Himmel über Ostpreußen
Schicksalsjahre einer Familie. Originalausgabe
Königsberg, Ostpreußen, Mitte des 9. Jahrhunderts: Tanya wächst bei Aglaia auf, der Tochter von Horst Graf von Wallerstein und seiner Gattin Wilhelmine. Tanya spürt, dass ihre Tante Wilhelmine sie hasst. Woher kommt diese Abneigung? Hat Wilhelmine ein Geheimnis?
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Produktinformationen zu „Himmel über Ostpreußen “
Königsberg, Ostpreußen, Mitte des 9. Jahrhunderts: Tanya wächst bei Aglaia auf, der Tochter von Horst Graf von Wallerstein und seiner Gattin Wilhelmine. Tanya spürt, dass ihre Tante Wilhelmine sie hasst. Woher kommt diese Abneigung? Hat Wilhelmine ein Geheimnis?
Klappentext zu „Himmel über Ostpreußen “
Unbeschwert wachsen die Cousinen Aglaia und Tanya auf dem prachtvollen Landgut Wallerstein auf. Lange Ausritte sommers über saftige Wiesen, winters über glitzernde Schneefelder, rauschende Feste, fröhliche Nachmittage mit Bergen an Kuchen. Doch in Tanyas Vergangenheit gibt es ein dunkles Geheimnis, das sie einzuholen droht, als ihr Verlobter Selbstmord begeht und sie mit ihrem ungeborenen Kind zurücklässt ...
Lese-Probe zu „Himmel über Ostpreußen “
Himmel über Ostpreußen - Schicksalsjahre einer Familie von Maja Schulze-Lackner 1848
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Sehr früh war in diesem Jahr der Winter über Ostpreußen hereingebrochen. Innerhalb von ein paar Stunden war das Thermometer um 10 Grad gefallen. Obwohl erst Anfang November, versank das Land bereits im Schnee, und der eisige Ostwind trug dazu bei, dass kaum jemand Lust verspürte, die schützenden Mauern des Schlosses zu verlassen. Die Tag und Nacht von den Dienern befeuerten Kamine hatten Mühe, die hohen, weiten Räume ausreichend zu heizen. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich die dicken Mauern erwärmt hatten und man sich im ganzen Schloss bewegen konnte, ohne ständig zu frieren. Die behaglichsten Zimmer waren die nicht allzu große Bibliothek, der Lieblingsraum des Schlossherrn, Horst Graf von Wallerstein, und der grüne Salon, ein mit Biedermeiermöbeln aus hellem Kirschholz eingerichteter Raum. Auf pastellfarbenen Smyrner-Teppichen standen mehrere Sitzgruppen, zierliche Stühle und Sessel, die mit beige-hellgrün gestreifter Seide bezogen waren. Vor dem großen Kamin gruppierten sich Sofas und Sessel und überall Tischchen mit Nippes, Silberschalen und üppigen Blumenarrangements aus dem schlosseigenen Treibhaus. Die hohen, von resedafarbenen Ripsportieren eingerahmten Fenster boten freien Blick auf den herrlichen, tief verschneiten Park. An den mit hellgrüner Seide bespannten Wänden hingen in Pastell gemalte Landschaftsbilder in ovalen Goldrahmen.
Kurt, der Diener, war gerade dabei, den Teetisch vor dem Kamin zu decken, als Aglaia, die einzige Tochter der Wallersteins, mit ihrer Cousine Tanya von Ahlfeld in das Zimmer stürmte. Beide Mädchen hatten leuchtend rote Backen. »Puh, ist das kalt«, sagte Tanya und hielt ihre klammen Hände über das prasselnde Feuer. »Kaum bin ich angekommen, zerrst du mich schon hinaus in die eisige Kälte. Morgen setze ich keinen Fuß vor die Tür.«
»Ach, stell dich nicht so an«, sagte Aglaia lachend. »Ein bisschen frische Luft hat noch keinem geschadet.« An den Diener gewandt fügte sie hinzu: »Wo ist meine Mutter, schläft sie noch?« Sie zählte die Tassen auf dem Teetisch. »Warum deckst du für fünf, bekommen wir Besuch?«
»Ja, die Frau Gräfin erwartet die Frau Kommerzienrat Heller und die Baronin von Welsen.«
»O Gott!« Die beiden jungen Mädchen rollten die Augen. »Bitte, Kurt, servier uns den Tee in der Bibliothek«, bat Aglaia. »Papa kommt ja erst morgen aus Berlin zurück.«
»Is jut, mach ich«, sagte Kurt schmunzelnd »werd man noch tüchtich einheizen drüben, is ja bastich kalt heute.«
Aglaia senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Weißt du was, Cousinchen? Wir werden den beiden alten Schabracken höflich guten Tag sagen und uns dann nach drüben verdrücken.«
»Tante Wilhelmine wird das aber gar nicht recht sein«, sagte Tanya zweifelnd. »Du weißt doch, wie viel Wert sie darauf legt, dass wir mit ihren Freundinnen gepflegte Konversation machen. Hast du etwa Mademoiselle Claude vergessen?«
»O Gott, nein, wie könnte ich! Wenn ich an die denke, packt mich immer noch das kalte Grausen.« Ihre Mutter hatte eines Tages die Idee gehabt, zusätzlich zum Privatlehrer eine Gouvernante einzustellen. »Die Mädchen müssen anständige Manieren lernen«, hatte sie ihrem Mann mitgeteilt. »Aglaia treibt sich ja nur noch im Stall herum oder reitet stundenlang über die Felder. Mich umweht hier von morgens bis abends dieser scheußliche Stallgeruch. Und Tanya vergräbt sich mit ihren Büchern in ihrem Zimmer.«
»Und was ist daran auszusetzen?«, hatte der Graf gefragt. »Sie sind doch noch Kinder.«
»Daran auszusetzen ist, dass sie einfach kein Benehmen haben. Wenn Gäste da sind, verdrücken sie sich, anstatt sich gesittet an der Unterhaltung zu beteiligen.«
»Wahrscheinlich langweilen sie sich«, lachte der Graf, »und ehrlich gesagt, bei einigen deiner Freundinnen kann ich das auch verstehen.«
Allen Einwänden zum Trotz wurde eine Gouvernante eingestellt. Ein ältliches, vertrocknetes Fräulein ohne jeglichen Humor, ein Musterbeispiel ihres Berufsstandes sozusagen. Sie war immer in Schwarz gekleidet, nur ein täglich frisches weißes Spitzenkrägelchen hellte die Trostlosigkeit ein wenig auf. Auf dem schütteren, zu einem Knoten gezurrten Haar, saß eine kleine Haube und auf der spitzen Nase ein Zwicker. Sie aß mit bei Tisch und gab den Mädchen ständig Anweisungen wie: »Aglaia, halt dich bitte gerade.« - »Man isst die Suppe etwas zierlicher, Tanya, man sollte den Löffel nicht hören.« - »Meine Güte Aglaia, wie kann man die Kartoffeln nur so unfein zerdrücken?« - »Eine vollendete Dame wischt sich den Mund nicht ab wie ein Kutscher, Tanya. Sie tupft sich nur zart die Mundwinkel mit der Serviette.« So ging es in einem fort. Vor allem ihre Ordnungsliebe brachte die Mädchen oft zur Verzweiflung. »Man lässt keine Bücher aufgeschlagen herumliegen, Tanya.« - »Aglaia, die Reitgerte gehörte in den Stall. Würdet ihr euch bitte langsam Ordnung angewöhnen.«
Die herrlichen freien Nachmittage waren jetzt vollgestopft mit Unterricht im Sticken und Klavierspiel. Eines Tages meinte sie: »Heute werden wir Übungen zur Konversation machen. Eine gepflegte Unterhaltung ist lebensnotwendig für eine junge Dame.« Mademoiselle Claude hatte sich da etwas ausgedacht, auf das sie ganz besonders stolz war, das ihr allerdings zum Verhängnis werden sollte. Im großen Salon wurden auf verschiedenen Sesseln Puppen platziert, die Schilder um den Hals trugen mit Namen aus dem Bekanntenkreis der Wallersteins. »Ihr kennt diese Herrschaften ja alle«, begann sie streng. »Nun versucht einmal, euch mit ihnen zu unterhalten. «
Die Mädchen saßen sprachlos da. Dann begannen sie zu kichern. Das war ja wohl der Gipfel der Blödheit!
»Nun, dann fangen wir mal mit der Kommerzienrätin Heller an. Aglaia, möchtest du beginnen?« Die Augen der Gouvernante funkelten böse, und ihr schmaler Mund war zu einem Strich zusammengepresst. Aglaia saß trotzig da, die Arme über der Brust verschränkt. »Mit der doofen Heller will ich nicht reden. Die strickt ja immer nur.«
»Und du, Tanya? Wie ist es mit dir?«
Tanya überlegte fieberhaft, was sie die Kommerzienrätin fragen könnte, dann sagte sie leise: »Was wird das denn da, Frau Heller, vielleicht ein Schal?«
Aglaia prustete los. »Das ist doch wirklich zu blöd«, rief sie, »nein, so was Dummes.« Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Vor Zorn bebend holte die Gouvernante ein Stöckchen aus ihrer Tasche und gab Aglaia damit einen Schlag auf die Hand. Die schrie laut »Aua!« und sah die Gouvernante entsetzt an. Noch nie hatte sie jemand geschlagen. Dann brach sie in Tränen aus. In dem Moment betrat der Graf den Salon.
»Was um Gottes willen machen Sie denn da, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« Auf seiner Stirn schwoll eine dicke Ader, ein sicheres Zeichen außergewöhnlichen Zorns.
»Ich versuche den beiden jungen Damen im Auftrag ihrer Gattin Manieren beizubringen«, antwortete sie spitz.
»So, hat meine Frau Ihnen auch aufgetragen, sie zu schlagen? « Er bebte vor Wut.
»Nun, nicht so direkt ...«
»Sie verlassen auf der Stelle das Schloss«, befahl er, jetzt wieder ganz beherrscht. »Man wird Ihnen in der Verwaltung Ihr Gehalt bis Monatsende auszahlen.« Das war das jähe Ende der Ära Mademoiselle Claudes.
Zu Aglaias und Tanyas Erleichterung wurde keine neue Gouvernante angestellt. Stattdessen mussten sie, als sie alt genug waren, die Schule für Höhere Töchter der Leonie von Quasten besuchen - darauf hatte Aglaias Mutter Wilhelmine bestanden.
