Himmel über Langani
Seit den glücklichen Tagen auf der Farm Langani in Kenia sind Sarah, Hannah und Camilla beste Freundinnen. Doch dann wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt: Sarahs große Liebe hat nur Augen für Camilla, Hannah...
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Produktinformationen zu „Himmel über Langani “
Seit den glücklichen Tagen auf der Farm Langani in Kenia sind Sarah, Hannah und Camilla beste Freundinnen. Doch dann wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt: Sarahs große Liebe hat nur Augen für Camilla, Hannah kämpft gemeinsam mit ihrem Bruder um den Erhalt der Farm und Camilla verliebt sich unglücklich.
Lese-Probe zu „Himmel über Langani “
Himmel über Langani von Barbara & Stephanie Keating Aus dem Englischen von Ulrike Laszlo und Karin Dufner
Prolog
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Er war über zwei Stunden gelaufen, und nun ging sein Atem stoßweise und keuchend. Sein Körper war schweißgebadet. Rinnsale liefen ihm an der Brust hinunter über verkrustetes Blut. Sie rannen unter die Perlenbänder an seinen Armen und Handgelenken, die Kupferreifen an den Beinen und den ledernen Lendenschurz, sein einziges Kleidungsstück. Aus dem Busch drangen von allen Seiten Geräusche von Tieren auf der Jagd nach Beute. Durch die afrikanische Nacht hallte das laute heisere Brüllen eines Löwen, der nach seiner Gefährtin rief, und das irre Kichern einer Hyäne. Aus der Ferne ertönte das Stampfen einer Büffelherde, die von ihren Weidegründen zum Fluss trabte. Der Krieger nahm nichts davon wahr. Er hörte nur seinen röchelnden Atem, der heftig ein- und ausströmte, und den Schrei, der immer noch in seinen Ohren klang. Auf dem Schlachtfeld hätte sich nur einer befinden sollen, ein Mann, der schrie und um Gnade winselte. Aber er war bis zum Schluss stumm geblieben. Nur sein Blick hatte die Verachtung für seinen Henker verraten, bis der Krieger dieses Verdammnisurteil nicht länger ertragen konnte und es m it seinem blutigen Messer für immer auslöschte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so viel Blut fließen würde oder dass er den schweren, süßlichen Geruch die ganze Zeit über in der Nase haben würde. Sein gesamter Körper schien danach zu stinken, als er davonrannte. Gewiss konnte ihn jedes Raubtier im Busch riechen. So wie die Hyäne mit dem übel riechen den Atem und dem verfilzten, getüpfelten Fell. Angezogen von dem Geruch des Todes und der Aussicht auf Fleisch und Knochen, war sie durch den Busch herangeschlichen. Er hätte es zulassen sollen, dass die Hyäne die Frau tötete. Mit ihrem Erscheinen hatte er nicht gerechnet. Sie konnte sich nicht wehren. In dem Moment, als er sah, wie sie begriff und ihre Augen sich weiteten, hatte die Hyäne zum Sprung angesetzt. Er hatte seinen Speer geworfen, hatte gesehen, wie die Waffe traf und das Tier stürzte. Dann fiel die Frau zu Boden, und als sie aufschrie, wusste er, was sie gesehen hatte. Auch er konnte es sehen, ganz gleich, in welche Richtung er seinen Kopf drehte. Die Leiche des Manns lag ausgestreckt auf der Erde, Arme und Beine weit gespreizt, die Genitalien abgeschnitten und in den stummen, vor Schmerz aufgerissenen Mund gesteckt, der Bauch aufgeschlitzt, sodass seine Eingeweide auf den Boden quollen, die Augenhöhlen blicklos in der Dunkelheit dem Mond zugewandt. Noch lange Zeit nachdem er von dem Opferplatz geflohen war, sah der Krieger dieses Bild vor sich und hörte das Schreien. Er hatte seinen Speer im Nacken der Hyäne stecken lassen und sich in den umliegenden Busch geschlichen, wobei er seine Spuren auf die Art verwischte, wie sein Volk es tat. Bald schon würden Fährtensucher hinter ihm her sein und von der Hügelkette aus Ausschau nach Zeichen halten, die ihnen verrieten, in welche Richtung er sich gewandt hatte. Zuerst war er von einer wilden Begeisterung erfüllt gewesen - er hatte sich unbesiegbar gefühlt. Seine Suche war erfolgreich gewesen, er hatte seinen Schwur erfüllt. Er spürte die Wirkung des bhang, des Marihuanas, das er vor dem Ritual zu sich genommen hatte. Noch immer jagte es durch seinen Körper und ließ farbenprächtige, geheimnisvolle Szenen vor seinen Augen entstehen. Er empfand keine Schmerzen, als er die Luft tief in seine glühende Kehle sog. Sie brannte in seinen Lungen, um dann pfeifend und mit schäumendem Speichel vermischt durch seine zusammengepressten Zähne wieder hinauszufahren. Sein Herz pochte heftig und übertönte die Geräusche hinter ihm, die er nur noch als entferntes Summen wahrnahm. Er erreichte dichtes Unterholz und lief an dessen Rand entlang, um dann auf einen felsigen Vorsprung zu klettern, wo seine Verfolger seine Fußspuren verlieren würden. Nun ging er den Weg langsam zurück, wobei er in seine eigenen Fußstapfen trat, bis er zu einem anderen Abschnitt des Buschwerks gelangte. Ohne auf die Dornen zu achten, ging er in die Hocke und schlüpfte in das Dickicht. Die Droge verschaffte ihm einen anderen Blickwinkel, so als befände er sich in großer Höhe und könne sich selbst unter den Büschen kriechen sehen, in wellenförmigen Bewegungen wie eine Schlange, bis er an der anderen Seite des dichten Unterholzes auftauchte. Seine Haut war zerkratzt, und das hervorquellende Blut vermischte sich mit dem Blut seines Opfers, das seinen Körper bedeckte. Er machte keinen Versuch, es abzuwischen. Er hatte sich bewährt, hatte den Feind getötet. Der große Gott Kirinyaga war jetzt sicher beschwichtigt. Er hatte die Geister seiner Vorfahren versöhnlich gestimmt und den Geist seines Vaters besänftigt. Er richtete sich auf, drehte sich um und verschwand im Wald. Dabei achtete er darauf, die Trampelpfade der Tiere zu umgehen. Auf einer von der Hügelkette weit entfernten Lichtung blieb er stehen, zufrieden, weil er seine Spuren zur Genüge verwischt hatte. Seine Hände zitterten, als er den kleinen Lederbeutel von dem Lederriemen an seiner Hüfte löste, etwas von dem dunklen Pulver auf die Handfläche klopfte und es tief in beide Nasenlöcher sog. Der erneute Adrenalinstoß war so heftig, dass sein Körper erzitterte. Wieder setzte er sich in Bewegung und lief mit großen Schritten durch die Nacht, hinaus aus dem Wald und am Rand der Steppe entlang zu seinem nächsten Zufluchtsort. Noch zweimal blieb er stehen, um sich einen weiteren Energieschub aus dem Lederbeutel zu holen. Doch dann war alles aufgebraucht, und der Weg zu seinem Ziel war noch weit.
Die Schreie in seinem Kopf waren wieder da. Blitzartig auftauchende Erinnerungen behinderten seine Sicht und ließen ihn auf dem unebenen Boden stolpern. Der Blutgestank des toten Mannes war in seine Lungen eingedrungen. Ihm war, als ob er mit jedem Atemzug den Tod seines Opfers einatmete. Jetzt nahm er um sich herum Gestalten im Schatten wahr. Hyänen. Sie liefen hinter ihm her. Verfolgten ihn. Er glaubte, sie ebenfalls riechen zu können, aber es konnte auch der Gestank des Tieres sein, das er mit dem Speer getötet hatte. Oder der üble Geruch des Opferbluts, das durch die Hitze seines eigenen Körpers geronnen war. Einen Moment lang meinte er in einiger Entfernung vor sich ein Feuer aufflackern zu sehen. In seiner Einbildung bewegten sich Figuren in dem roten Licht, und in seinen Nasenlöchern hing der Gestank von verbranntem Fleisch. Er schlug einen Haken, denn er wollte nicht sehen, wer das Feuer entfacht hatte oder was dort verbrannte. Das Bild verblasste. Langsam schwand die Dunkelheit, und in dem Übergang zwischen Nacht und Dämmerung, wo die Welt grau und verschwommen erschien, wusste er nicht mehr genau, was Wirklichkeit war und was nicht. Er befürchtete, dass er unfreiwillig in die Welt der Geister gelangt war und den Weg zurück nicht mehr finden würde. Er hätte die Hyäne nicht töten sollen. Sie war gekommen, um den Geist des Mannes zu verschlingen, und er hatte sie von ihrem Dienst abgehalten. Die Hyäne und der Tote wanderten auf dem Pfad der Geister. Sie suchten ihn. Sie witterten das Blut an seinem Körper. Panik stieg in ihm auf, und er beschleunigte seinen Schritt. Ein Zweig schlug ihm ins Gesicht. Er spürte, wie sein Kopfschmuck herunterfi el, doch er widerstand dem Drang, stehen zu bleiben und ihn aufzuheben. Er war jetzt ein wahrer Krieger, gleichgültig, ob er den Kopfschmuck aus Federn und Perlen trug oder nicht. Er hörte, wie ein zweiter Schrei den ersten übertönte. Er begriff, dass dieser aus seinem eigenen Mund kam, als er das Feuer wieder sah. Dieses Mal war es direkt vor ihm. Und es war echt. Daneben stand ein Mann und häutete mit einem panga, einem großen Messer mit flacher Klinge, einen Buschbock. Der Krieger sah die Klinge im Feuerschein blitzen. Keuchend blieb er stehen. Niemand durfte ihn sehen, niemand durfte wissen, dass er auf seinem Weg hier vorbeigekommen war. Der Mann wich zurück und starrte ihn erschrocken an. Ein Jäger. Er hatte Reisig gesammelt und ein Feuer entfacht, um sich vor den wilden Tieren zu schützen, doch nun stand er einem viel gefährlicheren Feind gegenüber. Neben ihm auf der Erde lag ein kurzer Speer. In seiner Panik bückte er sich, um ihn aufzuheben, als der Krieger ihn mit gefl etschten Zähnen ansprang und mit seinem Messer zum ersten Mal zustach. In der Ferne jaulten und kicherten die Hyänen, riefen sich gegenseitig die Neuigkeit zu. Hier floss Blut. Bald würde es ein Festmahl geben. Als die ersten Lichtstrahlen die Landschaft erhellten, zeigten sie sich. Die Luft war erfüllt von ihrem Geknurre und Gezänk, dem Geräusch schnappender Kiefer und knackender Knochen, als sie ihre Zähne in den frischen Kadaver gruben.
