltem Rücken, kauerten wir an dem armseligen rußgeschwärzten Rost, auf dem feuchte Scheite qualmten.
Wenn sich der Himmel verdunkelte und der Eisregen dafür sorgte, dass ich nicht draußen spielen konnte, verbrachte ich die Tage in dem winzigen Wohnzimmer, das auch als Küche, Esszimmer und zu den seltenen Gelegenheiten, an denen eine Zinkwanne darin auftauchte, als Badezimmer diente. Möbliert war es mit altem Plunder, den die Großeltern beider Seiten aussortiert hatten. Ich erinnere mich an ein hässliches, kastanienbraunes Sofa mit durchgesessenen Federn, die sich schon beinahe durch den abgeschabten und verschossenen Bezugsstoff bohrten, an einen hölzernen Esstisch mit vier zusammengewürfelten, wackeligen unbequemen Stühlen und an eine zerkratzte Kommode, auf der sich Töpfe und andere Küchenutensilien stapelten. Im Wohnzimmer gab es kein einziges Stück, das für Gemütlichkeit oder Wohnlichkeit gesorgt hätte - es war ein trostloser dunkler Raum in einem trostlosen kleinen Haus.
Drei Türen hatte es insgesamt: Eine befand sich an der Treppe, die zu den Schlafzimmern führte. Durch die zweite gelangte man zum Garten hinter dem Haus, wo die Wäsche und die schmutzigen Töpfe gewaschen wurden. Die dritte, die Haustür, führte für meine Mutter anscheinend nirgendwo hin. Denn abgesehen von gelegentlichen Gängen zu den Geschäften, wo sie Lebensmittel und ein paar andere Dinge des täglichen Bedarfs kaufte, gab es für sie offenbar kaum ein Leben außerhalb dieser vier Wände. Uns satt zu bekommen, was niemals leicht war, schien fast die gesamte Zeit meiner Mutter zu beanspruchen. Mein Vater, der zur Haushaltskasse nur beisteuerte, was er nicht im Pub vertrank, erwartete jeden Abend eine warme Mahlzeit. Ganz gleich, wann er nach Hause kam - wenn das Essen nicht binnen Minuten vor ihm auf dem Tisch stand, erfüllte sein wütendes Gebrüll den Raum, und seine Fäuste ballten sich vor Zorn.
Er war ein chronischer Trinker, ein Alkoholiker, wie es heute heißt. Meine Mutter wusste nie, ob er nach der Arbeit direkt in den Pub gehen oder erst zum Essen nach Hause kommen und danach im Pub trinken würde, bis seine Taschen leer waren.
Weil er kurz vor dem Zahltag stets nach dem restlichen Haushaltsgeld suchte, bemühte sich meine Mutter, kleine Beträge zu verstecken, sodass sie immer wenigstens Brot und Milch kaufen konnte. Doch das übermächtige Verlangen nach einem Drink schien meinem Vater zu einem geradezu unheimlichen Scharfsinn zu verhelfen. Und so fand er das neue Versteck, in dem meine Mutter die wenigen Münzen verborgen hatte, meist schon nach wenigen Stunden.
An solchen Tagen war die Anspannung im Raum oft mit Händen greifbar. Er schlürfte seinen Tee und schaufelte das Essen in sich hinein, während seine Blicke umherschossen und meine Mutter ihn nervös aus der Ferne beobachtete. Vielleicht betete sie, dass seine Laune sich bessern und er dieses eine Mal zu Hause bleiben würde.
Aber das passierte nur selten.
Manchmal fragte er mit einem Lächeln nach dem Geld, manchmal mit einer Grimasse, und hin und wieder drohte er. Aber gleichgültig, wie er die Frage stellte - meine Mutter wusste, dass sie es mit einer Forderung zu tun hatte und nicht mit einer Bitte. Ihre Erklärung, es sei kein Geld mehr da, wurde stets nur mit einem düsteren Blick quittiert.
»Du bist eine verdammte Lügnerin«, war seine übliche Antwort.