»Ach Tanyachen, mach dir man um Mama keine Gedanken«, sagte Aglaia jetzt. »Ich werde sie bitten, uns zu entschuldigen. Schließlich bist du ja gerade erst aus Königsberg zurückgekommen. « Aglaia brannte darauf, den neuesten Klatsch aus der Großstadt zu erfahren. Sie war gerade achtzehn geworden, nicht ganz zwei Jahre älter als ihre Cousine und hatte ihre Ausbildung dort bereits vor einiger Zeit beendet.
»Danke, Kurt.« Aglaia lächelte den Diener dankbar an, als er den Salon verließ, um in der Bibliothek einzuheizen. Im Hinausgehen hielt er die Tür auf für Wilhelmine von Wallerstein. »Ah, da bist du ja wieder, Tanya«, begrüßte sie ihre Nichte kühl.
»Ja, Tante Wilhelmine«, sagte Tanya und küsste mit einem tiefen Knicks die Hand ihrer Tante. »Ich bin froh, wieder zuhause zu sein.«
»Nun, ich erwarte, dass Fräulein von Quasten dir anständige Manieren beigebracht hat. Wie ist dein Zeugnis? Ich hoffe ...«
»Aber Mamachen!«, fiel ihr Aglaia ins Wort. »Du weißt doch, Tanya ist viel klüger und viel braver als ich. Ihr Zeugnis ist hervorragend.«
»Du sollst so etwas doch nicht sagen.« Flehend sah Tanya ihre Cousine an. Sie wusste, ihre Tante schätzte es gar nicht, wenn sie irgendetwas besser konnte als Aglaia.
»Nun zeig es doch Mama, Tanya.«
Zögernd reichte Tanya Wilhelmine das weiße, mit goldener Schrift beschriebene Büttenpapier. Achtlos legte die es auf den Teetisch. »Ich werde es mir später ansehen. Ach, ich höre schon die Stimme der Baronin - nehmt ihr den Tee mit uns?«
»Nein, Mamachen«, sagte Aglaia schnell. »Ich habe Tanya so lange nicht gesehen. Wir gehen rüber in die Bibliothek. Du bist doch nicht böse?«
Die Baronin betrat von der Frau Kommerzienrat gefolgt den kleinen Salon. Beide wurden von Wilhelmine überschwänglich begrüßt. Die beiden Mädchen küssten den Damen die Hand, und nach ein paar belanglosen Worten verschwanden sie nach nebenan.
Aglaia und Tanya konnten unterschiedlicher nicht sein. Aglaia war groß, mit breiten, geraden Schultern, einem üppigen Busen und einer schlanken Taille. Das bildschöne Gesicht wurde von großen dunklen Augen mit dichten langen Wimpern beherrscht. Die braunen Locken waren mit Schildpattkämmchen achtlos nach oben gesteckt, und ihre vollen roten Lippen entblößten beim Lachen eine Reihe makelloser, perlweißer Zähne. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, die sie wohl ihrem steten Verlangen nach frischer Luft verdankte. Wann immer das Wetter es erlaubte, ritt sie stundenlang über die Felder, und auch jetzt trieb sie sich so oft sie konnte im Stall herum, striegelte ihre Lieblingsstute Hortensie und verwöhnte sie mit Möhren oder Zucker.
Tanya dagegen war genau das Gegenteil. Klein und zart, glich sie einer Madonna. Die tizianroten Haare waren in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem dicken Zopf geflochten, sodass sie die zierlichen Ohren fast verdeckten. Ihre Haut war alabasterfarben, und die grüngrau gesprenkelten Augen blickten meist melancholisch. Doch auch die entzückende kleine Nase und der herzförmige zartrosa Mund, ihre ganze Anmut und Lieblichkeit, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das junge Mädchen nicht glücklich war. Nur hin und wieder begleitete sie Aglaia bei ihren Ausritten. Sie fürchtete sich ein wenig vor den großen Tieren, die ihr unheimlich waren. Lieber las sie Bücher, die Bibliothek ihres Onkels war ja unerschöpflich. Oder sie schrieb heimlich Gedichte, die sie aber nicht einmal Aglaia zeigte.
Die beiden jungen Mädchen verband ein Geheimnis. Schon als kleines Kind war Aglaia äußerst neugierig gewesen. Ihr war aufgefallen, dass der oberste Stock des Schlosses nie benutzt wurde, selbst wenn das Haus voller Gäste war. »Was ist da, Papachen?«, fragte sie eines Tages ihren Vater. »Da oben ist es immer so still?«
»Dort hat mein Onkel Archibald, der Bruder deines Großvaters, gelebt«, antwortete er. »Er hat jeden Abend mit seinem Teleskop die Sterne beobachtet. Der Himmel über Ostpreußen war das Einzige, was ihn am Ende noch interessierte. Wir haben alles so gelassen, wie es nach seinem Ableben war. Aber gut, dass du mich daran erinnerst. Gelegentlich möchte ich die Räume ausleeren lassen.«
Aglaias Neugierde war geweckt. Ein paar Tage später hatten sich die Mädchen die Erlaubnis erbeten, im selben Zimmer zu schlafen. Es war eine sternenklare Nacht, und irgendwann rief Aglaia leise: »Tanya, schläfst du schon?«
»Nein, noch nicht so ganz«, flüsterte diese. »Was ist, kannst du nicht schlafen?«
»Steh auf, wir wollen heute auch mal die Sterne beobachten wie Großonkel Archibald!«
Tanya rieb sich schlaftrunken die Augen. »Das dürfen wir bestimmt nicht. Wenn Tante Wilhelmine ...«
»Ach, du weißt doch, Mama geht immer früh zu Bett. Niemand wird uns hören.« Leise öffnete Aglaia die Tür. Kein Laut war zu vernehmen. »Nun komm!« Sie nahm Tanya fest bei der Hand. »Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir.« Barfuß stiegen sie vorsichtig die Treppe hinauf. Wenn eine Stufe knarzte, blieben sie mit klopfendem Herzen stehen. Aber niemand schien sie zu hören, und so gingen sie leise weiter. Die oberen Türen waren unverschlossen. Fahles Mondlicht beschien die mit großen weißen Tüchern verhüllten Möbel. Es roch modrig und verstaubt, und Spinnen hatten riesige Netze gespannt.
»Das ist fürchterlich gruselig.« Tanya zitterte am ganzen Leib. »Sieh nur die Bilder an den Wänden. Die Augen verfolgen uns mit ihren Blicken.«
»Ach Unsinn«, sagte Aglaia forsch, obwohl ihr das alles auch nicht ganz geheuer war, »das sind bloß unsere Ahnen, die sind schon ewig lange tot. Na ja, manchmal sollen sie im Schloss spuken, sagt Kurt.«
Tanya erstarrte. »Ich will hier sofort weg. Ich will wieder in mein Bett!« Sie schlotterte vor Angst.
»Nun stell dich nicht so an.« Aglaia sprach nun in normaler Lautstärke. »Ich glaube nicht an Gespenster. Und sieh mal, dahinten, das muss das Fernrohr von Großonkel Archibald sein.« Sie zog ihre zitternde Cousine mit sich, und tatsächlich, da stand es, das Wunderding, leicht verstaubt, aber noch völlig intakt.
In dieser Nacht eröffnete sich den beiden Mädchen eine neue Welt. Sooft sie konnten, schlichen sie nach oben und betrachteten staunend den Himmel. War einmal für längere Zeit schlechtes Wetter, fieberten sie der Nacht entgegen, wenn es endlich wieder klar und ihre Sterne wieder zu sehen waren. Sie hatten gehört, dass sie alle Namen hatten, aber aus Angst, entdeckt zu werden, wagten sie niemanden danach zu fragen.
Eines Abends, sie saßen dicht beieinander und blickten hinauf in das geheimnisvolle Weltall, sagte Aglaia: »Ich glaube, Tanya, es gibt nichts Schöneres auf der Welt als den Himmel über Ostpreußen.«
Tanya nickte schweigend. Drei der unzähligen Himmelskörper erschienen ihnen besonders strahlend. »Onkel Horst hat einmal gesagt, als ich wieder mal so furchtbar traurig war, meine Mama wäre jetzt ein Engel und wohnte auf einem der Sterne. Sieh mal, Aglaia, der da, ganz links, siehst du ihn? Ich glaube, da sitzt meine Mama und schaut auf mich herunter.« Ganz glücklich sah sie in diesem Moment aus. »Ich werde den Stern Ingewild nennen. So hieß nämlich meine Mama.«
»Ich habe eine Idee, Tanya«, sagte nun Aglaia aufgeregt. »Wir suchen uns jetzt jede einen Stern aus, dem wir unseren Namen geben. Und wenn wir mal voneinander getrennt sein sollten ...«
Verschreckt klammerte Tanya sich an ihre geliebte Cousine.
»Aber du gehst doch nicht weg von mir? Versprich mir das, bitte!«
»Natürlich nicht, du Dummchen«, gab Aglaia altklug zurück, »aber es kann ja mal sein, wenn wir groß sind, und auch nur für kurze Zeit ... Also dann gucken wir immer am Abend um zehn Uhr in den Himmel zu unseren Sternen und denken aneinander. Wollen wir uns das versprechen?«
Tanya nickte ernst. »Ganz fest will ich dir das versprechen.«
»Danke, Kurt.« Aglaia hob die Hand, als der Diener ihnen den Tee einschenken wollte. »Wir brauchen dich nicht mehr. Ich mache das selbst.« Sie konnte es kaum erwarten, endlich mit ihrer geliebten Cousine allein zu sein. »Nun erzähl doch«, fragte sie aufgeregt, »was gibt es Neues?« Es klopfte, und Kurt betrat mit Feuerholz erneut den Raum. Während er sich am Kamin zu schaffen machte, kuschelte sich Tanya in den tiefen russischgrün bezogenen Ledersessel. Sie liebte diesen Raum mit seinen unzähligen Büchern, Erstausgaben so vieler berühmter Dichter und Schriftsteller, den dicken Teppichen und dem großen, mit rotem Safranleder bezogenen Schreibtisch. Dort hatte ihr geliebter Onkel Horst sie oft getröstet, wenn Tante Wilhelmine mal wieder streng und ungerecht mit ihr gewesen war. Als sie ganz klein war, hatte sie sich in ihrem Kummer manchmal in dem Mahagonigehäuse der großen Standuhr versteckt und war nur durch gutes Zureden ihres Onkels dazu zu bewegen gewesen, dieses wieder zu verlassen. Immer hatte er ein liebes Wort für sie. Oft, wenn er sie irgendwo leise weinend fand, hörte sie ihn danach mit seiner Frau schelten. Einmal hatte Tanya gelauscht.