Kapitel 1
Kenia, Juli 1957
Die Schulglocke läutete, doch das Mädchen blieb in der Auffahrt stehen. Früher oder später würde man sie vermissen. Und dann würde es wieder Ärger geben. Aber vielleicht würde der Wagen auch durch das Tor fahren, bevor man ihr Fehlen bemerkte, und dann war alles gut. Während des ganzen Morgens hatte sie durch das Fenster des Klassenzimmers Ausschau gehalten, bis man sie getadelt hatte. Nach dem Unterricht war sie die Auffahrt hinuntergeschlichen und hatte einen Platz gesucht, wo man sie von den Schulgebäuden nicht sehen konnte. Es war ein strahlender Nachmittag. Nach den Wolkenbrüchen am Tag zuvor segelten nur wenige Wölkchen hoch oben an dem verwaschenen blauen Himmel. Vielleicht hatten der Regen und die schlammigen Straßen die Fahrt verzögert. Sarah Mackay hielt den Blick fest auf die ungeteerte Straße gerichtet. Die rote Erde war immer noch feucht, und die blauen Eukalyptusbäume, die die Straße säumten, schwankten und zitterten im Wind. Sie liebte diese Wächter des Plateaus mit der silberfarbenen Borke, die hier in 2400 Metern über dem Meeresspiegel wuchsen. Nachts wisperten und seufzten sie, wenn sie in ihrem schmalen Bett im Schlafsaal lag und davon träumte, an der Küste zu sein, daheim in Mombasa, fast fünfhundert Meilen entfernt. Nach dem Ruf der Glocke hatte sich der Spielplatz geleert. Ein merkwürdiges Gefühl der Verlassenheit überkam sie, als hätte sich die Welt rasch ohne sie weitergedreht und sie würde sie nie wieder einholen können. Vielleicht würde sie jahrhundertelang in einer Zeitfalle festsitzen und auf ein Auto warten, das niemals kommen würde. Sie hatte die stämmige Figur und das zerzauste Erscheinungsbild ihres Vaters geerbt. Ihre Kleidung wirkte immer zerknittert, gleichgültig, was sie damit anstellte. Sarah begann zu singen, um ihr Unbehagen zu unterdrücken. Sie war ein kräftiges Mädchen mit einem runden Gesicht und haselnussbraunen Augen und ziemlich klein für ihre dreizehn Jahre. Das Singen half ihr, Kummer und Einsamkeit zu verdrängen, bis sie nichts mehr davon spürte. Sie wusste, dass sie ein Naturtalent war. Manchmal sang sie bekannte Lieder, aber oft dachte sie sich eine Melodie und einen geheimen Text dazu aus, nur für sich selbst. Es war wie Fliegen - man wusste nie, ob man bei der nächsten Zeile tief sinken, in die Höhe schießen oder auf einer dieser langen, beglückenden Noten landen würde, die man als perfektes Ende empfand. Doch dieses Lied wollte sich einfach nicht auflösen. Also brach sie ab und ahmte den Ruf einer Golddrossel nach, die am Rand der Auffahrt in einer Akazie saß. Erfreut hörte sie, dass der Vogel ihr mit einem Pfiff antwortete. Doch er weigerte sich, das Schwätzchen fortzusetzen, und flog davon, um Jagd auf Insekten zu machen. Sie sprach gern mit Tieren. Insgeheim lächelnd führte sie eine imaginäre Unterhaltung mit einem Warzenschwein und stieß dabei einige Grunzlaute aus. Der Sonne sank. In der abendlichen Kühle wehte der Geruch eines Feuers heran, das für die Nacht angefacht wurde. Allmählich wurde Sarah hungrig. Die Straße hinter der Schule erstreckte sich meilenweit durch Weizenfelder bis zu der dunklen Baumlinie am Rand der Klippe. Wenn sie ausritt, beugte sie sich gern aus dem Sattel herab und sammelte Samen und Beeren ein. Später flocht sie dann mit einem Draht ein Armband oder eine Halskette daraus. Ihre selbst gebastelten Schmuckstücke waren sehr gefragt. Im Augenblick arbeitete sie an einem Geburtstagsgeschenk für ihre beste Freundin. Sarah mochte Camilla Broughton-Smith, obwohl sie immer alles im Griff hatte, im Unterricht zu den Besten gehörte und äußerst umschwärmt war. Ihr Vater war ein wichtiger Mann und ebenfalls sehr beliebt. Vielleicht lag das in der Familie. Sie waren zur gleichen Zeit ins Internat gekommen, und an diesem ersten Abend war Sarah untröstlich gewesen und hatte stundenlang geweint, nachdem der Wagen ihrer Eltern am Ende der langen Auffahrt verschwunden war. In den folgenden Tagen hatte sich das Gefühl der Einsamkeit noch verstärkt. Die anderen Mädchen hatten sich über ihr Heimweh lustig gemacht und über den gekürzten Saum ihrer Schuluniform und die neuen, viel zu stark glänzenden Schuhe gespottet. Camilla war ihr zu Hilfe gekommen, hatte die Möchtegern-Tyrannen verächtlich abgefertigt, ihr angeboten, bei den Hausaufgaben zu helfen und ihr etwas von ihrer beeindruckenden Wochenendgarderobe zu leihen. Camillas Füller lief niemals aus, nie verschmierte er ihre Finger oder ihre Schulbluse. Ihre Hefte waren so ordentlich wie ihr Schrank. Probleme, die andere zum Weinen brachten, tat sie beiläufig ab. Manchmal sagten die Lehrer, dieses Mädchen sei für ihr Alter unnatürlich hart, und wenn diese Fassade eines Tages zerbräche, würde das verheerende Folgen haben. Sarah wünschte, sie hätte ebenfalls eine so harte Schale mitbekommen. Sie sah zu dem sich verdunkelnden Himmel hinauf. Wenn nach dem Tee jemand losgeschickt würde, um sie zu suchen, würde sie in großen Schwierigkeiten stecken. Das konnte ebenso schlimm werden wie an dem Tag, als sie eine Ringelnatter gefunden und im Klassenzimmer freigelassen hatte. Hannah van der Beer hatte sie verraten. Sie hatte zu Sarah hinübergesehen und die Hand vor ihren breiten, lachenden Mund geschlagen, als Schwester Evangelis kreischend von ihrem Stuhl aufgesprungen war. Hannah mit ihrem dichten fl achsfarbenen Haar, der lauten Stimme und dem breiten Akzent. Insgeheim beneidete Sarah das afrikaanse Mädchen um ihre überhebliche Art. In ihrer Gegenwart bekam man Minderwertigkeitskomplexe und fühlte sich wie ein Schwächling. Die Buren, hatte ihr ihre Mutter erklärt, waren Menschen holländischer Abstammung aus Südafrika. Sie waren zur Jahrhundertwende hergekommen, mit ihren Planwagen bis in das Hochland Kenias gezogen und hatten dort im Buschland ihre Farmen angelegt. Sarahs Gedanken schweiften ab, als sie in der Ferne eine Staubwolke entdeckte. Ein Auto näherte sich. Ihre Aufregung wuchs zu einem überwältigenden Glücksgefühl, als der Wagen, ein Komet mit einem Schweif aus Staub, in Sichtweite kam. Ja! Der graue Mercedes verlangsamte die Fahrt und bog in die Auffahrt ein. Ihr Gesicht strahlte, ihre Augen glänzten. Sie breitete die Arme aus, als sie ihrer Mutter entgegenlief. Sie hatte die Stunden gezählt, die die Fahrt von Nairobi hierher dauern würde, wo Betty Mackay die letzte Nacht verbracht hatte. Die Schule lag auf halbem Weg zwischen ihrem Zuhause an der Küste und der Hauptstadt Ugandas, wo ihr Vater Raphael an einer Ärztekonferenz teilnahm. Sarah hatte die Erlaubnis erhalten, zwei Nächte bei ihrer Mutter im Country Club zu verbringen und wie eine Tagesschülerin morgens zur Schule zu kommen. Genau wie Hannah van der Beer. »Mum! Mum!«, rief sie ihrer Mutter zu. Der Wagen hielt. Die Tür öffnete sich, und jemand stieg aus. Sarah blieb verwirrt stehen. Das war nicht ihre Mutter. »Mum?« Die Sonne blendete sie, und sie konnte nicht erkennen, wer diese Person war. Die Stimme, die ihr antwortete, war von dem breiten Akzent Südafrikas gefärbt. »Ich fürchte, ich bin wohl nicht die Richtige, Liebes. Ich bin Hannah van der Beers Mutter. Weißt du, wo sie steckt? Ich komme zu spät, um sie abzuholen.« Peinlich berührt bemerkte Sarah, dass Hannah bereits auf das Auto zukam. Der Wagen sah aus wie der der Mackays, nur dass er ein anderes Nummernschild und eine Beule im vorderen Kotflügel hatte. War das Burenmädchen schon hier gewesen, als sie unbekümmert vor sich hin gesungen und kindische Tierlaute ausgestoßen hatte? Sarah lief purpurrot an. Wie konnte sie das nur ungeschehen machen? Sie begann etwas zu murmeln und bemühte sich, nicht in Tränen auszu brechen. »Es tut mir Leid. Meine Mutter kommt heute. Von der Küste. Von zu Hause. Sie hat einen Wagen der gleichen Marke. Ich dachte, Sie wären sie. Ich meine, ich dachte, sie wäre Sie ...« Sarah war so beschämt, dass sie weder Mrs. van der Beer noch ihrer Tochter in die Augen schauen konnte. Sie rannte die Auffahrt zu den Schulgebäuden hinauf. In dem viereckigen Innenhof lehnte sie sich gegen eine Wand, ein Häufchen Elend. Hannah würde allen erzählen, was geschehen war. Und die ganze Klasse würde über sie lachen. Da war sie sich sicher. Aber wenn man überleben wollte, durfte man niemandem zeigen, dass man verletzt war - niemals. Das war Regel Nummer eins. Jemand stand neben ihr und redete auf sie ein. »Hörst du mich? Ich habe dich überall gesucht«, wiederholte Camilla Broughton-Smith. »Wo warst du?« »Ich habe auf der Auffahrt gewartet.« Sarah versuchte, ihre lähmende Niedergeschlagenheit abzuschütteln. »Deine Mutter hat angerufen. Ein Stein hat die Windschutzscheibe ihres Wagens zerbrochen. Sie lässt sie in Nakuru reparieren und wird morgen Mittag hier sein. Na, komm schon! Meine Güte, davon geht die Welt nicht unter!« Sarah zwang sich zu einem Lächeln. Sie konnte nicht erklären, warum sie so deprimiert war. Denn eigentlich verstand sie es selbst nicht. Sie hatte sich zum Narren gemacht, und morgen würde sich Hannah van der Beer köstlich über ihre Eigenheiten amüsieren. Vielleicht sollte sie allen von ihrem beschämenden Irrtum erzählen und versuchen, ihn mit einem Lachen abzutun. Verzweifelt starrte sie Camilla an und zuckte dann die Schultern. »Danke für die Nachricht. Ich sollte jetzt besser meine Hausaufgaben machen.«
Der graue Mercedes fuhr durch die Tore der Klosterschule. Hannah van der Beer beobachte, wie die Spielwiesen und die blauen Eukalyptusbäume im Farbenspiel von Licht und Himmel wie ein Stillleben am Fenster vorbeizogen. Sie dachte an Sarah Mackay, die vor Publikum singen und tanzen konnte, gut zeichnete, die Laute jedes Tieres nachahmen konnte, wenn sie wollte, und mit ihren Händen wunderschöne Dinge bastelte. Und ich bin ein großes, vorlautes afrikaanses Mädchen mit Schuhgröße 39, dachte Hannah. Ich weiß, dass alle mich hinter meinem Rücken yaapie nennen. Niemand sieht mich als Italienerin, wie Ma. Carlotta van Beer stammte aus einer italienischen Familie in Johannesburg, aber ihr Mann war Afrikaaner und nannte sie immer Lottie. Hannah drehte den Kopf und betrachtete das geradlinige Profil ihrer Mutter, das dunkle, zu einem Kno ten aufgesteckte Haar, die sonnengebräunten aufgerauten Finger, die das Lenkrad umfassten. Sarah Mackays Mutter war blond und hübsch. Sie trug schöne Kleider und hatte zarte Hände, denen man ansah, dass sie sicher keine Hausarbeit verrichtete. »Wer war das?«, fragte Lottie. »Ein Mädchen aus meiner Klasse.« »Kommt sie von weit her?« »Mombasa. Sie haben ein Haus an der Küste«, antwortete Hannah. Sie konnten von ihrem Garten aus direkt an einen weißen Sandstrand mit Palmen gehen. Einmal hatten die van der Beers Urlaub am Meer gemacht, und Hannah wäre am liebsten nie wieder nach Hause zurückgekehrt. »Das ist ein weiter Weg.« Lotties Stimme klang nachdenklich. »Es muss schwer sein, wenn man so weit weg von zu Hause ist. Wäre es nicht nett, sie an einem Wochenende zum Mittagessen einzuladen?« »Was? Du meinst, wir sollten sie auf die Farm einladen? Zum Mittagessen bei uns?« Hannah war Tagesschülerin. Eigentlich eine Außenstehende. Sarah wohnte im Internat, und ihre Eltern kamen aus England oder vielleicht aus Irland - jedenfalls aus Europa. Das war etwas ganz anderes. Die Afrikaaner hatten wenig Kontakt zu britischen Kolonialbeamten oder den englischen Farmern. Und ihr Bruder würde Sarah vielleicht hänseln oder irgendeinen Unfug treiben, wenngleich ihn ihre Imitationen von Tierlauten sicher beeindrucken würden. Allerdings hatte Sarah selbst einen Bruder, also wäre das wohl nicht so schlimm. Aber wenn die Farm in ihren Augen zu primitiv war, würde sie das allen in der Klasse erzählen, und Hannah wäre mehr denn je eine Außenseiterin. Sie seufzte. Was für eine schwierige Entscheidung! »Na?« Lottie war erstaunt über das lange Schweigen ihrer Tochter. »Was hältst du davon?