»Und jetzt gib mir das Geld, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
Mein kleiner Körper bebte vor Angst. Ich rutschte lautlos vom Stuhl und versteckte mich hinter dem Sofa. Die Hände auf die Ohren gedrückt, die Augen fest geschlossen, versuchte ich, nicht zu sehen und zu hören, was geschah. Trotzdem drangen die Geräusche zu mir durch: wie sein Stuhl unwirsch zurückgeschoben wurde, wie seine Füße in den schweren Arbeitsstiefeln durch den Raum stapften. Das Getöse, mit dem die Töpfe zu Boden krachten, und das Geklapper, mit dem der Inhalt der Kommodenschubladen ausgekippt wurde.
In die Geräusche mischte sich das wütende Geschrei meines Vaters. »Wo hast du es versteckt, du Schlampe?« Dazu die schwachen Proteste meiner Mutter. »Es ist nichts mehr da.« Bald hallte der Raum vom Lärm seiner Suche und ihren flehentlichen Bitten wider.
Das Wutgebrüll wurde lauter, und schließlich folgte das unverkennbare Geräusch von Fäusten, die auf einen Körper prallten. Das Schluchzen meiner Mutter, das Poltern schwerer Füße auf den Holzdielen und am Ende sein Triumphschrei. Er hatte die Beute gefunden.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Mann hatte schon vor meiner Geburt nach einem kleinen Mädchen wie mir gesucht.
Nach einem ganz besonderen kleinen Mädchen, sagte er, nach einem, das Liebe brauchte.
Er suchte die Bekanntschaft junger Ehepaare, beobachtete, wie sie Eltern wurden, und lächelte mit heimlicher Freude, wenn er gebeten wurde, Taufpate zu sein.
»Er kann sehr gut mit Kindern umgehen«, sagten seine ahnungslosen Freunde.
Er heiratete, als ich noch ein Baby war, von dem er nichts wusste, und zog auch in Erwägung, seine Neigung an seiner eigenen kleinen Tochter auszuleben. Doch seine Frau hatte gelernt, in seine Seele zu sehen, und sie schützte ihre Kinder vor ihm. Heimlich verfolgten mich seine Blicke, wenn ich auf dem Weg zur Schule und wieder nach Hause die schmale Landstraße entlangging. Er sah die Anzeichen der Verwahrlosung und wusste, dass ich diejenige war - diejenige, auf die er gewartet hatte. Fortan trank er sein Bier in dem Pub, in dem mein Vater Stammgast war, und freundete sich mit ihm an.
Der Mann hörte sich das Gejammer an - schlechte Bezahlung, kleine hungrige Mäuler zu stopfen - und empfahl meinem Vater eine freie Stelle, von der er erfahren hatte. Auch ein halbwegs geräumiges Haus gehörte mit dazu.
Nicht der Rede wert, sagte er zu meinem Vater. Es sei ihm ein Vergnügen, helfen zu können.
»Was für ein feiner Mann«, sagten die Leute; seine Frau könne sich glücklich schätzen. Und welch ein Segen für meine Eltern, ihn kennengelernt zu haben.
Er war jedermanns Freund, vergaß nie die Geburtstage der Ehefrauen und brachte kleine Geschenke für die Kinder mit. Ein gern gesehener Besucher war er, der Lieblingsonkel, dem man vertraute.
Und immer hatte er Süßigkeiten im Handschuhfach seines Wagens. Ich war sieben, als ich ihn zum ersten Mal sah. Diesen Mann, der mich seine kleine Dame nannte.
Seit er und ich das letzte Mal miteinander gesprochen haben, sind viele Jahre vergangen. Aber noch immer sind die Erinnerungen so tief in meinem Gedächtnis verwurzelt und so klar, als wäre alles, was geschah, erst gestern passiert.
KAPITEL 1
»Erzähl uns eine Geschichte«, baten meine Kinder mich oft.
»Womit soll ich beginnen?«, fragte ich, wenn ich das zerlesene Lieblingsbuch zur Hand nahm.
»Mit dem Anfang natürlich, Mum.« Und ich schlug pflichtschuldig die erste Seite auf.
»Es war einmal ...«, fing ich an.