»Was hast du nur gegen das arme Kind. Sie kann doch nun wirklich nichts dafür«, hatte sie ihren Onkel sagen hören.
»Man muss streng mit ihr sein! Manche Dinge vererben sich, dem muss Vorschub geleistet werden«, war die Antwort ihrer Tante gewesen. Tanya hatte keine Ahnung, an was sie schuld sein sollte. Auch was sie geerbt haben könnte, war ihr schleierhaft, und irgendwann vergaß sie das Gespräch. Aber was sie nicht vergessen konnte, war, dass ihre Tante sie hasste.
Aglaias Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Was ist Tan ya? Nun erzähl schon.« Aglaia reichte ihr eine Tasse heißen Tee. »Kurt ist weg. Also, hat dir Egbert einen Antrag gemacht? « Sie blickte ihre Cousine gespannt an. Die Tasse in Tan yas Hand begann heftig zu zittern, und das zarte Porzellan fing an zu klirren. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Nein ...« Sie schwieg.
»Aber warum nicht?«, rief Aglaia aufgebracht. »Seit über einem Jahr macht er dir den Hof. Wir ... ich ... meine Mama rechnet fest mit einer Verlobung.«
»Ich weiß.« Tanya hatte sich wieder gefasst. »Deine Mutter will mich so schnell wie möglich loswerden.«
»Ach Tanyachen ...« Aglaia sprang auf und nahm das unglückliche Mädchen in den Arm. »Mama ist manchmal ein bisschen streng mit dir, ich weiß, aber sie meint es doch nur gut, ganz bestimmt.«
Tanya antwortete nichts darauf. Sie wusste, dass es nicht stimmte. Als Neugeborenes war sie zu den Wallersteins gekommen und zusammen mit Aglaia aufgewachsen. Sie waren wie Geschwister und liebten sich von Herzen. Irgendwann, als sie größer wurde, hatte man ihr gesagt, dass ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen seien und Horst von Wallerstein als einziger Verwandter sich angeboten hatte, sie bei sich aufzunehmen. Er liebte sie und zeigte es ihr auch immer wieder. Aber Wilhelmine lehnte sie ab. Alles hatte Tanya versucht, die Liebe oder wenigstens ein bisschen Zuneigung ihrer strengen Tante zu gewinnen. Aber sie war nur auf eisige Ablehnung gestoßen, und irgendwann gab sie ihre Bemühungen auf. Als sie älter wurde, hatte sie Fragen nach ihren Eltern gestellt, aber immer nur ausweichende Antworten bekommen, und hatte schließlich aufgehört zu fragen.
»Also, was ist los?«, fragte Aglaia erneut. »Habt ihr euch gestritten?«
»Nein. Ich weiß nicht, was los ist. Egbert ist in der letzten Zeit so merkwürdig. Er liebt mich, das weiß ich. Aber er hat anscheinend große Sorgen. Man munkelt in Königsberg, dass seine Familie in finanziellen Schwierigkeiten ist. Sein Vater spielt ... Es geht da wohl um große Summen ... ach, ich weiß nicht.« Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Du meinst, Graf Schlieren hat sein ganzes Vermögen verspielt? « Aglaia blickte ihre Cousine entsetzt an. »Das ist ja furchtbar.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Aber Egbert ist doch Offizier bei den Ulanen. Was hindert ihn daran, dich zu heiraten?«
»Vielleicht, weil ich keine Mitgift bekomme. Ich weiß es nicht! Jedenfalls hat er mich noch nicht gefragt, und ich kann ihm ja schließlich keinen Antrag machen.« Tanya wirkte in ihrem Unglück so klein und zerbrechlich, dass Aglaia versuchte, sie aufzuheitern.
»Nächste Woche beginnt die Saujagd. Egbert kommt bestimmt, jedenfalls war er bisher immer da.« Sie puffte Tanya liebevoll in die Seite. »Komm, sei wieder fröhlich. Es wird bestimmt alles gut. Und jetzt erzähl mal, was in Königsberg so los war.«
Während Aglaia dem harmlosen Klatsch Tanyas lauschte, schoss Wilhelmine im kleinen Salon mit ihrem Stickrahmen in der Hand ihre Giftpfeile ab. »Nun ist Ihre Nichte ja auch mit der Schule fertig«, sagte die Frau Kommerzienrat Heller und lud sich das fünfte Stück Kuchen auf den Teller. »Wird sie weiter bei Ihnen leben?«
»Ich hoffe sehr, dass wir sie bald unter der Haube haben«, antwortete Wilhelmine spitz. »Wir haben sie ja lange genug durchgefüttert.«
Elvira von Welsen sah ihre alte Freundin leicht belustigt an. »Na ja, meine Liebe, die Haare scheint sie euch nun nicht gerade vom Kopf gefressen zu haben. Sie ist ja zart wie ein Grashalm, im Gegensatz zu dir.«
Wilhelmines Gesicht lief rot an.
»Wenn du die paar Pfund meinst, die ich zugenommen habe ... ridicul ist das. Einfach lächerlich, so etwas zu sagen! « Sie fächelte sich mit ihrer Stickerei Luft zu. Die Wechseljahre machten ihr zu schaffen und natürlich die unübersehbare Gewichtszunahme. Sie warf der Elvira von Welsen einen empörten Blick zu. »Du hast gut reden«, fügte sie beleidigt hinzu. »Du bist ja richtig dürr.« Sie schnaufte tief. »Aber schließlich führst du ja auch seit Manfreds Tod keinen großen Haushalt mehr mit ich weiß nicht wie vielen Mahlzeiten. « Der Baron war vor über einem Jahr an einem Herzinfarkt gestorben.
»Sei nicht albern, Wilhelmine«, sagte Elvira, »ich war immer schlank und habe auch die Absicht, es zu bleiben.«
»Nun, was Tanya angeht«, nahm Wilhelmine den verlorenen Faden wieder auf, »weißt du doch, Elvira, was ich meine.«
»Natürlich weiß ich das, meine Liebe. Du kannst das arme Würmchen einfach nicht ausstehen.«
»Du liebe Zeit, das arme Würmchen! Wo wäre sie denn, wenn wir uns ihrer nicht angenommen hätten?« Ihr mächtiger Busen hob und senkte sich. »Gibt es denn schon einen geeigneten Kandidaten?«, fragte Frau Kommerzienrat Heller jetzt, um die gereizte Stimmung zu entschärfen.
»Nun, Egbert Schlieren bemüht sich schon seit einiger Zeit um sie. Erstaunlich, wo sie doch mit keinerlei Mitgift zu rechnen hat. Er ist eine sehr gute Partie, fabelhafte Familie. Offensichtlich scheint ihn die ...«
»Wilhelmine!« Die schneidende Stimme Elviras ließ die Gräfin innehalten. »Überleg dir gut, was du sagst!« Frau Kommerzienrat Heller hörte schlagartig auf zu kauen. Jetzt schien es äußerst interessant zu werden. Eigentlich war es ihr unbequem, sich direkt am Klatsch zu beteiligen, was aber nicht hieß, dass sie sich nicht brennend für all das interessierte. Aber zu ihrem Verdruss wechselte die Gräfin sofort das Thema, und die Kommerzienrätin griff wieder zu ihrem Strickzeug.
»Warst du nicht kürzlich bei deinen Verwandten auf Schloss Birkenau, Elvira?«, fragte Wilhelmine. »Wie geht es denn dem Grafen Kaulitz? Wir haben ihn eine Weile nicht gesehen. Seit dem Tod seiner Frau hat er sich ja sehr zurückgezogen. War es gemütlich? Erzähl doch mal.«
»Es war reizend. Man isst hervorragend. Das Schloss ist neu renoviert und wunderbar eingerichtet, die Diener in Livree, glatt rasiert ...«
»Was, glatt rasiert?«, fiel ihr Frau Kommerzienrat Heller ins Wort »das hätte es in meiner Jugend nicht gegeben!« Ihre Stricknadeln klapperten empört.
»Nun, die Zeiten ändern sich«, lächelte die Baronin amüsiert. »Übrigens geht es Jesko, meinem Cousin - wir sind wirklich nur sehr weitläufig verwandt -, sehr viel besser, seit sein Sohn Eberhard seinen Abschied genommen hat. Er lebt jetzt auf Birkenau und hat die Verwaltung der schlosseigenen Güter übernommen.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Er war ja immer mehr Landwirt als Soldat.«
»Ich weiß, sehr zum Kummer seiner Mutter.« Kommerzienrätin Heller rümpfte die Nase. »Sie liebte ja alles, was mit Militär zu tun hatte. Immer wieder wusste sie zu erwähnen, was für ein hochrangiger und schneidiger Offizier ihr Vater gewesen ist.«
»Eberhards Abschied von den Ulanen war ja wohl nicht ganz freiwillig«, warf Wilhelmine jetzt ein. »Wie gut, dass die Kaulitz das nicht mehr erleben musste.«
Die Kommerzienrätin nickte verständnisvoll, während Elvira laut auflachte. »Alle Welt weiß, dass der arme Junge von seinem Rittmeister erwischt wurde, als er drei Stunden nach dem Zapfenstreich und auch wohl etwas derangiert in seine Garnison zurückkam. Man hätte das als Kavaliersdelikt abtun können, aber dieser Rittmeister hat es an die große Glocke gehängt. «
»Und nun ist der junge Graf degradiert und nur noch Offizier der Reserve. Der ganze Landkreis hat sich ja darüber echauffiert«, fügte Wilhelmine spitz hinzu.
»Eine Schande ist das, eine Schande«, murmelte die Kommerzienrätin.
»Macht euch doch nicht lächerlich!« Elvira war jetzt erbost. Diese Diskussion begann ihr auf die Nerven zu gehen. »Weder Jesko noch Eberhard machten mir einen unglücklichen Eindruck, das scheint mir doch die Hauptsache zu sein. Und solch Geschwätz hat sie noch nie interessiert. Übrigens erwähnte Jesko, dass du sie zu eurer Saujagd eingeladen hast, Wilhelmine. Offensichtlich hat dich diese ›Schande‹ nicht davon abgehalten.« Es machte Elvira höllischen Spaß, ihre Freundin zu ärgern. Sie wusste, wie sehr dieser daran lag, den seit einigen Jahren eingeschlafenen gesellschaftlichen Verkehr mit den von Kaulitz wieder aufleben zu lassen. Schließlich gehörten sie zu den einflussreichsten und größten Grundbesitzern des Landkreises.