« »Ich denke, wir könnten sie fragen. Aber ich bin nicht sicher, ob sie kommen wird.« In den folgenden drei Wochen suchte Hannah nach einer Gelegenheit, um ihre Einladung auszusprechen. Aus irgendeinem Grund redete Sarah Mackay kaum mit ihr und schien sie sogar zu meiden. In Wahrheit hatte Hannah unter den Internatsschülerinnen keine richtige Freundin, obwohl sie schon seit zwei Jahren die Klosterschule besuchte. Diese Mädchen schienen aus einer Welt zu kommen, in der die Tochter eines afrikaansen Farmers der dritten Generation nichts zu suchen hatte. Sie stammten aus Familien, deren Wurzeln in weit entfernten Orten wie London oder Dublin lagen, oder irgendwo in den so genannten »Home Counties«. Alle waren auf Landsitzen oder in Stadthäusern aufgewachsen und würden irgendwann dorthin zurückkehren. Schließlich, an einem späten Nachmittag, entdeckte Hannah Sarah im Kunstsaal, wo sie gerade allein eine Kohlezeichnung fertig stellte. »Das ist gut, Sarah! Ich wünschte, ich könnte so gut zeichnen.« »Das stimmt noch nicht ganz.« Stirnrunzelnd beugte sich Sarah über das Papier. Ihre Wange war mit Kohle verschmiert, und ihre Hände fuhren ungeduldig über die Zeichnung, während sie sich mühte, die Schattierungen mit den Fingerspitzen besser herauszuarbeiten. »Zeichnest du gern Landschaften? Ich meine, im Buschland, mit Bäumen und Tieren, wie bei uns auf der Farm.« »Eigentlich nicht.« Sarah sah nicht einmal auf. »Zurzeit konzentriere ich mich auf Porträts, wie du siehst.« Hannah fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Sie würde eine andere Gelegenheit finden müssen, um ihre Einladung auszusprechen. Manchmal fragte sie sich, warum man sie überhaupt auf die Klosterschule geschickt hatte. Alle anderen Töchter der afrikaansen Farmer besuchten die Kikoma Schule, die Mädchen und Jungen aufnahm und in keiner Hinsicht religiös geprägt war. Hannah erinnerte sich, wie sie im Wohnzimmer von ihrem Lieblingsplatz am Fenster aus, verborgen hinter den schweren Vorhängen, die Diskussion belauscht hatte. »Das ist etwas anderes, Jan«, hatte Lottie sehr bestimmt erklärt. »Bei Piets Erziehung hattest du das Sagen. Er besuchte die Kikoma-Schule und hat sich dort gut gemacht. Er ist stark und klug und sehr selbstständig. Aber Hannah ist nicht so, auch wenn sie äußerlich so wirkt. Und ich bin kein Afrikaaner wie du. Ich möchte, dass unsere Tochter mit verschiedenen Arten von Menschen verkehrt, damit sie etwas anderes kennen lernt als die engstirnige Denkungsart deiner düsteren holländischen Reformisten.« »Piet ist nicht engstirnig. Und auch nicht düster.« »Er verbringt seine gesamte Freizeit mit uns.« Lottie tat seine Worte mit einer ungeduldigen Geste ab. »Du darfst nicht vergessen, dass Piet fünf Jahre lang ein Einzelkind war, bis Hannah zur Welt kam. Er genoss all unsere Aufmerksamkeit, und wir sind aufgeschlossener als viele unserer Nachbarn. « »Also können wir auch Hannah zu einem aufgeschlossenen Menschen erziehen. Ohne unsere ganzen Ersparnisse für diese Schule auszugeben.« »Nein, Janni. Für Hannah ist die Klosterschule die beste Wahl. Die Nonnen vermitteln den Mädchen eine Erziehung, die sie in Kikoma nicht erhalten würde. Alle bezeichnen diesen Ort als heifer boma, als Koppel für Kühe, und ich fürchte, sie haben Recht.« »Deine Freundin Katja van Rensburg sollte besser nicht hören, wie du von ihren Töchtern sprichst.« Jan lachte. Seine Frau war wunderschön, wenn sie sich aufregte. Ihre olivenfarbige Haut färbte sich rosig, und das italienische Temperament blitzte in ihren Augen auf, wenn sie gestenreich ihren Standpunkt bekräftigte. »Es ist ein Internat, Lottie. Du willst doch sicher nicht, dass Hannah dort wohnt, obwohl ihr Zuhause nur zehn Meilen entfernt liegt?« »Nein, natürlich nicht. Sie nehmen auch Tagesschülerinnen auf. Es gibt ungefähr zwanzig aus der Stadt, die ...« »Das sind Töchter von Regierungsbeamten und Ärzten und all diesen Geschäftsleuten und englischen Farmern. Ich weiß ja, dass du mit einigen ihrer Frauen befreundet bist. Aber unsere Familie ist anders.« Jan sog an seiner Pfeife. »Es wird ihr schwer fallen, sich in der Klosterschule einzuleben. Alle gehören irgendwo anders hin. Vor allem in diesem Alter. Hannah wird nicht den Rest ihres Lebens mit Briten oder mit deinen Verwandten in Johannesburg verbringen. Sie ist eine Afrikaanerin, und ich möchte, dass sie stolz darauf ist.« »Sie sollte sich bei beiden Seiten ihrer Familie wohl fühlen, Janni, und später im Leben die Freiheit der Wahl haben.« Lottie küsste ihn auf die Stirn. »Ich bin dafür, dass sie diese Klosterschule besucht. Das wünsche ich mir. Bitte melde sie an und begleite mich zu einem Gespräch mit der Mutter Oberin. Das ist fürs Erste alles, was ich will.« »Woher sollen wir das Geld nehmen?«, fragte Jan. »Die Klosterschule ist sehr teuer. Wir müssten einen Teil unserer Ersparnisse dafür aufwenden. Und wenn eine Trockenperiode kommt oder unser Vieh von der Rinderpest befallen wird? Oder wenn wir einen neuen Traktor brauchen? Was dann?« »Unsere Tochter ist wichtiger als ein neuer Traktor«, erklärte Lottie. »Wir können ihr nicht die bestmögliche Schulausbildung vorenthalten, weil wir uns vor irgendwelchen Dingen fürchten, die vielleicht niemals eintreffen werden.« Jan beschloss, nachzugeben und Zeit zu sparen. »Du kannst die Vereinbarungen selbst treffen. Ich werde nicht irgendeiner Mutter Oberin meine Aufwartung machen. Für mich ist die Sache erledigt.« Zwei Jahre später war Hannah überzeugt, dass ihr Vater wohl Recht gehabt hatte. Sie gehörte nicht in die Klosterschule, wo sie immer noch keine richtigen Freundinnen gefunden hatte. Doch in Sport war sie hervorragend. An einem Nachmittag während der Schulmeisterschaften in Hockey konnte sie damit glänzen: Sie schoss vier der fünf Tore für ihr Team und brachte es so an die Spitze der Liga. Damit war sie der Star des Tages. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung und Glück gerötet, als das Match zu Ende war. Dann kam Sarah Mackay, um ihr zu gratulieren, und plötzlich fasste sie sich ein Herz und sprudelte die Worte heraus, die sie so oft in Gedanken geübt hatte. »Das war gutes Teamwork, Sarah. Ah, da ist meine Mutter. Sie möchte wissen, ob du an einem Wochenende zu uns zum Mittagessen kommen möchtest.« Als sie hastig ihre Einladung hervorstieß, tauchte gerade Camilla Broughton-Smith auf. »Und du auch, Camilla.« Hannah konnte kaum glauben, was sie da sagte. Aber wenn sie beide einlud, war die Chance größer, dass sie kommen würden. »Was? Ich auch? Übrigens, Glückwunsch. Du hast hervorragend gespielt. Das hat diese Gänse von der Oberschule glatt aus ihren schmutzigen Söckchen gehauen.« Camilla schlang ihren weißen Arm um Sarahs Schultern.
»Meine Mutter würde euch gern zum Mittagessen einladen. Nächstes Wochenende. Na ja, an irgendeinem Wochenende. Ich meine, wenn ihr wollt.« Hannahs Mut verflog rasch, und ein schmerzliches Gefühl der Verlegenheit überkam sie. Hätte sie doch niemals davon angefangen! Sarah Mackay starrte sie mit offenem Mund an. »Eine wunderbare Idee!« Camilla gab ihrer Freundin einen Schubs. »Natürlich kommen wir sehr gern. Nicht wahr, Sarah? Ich war noch nie auf einer Farm in dieser Gegend. Habt ihr Kühe und Schafe? Und Pferde?« »Ma, das ist Sarah Mackay.« Hannah hatte das Gefühl, dass sie die Sache jetzt durchziehen musste. »Erinnerst du dich noch? Du hast sie bereits kennen gelernt. Und Camilla Broughton- Smith. Sie würden beide gern zum Mittagessen kommen. Wie du vorgeschlagen hast.« »Gut. Ich werde gleich mit Schwester Evangelis darüber sprechen. « Lottie lächelte ihre Tochter an. »Wie wäre es kommendes Wochenende? Falls es euch Mädchen passt. Wir könnten grillen, wenn das Wetter mitspielt. Und Piet wird auch da sein. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr eure Badeanzüge mitbringen. Bei uns gibt es eine Stelle, wo man schwimmen kann, aber ich warne euch - das Wasser ist kalt.« Langani Farm war seit 1906 im Besitz der van der Beers - dem Jahr, in dem die Familie in Kenia angekommen war. Sie hatten ihre Planwagen von Südafrika auf dem Schiff hierher gebracht. In der Ansammlung von Hütten, aus der später die Stadt Nairobi entstehen würde, kauften sie ein Gespann undressierter Ochsen und einige Grundnahrungsmittel, bevor sie sich auf den Weg in die Wälder des Hochlands machten. Mit den schweren Möbelstücken und dem Hausrat kämpften sie sich nach oben. In der dünner werdenden Luft fiel ihnen das Atmen schwer, während sie sich durch glitschigen Schlamm schleppten, der bei jedem Schritt nachgab. Manchmal mussten sie sich ihren Weg durch dichte Vegetation bahnen. Zitternd ertrugen sie bittere Kälte, Nebel und Regen, um das Land der Verheißung und die ihnen zugeteilten Morgen zu erreichen. Jahrelang hatten sie mit der groben Erde gekämpft und versucht, dem kargen Boden eine neue Ernte abzuringen. Sie hatten gelitten, wenn Tiere starben, der Rostpilz ihren Weizen befiel, Dürrezeiten oder Wolkenbrüche über sie hereinbrachen oder Heuschrecken über die reifen Felder herfielen und die Ernte zu einem unerfüllbaren Traum wurde. Doch Zähigkeit lag den Afrikaanern im Blut. Langsam und mit der für sie typischen Unnachgiebigkeit machten sie das Land urbar und formten ihre Welt. Sarah würde nie vergessen, wie sie zum ersten Mal Lotties Garten auf Langani Farm sah. Das Haus war lang gestreckt und niedrig, mit dicken Steinwänden und hohen Kaminen. Das schräge Wellblechdach wurde von steinernen Säulen gestützt, um die sich Geißblatt und Bougainvillea rankten. Von der tief liegenden Veranda überblickte man einen samtigen Rasen und leuchtende, geschwungene Blumenbeete, doch hinter den liebevoll gepflegten Bäumen und Büschen lagen offenen Felder mit vereinzelten Dornenbäumen, auf denen sich Herden von Zebras, Giraffen, Gazellen, Elefanten und Büffeln tummelten. Nur eine geschnittene Hecke trennte den Garten von der Wildnis, ein schwaches Bollwerk zum Schutz vor dem wuchernden Busch und den Raubtieren. In der Ferne hinter der Ebene ragten die schneebedeckten Gipfel des Mount Kenya glitzernd in den Himmel. Bei diesem ersten Besuch auf der Farm grillte Jan van der Beer mittags unter den Bäumen für sie, und dann fuhr Lottie sie zum Fluss. Das Wasser war tatsächlich eiskalt - es kam direkt von den schmelzenden Schneegipfeln der Berge. Sarah kreischte, als sie sich waghalsig vom Ufer in das Becken unter dem Wasserfall stürzte. Hannah stand auf der sicheren Böschung und lachte, als Sarah nach Luft rang und heftig ruderte, um ihre erstarrten Gliedmaßen aufzuwärmen.
»Wir haben dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören«, rief Hannah. »Steh nicht einfach herum und kichere wie ein Pavian, sondern komm ins Wasser, wenn du das so lustig findest. Und du auch, Camilla. Du kannst doch nicht nur im Gras liegen und so tun, als wärst du ein Filmstar.« Hannah kletterte die Böschung hinunter, als eine andere Stimme ertönte. »Kommt schon, ihr Zimperliesen. Rein mit euch, sonst werde ich euch Beine machen, und zwar schnell!« Piet van der Beer, groß und schlaksig, erschien am Ufer und streifte sein khakifarbenes Hemd und seine Stiefel und Socken ab. Mit einem Schrei sprang er von der Böschung und klatschte mit angezogenen Knien in den Fluss. Wenige Sekunden später tauchte er neben Sarah auf und schüttelte sich das Wasser von der Haut. Er fuhr sich mit sonnengebräunten Fingern durch das blonde Haar und grinste sie an. Durch ihren ausgekühlten Körper strömte Wärme. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie sich ihrer kleinen Brüste unter dem Badeanzug von der Klosterschule bewusst, und ihrer etwas zu molligen Arme und Beine. Er blinzelte ins Licht und zwinkerte ihr zu. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Ein Augenblick der Offenbarung, der ihr Leben für immer verändern sollte.