Aber da es sich nun um meine eigene Geschichte handelt und weil mehr Jahre hinter mir als vor mir liegen, stellt sich erst recht die Frage: Womit fange ich an?
Die Geschichte, die ich am liebsten in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses verbannen möchte, die mich in meinen Träumen verfolgt - sie begann, als ich sieben Jahre alt war. Dabei fing im Grunde alles bereits mit meiner Zeugung an.
Vielleicht sogar schon früher. Aber erst als ich mit einem beidseitig mit kleiner, ordentlicher Schrift beschriebenen Blatt Kanzleipapier in der Küche saß, konnte ich akzeptieren, dass die Zeit, mich meiner Vergangenheit zu stellen, gekommen war.
Aber wo beginnen?
Ganz am Anfang, Marianne, antwortete meine innere Stimme. An deinem Anfang. Denn du musst dich an die Jahre davor erinnern, um verstehen zu können, was passiert ist. Und so habe ich es gemacht. In der Zeit, in der ich noch zu Hause wohnte, erzählte mir meine Mutter an jedem einzelnen meiner Geburtstage - noch bevor ich eine Karte gelesen oder ein Geschenk bekommen hatte, - dass der Tag, an dem ich geboren wurde, ein Regentag gewesen sei. Das waren keine gewöhnlichen Schauer, sagte sie immer, sondern wahre Fluten, die gegen die Fassade prasselten und die Feldwege in Schlammwüsten verwandelten.
Die Dachrinnen, aus denen mein Vater nie die welken Blätter entfernte, liefen über. Regenwasser floss an der Hauswand hinab und strömte gurgelnd zu den Kanalisationsschächten, die das viele Wasser längst nicht mehr aufnehmen konnten. Im Laufe der Jahre hatten sich an der Fassade moosgrüne Flecken gebildet und innen an den Zimmerwänden große Schimmelflächen. Auch das lag an den verstopften Dachrinnen.
In den frühen Morgenstunden, noch bevor die Hähne des Farmers lautstark den Tag begrüßt hatten, beschloss ich wohl, das Licht der Welt zu erblicken. Stechende Schmerzen rissen meine Mutter aus dem Schlaf. Ihr Nachthemd war feucht, und sie wusste, dass ich nun bald kommen würde. Plötzlich hatte sie schreckliche Angst.
Sie rüttelte meinen Vater wach. Erbost über meine Rücksichtslosigkeit zog er sich hastig an, stopfte die Hosenbeine in die klobigen Arbeitsstiefel, befestigte die Fahrradklammern und verließ eilig das Haus, um die Hebamme zu holen. Meine Mutter hörte noch die Worte »Weiberzeug« und »nichts für einen Mann«. Dann schlug die Haustür zu, und sie war mit ihren Schmerzen und ihrer Angst allein. Ihr schien es, als dauerte es Stunden, doch nach kaum zwanzig Minuten, wie sie letztendlich immer zugeben musste, stand die Hebamme an ihrem Bett.
Die kleine gedrungene Frau übernahm umgehend das Kommando und versuchte, meine Mutter zu beruhigen, indem sie ihr sagte, sie habe bereits Hunderten von Kindern auf die Welt geholfen. Nach einer flüchtigen Untersuchung bestätigte sie meine bevorstehende Ankunft.
»Und weißt du, was sie dann sagte?«, fragte meine Mutter jedes Mal an dieser Stelle ihrer Erzählung. Pflichtschuldig schüttelte ich dann den Kopf und spielte das Spiel mit.
»Sie sagte, sie könne erst etwas tun, wenn die Wehen in kürzeren Abständen kämen, und dass«, hier holte meine Mutter immer tief Luft, um den folgenden Worten mehr Bedeutung zu verleihen, »ich dann einfach nur pressen müsse! Anschließend fragte sie, wo die sauberen Handtücher seien, um die sie gebeten hätte.« Immer folgte dann die Schilderung des langen, schmerzerfüllten Tages.