Wilhelmine schoss giftige Blicke in Richtung ihrer Freundin. »Man muss auch vergessen können«, sagte sie leichthin. »Was meinst du denn, Elvira, werden sie kommen?« Man sah ihr an, dass sie vor Neugierde platzte.
»Jesko war sich noch nicht ganz sicher«, flunkerte Elvira. Sollte Wilhelmine doch noch ein paar Tage in Ungewissheit schmoren. »Er wird dir eine Note schicken. Übrigens, Eberhard hat sich nach Aglaia und Tanya erkundigt. Er meinte, die entzückenden kleinen Mädchen müssten ja inzwischen bildhübsche junge Damen geworden sein. Er hat sie jahrelang nicht gesehen.«
Ehe Wilhelmine antworten konnte, meinte die Kommerzienrätin, nun doch noch etwas zur Konversation beitragen zu müssen. Unaufhörlich mit ihrem Strickzeug klappernd, sagte sie: »Ihre Mamsell, beste Gräfin, hat mir kürzlich das Rezept für die wunderbare Blaubeermarmelade gegeben. Ich weiß nicht, irgendwie ist sie mir nicht gelungen.«
»Da werden Sie wohl etwas falsch gemacht haben, meine Liebe«, sagte Elvira, sich erhebend. Sie wusste, jetzt würde die Mamsell gerufen, man würde über Blaubeermarmelade palavern, und sie hasste nichts mehr als Gespräche über Kochrezepte.
»Willst du schon gehen?«, fragte Wilhelmine erstaunt.
»Ja, ich muss mich leider verabschieden. Ich habe ganz vergessen, dass mich meine Schneiderin in Insterburg zur Anprobe erwartet.«
»Was, du lässt dir neue Kleider machen?« Wilhelmine sah sie fassungslos an. »Doch wohl nicht etwas Farbiges! Du bist doch in Trauer.«
»Ich bin jetzt über ein Jahr in Schwarz herumgelaufen, und du weißt genau, wie sehr ich um Manfred getrauert habe. Aber nun ist damit Schluss, ob es dir passt oder nicht.« Sie sagte das ganz ruhig, obwohl sie innerlich kochte. »Ich denke nämlich nicht daran, die nächsten zwanzig Jahre als trauernde Witwe zu verbringen, und noch weniger will ich eine dicke Matrone werden ...« Im letzten Moment verkniff sie sich das »wie du«.
Ächzend versuchte die Gräfin, sich aus ihrem Sessel zu erheben, um ihre Freundin zu verabschieden.
»Lass nur, Wilhelmine, bleib sitzen. Ich finde schon allein hinaus. Bis bald und auf Wiedersehen, Frau Kommerzienrat.«
Der Wind hatte nachgelassen, und durch eine Wolkenlücke schimmerte die blasse Sonne hervor. Fest in ihre Felldecke gewickelt, genoss Elvira von Welsen die Fahrt durch die verschneite Landschaft. ›Schrecklich, diese alte Heller‹, dachte sie, ›was Wilhelmine bloß an ihr findet?‹ Aber eigentlich, wenn sie es recht bedachte, war ihre alte Freundin auch nicht viel besser als die Kommerzienrätin. Was war nur aus der ›schönen Wilhelmine‹ ihrer Jugend geworden? Elviras Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Sie und Wilhelmine waren gleich alt, seit ihrer Kindheit befreundet und hatten alle Geheimnisse miteinander geteilt. Ihre Eltern hatten miteinander verkehrt, später besuchten sie beide dasselbe Mädchenpensionat und heirateten sogar im gleichen Jahr. Elvira den etwas älteren Manfred von Welsen, einen Königsberger Bankier, und Wilhelmine Horst von Wallerstein, den schönsten Mann des Landkreises und das Objekt der Begierde aller heiratsfähigen jungen Damen. Aber Wilhelmine hatte alle aus dem Feld geschlagen. Zwar war sie von niederem Adel, Horsts Mutter war darüber nicht gerade entzückt gewesen, aber dafür eine außergewöhnliche Schönheit. ›Wenn ich Aglaia sehe, denke ich immer, Wilhelmine steht vor mir‹, dachte Elvira. ›Wie schade, dass sie sich dermaßen gehenlässt.‹ Sie seufzte. Was hatte sie für eine traumhafte Figur gehabt und dazu dieser verschleierte Blick! Und was ist jetzt aus ihr geworden - sie ist aus dem Leim gegangen, die schönen Augen eingebettet in Fett und Tränensäcke. Kaum zu glauben, dass sie erst siebenundvierzig Jahre alt ist. Wie eine sechzigjährige Matrone sieht sie inzwischen aus. Und richtig bösartig ist sie inzwischen. Wie sie mit der armen Tanya umgeht, ist ein Skandal, wirklich! Und das schon seit so vielen Jahren ... Ja, ja, ihre alte Freundin ist schon lange nicht mehr die, die sie mal so sehr bewundert hatte. Kaum erstaunlich, dass Horst immer mehr Zeit in Berlin verbringt. Na gut, es ist Revolution - jedenfalls hört man ständig davon. Aber hier in Ostpreußen, auf dem Land konnte man sich das gar nicht so richtig vorstellen. Ob er nicht doch eine Geliebte in Berlin hat, wie man munkelte? Wilhelmine hatte wohl noch nichts davon mitgekriegt. Jedenfalls hatte sie bisher nichts erwähnt. Elviras Gedanken wanderten zu Manfred, ihrem verstorbenen Mann. Er hatte sie geliebt. Immer wenn sie von Wilhelmine geschwärmt hatte, hatte er ihr gesagt, wie entzückend er sie selbst fand. »Du gefällst mir viel besser als sie. Du bist so süß und hübsch, so zierlich, und ganz besonders liebe ich dein entzückendes Stupsnäschen und die blonden Locken.«
Elvira wusste, er mochte keine dicken Frauen, und immer, wenn ihr Mieder etwas enger saß, aß sie von allem nur noch die Hälfte. Bis jetzt hatte sie es so gehalten, und sie beabsichtigte auch nicht, das zu ändern. Manfred hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. ›Jetzt ist die Trauerzeit vorbei‹, dachte sie, ›und ich werde mein Leben genießen. Auf keinen Fall werde ich in meinem Witwentum aufgehen. Wilhelmine wird sich noch wundern.‹ Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Der Schlitten hielt in der Wilhelmstraße vor dem Haus von Frau Klühspieß, ihrer Schneiderin.
Der Graf war schon früh am Morgen nach Wallerstein zurückgekehrt. Er saß bereits im Frühstückszimmer bei der Lektüre der Neuen Preußischen Zeitung, als Aglaia hereinstürmte. »Papachen, wie schön, dass du wieder da bist.« Strahlend fiel sie ihrem Vater um den Hals.
»Mein Liebling!« Er drückte seine Tochter fest an sich, um sie dann mit beiden Armen von sich zu schieben. »Jedes Mal, wenn ich wieder nach Hause komme, bist du noch hübscher geworden«, sagte er, »und meine Angst, dass dich mir jemand wegnehmen könnte, wird von Mal zu Mal größer.«
Aglaia lachte auf. »Keine Angst, Papachen, Verehrer gibt es ja genug, aber bis jetzt gefällt mir noch keiner so gut wie du.« Bewundernd betrachtete sie ihren Vater. Was war er doch für ein schöner Mann! Ungewöhnlich groß und schlank, wirkte er wesentlich jünger als zweiundfünfzig. Sein von den täglichen Ausritten leicht gebräuntes Gesicht wurde beherrscht von leuchtend blauen Augen unter buschigen Brauen und einer fein gebogenen, aristokratischen Nase. Auffallend war sein voller, sinnlicher Mund. Die immer noch dunklen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut, und sein Gesicht war bis auf einen schmalen, gestutzten Wangenbart glatt rasiert.
»Wo ist Tanya? Sollte sie nicht schon wieder hier sein?«
»Ja, sie ist gestern angekommen. Sie wird gleich da sein, sie war noch nicht ganz mit ihrer Toilette fertig.« In diesem Moment betrat die Gräfin den Raum. Der Graf erhob sich und küsste seiner Frau die Hand. »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte er förmlich »wie ist dein Befinden? «
»Danke, ich möchte nicht klagen.« Sie fächelte sich mit ihrer Serviette Luft zu. »Die fliegende Hitze macht mir zu schaffen. Abscheulich ist das, wirklich abscheulich.« Sie ließ sich von Kurt Tee einschenken. »Und wie war deine Reise, seit wann bist du zurück?«, fuhr sie fort.
Die Tür öffnete sich, und der Graf wandte sich um. »Tanya, meine Kleine, wie schön dich wieder bei uns zu haben.« Er nahm seine Nichte in den Arm.
»Ja, Onkel Horst, ich freue mich auch, wieder hier zu sein«, sagte das junge Mädchen errötend, und an ihre Tante gewandt: »Verzeih, Tante Wilhelmine, dass ich etwas zu spät bin. Aber ich war doch sehr müde.«
Bevor diese etwas sagen konnte, rief der Graf: »Du musst dich doch nicht entschuldigen, mein Kind. Erhol dich jetzt erst mal von dem Drill bei der Quasten.«
»Das hat ja wohl noch keinem geschadet«, murmelte die Gräfin.
Die Bemerkung ignorierend, fragte der Graf: »Nun, Tanya, ich nehme an, du hast ein fabelhaftes Zeugnis. Darf ich es denn mal sehen?«
»Ich habe es Tante Wilhelmine gegeben«, antwortete Tanya schüchtern.
»So, und wie ist es?« Fragend blickte er zu seiner Frau.
»Ich hatte noch keine Zeit, es mir anzusehen«, sagte diese unwirsch.
»Soso, mit was warst du denn so beschäftigt?« Der Graf hob verärgert die Augenbrauen.
»Gestern hatte ich die Kommerzienrätin Heller zum Tee, und Elvira war auch kurz da ...«
»Das ist ja hochinteressant!« Die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören. Bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, wurde die Unterhaltung von Kurt unterbrochen, der auf einem silbernen Tablett die Post brachte. »Ah, Jesko Kaulitz kommt mit Eberhard zur Saujagd«, rief der Graf erfreut, als er das erste Couvert geöffnet hatte. »Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Eberhard muss jetzt auch schon Anfang zwanzig sein.«
»Er ist vier Jahre älter als ich«, sagte Aglaia. »Tante Elvira hat es mir kürzlich erzählt.«
»Ach, die gute Elvira, wie geht es ihr denn? Durch meine ständigen Reisen nach Berlin sehe ich sie ja kaum noch.« Sie war eine der wenigen Freundinnen seiner Frau, die er mochte. »Wird sie auch zur Saujagd kommen?«
»Ja«, sagte Wilhelmine indigniert, »und wahrscheinlich in einem farbigen Kleid!«
»Und was ist daran so ungewöhnlich, ich meine, was stört dich daran?« Wieder sah er seine Frau fragend an.