Kapitel 2
Kenia, November 1962
Das leise, rhythmische Krächzen der Ochsenfrösche verstummte abrupt beim Geräusch von Sarahs Schritten und setzte sofort wieder ein, als sie stehen blieb, um die kalte Luft des Hochlands einzuatmen. Langsam sank die afrikanische Sonne am Horizont, und sie lehnte sich auf der Veranda gegen einen Pfosten, um diesem majestätischen Schauspiel zuzusehen. Der Generator tuckerte in einem langsamen Crescendo und sorgte dafür, dass die Lampen im Haus aufleuchteten. Wie immer brach die Dunkelheit ganz plötzlich herein, und die ersten verstreuten Sterne blitzten auf. Der Duft des Nachtjasmins und der Rauch des brennenden Holzes überdeckten den Geruch des Tages nach Staub und Eukalyptus- bäumen. Hinter dem Schutzwall in Lotties Garten hörte sie das hohe Wiehern eines Zebras. Stimmen und Gelächter mischten sich in der hereinbrechenden Nacht mit dem Zirpen der Grillen und dem Quaken der Frösche. In den Unterkünften des Personals ertönte schwach und blechern afrikanische Musik aus einem Radio. Sie ging zurück in ihr Schlafzimmer und stellte fest, dass sie als Letzte zum Abendessen erscheinen würde. Als sie von dem Ausritt zurückkam, war sie ganz aufgeregt gewesen. Sie waren am frühen Nachmittag aufgebrochen und in gemächlichem Schritt durch ein Palisanderwäldchen geritten. Die lavendelfarbenen Blüten bildeten auf der Erde einen Teppich, der sich zwischen den Hufen der Pferde wirbelnd wendete. Jenseits der Bäume zitterten dürre Grashalme in der weißen flirrenden Hitze. Eine Zeit lang blieben sie am Rand der Ebene stehen und warteten, bis ihre Augen sich an das gleißende Licht gewöhnt hatten. Dann winkte Piet sie heran, und sie galoppierten an den Grenzen der Stammesreservate in den glühenden Nachmittag hinein. Auf den Hängen verstreut lagen die shambas der Farmarbeiter. Die kleinen terrassenförmig angelegten Gärten waren mit Mais bepflanzt. In jeder boma befand sich eine Ziegenherde, und auf den Lichtungen vor den Hütten scharrten Hühner- scharen gackernd auf der trockenen, harten Erde. Frauen in farbenprächtigen kangas hockten auf dem Boden und zerstampften Mais zu posho, dem Grundnahrungsmittel. Nackte Kleinkinder wälzten sich beim Spielen im Staub. Hunde mit Ringelschwänzen blinzelten mit einem Auge in die grelle Nachmittagssonne und knurrten halbherzig. Die glutheiße Luft trug den Gesang von Frauenstimmen heran. »Man hört die Babys selten schreien«, meinte Sarah. »Nur wenn sie krank sind.« »Sieh sie dir an.« Piet fuhr mit seiner Reitgerte durch die Luft. »Entweder sind die totos auf dem Rücken ihrer Mütter festgebunden, oder sie werden vorne getragen, sodass ihre Münder sich direkt vor den Brüsten befinden. Sie haben keinen Grund zu weinen. Wann immer sie trinken möchten, brauchen sie nur die Leitung anzuzapfen.« Er lachte laut auf, als er bemerkte, dass seine Wortwahl Sarah peinlich war. »Das ist wohl nicht die passende Ausdrucksweise für euch behütete Klosterschülerinnen, was? Nichts für ungut, aber wenn man auf einer Farm lebt, ist das Füttern der Kleinen ein ganz natürlicher Teil des Tagesablaufs, ganz gleich, ob sie zwei oder vier Beine haben.« Er trieb sein Pferd an, und sie preschten in wildem Galopp über die karge Ebene. Hier und da erhoben sich Ameisenhügel aus dem Gras. Eine Herde Thomson-Gazellen wedelte beim Herannahen der Pferde nervös mit dem Schwanz, jagte über das Buschland davon und verschwand in der flimmernden Hitze. Aus dem hohen Gras tauchte ein Straußenmännchen tauchte auf und lief vor ihnen her. Seine schwarzen Federn glänzten in der Sonne, und er befand sich so nah vor Sarah, dass sie seine Wimpern und die Stoppeln an seinem blassen Hals erkennen konnte, bevor er ins Unterholz floh. Sie ritt ebenso schnell wie Piet. Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten. Das Donnern der Hufe und der Geruch der roten Erde und der wilden Gräser berauschten sie. Sie ließen Hannah und Camilla zurück und sausten über die Ebene, bis sie schließlich in einer Staubwolke am Rand eines Wäldchens zum Stehen kamen. Piet beugte sich vor und packte die Zügel von Sarahs Pferd. Dann schob er den Hut zurück und sah sie an, atemlos und in die Nachmittagssonne lächelnd. Seine Bewunderung war offensichtlich. »Guter Ritt, Mädchen. Nicht wie meine Schwester oder Lady Camilla. Die schlafen auf ihren Pferden beinahe ein. Du bist eine gute Reiterin, das steht fest.« »Wir reiten immer mit Hannah aus, wenn wir das Wochenende hier verbringen.« Sarah konnte ihre Freude über seine Bemerkung nicht verbergen. »Aber mit dir macht es mehr Spaß. Wenn uns der Stallbursche begleitet, dürfen wir keinen solchen Galopp hinlegen. Und dein Vater lässt uns nicht allein ausreiten.« »Pa ist für euch verantwortlich, wenn ihr euch nicht unter den Fittichen der Nonnen befindet. Er kann euch nicht allein auf dem bundu herumrasen lassen. Außerdem ist Kipchoge ein guter Mann für einen Ausritt.« »Ja, aber trotzdem ist es ohne ihn schöner.« Sarah warf ihm einen Seitenblick zu, in der Hoffnung, ein weiteres Lächeln zu erhaschen. »Wir sind schon miteinander ausgeritten, als wir noch totos waren. Sein Vater war Pas erster Stallknecht. Früher ritt er für Lord Delamere die Pferde zu und trainierte sie, aber nach den Rennen betrank er sich regelmäßig. Als man ihn feuerte, kam er nach Hause, saß herum und sah zu, wie seine Frauen auf seiner shamba die Arbeit erledigten. Jetzt herrscht er wie ein Despot über die Stallungen, aber eigentlich kümmert sich vor allem sein ältester Sohn Kipchoge um die Pferde.« »Und meint er, dass er nach der Unabhängigkeit einen eigenen Stall besitzen wird?«, fragte Sarah. »Die neuen Politiker erzählen den Leuten offenbar, dass sie alles kriegen können, was die Weißen besitzen, sobald die Briten das Land verlassen haben.« »Ich glaube nicht, dass Kipchoge viel von den Politikern hält. Die meisten sind Kikuyu. Er ist ein Nandi, und zwischen den Stämmen herrscht ohnehin ein tief verwurzeltes Misstrauen. Meiner Meinung nach wird es hier mehr Probleme zwischen den Stämmen als zwischen den verschiedenen Rassen geben. Die Weißen werden den Schwarzen nur langsam Macht und Eigentum überlassen. Kipchoge und ich sind zusammen aufgewachsen, er ist beinahe wie ein Bruder für mich. In unserer Generation werden Schwarze und Weiße zusammenarbeiten, um ein neues Land zu erschaffen.« »Und was hält dein Vater von dieser Idee?«, fragte Sarah listig. »Pa hat altmodische Ideen, aber ein gutes Herz«, erwiderte Piet lächelnd. »Er hat immer nur Afrikaner kennen gelernt, die keine Ausbildung und kein Interesse an der Bewirtschaftung einer Farm hatten. Allerdings glaube ich, dass er insgeheim optimistisch ist, trotz seiner düsteren Vorhersagen.« Er drehte sich im Sattel um und fuhr mit dem Arm durch die Luft. »Hier ist die Grenze unseres kleinen Besitzes. Wenn du möchtest, können wir morgen wieder ausreiten, nur wir beide, am frühen Morgen, bevor meine Schwester und Lady Camilla aus den Federn kommen. Lass uns zum Fluss hinunterreiten und die Pferde tränken.« Piet führte sie vorbei an Dornenbäumen, in deren Zweigen runde Nester von Webervögeln schaukelten. Sarah, die neben ihm ritt, befand sich in einem tranceartigen Glückszustand. Sie betrachtete die goldenen Haare auf seinen Unterarmen, lauschte dem breiten Tonfall seiner von Afrikaans gefärbten Stimme und fand es wunderschön, wie sie sich mit dem leisen Wiehern der Pferde, dem Knarren des Sattelleders und dem Zirpen der Heuschrecken vermischte. Unter der Krone eines Dornenbaums stiegen sie von den Pferden. Piet holte ein Päckchen aus seiner Satteltasche und zog ein Messer aus seinem Gürtel. »Wir können aus dem Fluss trinken. Das Wasser kommt direkt vom Mount Kenya und ist so sauber und klar, wie man es sich nur wünschen kann. Und ich habe biltong mitgebracht, das Pa und ich getrocknet und geschnitten haben.« Sie bespritzen sich die Gesichter, schöpften mit den Händen das eiskalte Wasser und schlürften es gierig. Die Pferde tranken ausgiebig, schnaubten zufrieden und zogen sich dann zum Grasen an das Flussufer zurück. Piet legte sich in den Schatten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sarah und Hannah setzten sich mit verschränkten Beinen neben ihn. Camilla lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm und streckte auf vorteilhafte Weise ihre langen Beine aus. »Ziemlich salzig«, meinte sie und verzog das Gesicht, während sie auf dem dunklen, zähen Fleisch herumkaute. »Was verstehst du schon von biltong, Lady Camilla. Ich wette, auf den Partys im Regierungsgebäude gibt es so was nicht.« »Nein. Und wenn meine Mutter sehen würde, dass ich die ses Zeug esse, würde sie mich sofort zum Arzt schleppen, damit er mich auf Wurmbefall untersucht. Anschließend würde sie einen Notfalltermin bei einem Zahnarzt vereinbaren.« Camilla sah ihn durch eine herabfallende blonde Haarsträhne an. »Während du dich im College mit nutzlosen Theorien beschäftigt hast, hat Hannah sich um unsere interkulturelle Bildung gekümmert. Sie bringt uns biltong in die Schule mit. Das gehört zu unserem regulären Carepaket - ebenso wie der Sirupkuchen deiner Mutter. Und nenn mich nicht Lady Camilla. « Piet lehnte sich in den Schatten zurück und betrachtete seine Schwester und ihre Freundinnen. Sie waren sehr verschieden, sowohl was ihr Äußeres als auch ihren familiären Hintergrund betraf. »Die Freundschaft zwischen euch dreien ist schwer für mich zu begreifen«, erklärte er. »In gewisser Hinsicht seid ihr wie Schwestern, und doch trennen euch Welten. Wenn ich euren Gesprächen zuhöre, scheint ihr in einer Art Code zu reden, beinahe so, als ob die eine weiß, was die anderen denken oder tun werden.« »Und das ist noch lange nicht alles«, erklärte Camilla lachend. Schließlich hatten sie zusammen nachsitzen müssen, gemeinsam Preise entgegengenommen, einander bei den Hausaufgaben geholfen, Stürze vom Pferd und Hiebe mit Hockeyschlägern überstanden, ebenso wie Religionsunterricht, Prüfungsangst und Schulbälle. Auch grässliche Jungs, unerfahren und pickelig oder aalglatt und darauf erpicht, sich einen Vorteil zu verschaffen, mit dem sie dann in einer Umkleidekabine prahlen konnten. »Du hast einiges verpasst, als du in Südafrika warst, Piet. Und letztes Jahr hast du sogar Sarahs Einladung ausgeschlagen, uns an der Küste zu besuchen, weil du mit so aufregenden Dingen beschäftigt warst, wie Rugby zu spielen. Eine schlechte Wahl!« »Ich würde Südafrika gern einmal sehen«, meinte Sarah. »Das Land ist wunderschön, aber es gefällt mir nicht, wie man dort mit Afrikaanern und Farbigen umgeht. Es ist ein Polizeistaat, und früher oder später wird es dort Blutvergießen geben «, erklärte Piet bedauernd. »Leider wird man hauptsächlich die Afrikaaner dafür verantwortlich machen. Wir können froh sein, hier in Kenia zu leben, trotz Pas Bedenken, was die Uhuru betrifft. Und es ist unser Zuhause, nicht wahr?« »Wenn man sich vorstellt, dass das alles dein Zuhause ist. Meine Güte, was für ein Erbe.« Sarahs Stimme klang ehrfürchtig. »Unsere Urgroßeltern haben die ganze Farm in dieser Wildnis aus dem Boden gestampft.« Piet deutete auf das Dickicht auf der anderen Seite des Flusses. »Sie lebten in Hütten, die sie sich aus Schlamm und Stroh gebaut hatten, bis sie mit Ochsenkarren Eichenholz und große Zedernstämme heraufschleppen und sich daraus Häuser bauen konnten. Dann übernahmen ihre Söhne und Enkel ihre Arbeit und schufteten wie Sklaven, um das zu schaffen, was wir heute haben. Ich werde der Nächste sein, und es gibt hier so viel zu tun.« »Was zum Beispiel?«, fragte Sarah erstaunt. »Alles scheint bereits perfekt zu sein. Aber das kommt wahrscheinlich daher, dass dein Vater ständig daran arbeitet.« »Eine Farm bleibt nicht einmal einen Tag lang im selben Zustand. Aber ich will mich nicht nur mit Pa gemeinsam um das Vieh und den Weizen kümmern, sondern einen Teil der Farm in ein Naturschutzgebiet für das Wild umwandeln. Er findet das eine gute Idee.« »Du meinst, eine Art Nationalpark?« Sarah starrte ihn an. »Wie willst du das machen? Du kannst das Gebiet ja nicht einzäunen, oder?« »Nein. Das wäre am Anfang zu kostspielig. Aber wir würden das Abschießen und Jagen aller Tiere in diesem Gebiet verbieten, selbst zur Nahrungsbeschaffung. Einen Teil der nördlichen Ebene und den Wald an der Westseite der Farm möchte ich nur für die Tiere reservieren. Dort gibt es jede Menge - Leoparden, Büffel, Elefanten, Savannenwild. Selbst Bongos, obwohl sie so scheu sind, dass man sie im Wald fast nie zu Gesicht bekommt. Ich werde einige unserer Arbeitskräfte zu Wildhütern und Rangern ausbilden. Und ich möchte eine Art Ausguck bauen, wo man nachts Tiere beobachten kann. Wie von einem Baumwipfel aus, aber nichts Großes. Ich will nicht, dass sich hier Menschenmassen tummeln und die Gegend kaputtmachen. « »Ich werde eine Klinik eröffnen«, verkündete Hannah.