Mit missbilligenden »Ts-Ts«-Lauten quittierte die Hebamme die Tatsache, dass mein verkaterter Vater vergessen hatte, ihr all die Dinge herauszulegen, die sie ihm aufgezählt hatte. Doch mit der Hilfe meiner Mutter fand sie schließlich, was sie brauchte. Als Nächstes nötigte sie eine Nachbarin dazu, herüberzukommen. Sie sollte helfen, wenn es schließlich so weit war. Doch bis dahin gab es wenig zu tun. Meine Mutter hörte, wie die beiden unten redeten, wie zahllose Tassen Tee gekocht und Tratschgeschichten ausgetauscht wurden. Im Laufe des Tages brachte man ihr gelegentlich etwas zu trinken und wischte ihr mit einem kalten Lappen übers Gesicht. Doch die meiste Zeit blieb sie sich selbst überlassen.
»Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen«, waren die Worte der Hebamme, die meine Mutter natürlich nicht beruhigten, geschweige denn trösteten. Dann ging die Frau wieder hinunter und setzte sich an das gerade entfachte Feuer.
Manchmal fragte ich mich, ob es tatsächlich sein konnte, dass sich meine Mutter so genau an alle Einzelheiten erinnerte. Aber sie versicherte mir stets, dass alles wirklich so gewesen sei. Den ganzen Tag über lag sie mit hochgelegten Beinen und gespreizten Knien auf dem Rücken. Mit vor Angst und Schmerz feuchten Händen krallte sie sich in das zerwühlte Bettlaken. Und während sie vom Bett aus zusah, wie das Wasser über die Fensterscheiben strömte, wurde ihr Körper von unvorstellbar schlimmeren Schmerzen gemartert.
Ihre Kehle brannte von den Schreien, die sie nicht zurückhalten konnte. Sie war triefnass. Das Haar klebte ihr an der Kopfhaut, der Schweiß lief ihr übers Gesicht, tropfte ihr vom Kinn. Mehr als alles andere wollte sie jemanden bei sich haben, der sie liebte; jemanden, der ihre Hand hielt, ihr den Schweiß von der Stirn wischte und ihr sagte, alles werde gut. Aber nur die Hebamme schaute hin und wieder herein.
Es wurde Abend, und es regnete immer noch. Mutter sah ihr Spiegelbild im Fenster. Es war von Regentropfen überströmt, so als würden tausend Tränen über ihr Gesicht rinnen.
Achtzehn Stunden, nachdem ich die Fruchtblase meiner Mutter durchstoßen hatte, kamen die letzten Presswehen - meine Mutter war sicher, dass sie nicht eine einzige weitere überlebt hätte -, und endlich erblickte ich das Licht der Welt.
Als ich aus der Wärme des mütterlichen Schoßes glitt, wusste ich zum Glück nicht, wie wenig willkommen ich war. Bis ich das herausfand, vergingen einige Jahre.
Mein Vater kam erst nach der Sperrstunde nach Hause und hörte, dass sein erstes Kind ein Mädchen war.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihn sehr freute.
KAPITEL 2
Meine früheste Erinnerung stammt aus einer Zeit, in der ich noch zu klein war, um längere Strecken laufen zu können. Ich saß in einem Kinderwagen. Wieder einmal spürte ich das Gerüttel und dann die plötzliche Last der Einkaufstaschen, die achtlos auf mich geworfen wurden. Ich sehnte mich danach, dass meine Mutter sich zu mir herunterbeugte, mich hochhob und in ihre warmen Arme nahm. Ich hörte die Stimmen aus den verwischten Gesichtern über mir, sah, wie sie auf mich herunterblickten, doch mich selbst konnte ich noch nicht sehen.
Mich selbst als Dreijährige, klein für mein Alter, mit strähnigem hellbraunen Haar, einem blassen Gesicht, das oft alles andere als sauber war, und runden blauen Augen, die schon jetzt die Welt mit einem zaghaften und etwas misstrauischen Blick betrachteten. Noch wusste ich nicht, dass ich ein ungeliebtes Kind war. Zwar herzte mich niemand, niemand deckte mich fürsorglich zu und las mir eine Geschichte vor, und keiner gab mir das wunderbare Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Aber ich kannte es ja nicht anders.