»Sie ist schließlich Witwe.« Wilhelmine schnaufte empört.
»Nun lass mal die Kirche im Dorf.« Er wurde jetzt wirklich ärgerlich. »Manfred ist bald zwei Jahre tot ...«
»Eineinhalb!«
»Nun dann eben eineinhalb. Aber Elvira ist eine lebenslustige Person. Es ist bestimmt nicht in Manfreds Sinn, dass sie für den Rest ihres Lebens in Trauer versinkt.« Aglaia und Tanya wechselten einen verstohlenen Blick. Die Diskussion wurde ihnen zu ungemütlich. Wilhelmines Gesicht war verdächtig rot angelaufen.
»Dürfen wir aufstehen, Mamachen?«, bat Aglaia. »Du weißt, nach dem Frühstück brauche ich immer frische Luft.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie Tanya mit sich aus dem Zimmer.
Auch der Graf erhob sich. »Verzeih, meine Liebe. Ich habe wichtige Post. Du weißt, die Revolution ... Wir sehen uns später.« Eilig verließ auch er den Raum. Die wütende Wilhelmine blieb allein zurück.
Seit Tagen herrschte im Schloss rege Betriebsamkeit. Gästezimmer wurden gelüftet, Betten frisch bezogen, Böden geschrubbt, Regale abgestaubt und alle vorhandenen Kamine angeheizt. Die Vorbereitungen für die Saujagd liefen auf Hochtouren, und auch in der Küche herrschte Hochbetrieb. Die Mamsell trieb mit lauter Stimme die Küchenmädchen zur Eile an, und wenn mal wieder eine Pastete oder Sülze nicht so geworden war, wie sie es sich vorgestellt hatte, hörte man bis in den grünen Salon ihr entsetztes »Erbarrrmung!«. Ungefähr vierzig Gäste wurden erwartet, ganz genau wusste man das nie. Die meisten würden übernachten, und wenn ihnen danach war, auch einige Tage länger bleiben. Das war so üblich in Ostpreußen, und kein Gastgeber käme auf die Idee zu fragen, wie lange man denn zu bleiben gedenke. Wilhelmine war in ihrem Element. Sie kommandierte die Stubenmädchen herum, ließ wegen jeder Kleinigkeit die Hausdame kommen und ermahnte mehrmals Kurt, den ersten Diener, darauf zu achten, dass die Livree der Lakaien jederzeit ausgebürstet, die Handschuhe makellos weiß und die Schuhe blank geputzt seien. Gerda, ihre Zofe, wurde angewiesen, ihr neues Abendkleid etwas auszulassen. Nach der unverschämten Bemerkung Elviras über ihr Gewicht hatte Wilhelmine es vorsichtshalber noch einmal anprobiert, und tatsächlich war es etwas zu eng.
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Sehr früh war in diesem Jahr der Winter über Ostpreußen hereingebrochen. Innerhalb von ein paar Stunden war das Thermometer um 10 Grad gefallen. Obwohl erst Anfang November, versank das Land bereits im Schnee, und der eisige Ostwind trug dazu bei, dass kaum jemand Lust verspürte, die schützenden Mauern des Schlosses zu verlassen. Die Tag und Nacht von den Dienern befeuerten Kamine hatten Mühe, die hohen, weiten Räume ausreichend zu heizen. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich die dicken Mauern erwärmt hatten und man sich im ganzen Schloss bewegen konnte, ohne ständig zu frieren. Die behaglichsten Zimmer waren die nicht allzu große Bibliothek, der Lieblingsraum des Schlossherrn, Horst Graf von Wallerstein, und der grüne Salon, ein mit Biedermeiermöbeln aus hellem Kirschholz eingerichteter Raum. Auf pastellfarbenen Smyrner-Teppichen standen mehrere Sitzgruppen, zierliche Stühle und Sessel, die mit beige-hellgrün gestreifter Seide bezogen waren. Vor dem großen Kamin gruppierten sich Sofas und Sessel und überall Tischchen mit Nippes, Silberschalen und üppigen Blumenarrangements aus dem schlosseigenen Treibhaus. Die hohen, von resedafarbenen Ripsportieren eingerahmten Fenster boten freien Blick auf den herrlichen, tief verschneiten Park. An den mit hellgrüner Seide bespannten Wänden hingen in Pastell gemalte Landschaftsbilder in ovalen Goldrahmen.
Kurt, der Diener, war gerade dabei, den Teetisch vor dem Kamin zu decken, als Aglaia, die einzige Tochter der Wallersteins, mit ihrer Cousine Tanya von Ahlfeld in das Zimmer stürmte. Beide Mädchen hatten leuchtend rote Backen. »Puh, ist das kalt«, sagte Tanya und hielt ihre klammen Hände über das prasselnde Feuer. »Kaum bin ich angekommen, zerrst du mich schon hinaus in die eisige Kälte. Morgen setze ich keinen Fuß vor die Tür.«
»Ach, stell dich nicht so an«, sagte Aglaia lachend. »Ein bisschen frische Luft hat noch keinem geschadet.« An den Diener gewandt fügte sie hinzu: »Wo ist meine Mutter, schläft sie noch?« Sie zählte die Tassen auf dem Teetisch. »Warum deckst du für fünf, bekommen wir Besuch?«
»Ja, die Frau Gräfin erwartet die Frau Kommerzienrat Heller und die Baronin von Welsen.«
»O Gott!« Die beiden jungen Mädchen rollten die Augen. »Bitte, Kurt, servier uns den Tee in der Bibliothek«, bat Aglaia. »Papa kommt ja erst morgen aus Berlin zurück.«
»Is jut, mach ich«, sagte Kurt schmunzelnd »werd man noch tüchtich einheizen drüben, is ja bastich kalt heute.«
Aglaia senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Weißt du was, Cousinchen? Wir werden den beiden alten Schabracken höflich guten Tag sagen und uns dann nach drüben verdrücken.«
»Tante Wilhelmine wird das aber gar nicht recht sein«, sagte Tanya zweifelnd. »Du weißt doch, wie viel Wert sie darauf legt, dass wir mit ihren Freundinnen gepflegte Konversation machen. Hast du etwa Mademoiselle Claude vergessen?«
»O Gott, nein, wie könnte ich! Wenn ich an die denke, packt mich immer noch das kalte Grausen.« Ihre Mutter hatte eines Tages die Idee gehabt, zusätzlich zum Privatlehrer eine Gouvernante einzustellen. »Die Mädchen müssen anständige Manieren lernen«, hatte sie ihrem Mann mitgeteilt. »Aglaia treibt sich ja nur noch im Stall herum oder reitet stundenlang über die Felder. Mich umweht hier von morgens bis abends dieser scheußliche Stallgeruch. Und Tanya vergräbt sich mit ihren Büchern in ihrem Zimmer.«
»Und was ist daran auszusetzen?«, hatte der Graf gefragt. »Sie sind doch noch Kinder.«
»Daran auszusetzen ist, dass sie einfach kein Benehmen haben. Wenn Gäste da sind, verdrücken sie sich, anstatt sich gesittet an der Unterhaltung zu beteiligen.«
»Wahrscheinlich langweilen sie sich«, lachte der Graf, »und ehrlich gesagt, bei einigen deiner Freundinnen kann ich das auch verstehen.«
Allen Einwänden zum Trotz wurde eine Gouvernante eingestellt. Ein ältliches, vertrocknetes Fräulein ohne jeglichen Humor, ein Musterbeispiel ihres Berufsstandes sozusagen. Sie war immer in Schwarz gekleidet, nur ein täglich frisches weißes Spitzenkrägelchen hellte die Trostlosigkeit ein wenig auf. Auf dem schütteren, zu einem Knoten gezurrten Haar, saß eine kleine Haube und auf der spitzen Nase ein Zwicker. Sie aß mit bei Tisch und gab den Mädchen ständig Anweisungen wie: »Aglaia, halt dich bitte gerade.« - »Man isst die Suppe etwas zierlicher, Tanya, man sollte den Löffel nicht hören.« - »Meine Güte Aglaia, wie kann man die Kartoffeln nur so unfein zerdrücken?« - »Eine vollendete Dame wischt sich den Mund nicht ab wie ein Kutscher, Tanya. Sie tupft sich nur zart die Mundwinkel mit der Serviette.« So ging es in einem fort. Vor allem ihre Ordnungsliebe brachte die Mädchen oft zur Verzweiflung. »Man lässt keine Bücher aufgeschlagen herumliegen, Tanya.« - »Aglaia, die Reitgerte gehörte in den Stall. Würdet ihr euch bitte langsam Ordnung angewöhnen.«
Die herrlichen freien Nachmittage waren jetzt vollgestopft mit Unterricht im Sticken und Klavierspiel. Eines Tages meinte sie: »Heute werden wir Übungen zur Konversation machen. Eine gepflegte Unterhaltung ist lebensnotwendig für eine junge Dame.« Mademoiselle Claude hatte sich da etwas ausgedacht, auf das sie ganz besonders stolz war, das ihr allerdings zum Verhängnis werden sollte. Im großen Salon wurden auf verschiedenen Sesseln Puppen platziert, die Schilder um den Hals trugen mit Namen aus dem Bekanntenkreis der Wallersteins. »Ihr kennt diese Herrschaften ja alle«, begann sie streng. »Nun versucht einmal, euch mit ihnen zu unterhalten. «
Die Mädchen saßen sprachlos da. Dann begannen sie zu kichern. Das war ja wohl der Gipfel der Blödheit!
»Nun, dann fangen wir mal mit der Kommerzienrätin Heller an. Aglaia, möchtest du beginnen?« Die Augen der Gouvernante funkelten böse, und ihr schmaler Mund war zu einem Strich zusammengepresst. Aglaia saß trotzig da, die Arme über der Brust verschränkt. »Mit der doofen Heller will ich nicht reden. Die strickt ja immer nur.«
»Und du, Tanya? Wie ist es mit dir?«
Tanya überlegte fieberhaft, was sie die Kommerzienrätin fragen könnte, dann sagte sie leise: »Was wird das denn da, Frau Heller, vielleicht ein Schal?«
Aglaia prustete los. »Das ist doch wirklich zu blöd«, rief sie, »nein, so was Dummes.« Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Vor Zorn bebend holte die Gouvernante ein Stöckchen aus ihrer Tasche und gab Aglaia damit einen Schlag auf die Hand. Die schrie laut »Aua!« und sah die Gouvernante entsetzt an. Noch nie hatte sie jemand geschlagen. Dann brach sie in Tränen aus. In dem Moment betrat der Graf den Salon.