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Er war über zwei Stunden gelaufen, und nun ging sein Atem stoßweise und keuchend. Sein Körper war schweißgebadet. Rinnsale liefen ihm an der Brust hinunter über verkrustetes Blut. Sie rannen unter die Perlenbänder an seinen Armen und Handgelenken, die Kupferreifen an den Beinen und den ledernen Lendenschurz, sein einziges Kleidungsstück. Aus dem Busch drangen von allen Seiten Geräusche von Tieren auf der Jagd nach Beute. Durch die afrikanische Nacht hallte das laute heisere Brüllen eines Löwen, der nach seiner Gefährtin rief, und das irre Kichern einer Hyäne. Aus der Ferne ertönte das Stampfen einer Büffelherde, die von ihren Weidegründen zum Fluss trabte. Der Krieger nahm nichts davon wahr. Er hörte nur seinen röchelnden Atem, der heftig ein- und ausströmte, und den Schrei, der immer noch in seinen Ohren klang. Auf dem Schlachtfeld hätte sich nur einer befinden sollen, ein Mann, der schrie und um Gnade winselte. Aber er war bis zum Schluss stumm geblieben. Nur sein Blick hatte die Verachtung für seinen Henker verraten, bis der Krieger dieses Verdammnisurteil nicht länger ertragen konnte und es m it seinem blutigen Messer für immer auslöschte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so viel Blut fließen würde oder dass er den schweren, süßlichen Geruch die ganze Zeit über in der Nase haben würde. Sein gesamter Körper schien danach zu stinken, als er davonrannte. Gewiss konnte ihn jedes Raubtier im Busch riechen. So wie die Hyäne mit dem übel riechen den Atem und dem verfilzten, getüpfelten Fell. Angezogen von dem Geruch des Todes und der Aussicht auf Fleisch und Knochen, war sie durch den Busch herangeschlichen. Er hätte es zulassen sollen, dass die Hyäne die Frau tötete. Mit ihrem Erscheinen hatte er nicht gerechnet. Sie konnte sich nicht wehren. In dem Moment, als er sah, wie sie begriff und ihre Augen sich weiteten, hatte die Hyäne zum Sprung angesetzt. Er hatte seinen Speer geworfen, hatte gesehen, wie die Waffe traf und das Tier stürzte. Dann fiel die Frau zu Boden, und als sie aufschrie, wusste er, was sie gesehen hatte. Auch er konnte es sehen, ganz gleich, in welche Richtung er seinen Kopf drehte. Die Leiche des Manns lag ausgestreckt auf der Erde, Arme und Beine weit gespreizt, die Genitalien abgeschnitten und in den stummen, vor Schmerz aufgerissenen Mund gesteckt, der Bauch aufgeschlitzt, sodass seine Eingeweide auf den Boden quollen, die Augenhöhlen blicklos in der Dunkelheit dem Mond zugewandt. Noch lange Zeit nachdem er von dem Opferplatz geflohen war, sah der Krieger dieses Bild vor sich und hörte das Schreien. Er hatte seinen Speer im Nacken der Hyäne stecken lassen und sich in den umliegenden Busch geschlichen, wobei er seine Spuren auf die Art verwischte, wie sein Volk es tat. Bald schon würden Fährtensucher hinter ihm her sein und von der Hügelkette aus Ausschau nach Zeichen halten, die ihnen verrieten, in welche Richtung er sich gewandt hatte. Zuerst war er von einer wilden Begeisterung erfüllt gewesen - er hatte sich unbesiegbar gefühlt. Seine Suche war erfolgreich gewesen, er hatte seinen Schwur erfüllt. Er spürte die Wirkung des bhang, des Marihuanas, das er vor dem Ritual zu sich genommen hatte. Noch immer jagte es durch seinen Körper und ließ farbenprächtige, geheimnisvolle Szenen vor seinen Augen entstehen. Er empfand keine Schmerzen, als er die Luft tief in seine glühende Kehle sog. Sie brannte in seinen Lungen, um dann pfeifend und mit schäumendem Speichel vermischt durch seine zusammengepressten Zähne wieder hinauszufahren. Sein Herz pochte heftig und übertönte die Geräusche hinter ihm, die er nur noch als entferntes Summen wahrnahm. Er erreichte dichtes Unterholz und lief an dessen Rand entlang, um dann auf einen felsigen Vorsprung zu klettern, wo seine Verfolger seine Fußspuren verlieren würden. Nun ging er den Weg langsam zurück, wobei er in seine eigenen Fußstapfen trat, bis er zu einem anderen Abschnitt des Buschwerks gelangte. Ohne auf die Dornen zu achten, ging er in die Hocke und schlüpfte in das Dickicht. Die Droge verschaffte ihm einen anderen Blickwinkel, so als befände er sich in großer Höhe und könne sich selbst unter den Büschen kriechen sehen, in wellenförmigen Bewegungen wie eine Schlange, bis er an der anderen Seite des dichten Unterholzes auftauchte. Seine Haut war zerkratzt, und das hervorquellende Blut vermischte sich mit dem Blut seines Opfers, das seinen Körper bedeckte. Er machte keinen Versuch, es abzuwischen. Er hatte sich bewährt, hatte den Feind getötet. Der große Gott Kirinyaga war jetzt sicher beschwichtigt. Er hatte die Geister seiner Vorfahren versöhnlich gestimmt und den Geist seines Vaters besänftigt. Er richtete sich auf, drehte sich um und verschwand im Wald. Dabei achtete er darauf, die Trampelpfade der Tiere zu umgehen. Auf einer von der Hügelkette weit entfernten Lichtung blieb er stehen, zufrieden, weil er seine Spuren zur Genüge verwischt hatte. Seine Hände zitterten, als er den kleinen Lederbeutel von dem Lederriemen an seiner Hüfte löste, etwas von dem dunklen Pulver auf die Handfläche klopfte und es tief in beide Nasenlöcher sog. Der erneute Adrenalinstoß war so heftig, dass sein Körper erzitterte. Wieder setzte er sich in Bewegung und lief mit großen Schritten durch die Nacht, hinaus aus dem Wald und am Rand der Steppe entlang zu seinem nächsten Zufluchtsort. Noch zweimal blieb er stehen, um sich einen weiteren Energieschub aus dem Lederbeutel zu holen. Doch dann war alles aufgebraucht, und der Weg zu seinem Ziel war noch weit.
Die Schreie in seinem Kopf waren wieder da. Blitzartig auftauchende Erinnerungen behinderten seine Sicht und ließen ihn auf dem unebenen Boden stolpern. Der Blutgestank des toten Mannes war in seine Lungen eingedrungen. Ihm war, als ob er mit jedem Atemzug den Tod seines Opfers einatmete. Jetzt nahm er um sich herum Gestalten im Schatten wahr. Hyänen. Sie liefen hinter ihm her. Verfolgten ihn. Er glaubte, sie ebenfalls riechen zu können, aber es konnte auch der Gestank des Tieres sein, das er mit dem Speer getötet hatte. Oder der üble Geruch des Opferbluts, das durch die Hitze seines eigenen Körpers geronnen war. Einen Moment lang meinte er in einiger Entfernung vor sich ein Feuer aufflackern zu sehen. In seiner Einbildung bewegten sich Figuren in dem roten Licht, und in seinen Nasenlöchern hing der Gestank von verbranntem Fleisch. Er schlug einen Haken, denn er wollte nicht sehen, wer das Feuer entfacht hatte oder was dort verbrannte. Das Bild verblasste. Langsam schwand die Dunkelheit, und in dem Übergang zwischen Nacht und Dämmerung, wo die Welt grau und verschwommen erschien, wusste er nicht mehr genau, was Wirklichkeit war und was nicht. Er befürchtete, dass er unfreiwillig in die Welt der Geister gelangt war und den Weg zurück nicht mehr finden würde. Er hätte die Hyäne nicht töten sollen. Sie war gekommen, um den Geist des Mannes zu verschlingen, und er hatte sie von ihrem Dienst abgehalten. Die Hyäne und der Tote wanderten auf dem Pfad der Geister. Sie suchten ihn. Sie witterten das Blut an seinem Körper. Panik stieg in ihm auf, und er beschleunigte seinen Schritt. Ein Zweig schlug ihm ins Gesicht. Er spürte, wie sein Kopfschmuck herunterfi el, doch er widerstand dem Drang, stehen zu bleiben und ihn aufzuheben. Er war jetzt ein wahrer Krieger, gleichgültig, ob er den Kopfschmuck aus Federn und Perlen trug oder nicht. Er hörte, wie ein zweiter Schrei den ersten übertönte. Er begriff, dass dieser aus seinem eigenen Mund kam, als er das Feuer wieder sah. Dieses Mal war es direkt vor ihm. Und es war echt. Daneben stand ein Mann und häutete mit einem panga, einem großen Messer mit flacher Klinge, einen Buschbock. Der Krieger sah die Klinge im Feuerschein blitzen. Keuchend blieb er stehen. Niemand durfte ihn sehen, niemand durfte wissen, dass er auf seinem Weg hier vorbeigekommen war. Der Mann wich zurück und starrte ihn erschrocken an. Ein Jäger. Er hatte Reisig gesammelt und ein Feuer entfacht, um sich vor den wilden Tieren zu schützen, doch nun stand er einem viel gefährlicheren Feind gegenüber. Neben ihm auf der Erde lag ein kurzer Speer. In seiner Panik bückte er sich, um ihn aufzuheben, als der Krieger ihn mit gefl etschten Zähnen ansprang und mit seinem Messer zum ersten Mal zustach. In der Ferne jaulten und kicherten die Hyänen, riefen sich gegenseitig die Neuigkeit zu. Hier floss Blut. Bald würde es ein Festmahl geben. Als die ersten Lichtstrahlen die Landschaft erhellten, zeigten sie sich. Die Luft war erfüllt von ihrem Geknurre und Gezänk, dem Geräusch schnappender Kiefer und knackender Knochen, als sie ihre Zähne in den frischen Kadaver gruben.