Auch meine Angst konnte ich nicht in Worte fassen. Ich hätte nicht erklären können, was ich empfand, wenn mir eine Gänsehaut über die Arme kroch, wenn mein Nacken prickelte und mein Magen sich anfühlte, als flatterte ein Schwarm Motten darin umher.
Aber als ich meine ersten unsicheren Schritte machte und meine ersten Worte stammelte, wusste ich, dass es der Klang der erhobenen Stimme meines Vaters war, der diese Gefühle in mir auslöste.
Kaum hatte er die Haustür geöffnet und war ins Zimmer gewankt, schrie er schon: »Warum starrst du mich so an?« Anfangs verstand ich die Worte noch nicht, spürte aber den Zorn. Ich machte den Mund auf und stieß ein lautes Geheul aus, was dazu führte, dass er mich so lange weiter anschrie, bis meine Mutter mich genervt aus seinem Blickfeld entfernte. Später lernte ich, mich von dem Augenblick an, in dem er mit seiner Präsenz den Raum erfüllte, klein zu machen und still zu sein - oder besser noch unsichtbar.
Das Zuhause, in dem ich meine ersten sieben Lebensjahre verbrachte, war eines von sechs kleinen Häuschen, die in einer Reihe standen. Durch die Eingangstür trat man direkt ins Wohnzimmer, von wo aus eine schmale Treppe zu den Schlafzimmern hinaufführte. Im Elternschlafzimmer war gerade genügend Platz für ein Doppelbett und eine Kommode. Mein Zimmer mit dem kahlen Verputz und dem rissigen braunen Linoleumboden war kaum größer als ein Schrank. Als einziges Möbelstück stand darin ein kleines Bett, an der Wand gegenüber dem Fenster ohne Gardinen. Auf dem zerschlissenen Bettzeug lag anstelle einer Decke ein Stapel alter Mäntel und Jacken.
Das Häuschen gehörte zu der Farm, auf der mein Vater arbeitete, und wie bei vielen Landarbeitern war die freie Unterkunft ein Teil der Entlohnung.
Der Farmer, ein altmodischer und streitlustiger Mann, wollte von steigenden Lebenshaltungskosten nichts hören und speiste seine unzufriedenen Arbeiter mit einem Hungerlohn ab. »Schließlich wohnen sie hier doch umsonst«, verteidigte er sich. Leider war er auch der Ansicht, dass eine mietfreie Bleibe ihm als Hausbesitzer keinerlei Instandhaltungskosten verursachen dürfe. So war das Häuschen während der Wintermonate kalt und feucht. Weder die zusammengerollten Zeitungen unten an den Türen noch die an den verrotteten Fensterrahmen befestigten Plastikfolien hielten die eisige Zugluft ab, die in die Ohren und Nasen biss und ihre kalten Finger um bloße Beinchen krallte. Zitternd drängten wir uns am Feuer zusammen. Vorn leidlich warm, aber mit eiskaltem Rücken, kauerten wir an dem armseligen rußgeschwärzten Rost, auf dem feuchte Scheite qualmten.
Wenn sich der Himmel verdunkelte und der Eisregen dafür sorgte, dass ich nicht draußen spielen konnte, verbrachte ich die Tage in dem winzigen Wohnzimmer, das auch als Küche, Esszimmer und zu den seltenen Gelegenheiten, an denen eine Zinkwanne darin auftauchte, als Badezimmer diente. Möbliert war es mit altem Plunder, den die Großeltern beider Seiten aussortiert hatten. Ich erinnere mich an ein hässliches, kastanienbraunes Sofa mit durchgesessenen Federn, die sich schon beinahe durch den abgeschabten und verschossenen Bezugsstoff bohrten, an einen hölzernen Esstisch mit vier zusammengewürfelten, wackeligen unbequemen Stühlen und an eine zerkratzte Kommode, auf der sich Töpfe und andere Küchenutensilien stapelten. Im Wohnzimmer gab es kein einziges Stück, das für Gemütlichkeit oder Wohnlichkeit gesorgt hätte - es war ein trostloser dunkler Raum in einem trostlosen kleinen Haus.