»Was um Gottes willen machen Sie denn da, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« Auf seiner Stirn schwoll eine dicke Ader, ein sicheres Zeichen außergewöhnlichen Zorns.
»Ich versuche den beiden jungen Damen im Auftrag ihrer Gattin Manieren beizubringen«, antwortete sie spitz.
»So, hat meine Frau Ihnen auch aufgetragen, sie zu schlagen? « Er bebte vor Wut.
»Nun, nicht so direkt ...«
»Sie verlassen auf der Stelle das Schloss«, befahl er, jetzt wieder ganz beherrscht. »Man wird Ihnen in der Verwaltung Ihr Gehalt bis Monatsende auszahlen.« Das war das jähe Ende der Ära Mademoiselle Claudes.
Zu Aglaias und Tanyas Erleichterung wurde keine neue Gouvernante angestellt. Stattdessen mussten sie, als sie alt genug waren, die Schule für Höhere Töchter der Leonie von Quasten besuchen - darauf hatte Aglaias Mutter Wilhelmine bestanden.
»Ach Tanyachen, mach dir man um Mama keine Gedanken«, sagte Aglaia jetzt. »Ich werde sie bitten, uns zu entschuldigen. Schließlich bist du ja gerade erst aus Königsberg zurückgekommen. « Aglaia brannte darauf, den neuesten Klatsch aus der Großstadt zu erfahren. Sie war gerade achtzehn geworden, nicht ganz zwei Jahre älter als ihre Cousine und hatte ihre Ausbildung dort bereits vor einiger Zeit beendet.
»Danke, Kurt.« Aglaia lächelte den Diener dankbar an, als er den Salon verließ, um in der Bibliothek einzuheizen. Im Hinausgehen hielt er die Tür auf für Wilhelmine von Wallerstein. »Ah, da bist du ja wieder, Tanya«, begrüßte sie ihre Nichte kühl.
»Ja, Tante Wilhelmine«, sagte Tanya und küsste mit einem tiefen Knicks die Hand ihrer Tante. »Ich bin froh, wieder zuhause zu sein.«
»Nun, ich erwarte, dass Fräulein von Quasten dir anständige Manieren beigebracht hat. Wie ist dein Zeugnis? Ich hoffe ...«
»Aber Mamachen!«, fiel ihr Aglaia ins Wort. »Du weißt doch, Tanya ist viel klüger und viel braver als ich. Ihr Zeugnis ist hervorragend.«
»Du sollst so etwas doch nicht sagen.« Flehend sah Tanya ihre Cousine an. Sie wusste, ihre Tante schätzte es gar nicht, wenn sie irgendetwas besser konnte als Aglaia.
»Nun zeig es doch Mama, Tanya.«
Zögernd reichte Tanya Wilhelmine das weiße, mit goldener Schrift beschriebene Büttenpapier. Achtlos legte die es auf den Teetisch. »Ich werde es mir später ansehen. Ach, ich höre schon die Stimme der Baronin - nehmt ihr den Tee mit uns?«
»Nein, Mamachen«, sagte Aglaia schnell. »Ich habe Tanya so lange nicht gesehen. Wir gehen rüber in die Bibliothek. Du bist doch nicht böse?«
Die Baronin betrat von der Frau Kommerzienrat gefolgt den kleinen Salon. Beide wurden von Wilhelmine überschwänglich begrüßt. Die beiden Mädchen küssten den Damen die Hand, und nach ein paar belanglosen Worten verschwanden sie nach nebenan.
Aglaia und Tanya konnten unterschiedlicher nicht sein. Aglaia war groß, mit breiten, geraden Schultern, einem üppigen Busen und einer schlanken Taille. Das bildschöne Gesicht wurde von großen dunklen Augen mit dichten langen Wimpern beherrscht. Die braunen Locken waren mit Schildpattkämmchen achtlos nach oben gesteckt, und ihre vollen roten Lippen entblößten beim Lachen eine Reihe makelloser, perlweißer Zähne. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, die sie wohl ihrem steten Verlangen nach frischer Luft verdankte. Wann immer das Wetter es erlaubte, ritt sie stundenlang über die Felder, und auch jetzt trieb sie sich so oft sie konnte im Stall herum, striegelte ihre Lieblingsstute Hortensie und verwöhnte sie mit Möhren oder Zucker.
Tanya dagegen war genau das Gegenteil. Klein und zart, glich sie einer Madonna. Die tizianroten Haare waren in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem dicken Zopf geflochten, sodass sie die zierlichen Ohren fast verdeckten. Ihre Haut war alabasterfarben, und die grüngrau gesprenkelten Augen blickten meist melancholisch. Doch auch die entzückende kleine Nase und der herzförmige zartrosa Mund, ihre ganze Anmut und Lieblichkeit, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das junge Mädchen nicht glücklich war. Nur hin und wieder begleitete sie Aglaia bei ihren Ausritten. Sie fürchtete sich ein wenig vor den großen Tieren, die ihr unheimlich waren. Lieber las sie Bücher, die Bibliothek ihres Onkels war ja unerschöpflich. Oder sie schrieb heimlich Gedichte, die sie aber nicht einmal Aglaia zeigte.
Die beiden jungen Mädchen verband ein Geheimnis. Schon als kleines Kind war Aglaia äußerst neugierig gewesen. Ihr war aufgefallen, dass der oberste Stock des Schlosses nie benutzt wurde, selbst wenn das Haus voller Gäste war. »Was ist da, Papachen?«, fragte sie eines Tages ihren Vater. »Da oben ist es immer so still?«
»Dort hat mein Onkel Archibald, der Bruder deines Großvaters, gelebt«, antwortete er. »Er hat jeden Abend mit seinem Teleskop die Sterne beobachtet. Der Himmel über Ostpreußen war das Einzige, was ihn am Ende noch interessierte. Wir haben alles so gelassen, wie es nach seinem Ableben war. Aber gut, dass du mich daran erinnerst. Gelegentlich möchte ich die Räume ausleeren lassen.«
Aglaias Neugierde war geweckt. Ein paar Tage später hatten sich die Mädchen die Erlaubnis erbeten, im selben Zimmer zu schlafen. Es war eine sternenklare Nacht, und irgendwann rief Aglaia leise: »Tanya, schläfst du schon?«
»Nein, noch nicht so ganz«, flüsterte diese. »Was ist, kannst du nicht schlafen?«
»Steh auf, wir wollen heute auch mal die Sterne beobachten wie Großonkel Archibald!«
Tanya rieb sich schlaftrunken die Augen. »Das dürfen wir bestimmt nicht. Wenn Tante Wilhelmine ...«
»Ach, du weißt doch, Mama geht immer früh zu Bett. Niemand wird uns hören.« Leise öffnete Aglaia die Tür. Kein Laut war zu vernehmen. »Nun komm!« Sie nahm Tanya fest bei der Hand. »Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir.« Barfuß stiegen sie vorsichtig die Treppe hinauf. Wenn eine Stufe knarzte, blieben sie mit klopfendem Herzen stehen. Aber niemand schien sie zu hören, und so gingen sie leise weiter. Die oberen Türen waren unverschlossen. Fahles Mondlicht beschien die mit großen weißen Tüchern verhüllten Möbel. Es roch modrig und verstaubt, und Spinnen hatten riesige Netze gespannt.
»Das ist fürchterlich gruselig.« Tanya zitterte am ganzen Leib. »Sieh nur die Bilder an den Wänden. Die Augen verfolgen uns mit ihren Blicken.«
»Ach Unsinn«, sagte Aglaia forsch, obwohl ihr das alles auch nicht ganz geheuer war, »das sind bloß unsere Ahnen, die sind schon ewig lange tot. Na ja, manchmal sollen sie im Schloss spuken, sagt Kurt.«
Tanya erstarrte. »Ich will hier sofort weg. Ich will wieder in mein Bett!« Sie schlotterte vor Angst.
»Nun stell dich nicht so an.« Aglaia sprach nun in normaler Lautstärke. »Ich glaube nicht an Gespenster. Und sieh mal, dahinten, das muss das Fernrohr von Großonkel Archibald sein.« Sie zog ihre zitternde Cousine mit sich, und tatsächlich, da stand es, das Wunderding, leicht verstaubt, aber noch völlig intakt.
In dieser Nacht eröffnete sich den beiden Mädchen eine neue Welt. Sooft sie konnten, schlichen sie nach oben und betrachteten staunend den Himmel. War einmal für längere Zeit schlechtes Wetter, fieberten sie der Nacht entgegen, wenn es endlich wieder klar und ihre Sterne wieder zu sehen waren. Sie hatten gehört, dass sie alle Namen hatten, aber aus Angst, entdeckt zu werden, wagten sie niemanden danach zu fragen.
Eines Abends, sie saßen dicht beieinander und blickten hinauf in das geheimnisvolle Weltall, sagte Aglaia: »Ich glaube, Tanya, es gibt nichts Schöneres auf der Welt als den Himmel über Ostpreußen.«
Tanya nickte schweigend. Drei der unzähligen Himmelskörper erschienen ihnen besonders strahlend. »Onkel Horst hat einmal gesagt, als ich wieder mal so furchtbar traurig war, meine Mama wäre jetzt ein Engel und wohnte auf einem der Sterne. Sieh mal, Aglaia, der da, ganz links, siehst du ihn? Ich glaube, da sitzt meine Mama und schaut auf mich herunter.« Ganz glücklich sah sie in diesem Moment aus. »Ich werde den Stern Ingewild nennen. So hieß nämlich meine Mama.«
»Ich habe eine Idee, Tanya«, sagte nun Aglaia aufgeregt. »Wir suchen uns jetzt jede einen Stern aus, dem wir unseren Namen geben. Und wenn wir mal voneinander getrennt sein sollten ...«
Verschreckt klammerte Tanya sich an ihre geliebte Cousine.