Kapitel 1
Kenia, Juli 1957
Die Schulglocke läutete, doch das Mädchen blieb in der Auffahrt stehen. Früher oder später würde man sie vermissen. Und dann würde es wieder Ärger geben. Aber vielleicht würde der Wagen auch durch das Tor fahren, bevor man ihr Fehlen bemerkte, und dann war alles gut. Während des ganzen Morgens hatte sie durch das Fenster des Klassenzimmers Ausschau gehalten, bis man sie getadelt hatte. Nach dem Unterricht war sie die Auffahrt hinuntergeschlichen und hatte einen Platz gesucht, wo man sie von den Schulgebäuden nicht sehen konnte. Es war ein strahlender Nachmittag. Nach den Wolkenbrüchen am Tag zuvor segelten nur wenige Wölkchen hoch oben an dem verwaschenen blauen Himmel. Vielleicht hatten der Regen und die schlammigen Straßen die Fahrt verzögert. Sarah Mackay hielt den Blick fest auf die ungeteerte Straße gerichtet. Die rote Erde war immer noch feucht, und die blauen Eukalyptusbäume, die die Straße säumten, schwankten und zitterten im Wind. Sie liebte diese Wächter des Plateaus mit der silberfarbenen Borke, die hier in 2400 Metern über dem Meeresspiegel wuchsen. Nachts wisperten und seufzten sie, wenn sie in ihrem schmalen Bett im Schlafsaal lag und davon träumte, an der Küste zu sein, daheim in Mombasa, fast fünfhundert Meilen entfernt. Nach dem Ruf der Glocke hatte sich der Spielplatz geleert. Ein merkwürdiges Gefühl der Verlassenheit überkam sie, als hätte sich die Welt rasch ohne sie weitergedreht und sie würde sie nie wieder einholen können. Vielleicht würde sie jahrhundertelang in einer Zeitfalle festsitzen und auf ein Auto warten, das niemals kommen würde. Sie hatte die stämmige Figur und das zerzauste Erscheinungsbild ihres Vaters geerbt. Ihre Kleidung wirkte immer zerknittert, gleichgültig, was sie damit anstellte. Sarah begann zu singen, um ihr Unbehagen zu unterdrücken. Sie war ein kräftiges Mädchen mit einem runden Gesicht und haselnussbraunen Augen und ziemlich klein für ihre dreizehn Jahre. Das Singen half ihr, Kummer und Einsamkeit zu verdrängen, bis sie nichts mehr davon spürte. Sie wusste, dass sie ein Naturtalent war. Manchmal sang sie bekannte Lieder, aber oft dachte sie sich eine Melodie und einen geheimen Text dazu aus, nur für sich selbst. Es war wie Fliegen - man wusste nie, ob man bei der nächsten Zeile tief sinken, in die Höhe schießen oder auf einer dieser langen, beglückenden Noten landen würde, die man als perfektes Ende empfand. Doch dieses Lied wollte sich einfach nicht auflösen. Also brach sie ab und ahmte den Ruf einer Golddrossel nach, die am Rand der Auffahrt in einer Akazie saß. Erfreut hörte sie, dass der Vogel ihr mit einem Pfiff antwortete. Doch er weigerte sich, das Schwätzchen fortzusetzen, und flog davon, um Jagd auf Insekten zu machen. Sie sprach gern mit Tieren. Insgeheim lächelnd führte sie eine imaginäre Unterhaltung mit einem Warzenschwein und stieß dabei einige Grunzlaute aus. Der Sonne sank. In der abendlichen Kühle wehte der Geruch eines Feuers heran, das für die Nacht angefacht wurde. Allmählich wurde Sarah hungrig. Die Straße hinter der Schule erstreckte sich meilenweit durch Weizenfelder bis zu der dunklen Baumlinie am Rand der Klippe. Wenn sie ausritt, beugte sie sich gern aus dem Sattel herab und sammelte Samen und Beeren ein. Später flocht sie dann mit einem Draht ein Armband oder eine Halskette daraus. Ihre selbst gebastelten Schmuckstücke waren sehr gefragt. Im Augenblick arbeitete sie an einem Geburtstagsgeschenk für ihre beste Freundin. Sarah mochte Camilla Broughton-Smith, obwohl sie immer alles im Griff hatte, im Unterricht zu den Besten gehörte und äußerst umschwärmt war. Ihr Vater war ein wichtiger Mann und ebenfalls sehr beliebt. Vielleicht lag das in der Familie. Sie waren zur gleichen Zeit ins Internat gekommen, und an diesem ersten Abend war Sarah untröstlich gewesen und hatte stundenlang geweint, nachdem der Wagen ihrer Eltern am Ende der langen Auffahrt verschwunden war. In den folgenden Tagen hatte sich das Gefühl der Einsamkeit noch verstärkt. Die anderen Mädchen hatten sich über ihr Heimweh lustig gemacht und über den gekürzten Saum ihrer Schuluniform und die neuen, viel zu stark glänzenden Schuhe gespottet. Camilla war ihr zu Hilfe gekommen, hatte die Möchtegern-Tyrannen verächtlich abgefertigt, ihr angeboten, bei den Hausaufgaben zu helfen und ihr etwas von ihrer beeindruckenden Wochenendgarderobe zu leihen. Camillas Füller lief niemals aus, nie verschmierte er ihre Finger oder ihre Schulbluse. Ihre Hefte waren so ordentlich wie ihr Schrank. Probleme, die andere zum Weinen brachten, tat sie beiläufig ab. Manchmal sagten die Lehrer, dieses Mädchen sei für ihr Alter unnatürlich hart, und wenn diese Fassade eines Tages zerbräche, würde das verheerende Folgen haben. Sarah wünschte, sie hätte ebenfalls eine so harte Schale mitbekommen. Sie sah zu dem sich verdunkelnden Himmel hinauf. Wenn nach dem Tee jemand losgeschickt würde, um sie zu suchen, würde sie in großen Schwierigkeiten stecken. Das konnte ebenso schlimm werden wie an dem Tag, als sie eine Ringelnatter gefunden und im Klassenzimmer freigelassen hatte. Hannah van der Beer hatte sie verraten. Sie hatte zu Sarah hinübergesehen und die Hand vor ihren breiten, lachenden Mund geschlagen, als Schwester Evangelis kreischend von ihrem Stuhl aufgesprungen war. Hannah mit ihrem dichten fl achsfarbenen Haar, der lauten Stimme und dem breiten Akzent. Insgeheim beneidete Sarah das afrikaanse Mädchen um ihre überhebliche Art. In ihrer Gegenwart bekam man Minderwertigkeitskomplexe und fühlte sich wie ein Schwächling. Die Buren, hatte ihr ihre Mutter erklärt, waren Menschen holländischer Abstammung aus Südafrika. Sie waren zur Jahrhundertwende hergekommen, mit ihren Planwagen bis in das Hochland Kenias gezogen und hatten dort im Buschland ihre Farmen angelegt. Sarahs Gedanken schweiften ab, als sie in der Ferne eine Staubwolke entdeckte. Ein Auto näherte sich. Ihre Aufregung wuchs zu einem überwältigenden Glücksgefühl, als der Wagen, ein Komet mit einem Schweif aus Staub, in Sichtweite kam. Ja! Der graue Mercedes verlangsamte die Fahrt und bog in die Auffahrt ein. Ihr Gesicht strahlte, ihre Augen glänzten. Sie breitete die Arme aus, als sie ihrer Mutter entgegenlief. Sie hatte die Stunden gezählt, die die Fahrt von Nairobi hierher dauern würde, wo Betty Mackay die letzte Nacht verbracht hatte. Die Schule lag auf halbem Weg zwischen ihrem Zuhause an der Küste und der Hauptstadt Ugandas, wo ihr Vater Raphael an einer Ärztekonferenz teilnahm. Sarah hatte die Erlaubnis erhalten, zwei Nächte bei ihrer Mutter im Country Club zu verbringen und wie eine Tagesschülerin morgens zur Schule zu kommen. Genau wie Hannah van der Beer. »Mum! Mum!«, rief sie ihrer Mutter zu. Der Wagen hielt. Die Tür öffnete sich, und jemand stieg aus. Sarah blieb verwirrt stehen. Das war nicht ihre Mutter. »Mum?« Die Sonne blendete sie, und sie konnte nicht erkennen, wer diese Person war. Die Stimme, die ihr antwortete, war von dem breiten Akzent Südafrikas gefärbt. »Ich fürchte, ich bin wohl nicht die Richtige, Liebes. Ich bin Hannah van der Beers Mutter. Weißt du, wo sie steckt? Ich komme zu spät, um sie abzuholen.« Peinlich berührt bemerkte Sarah, dass Hannah bereits auf das Auto zukam. Der Wagen sah aus wie der der Mackays, nur dass er ein anderes Nummernschild und eine Beule im vorderen Kotflügel hatte. War das Burenmädchen schon hier gewesen, als sie unbekümmert vor sich hin gesungen und kindische Tierlaute ausgestoßen hatte? Sarah lief purpurrot an. Wie konnte sie das nur ungeschehen machen? Sie begann etwas zu murmeln und bemühte sich, nicht in Tränen auszu brechen. »Es tut mir Leid. Meine Mutter kommt heute. Von der Küste. Von zu Hause. Sie hat einen Wagen der gleichen Marke. Ich dachte, Sie wären sie. Ich meine, ich dachte, sie wäre Sie ...« Sarah war so beschämt, dass sie weder Mrs. van der Beer noch ihrer Tochter in die Augen schauen konnte. Sie rannte die Auffahrt zu den Schulgebäuden hinauf. In dem viereckigen Innenhof lehnte sie sich gegen eine Wand, ein Häufchen Elend. Hannah würde allen erzählen, was geschehen war. Und die ganze Klasse würde über sie lachen. Da war sie sich sicher. Aber wenn man überleben wollte, durfte man niemandem zeigen, dass man verletzt war - niemals. Das war Regel Nummer eins. Jemand stand neben ihr und redete auf sie ein. »Hörst du mich? Ich habe dich überall gesucht«, wiederholte Camilla Broughton-Smith. »Wo warst du?« »Ich habe auf der Auffahrt gewartet.« Sarah versuchte, ihre lähmende Niedergeschlagenheit abzuschütteln. »Deine Mutter hat angerufen. Ein Stein hat die Windschutzscheibe ihres Wagens zerbrochen. Sie lässt sie in Nakuru reparieren und wird morgen Mittag hier sein. Na, komm schon! Meine Güte, davon geht die Welt nicht unter!« Sarah zwang sich zu einem Lächeln. Sie konnte nicht erklären, warum sie so deprimiert war. Denn eigentlich verstand sie es selbst nicht. Sie hatte sich zum Narren gemacht, und morgen würde sich Hannah van der Beer köstlich über ihre Eigenheiten amüsieren. Vielleicht sollte sie allen von ihrem beschämenden Irrtum erzählen und versuchen, ihn mit einem Lachen abzutun. Verzweifelt starrte sie Camilla an und zuckte dann die Schultern. »Danke für die Nachricht. Ich sollte jetzt besser meine Hausaufgaben machen.«
Der graue Mercedes fuhr durch die Tore der Klosterschule. Hannah van der Beer beobachte, wie die Spielwiesen und die blauen Eukalyptusbäume im Farbenspiel von Licht und Himmel wie ein Stillleben am Fenster vorbeizogen. Sie dachte an Sarah Mackay, die vor Publikum singen und tanzen konnte, gut zeichnete, die Laute jedes Tieres nachahmen konnte, wenn sie wollte, und mit ihren Händen wunderschöne Dinge bastelte. Und ich bin ein großes, vorlautes afrikaanses Mädchen mit Schuhgröße 39, dachte Hannah. Ich weiß, dass alle mich hinter meinem Rücken yaapie nennen. Niemand sieht mich als Italienerin, wie Ma. Carlotta van Beer stammte aus einer italienischen Familie in Johannesburg, aber ihr Mann war Afrikaaner und nannte sie immer Lottie. Hannah drehte den Kopf und betrachtete das geradlinige Profil ihrer Mutter, das dunkle, zu einem Kno ten aufgesteckte Haar, die sonnengebräunten aufgerauten Finger, die das Lenkrad umfassten. Sarah Mackays Mutter war blond und hübsch. Sie trug schöne Kleider und hatte zarte Hände, denen man ansah, dass sie sicher keine Hausarbeit verrichtete. »Wer war das?«, fragte Lottie. »Ein Mädchen aus meiner Klasse.« »Kommt sie von weit her?« »Mombasa. Sie haben ein Haus an der Küste«, antwortete Hannah. Sie konnten von ihrem Garten aus direkt an einen weißen Sandstrand mit Palmen gehen. Einmal hatten die van der Beers Urlaub am Meer gemacht, und Hannah wäre am liebsten nie wieder nach Hause zurückgekehrt. »Das ist ein weiter Weg.« Lotties Stimme klang nachdenklich. »Es muss schwer sein, wenn man so weit weg von zu Hause ist. Wäre es nicht nett, sie an einem Wochenende zum Mittagessen einzuladen?« »Was? Du meinst, wir sollten sie auf die Farm einladen? Zum Mittagessen bei uns?« Hannah war Tagesschülerin. Eigentlich eine Außenstehende. Sarah wohnte im Internat, und ihre Eltern kamen aus England oder vielleicht aus Irland - jedenfalls aus Europa. Das war etwas ganz anderes. Die Afrikaaner hatten wenig Kontakt zu britischen Kolonialbeamten oder den englischen Farmern. Und ihr Bruder würde Sarah vielleicht hänseln oder irgendeinen Unfug treiben, wenngleich ihn ihre Imitationen von Tierlauten sicher beeindrucken würden. Allerdings hatte Sarah selbst einen Bruder, also wäre das wohl nicht so schlimm. Aber wenn die Farm in ihren Augen zu primitiv war, würde sie das allen in der Klasse erzählen, und Hannah wäre mehr denn je eine Außenseiterin. Sie seufzte. Was für eine schwierige Entscheidung! »Na?« Lottie war erstaunt über das lange Schweigen ihrer Tochter. »Was hältst du davon?