Drei Türen hatte es insgesamt: Eine befand sich an der Treppe, die zu den Schlafzimmern führte. Durch die zweite gelangte man zum Garten hinter dem Haus, wo die Wäsche und die schmutzigen Töpfe gewaschen wurden. Die dritte, die Haustür, führte für meine Mutter anscheinend nirgendwo hin. Denn abgesehen von gelegentlichen Gängen zu den Geschäften, wo sie Lebensmittel und ein paar andere Dinge des täglichen Bedarfs kaufte, gab es für sie offenbar kaum ein Leben außerhalb dieser vier Wände. Uns satt zu bekommen, was niemals leicht war, schien fast die gesamte Zeit meiner Mutter zu beanspruchen. Mein Vater, der zur Haushaltskasse nur beisteuerte, was er nicht im Pub vertrank, erwartete jeden Abend eine warme Mahlzeit. Ganz gleich, wann er nach Hause kam - wenn das Essen nicht binnen Minuten vor ihm auf dem Tisch stand, erfüllte sein wütendes Gebrüll den Raum, und seine Fäuste ballten sich vor Zorn.
Er war ein chronischer Trinker, ein Alkoholiker, wie es heute heißt. Meine Mutter wusste nie, ob er nach der Arbeit direkt in den Pub gehen oder erst zum Essen nach Hause kommen und danach im Pub trinken würde, bis seine Taschen leer waren.
Weil er kurz vor dem Zahltag stets nach dem restlichen Haushaltsgeld suchte, bemühte sich meine Mutter, kleine Beträge zu verstecken, sodass sie immer wenigstens Brot und Milch kaufen konnte. Doch das übermächtige Verlangen nach einem Drink schien meinem Vater zu einem geradezu unheimlichen Scharfsinn zu verhelfen. Und so fand er das neue Versteck, in dem meine Mutter die wenigen Münzen verborgen hatte, meist schon nach wenigen Stunden.
An solchen Tagen war die Anspannung im Raum oft mit Händen greifbar. Er schlürfte seinen Tee und schaufelte das Essen in sich hinein, während seine Blicke umherschossen und meine Mutter ihn nervös aus der Ferne beobachtete. Vielleicht betete sie, dass seine Laune sich bessern und er dieses eine Mal zu Hause bleiben würde.
Aber das passierte nur selten.
Manchmal fragte er mit einem Lächeln nach dem Geld, manchmal mit einer Grimasse, und hin und wieder drohte er. Aber gleichgültig, wie er die Frage stellte - meine Mutter wusste, dass sie es mit einer Forderung zu tun hatte und nicht mit einer Bitte. Ihre Erklärung, es sei kein Geld mehr da, wurde stets nur mit einem düsteren Blick quittiert.
»Du bist eine verdammte Lügnerin«, war seine übliche Antwort.
»Und jetzt gib mir das Geld, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
Mein kleiner Körper bebte vor Angst. Ich rutschte lautlos vom Stuhl und versteckte mich hinter dem Sofa. Die Hände auf die Ohren gedrückt, die Augen fest geschlossen, versuchte ich, nicht zu sehen und zu hören, was geschah. Trotzdem drangen die Geräusche zu mir durch: wie sein Stuhl unwirsch zurückgeschoben wurde, wie seine Füße in den schweren Arbeitsstiefeln durch den Raum stapften. Das Getöse, mit dem die Töpfe zu Boden krachten, und das Geklapper, mit dem der Inhalt der Kommodenschubladen ausgekippt wurde.
In die Geräusche mischte sich das wütende Geschrei meines Vaters. »Wo hast du es versteckt, du Schlampe?« Dazu die schwachen Proteste meiner Mutter. »Es ist nichts mehr da.« Bald hallte der Raum vom Lärm seiner Suche und ihren flehentlichen Bitten wider.
Das Wutgebrüll wurde lauter, und schließlich folgte das unverkennbare Geräusch von Fäusten, die auf einen Körper prallten. Das Schluchzen meiner Mutter, das Poltern schwerer Füße auf den Holzdielen und am Ende sein Triumphschrei. Er hatte die Beute gefunden.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Marianne Marsh , Toni Maguire
- 2011, 1, 286 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009418
- ISBN-13: 9783868009415
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