»Aber du gehst doch nicht weg von mir? Versprich mir das, bitte!«
»Natürlich nicht, du Dummchen«, gab Aglaia altklug zurück, »aber es kann ja mal sein, wenn wir groß sind, und auch nur für kurze Zeit ... Also dann gucken wir immer am Abend um zehn Uhr in den Himmel zu unseren Sternen und denken aneinander. Wollen wir uns das versprechen?«
Tanya nickte ernst. »Ganz fest will ich dir das versprechen.«
»Danke, Kurt.« Aglaia hob die Hand, als der Diener ihnen den Tee einschenken wollte. »Wir brauchen dich nicht mehr. Ich mache das selbst.« Sie konnte es kaum erwarten, endlich mit ihrer geliebten Cousine allein zu sein. »Nun erzähl doch«, fragte sie aufgeregt, »was gibt es Neues?« Es klopfte, und Kurt betrat mit Feuerholz erneut den Raum. Während er sich am Kamin zu schaffen machte, kuschelte sich Tanya in den tiefen russischgrün bezogenen Ledersessel. Sie liebte diesen Raum mit seinen unzähligen Büchern, Erstausgaben so vieler berühmter Dichter und Schriftsteller, den dicken Teppichen und dem großen, mit rotem Safranleder bezogenen Schreibtisch. Dort hatte ihr geliebter Onkel Horst sie oft getröstet, wenn Tante Wilhelmine mal wieder streng und ungerecht mit ihr gewesen war. Als sie ganz klein war, hatte sie sich in ihrem Kummer manchmal in dem Mahagonigehäuse der großen Standuhr versteckt und war nur durch gutes Zureden ihres Onkels dazu zu bewegen gewesen, dieses wieder zu verlassen. Immer hatte er ein liebes Wort für sie. Oft, wenn er sie irgendwo leise weinend fand, hörte sie ihn danach mit seiner Frau schelten. Einmal hatte Tanya gelauscht.
»Was hast du nur gegen das arme Kind. Sie kann doch nun wirklich nichts dafür«, hatte sie ihren Onkel sagen hören.
»Man muss streng mit ihr sein! Manche Dinge vererben sich, dem muss Vorschub geleistet werden«, war die Antwort ihrer Tante gewesen. Tanya hatte keine Ahnung, an was sie schuld sein sollte. Auch was sie geerbt haben könnte, war ihr schleierhaft, und irgendwann vergaß sie das Gespräch. Aber was sie nicht vergessen konnte, war, dass ihre Tante sie hasste.
Aglaias Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Was ist Tan ya? Nun erzähl schon.« Aglaia reichte ihr eine Tasse heißen Tee. »Kurt ist weg. Also, hat dir Egbert einen Antrag gemacht? « Sie blickte ihre Cousine gespannt an. Die Tasse in Tan yas Hand begann heftig zu zittern, und das zarte Porzellan fing an zu klirren. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Nein ...« Sie schwieg.
»Aber warum nicht?«, rief Aglaia aufgebracht. »Seit über einem Jahr macht er dir den Hof. Wir ... ich ... meine Mama rechnet fest mit einer Verlobung.«
»Ich weiß.« Tanya hatte sich wieder gefasst. »Deine Mutter will mich so schnell wie möglich loswerden.«
»Ach Tanyachen ...« Aglaia sprang auf und nahm das unglückliche Mädchen in den Arm. »Mama ist manchmal ein bisschen streng mit dir, ich weiß, aber sie meint es doch nur gut, ganz bestimmt.«
Tanya antwortete nichts darauf. Sie wusste, dass es nicht stimmte. Als Neugeborenes war sie zu den Wallersteins gekommen und zusammen mit Aglaia aufgewachsen. Sie waren wie Geschwister und liebten sich von Herzen. Irgendwann, als sie größer wurde, hatte man ihr gesagt, dass ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen seien und Horst von Wallerstein als einziger Verwandter sich angeboten hatte, sie bei sich aufzunehmen. Er liebte sie und zeigte es ihr auch immer wieder. Aber Wilhelmine lehnte sie ab. Alles hatte Tanya versucht, die Liebe oder wenigstens ein bisschen Zuneigung ihrer strengen Tante zu gewinnen. Aber sie war nur auf eisige Ablehnung gestoßen, und irgendwann gab sie ihre Bemühungen auf. Als sie älter wurde, hatte sie Fragen nach ihren Eltern gestellt, aber immer nur ausweichende Antworten bekommen, und hatte schließlich aufgehört zu fragen.
»Also, was ist los?«, fragte Aglaia erneut. »Habt ihr euch gestritten?«
»Nein. Ich weiß nicht, was los ist. Egbert ist in der letzten Zeit so merkwürdig. Er liebt mich, das weiß ich. Aber er hat anscheinend große Sorgen. Man munkelt in Königsberg, dass seine Familie in finanziellen Schwierigkeiten ist. Sein Vater spielt ... Es geht da wohl um große Summen ... ach, ich weiß nicht.« Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Du meinst, Graf Schlieren hat sein ganzes Vermögen verspielt? « Aglaia blickte ihre Cousine entsetzt an. »Das ist ja furchtbar.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Aber Egbert ist doch Offizier bei den Ulanen. Was hindert ihn daran, dich zu heiraten?«
»Vielleicht, weil ich keine Mitgift bekomme. Ich weiß es nicht! Jedenfalls hat er mich noch nicht gefragt, und ich kann ihm ja schließlich keinen Antrag machen.« Tanya wirkte in ihrem Unglück so klein und zerbrechlich, dass Aglaia versuchte, sie aufzuheitern.
»Nächste Woche beginnt die Saujagd. Egbert kommt bestimmt, jedenfalls war er bisher immer da.« Sie puffte Tanya liebevoll in die Seite. »Komm, sei wieder fröhlich. Es wird bestimmt alles gut. Und jetzt erzähl mal, was in Königsberg so los war.«
Während Aglaia dem harmlosen Klatsch Tanyas lauschte, schoss Wilhelmine im kleinen Salon mit ihrem Stickrahmen in der Hand ihre Giftpfeile ab. »Nun ist Ihre Nichte ja auch mit der Schule fertig«, sagte die Frau Kommerzienrat Heller und lud sich das fünfte Stück Kuchen auf den Teller. »Wird sie weiter bei Ihnen leben?«
»Ich hoffe sehr, dass wir sie bald unter der Haube haben«, antwortete Wilhelmine spitz. »Wir haben sie ja lange genug durchgefüttert.«
Elvira von Welsen sah ihre alte Freundin leicht belustigt an. »Na ja, meine Liebe, die Haare scheint sie euch nun nicht gerade vom Kopf gefressen zu haben. Sie ist ja zart wie ein Grashalm, im Gegensatz zu dir.«
Wilhelmines Gesicht lief rot an.
»Wenn du die paar Pfund meinst, die ich zugenommen habe ... ridicul ist das. Einfach lächerlich, so etwas zu sagen! « Sie fächelte sich mit ihrer Stickerei Luft zu. Die Wechseljahre machten ihr zu schaffen und natürlich die unübersehbare Gewichtszunahme. Sie warf der Elvira von Welsen einen empörten Blick zu. »Du hast gut reden«, fügte sie beleidigt hinzu. »Du bist ja richtig dürr.« Sie schnaufte tief. »Aber schließlich führst du ja auch seit Manfreds Tod keinen großen Haushalt mehr mit ich weiß nicht wie vielen Mahlzeiten. « Der Baron war vor über einem Jahr an einem Herzinfarkt gestorben.
»Sei nicht albern, Wilhelmine«, sagte Elvira, »ich war immer schlank und habe auch die Absicht, es zu bleiben.«
»Nun, was Tanya angeht«, nahm Wilhelmine den verlorenen Faden wieder auf, »weißt du doch, Elvira, was ich meine.«
»Natürlich weiß ich das, meine Liebe. Du kannst das arme Würmchen einfach nicht ausstehen.«
»Du liebe Zeit, das arme Würmchen! Wo wäre sie denn, wenn wir uns ihrer nicht angenommen hätten?« Ihr mächtiger Busen hob und senkte sich. »Gibt es denn schon einen geeigneten Kandidaten?«, fragte Frau Kommerzienrat Heller jetzt, um die gereizte Stimmung zu entschärfen.
»Nun, Egbert Schlieren bemüht sich schon seit einiger Zeit um sie. Erstaunlich, wo sie doch mit keinerlei Mitgift zu rechnen hat. Er ist eine sehr gute Partie, fabelhafte Familie. Offensichtlich scheint ihn die ...«
»Wilhelmine!« Die schneidende Stimme Elviras ließ die Gräfin innehalten. »Überleg dir gut, was du sagst!« Frau Kommerzienrat Heller hörte schlagartig auf zu kauen. Jetzt schien es äußerst interessant zu werden. Eigentlich war es ihr unbequem, sich direkt am Klatsch zu beteiligen, was aber nicht hieß, dass sie sich nicht brennend für all das interessierte. Aber zu ihrem Verdruss wechselte die Gräfin sofort das Thema, und die Kommerzienrätin griff wieder zu ihrem Strickzeug.
»Warst du nicht kürzlich bei deinen Verwandten auf Schloss Birkenau, Elvira?«, fragte Wilhelmine. »Wie geht es denn dem Grafen Kaulitz? Wir haben ihn eine Weile nicht gesehen. Seit dem Tod seiner Frau hat er sich ja sehr zurückgezogen. War es gemütlich? Erzähl doch mal.«
»Es war reizend. Man isst hervorragend. Das Schloss ist neu renoviert und wunderbar eingerichtet, die Diener in Livree, glatt rasiert ...«
»Was, glatt rasiert?«, fiel ihr Frau Kommerzienrat Heller ins Wort »das hätte es in meiner Jugend nicht gegeben!« Ihre Stricknadeln klapperten empört.
»Nun, die Zeiten ändern sich«, lächelte die Baronin amüsiert. »Übrigens geht es Jesko, meinem Cousin - wir sind wirklich nur sehr weitläufig verwandt -, sehr viel besser, seit sein Sohn Eberhard seinen Abschied genommen hat. Er lebt jetzt auf Birkenau und hat die Verwaltung der schlosseigenen Güter übernommen.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Er war ja immer mehr Landwirt als Soldat.«
»Ich weiß, sehr zum Kummer seiner Mutter.« Kommerzienrätin Heller rümpfte die Nase. »Sie liebte ja alles, was mit Militär zu tun hatte. Immer wieder wusste sie zu erwähnen, was für ein hochrangiger und schneidiger Offizier ihr Vater gewesen ist.«
»Eberhards Abschied von den Ulanen war ja wohl nicht ganz freiwillig«, warf Wilhelmine jetzt ein. »Wie gut, dass die Kaulitz das nicht mehr erleben musste.«
Die Kommerzienrätin nickte verständnisvoll, während Elvira laut auflachte. »Alle Welt weiß, dass der arme Junge von seinem Rittmeister erwischt wurde, als er drei Stunden nach dem Zapfenstreich und auch wohl etwas derangiert in seine Garnison zurückkam. Man hätte das als Kavaliersdelikt abtun können, aber dieser Rittmeister hat es an die große Glocke gehängt. «
»Und nun ist der junge Graf degradiert und nur noch Offizier der Reserve. Der ganze Landkreis hat sich ja darüber echauffiert«, fügte Wilhelmine spitz hinzu.