« »Ich denke, wir könnten sie fragen. Aber ich bin nicht sicher, ob sie kommen wird.« In den folgenden drei Wochen suchte Hannah nach einer Gelegenheit, um ihre Einladung auszusprechen. Aus irgendeinem Grund redete Sarah Mackay kaum mit ihr und schien sie sogar zu meiden. In Wahrheit hatte Hannah unter den Internatsschülerinnen keine richtige Freundin, obwohl sie schon seit zwei Jahren die Klosterschule besuchte. Diese Mädchen schienen aus einer Welt zu kommen, in der die Tochter eines afrikaansen Farmers der dritten Generation nichts zu suchen hatte. Sie stammten aus Familien, deren Wurzeln in weit entfernten Orten wie London oder Dublin lagen, oder irgendwo in den so genannten »Home Counties«. Alle waren auf Landsitzen oder in Stadthäusern aufgewachsen und würden irgendwann dorthin zurückkehren. Schließlich, an einem späten Nachmittag, entdeckte Hannah Sarah im Kunstsaal, wo sie gerade allein eine Kohlezeichnung fertig stellte. »Das ist gut, Sarah! Ich wünschte, ich könnte so gut zeichnen.« »Das stimmt noch nicht ganz.« Stirnrunzelnd beugte sich Sarah über das Papier. Ihre Wange war mit Kohle verschmiert, und ihre Hände fuhren ungeduldig über die Zeichnung, während sie sich mühte, die Schattierungen mit den Fingerspitzen besser herauszuarbeiten. »Zeichnest du gern Landschaften? Ich meine, im Buschland, mit Bäumen und Tieren, wie bei uns auf der Farm.« »Eigentlich nicht.« Sarah sah nicht einmal auf. »Zurzeit konzentriere ich mich auf Porträts, wie du siehst.« Hannah fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Sie würde eine andere Gelegenheit finden müssen, um ihre Einladung auszusprechen. Manchmal fragte sie sich, warum man sie überhaupt auf die Klosterschule geschickt hatte. Alle anderen Töchter der afrikaansen Farmer besuchten die Kikoma Schule, die Mädchen und Jungen aufnahm und in keiner Hinsicht religiös geprägt war. Hannah erinnerte sich, wie sie im Wohnzimmer von ihrem Lieblingsplatz am Fenster aus, verborgen hinter den schweren Vorhängen, die Diskussion belauscht hatte. »Das ist etwas anderes, Jan«, hatte Lottie sehr bestimmt erklärt. »Bei Piets Erziehung hattest du das Sagen. Er besuchte die Kikoma-Schule und hat sich dort gut gemacht. Er ist stark und klug und sehr selbstständig. Aber Hannah ist nicht so, auch wenn sie äußerlich so wirkt. Und ich bin kein Afrikaaner wie du. Ich möchte, dass unsere Tochter mit verschiedenen Arten von Menschen verkehrt, damit sie etwas anderes kennen lernt als die engstirnige Denkungsart deiner düsteren holländischen Reformisten.« »Piet ist nicht engstirnig. Und auch nicht düster.« »Er verbringt seine gesamte Freizeit mit uns.« Lottie tat seine Worte mit einer ungeduldigen Geste ab. »Du darfst nicht vergessen, dass Piet fünf Jahre lang ein Einzelkind war, bis Hannah zur Welt kam. Er genoss all unsere Aufmerksamkeit, und wir sind aufgeschlossener als viele unserer Nachbarn. « »Also können wir auch Hannah zu einem aufgeschlossenen Menschen erziehen. Ohne unsere ganzen Ersparnisse für diese Schule auszugeben.« »Nein, Janni. Für Hannah ist die Klosterschule die beste Wahl. Die Nonnen vermitteln den Mädchen eine Erziehung, die sie in Kikoma nicht erhalten würde. Alle bezeichnen diesen Ort als heifer boma, als Koppel für Kühe, und ich fürchte, sie haben Recht.« »Deine Freundin Katja van Rensburg sollte besser nicht hören, wie du von ihren Töchtern sprichst.« Jan lachte. Seine Frau war wunderschön, wenn sie sich aufregte. Ihre olivenfarbige Haut färbte sich rosig, und das italienische Temperament blitzte in ihren Augen auf, wenn sie gestenreich ihren Standpunkt bekräftigte. »Es ist ein Internat, Lottie. Du willst doch sicher nicht, dass Hannah dort wohnt, obwohl ihr Zuhause nur zehn Meilen entfernt liegt?« »Nein, natürlich nicht. Sie nehmen auch Tagesschülerinnen auf. Es gibt ungefähr zwanzig aus der Stadt, die ...« »Das sind Töchter von Regierungsbeamten und Ärzten und all diesen Geschäftsleuten und englischen Farmern. Ich weiß ja, dass du mit einigen ihrer Frauen befreundet bist. Aber unsere Familie ist anders.« Jan sog an seiner Pfeife. »Es wird ihr schwer fallen, sich in der Klosterschule einzuleben. Alle gehören irgendwo anders hin. Vor allem in diesem Alter. Hannah wird nicht den Rest ihres Lebens mit Briten oder mit deinen Verwandten in Johannesburg verbringen. Sie ist eine Afrikaanerin, und ich möchte, dass sie stolz darauf ist.« »Sie sollte sich bei beiden Seiten ihrer Familie wohl fühlen, Janni, und später im Leben die Freiheit der Wahl haben.« Lottie küsste ihn auf die Stirn. »Ich bin dafür, dass sie diese Klosterschule besucht. Das wünsche ich mir. Bitte melde sie an und begleite mich zu einem Gespräch mit der Mutter Oberin. Das ist fürs Erste alles, was ich will.« »Woher sollen wir das Geld nehmen?«, fragte Jan. »Die Klosterschule ist sehr teuer. Wir müssten einen Teil unserer Ersparnisse dafür aufwenden. Und wenn eine Trockenperiode kommt oder unser Vieh von der Rinderpest befallen wird? Oder wenn wir einen neuen Traktor brauchen? Was dann?« »Unsere Tochter ist wichtiger als ein neuer Traktor«, erklärte Lottie. »Wir können ihr nicht die bestmögliche Schulausbildung vorenthalten, weil wir uns vor irgendwelchen Dingen fürchten, die vielleicht niemals eintreffen werden.« Jan beschloss, nachzugeben und Zeit zu sparen. »Du kannst die Vereinbarungen selbst treffen. Ich werde nicht irgendeiner Mutter Oberin meine Aufwartung machen. Für mich ist die Sache erledigt.« Zwei Jahre später war Hannah überzeugt, dass ihr Vater wohl Recht gehabt hatte. Sie gehörte nicht in die Klosterschule, wo sie immer noch keine richtigen Freundinnen gefunden hatte. Doch in Sport war sie hervorragend. An einem Nachmittag während der Schulmeisterschaften in Hockey konnte sie damit glänzen: Sie schoss vier der fünf Tore für ihr Team und brachte es so an die Spitze der Liga. Damit war sie der Star des Tages. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung und Glück gerötet, als das Match zu Ende war. Dann kam Sarah Mackay, um ihr zu gratulieren, und plötzlich fasste sie sich ein Herz und sprudelte die Worte heraus, die sie so oft in Gedanken geübt hatte. »Das war gutes Teamwork, Sarah. Ah, da ist meine Mutter. Sie möchte wissen, ob du an einem Wochenende zu uns zum Mittagessen kommen möchtest.« Als sie hastig ihre Einladung hervorstieß, tauchte gerade Camilla Broughton-Smith auf. »Und du auch, Camilla.« Hannah konnte kaum glauben, was sie da sagte. Aber wenn sie beide einlud, war die Chance größer, dass sie kommen würden. »Was? Ich auch? Übrigens, Glückwunsch. Du hast hervorragend gespielt. Das hat diese Gänse von der Oberschule glatt aus ihren schmutzigen Söckchen gehauen.« Camilla schlang ihren weißen Arm um Sarahs Schultern.
»Meine Mutter würde euch gern zum Mittagessen einladen. Nächstes Wochenende. Na ja, an irgendeinem Wochenende. Ich meine, wenn ihr wollt.« Hannahs Mut verflog rasch, und ein schmerzliches Gefühl der Verlegenheit überkam sie. Hätte sie doch niemals davon angefangen! Sarah Mackay starrte sie mit offenem Mund an. »Eine wunderbare Idee!« Camilla gab ihrer Freundin einen Schubs. »Natürlich kommen wir sehr gern. Nicht wahr, Sarah? Ich war noch nie auf einer Farm in dieser Gegend. Habt ihr Kühe und Schafe? Und Pferde?« »Ma, das ist Sarah Mackay.« Hannah hatte das Gefühl, dass sie die Sache jetzt durchziehen musste. »Erinnerst du dich noch? Du hast sie bereits kennen gelernt. Und Camilla Broughton- Smith. Sie würden beide gern zum Mittagessen kommen. Wie du vorgeschlagen hast.« »Gut. Ich werde gleich mit Schwester Evangelis darüber sprechen. « Lottie lächelte ihre Tochter an. »Wie wäre es kommendes Wochenende? Falls es euch Mädchen passt. Wir könnten grillen, wenn das Wetter mitspielt. Und Piet wird auch da sein. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr eure Badeanzüge mitbringen. Bei uns gibt es eine Stelle, wo man schwimmen kann, aber ich warne euch - das Wasser ist kalt.« Langani Farm war seit 1906 im Besitz der van der Beers - dem Jahr, in dem die Familie in Kenia angekommen war. Sie hatten ihre Planwagen von Südafrika auf dem Schiff hierher gebracht. In der Ansammlung von Hütten, aus der später die Stadt Nairobi entstehen würde, kauften sie ein Gespann undressierter Ochsen und einige Grundnahrungsmittel, bevor sie sich auf den Weg in die Wälder des Hochlands machten. Mit den schweren Möbelstücken und dem Hausrat kämpften sie sich nach oben. In der dünner werdenden Luft fiel ihnen das Atmen schwer, während sie sich durch glitschigen Schlamm schleppten, der bei jedem Schritt nachgab. Manchmal mussten sie sich ihren Weg durch dichte Vegetation bahnen. Zitternd ertrugen sie bittere Kälte, Nebel und Regen, um das Land der Verheißung und die ihnen zugeteilten Morgen zu erreichen. Jahrelang hatten sie mit der groben Erde gekämpft und versucht, dem kargen Boden eine neue Ernte abzuringen. Sie hatten gelitten, wenn Tiere starben, der Rostpilz ihren Weizen befiel, Dürrezeiten oder Wolkenbrüche über sie hereinbrachen oder Heuschrecken über die reifen Felder herfielen und die Ernte zu einem unerfüllbaren Traum wurde. Doch Zähigkeit lag den Afrikaanern im Blut. Langsam und mit der für sie typischen Unnachgiebigkeit machten sie das Land urbar und formten ihre Welt. Sarah würde nie vergessen, wie sie zum ersten Mal Lotties Garten auf Langani Farm sah. Das Haus war lang gestreckt und niedrig, mit dicken Steinwänden und hohen Kaminen. Das schräge Wellblechdach wurde von steinernen Säulen gestützt, um die sich Geißblatt und Bougainvillea rankten. Von der tief liegenden Veranda überblickte man einen samtigen Rasen und leuchtende, geschwungene Blumenbeete, doch hinter den liebevoll gepflegten Bäumen und Büschen lagen offenen Felder mit vereinzelten Dornenbäumen, auf denen sich Herden von Zebras, Giraffen, Gazellen, Elefanten und Büffeln tummelten. Nur eine geschnittene Hecke trennte den Garten von der Wildnis, ein schwaches Bollwerk zum Schutz vor dem wuchernden Busch und den Raubtieren. In der Ferne hinter der Ebene ragten die schneebedeckten Gipfel des Mount Kenya glitzernd in den Himmel. Bei diesem ersten Besuch auf der Farm grillte Jan van der Beer mittags unter den Bäumen für sie, und dann fuhr Lottie sie zum Fluss. Das Wasser war tatsächlich eiskalt - es kam direkt von den schmelzenden Schneegipfeln der Berge. Sarah kreischte, als sie sich waghalsig vom Ufer in das Becken unter dem Wasserfall stürzte. Hannah stand auf der sicheren Böschung und lachte, als Sarah nach Luft rang und heftig ruderte, um ihre erstarrten Gliedmaßen aufzuwärmen.
»Wir haben dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören«, rief Hannah. »Steh nicht einfach herum und kichere wie ein Pavian, sondern komm ins Wasser, wenn du das so lustig findest. Und du auch, Camilla. Du kannst doch nicht nur im Gras liegen und so tun, als wärst du ein Filmstar.« Hannah kletterte die Böschung hinunter, als eine andere Stimme ertönte. »Kommt schon, ihr Zimperliesen. Rein mit euch, sonst werde ich euch Beine machen, und zwar schnell!« Piet van der Beer, groß und schlaksig, erschien am Ufer und streifte sein khakifarbenes Hemd und seine Stiefel und Socken ab. Mit einem Schrei sprang er von der Böschung und klatschte mit angezogenen Knien in den Fluss. Wenige Sekunden später tauchte er neben Sarah auf und schüttelte sich das Wasser von der Haut. Er fuhr sich mit sonnengebräunten Fingern durch das blonde Haar und grinste sie an. Durch ihren ausgekühlten Körper strömte Wärme. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie sich ihrer kleinen Brüste unter dem Badeanzug von der Klosterschule bewusst, und ihrer etwas zu molligen Arme und Beine. Er blinzelte ins Licht und zwinkerte ihr zu. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Ein Augenblick der Offenbarung, der ihr Leben für immer verändern sollte.
Kapitel 2
Kenia, November 1962
Das leise, rhythmische Krächzen der Ochsenfrösche verstummte abrupt beim Geräusch von Sarahs Schritten und setzte sofort wieder ein, als sie stehen blieb, um die kalte Luft des Hochlands einzuatmen. Langsam sank die afrikanische Sonne am Horizont, und sie lehnte sich auf der Veranda gegen einen Pfosten, um diesem majestätischen Schauspiel zuzusehen. Der Generator tuckerte in einem langsamen Crescendo und sorgte dafür, dass die Lampen im Haus aufleuchteten. Wie immer brach die Dunkelheit ganz plötzlich herein, und die ersten verstreuten Sterne blitzten auf. Der Duft des Nachtjasmins und der Rauch des brennenden Holzes überdeckten den Geruch des Tages nach Staub und Eukalyptus- bäumen. Hinter dem Schutzwall in Lotties Garten hörte sie das hohe Wiehern eines Zebras. Stimmen und Gelächter mischten sich in der hereinbrechenden Nacht mit dem Zirpen der Grillen und dem Quaken der Frösche. In den Unterkünften des Personals ertönte schwach und blechern afrikanische Musik aus einem Radio. Sie ging zurück in ihr Schlafzimmer und stellte fest, dass sie als Letzte zum Abendessen erscheinen würde. Als sie von dem Ausritt zurückkam, war sie ganz aufgeregt gewesen. Sie waren am frühen Nachmittag aufgebrochen und in gemächlichem Schritt durch ein Palisanderwäldchen geritten. Die lavendelfarbenen Blüten bildeten auf der Erde einen Teppich, der sich zwischen den Hufen der Pferde wirbelnd wendete. Jenseits der Bäume zitterten dürre Grashalme in der weißen flirrenden Hitze. Eine Zeit lang blieben sie am Rand der Ebene stehen und warteten, bis ihre Augen sich an das gleißende Licht gewöhnt hatten. Dann winkte Piet sie heran, und sie galoppierten an den Grenzen der Stammesreservate in den glühenden Nachmittag hinein. Auf den Hängen verstreut lagen die shambas der Farmarbeiter. Die kleinen terrassenförmig angelegten Gärten waren mit Mais bepflanzt. In jeder boma befand sich eine Ziegenherde, und auf den Lichtungen vor den Hütten scharrten Hühner- scharen gackernd auf der trockenen, harten Erde. Frauen in farbenprächtigen kangas hockten auf dem Boden und zerstampften Mais zu posho, dem Grundnahrungsmittel. Nackte Kleinkinder wälzten sich beim Spielen im Staub. Hunde mit Ringelschwänzen blinzelten mit einem Auge in die grelle Nachmittagssonne und knurrten halbherzig. Die glutheiße Luft trug den Gesang von Frauenstimmen heran. »Man hört die Babys selten schreien«, meinte Sarah. »Nur wenn sie krank sind.« »Sieh sie dir an.« Piet fuhr mit seiner Reitgerte durch die Luft. »Entweder sind die totos auf dem Rücken ihrer Mütter festgebunden, oder sie werden vorne getragen, sodass ihre Münder sich direkt vor den Brüsten befinden. Sie haben keinen Grund zu weinen. Wann immer sie trinken möchten, brauchen sie nur die Leitung anzuzapfen.« Er lachte laut auf, als er bemerkte, dass seine Wortwahl Sarah peinlich war. »Das ist wohl nicht die passende Ausdrucksweise für euch behütete Klosterschülerinnen, was? Nichts für ungut, aber wenn man auf einer Farm lebt, ist das Füttern der Kleinen ein ganz natürlicher Teil des Tagesablaufs, ganz gleich, ob sie zwei oder vier Beine haben.« Er trieb sein Pferd an, und sie preschten in wildem Galopp über die karge Ebene. Hier und da erhoben sich Ameisenhügel aus dem Gras. Eine Herde Thomson-Gazellen wedelte beim Herannahen der Pferde nervös mit dem Schwanz, jagte über das Buschland davon und verschwand in der flimmernden Hitze. Aus dem hohen Gras tauchte ein Straußenmännchen tauchte auf und lief vor ihnen her. Seine schwarzen Federn glänzten in der Sonne, und er befand sich so nah vor Sarah, dass sie seine Wimpern und die Stoppeln an seinem blassen Hals erkennen konnte, bevor er ins Unterholz floh. Sie ritt ebenso schnell wie Piet. Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten. Das Donnern der Hufe und der Geruch der roten Erde und der wilden Gräser berauschten sie. Sie ließen Hannah und Camilla zurück und sausten über die Ebene, bis sie schließlich in einer Staubwolke am Rand eines Wäldchens zum Stehen kamen. Piet beugte sich vor und packte die Zügel von Sarahs Pferd. Dann schob er den Hut zurück und sah sie an, atemlos und in die Nachmittagssonne lächelnd. Seine Bewunderung war offensichtlich. »Guter Ritt, Mädchen. Nicht wie meine Schwester oder Lady Camilla. Die schlafen auf ihren Pferden beinahe ein. Du bist eine gute Reiterin, das steht fest.« »Wir reiten immer mit Hannah aus, wenn wir das Wochenende hier verbringen.« Sarah konnte ihre Freude über seine Bemerkung nicht verbergen. »Aber mit dir macht es mehr Spaß. Wenn uns der Stallbursche begleitet, dürfen wir keinen solchen Galopp hinlegen. Und dein Vater lässt uns nicht allein ausreiten.« »Pa ist für euch verantwortlich, wenn ihr euch nicht unter den Fittichen der Nonnen befindet. Er kann euch nicht allein auf dem bundu herumrasen lassen. Außerdem ist Kipchoge ein guter Mann für einen Ausritt.« »Ja, aber trotzdem ist es ohne ihn schöner.« Sarah warf ihm einen Seitenblick zu, in der Hoffnung, ein weiteres Lächeln zu erhaschen. »Wir sind schon miteinander ausgeritten, als wir noch totos waren. Sein Vater war Pas erster Stallknecht. Früher ritt er für Lord Delamere die Pferde zu und trainierte sie, aber nach den Rennen betrank er sich regelmäßig. Als man ihn feuerte, kam er nach Hause, saß herum und sah zu, wie seine Frauen auf seiner shamba die Arbeit erledigten. Jetzt herrscht er wie ein Despot über die Stallungen, aber eigentlich kümmert sich vor allem sein ältester Sohn Kipchoge um die Pferde.« »Und meint er, dass er nach der Unabhängigkeit einen eigenen Stall besitzen wird?«, fragte Sarah. »Die neuen Politiker erzählen den Leuten offenbar, dass sie alles kriegen können, was die Weißen besitzen, sobald die Briten das Land verlassen haben.« »Ich glaube nicht, dass Kipchoge viel von den Politikern hält. Die meisten sind Kikuyu. Er ist ein Nandi, und zwischen den Stämmen herrscht ohnehin ein tief verwurzeltes Misstrauen. Meiner Meinung nach wird es hier mehr Probleme zwischen den Stämmen als zwischen den verschiedenen Rassen geben. Die Weißen werden den Schwarzen nur langsam Macht und Eigentum überlassen. Kipchoge und ich sind zusammen aufgewachsen, er ist beinahe wie ein Bruder für mich. In unserer Generation werden Schwarze und Weiße zusammenarbeiten, um ein neues Land zu erschaffen.« »Und was hält dein Vater von dieser Idee?«, fragte Sarah listig. »Pa hat altmodische Ideen, aber ein gutes Herz«, erwiderte Piet lächelnd. »Er hat immer nur Afrikaner kennen gelernt, die keine Ausbildung und kein Interesse an der Bewirtschaftung einer Farm hatten. Allerdings glaube ich, dass er insgeheim optimistisch ist, trotz seiner düsteren Vorhersagen.« Er drehte sich im Sattel um und fuhr mit dem Arm durch die Luft. »Hier ist die Grenze unseres kleinen Besitzes. Wenn du möchtest, können wir morgen wieder ausreiten, nur wir beide, am frühen Morgen, bevor meine Schwester und Lady Camilla aus den Federn kommen. Lass uns zum Fluss hinunterreiten und die Pferde tränken.« Piet führte sie vorbei an Dornenbäumen, in deren Zweigen runde Nester von Webervögeln schaukelten. Sarah, die neben ihm ritt, befand sich in einem tranceartigen Glückszustand. Sie betrachtete die goldenen Haare auf seinen Unterarmen, lauschte dem breiten Tonfall seiner von Afrikaans gefärbten Stimme und fand es wunderschön, wie sie sich mit dem leisen Wiehern der Pferde, dem Knarren des Sattelleders und dem Zirpen der Heuschrecken vermischte. Unter der Krone eines Dornenbaums stiegen sie von den Pferden. Piet holte ein Päckchen aus seiner Satteltasche und zog ein Messer aus seinem Gürtel. »Wir können aus dem Fluss trinken. Das Wasser kommt direkt vom Mount Kenya und ist so sauber und klar, wie man es sich nur wünschen kann. Und ich habe biltong mitgebracht, das Pa und ich getrocknet und geschnitten haben.« Sie bespritzen sich die Gesichter, schöpften mit den Händen das eiskalte Wasser und schlürften es gierig. Die Pferde tranken ausgiebig, schnaubten zufrieden und zogen sich dann zum Grasen an das Flussufer zurück. Piet legte sich in den Schatten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sarah und Hannah setzten sich mit verschränkten Beinen neben ihn. Camilla lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm und streckte auf vorteilhafte Weise ihre langen Beine aus. »Ziemlich salzig«, meinte sie und verzog das Gesicht, während sie auf dem dunklen, zähen Fleisch herumkaute. »Was verstehst du schon von biltong, Lady Camilla. Ich wette, auf den Partys im Regierungsgebäude gibt es so was nicht.« »Nein. Und wenn meine Mutter sehen würde, dass ich die ses Zeug esse, würde sie mich sofort zum Arzt schleppen, damit er mich auf Wurmbefall untersucht. Anschließend würde sie einen Notfalltermin bei einem Zahnarzt vereinbaren.« Camilla sah ihn durch eine herabfallende blonde Haarsträhne an. »Während du dich im College mit nutzlosen Theorien beschäftigt hast, hat Hannah sich um unsere interkulturelle Bildung gekümmert. Sie bringt uns biltong in die Schule mit. Das gehört zu unserem regulären Carepaket - ebenso wie der Sirupkuchen deiner Mutter. Und nenn mich nicht Lady Camilla. « Piet lehnte sich in den Schatten zurück und betrachtete seine Schwester und ihre Freundinnen. Sie waren sehr verschieden, sowohl was ihr Äußeres als auch ihren familiären Hintergrund betraf. »Die Freundschaft zwischen euch dreien ist schwer für mich zu begreifen«, erklärte er. »In gewisser Hinsicht seid ihr wie Schwestern, und doch trennen euch Welten. Wenn ich euren Gesprächen zuhöre, scheint ihr in einer Art Code zu reden, beinahe so, als ob die eine weiß, was die anderen denken oder tun werden.« »Und das ist noch lange nicht alles«, erklärte Camilla lachend. Schließlich hatten sie zusammen nachsitzen müssen, gemeinsam Preise entgegengenommen, einander bei den Hausaufgaben geholfen, Stürze vom Pferd und Hiebe mit Hockeyschlägern überstanden, ebenso wie Religionsunterricht, Prüfungsangst und Schulbälle. Auch grässliche Jungs, unerfahren und pickelig oder aalglatt und darauf erpicht, sich einen Vorteil zu verschaffen, mit dem sie dann in einer Umkleidekabine prahlen konnten. »Du hast einiges verpasst, als du in Südafrika warst, Piet. Und letztes Jahr hast du sogar Sarahs Einladung ausgeschlagen, uns an der Küste zu besuchen, weil du mit so aufregenden Dingen beschäftigt warst, wie Rugby zu spielen. Eine schlechte Wahl!« »Ich würde Südafrika gern einmal sehen«, meinte Sarah. »Das Land ist wunderschön, aber es gefällt mir nicht, wie man dort mit Afrikaanern und Farbigen umgeht. Es ist ein Polizeistaat, und früher oder später wird es dort Blutvergießen geben «, erklärte Piet bedauernd. »Leider wird man hauptsächlich die Afrikaaner dafür verantwortlich machen. Wir können froh sein, hier in Kenia zu leben, trotz Pas Bedenken, was die Uhuru betrifft. Und es ist unser Zuhause, nicht wahr?« »Wenn man sich vorstellt, dass das alles dein Zuhause ist. Meine Güte, was für ein Erbe.« Sarahs Stimme klang ehrfürchtig. »Unsere Urgroßeltern haben die ganze Farm in dieser Wildnis aus dem Boden gestampft.« Piet deutete auf das Dickicht auf der anderen Seite des Flusses. »Sie lebten in Hütten, die sie sich aus Schlamm und Stroh gebaut hatten, bis sie mit Ochsenkarren Eichenholz und große Zedernstämme heraufschleppen und sich daraus Häuser bauen konnten. Dann übernahmen ihre Söhne und Enkel ihre Arbeit und schufteten wie Sklaven, um das zu schaffen, was wir heute haben. Ich werde der Nächste sein, und es gibt hier so viel zu tun.« »Was zum Beispiel?«, fragte Sarah erstaunt. »Alles scheint bereits perfekt zu sein. Aber das kommt wahrscheinlich daher, dass dein Vater ständig daran arbeitet.« »Eine Farm bleibt nicht einmal einen Tag lang im selben Zustand. Aber ich will mich nicht nur mit Pa gemeinsam um das Vieh und den Weizen kümmern, sondern einen Teil der Farm in ein Naturschutzgebiet für das Wild umwandeln. Er findet das eine gute Idee.« »Du meinst, eine Art Nationalpark?« Sarah starrte ihn an. »Wie willst du das machen? Du kannst das Gebiet ja nicht einzäunen, oder?« »Nein. Das wäre am Anfang zu kostspielig. Aber wir würden das Abschießen und Jagen aller Tiere in diesem Gebiet verbieten, selbst zur Nahrungsbeschaffung. Einen Teil der nördlichen Ebene und den Wald an der Westseite der Farm möchte ich nur für die Tiere reservieren. Dort gibt es jede Menge - Leoparden, Büffel, Elefanten, Savannenwild. Selbst Bongos, obwohl sie so scheu sind, dass man sie im Wald fast nie zu Gesicht bekommt. Ich werde einige unserer Arbeitskräfte zu Wildhütern und Rangern ausbilden. Und ich möchte eine Art Ausguck bauen, wo man nachts Tiere beobachten kann. Wie von einem Baumwipfel aus, aber nichts Großes. Ich will nicht, dass sich hier Menschenmassen tummeln und die Gegend kaputtmachen. « »Ich werde eine Klinik eröffnen«, verkündete Hannah.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Barbara Keating, Stephanie Keating
Barbara und Stephanie Keating sind in Kenia aufgewachsen. Barbara lebt heute in Irland, Stephanie in Frankreich.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Barbara Keating , Stephanie Keating
- 848 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650581
- ISBN-13: 9783863650582
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