»Eine Schande ist das, eine Schande«, murmelte die Kommerzienrätin.
»Macht euch doch nicht lächerlich!« Elvira war jetzt erbost. Diese Diskussion begann ihr auf die Nerven zu gehen. »Weder Jesko noch Eberhard machten mir einen unglücklichen Eindruck, das scheint mir doch die Hauptsache zu sein. Und solch Geschwätz hat sie noch nie interessiert. Übrigens erwähnte Jesko, dass du sie zu eurer Saujagd eingeladen hast, Wilhelmine. Offensichtlich hat dich diese ›Schande‹ nicht davon abgehalten.« Es machte Elvira höllischen Spaß, ihre Freundin zu ärgern. Sie wusste, wie sehr dieser daran lag, den seit einigen Jahren eingeschlafenen gesellschaftlichen Verkehr mit den von Kaulitz wieder aufleben zu lassen. Schließlich gehörten sie zu den einflussreichsten und größten Grundbesitzern des Landkreises.
Wilhelmine schoss giftige Blicke in Richtung ihrer Freundin. »Man muss auch vergessen können«, sagte sie leichthin. »Was meinst du denn, Elvira, werden sie kommen?« Man sah ihr an, dass sie vor Neugierde platzte.
»Jesko war sich noch nicht ganz sicher«, flunkerte Elvira. Sollte Wilhelmine doch noch ein paar Tage in Ungewissheit schmoren. »Er wird dir eine Note schicken. Übrigens, Eberhard hat sich nach Aglaia und Tanya erkundigt. Er meinte, die entzückenden kleinen Mädchen müssten ja inzwischen bildhübsche junge Damen geworden sein. Er hat sie jahrelang nicht gesehen.«
Ehe Wilhelmine antworten konnte, meinte die Kommerzienrätin, nun doch noch etwas zur Konversation beitragen zu müssen. Unaufhörlich mit ihrem Strickzeug klappernd, sagte sie: »Ihre Mamsell, beste Gräfin, hat mir kürzlich das Rezept für die wunderbare Blaubeermarmelade gegeben. Ich weiß nicht, irgendwie ist sie mir nicht gelungen.«
»Da werden Sie wohl etwas falsch gemacht haben, meine Liebe«, sagte Elvira, sich erhebend. Sie wusste, jetzt würde die Mamsell gerufen, man würde über Blaubeermarmelade palavern, und sie hasste nichts mehr als Gespräche über Kochrezepte.
»Willst du schon gehen?«, fragte Wilhelmine erstaunt.
»Ja, ich muss mich leider verabschieden. Ich habe ganz vergessen, dass mich meine Schneiderin in Insterburg zur Anprobe erwartet.«
»Was, du lässt dir neue Kleider machen?« Wilhelmine sah sie fassungslos an. »Doch wohl nicht etwas Farbiges! Du bist doch in Trauer.«
»Ich bin jetzt über ein Jahr in Schwarz herumgelaufen, und du weißt genau, wie sehr ich um Manfred getrauert habe. Aber nun ist damit Schluss, ob es dir passt oder nicht.« Sie sagte das ganz ruhig, obwohl sie innerlich kochte. »Ich denke nämlich nicht daran, die nächsten zwanzig Jahre als trauernde Witwe zu verbringen, und noch weniger will ich eine dicke Matrone werden ...« Im letzten Moment verkniff sie sich das »wie du«.
Ächzend versuchte die Gräfin, sich aus ihrem Sessel zu erheben, um ihre Freundin zu verabschieden.
»Lass nur, Wilhelmine, bleib sitzen. Ich finde schon allein hinaus. Bis bald und auf Wiedersehen, Frau Kommerzienrat.«
Der Wind hatte nachgelassen, und durch eine Wolkenlücke schimmerte die blasse Sonne hervor. Fest in ihre Felldecke gewickelt, genoss Elvira von Welsen die Fahrt durch die verschneite Landschaft. ›Schrecklich, diese alte Heller‹, dachte sie, ›was Wilhelmine bloß an ihr findet?‹ Aber eigentlich, wenn sie es recht bedachte, war ihre alte Freundin auch nicht viel besser als die Kommerzienrätin. Was war nur aus der ›schönen Wilhelmine‹ ihrer Jugend geworden? Elviras Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Sie und Wilhelmine waren gleich alt, seit ihrer Kindheit befreundet und hatten alle Geheimnisse miteinander geteilt. Ihre Eltern hatten miteinander verkehrt, später besuchten sie beide dasselbe Mädchenpensionat und heirateten sogar im gleichen Jahr. Elvira den etwas älteren Manfred von Welsen, einen Königsberger Bankier, und Wilhelmine Horst von Wallerstein, den schönsten Mann des Landkreises und das Objekt der Begierde aller heiratsfähigen jungen Damen. Aber Wilhelmine hatte alle aus dem Feld geschlagen. Zwar war sie von niederem Adel, Horsts Mutter war darüber nicht gerade entzückt gewesen, aber dafür eine außergewöhnliche Schönheit. ›Wenn ich Aglaia sehe, denke ich immer, Wilhelmine steht vor mir‹, dachte Elvira. ›Wie schade, dass sie sich dermaßen gehenlässt.‹ Sie seufzte. Was hatte sie für eine traumhafte Figur gehabt und dazu dieser verschleierte Blick! Und was ist jetzt aus ihr geworden - sie ist aus dem Leim gegangen, die schönen Augen eingebettet in Fett und Tränensäcke. Kaum zu glauben, dass sie erst siebenundvierzig Jahre alt ist. Wie eine sechzigjährige Matrone sieht sie inzwischen aus. Und richtig bösartig ist sie inzwischen. Wie sie mit der armen Tanya umgeht, ist ein Skandal, wirklich! Und das schon seit so vielen Jahren ... Ja, ja, ihre alte Freundin ist schon lange nicht mehr die, die sie mal so sehr bewundert hatte. Kaum erstaunlich, dass Horst immer mehr Zeit in Berlin verbringt. Na gut, es ist Revolution - jedenfalls hört man ständig davon. Aber hier in Ostpreußen, auf dem Land konnte man sich das gar nicht so richtig vorstellen. Ob er nicht doch eine Geliebte in Berlin hat, wie man munkelte? Wilhelmine hatte wohl noch nichts davon mitgekriegt. Jedenfalls hatte sie bisher nichts erwähnt. Elviras Gedanken wanderten zu Manfred, ihrem verstorbenen Mann. Er hatte sie geliebt. Immer wenn sie von Wilhelmine geschwärmt hatte, hatte er ihr gesagt, wie entzückend er sie selbst fand. »Du gefällst mir viel besser als sie. Du bist so süß und hübsch, so zierlich, und ganz besonders liebe ich dein entzückendes Stupsnäschen und die blonden Locken.«
Elvira wusste, er mochte keine dicken Frauen, und immer, wenn ihr Mieder etwas enger saß, aß sie von allem nur noch die Hälfte. Bis jetzt hatte sie es so gehalten, und sie beabsichtigte auch nicht, das zu ändern. Manfred hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. ›Jetzt ist die Trauerzeit vorbei‹, dachte sie, ›und ich werde mein Leben genießen. Auf keinen Fall werde ich in meinem Witwentum aufgehen. Wilhelmine wird sich noch wundern.‹ Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Der Schlitten hielt in der Wilhelmstraße vor dem Haus von Frau Klühspieß, ihrer Schneiderin.
Der Graf war schon früh am Morgen nach Wallerstein zurückgekehrt. Er saß bereits im Frühstückszimmer bei der Lektüre der Neuen Preußischen Zeitung, als Aglaia hereinstürmte. »Papachen, wie schön, dass du wieder da bist.« Strahlend fiel sie ihrem Vater um den Hals.
»Mein Liebling!« Er drückte seine Tochter fest an sich, um sie dann mit beiden Armen von sich zu schieben. »Jedes Mal, wenn ich wieder nach Hause komme, bist du noch hübscher geworden«, sagte er, »und meine Angst, dass dich mir jemand wegnehmen könnte, wird von Mal zu Mal größer.«
Aglaia lachte auf. »Keine Angst, Papachen, Verehrer gibt es ja genug, aber bis jetzt gefällt mir noch keiner so gut wie du.« Bewundernd betrachtete sie ihren Vater. Was war er doch für ein schöner Mann! Ungewöhnlich groß und schlank, wirkte er wesentlich jünger als zweiundfünfzig. Sein von den täglichen Ausritten leicht gebräuntes Gesicht wurde beherrscht von leuchtend blauen Augen unter buschigen Brauen und einer fein gebogenen, aristokratischen Nase. Auffallend war sein voller, sinnlicher Mund. Die immer noch dunklen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut, und sein Gesicht war bis auf einen schmalen, gestutzten Wangenbart glatt rasiert.
»Wo ist Tanya? Sollte sie nicht schon wieder hier sein?«
»Ja, sie ist gestern angekommen. Sie wird gleich da sein, sie war noch nicht ganz mit ihrer Toilette fertig.« In diesem Moment betrat die Gräfin den Raum. Der Graf erhob sich und küsste seiner Frau die Hand. »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte er förmlich »wie ist dein Befinden? «
»Danke, ich möchte nicht klagen.« Sie fächelte sich mit ihrer Serviette Luft zu. »Die fliegende Hitze macht mir zu schaffen. Abscheulich ist das, wirklich abscheulich.« Sie ließ sich von Kurt Tee einschenken. »Und wie war deine Reise, seit wann bist du zurück?«, fuhr sie fort.
Die Tür öffnete sich, und der Graf wandte sich um. »Tanya, meine Kleine, wie schön dich wieder bei uns zu haben.« Er nahm seine Nichte in den Arm.
»Ja, Onkel Horst, ich freue mich auch, wieder hier zu sein«, sagte das junge Mädchen errötend, und an ihre Tante gewandt: »Verzeih, Tante Wilhelmine, dass ich etwas zu spät bin. Aber ich war doch sehr müde.«
Bevor diese etwas sagen konnte, rief der Graf: »Du musst dich doch nicht entschuldigen, mein Kind. Erhol dich jetzt erst mal von dem Drill bei der Quasten.«
»Das hat ja wohl noch keinem geschadet«, murmelte die Gräfin.
Die Bemerkung ignorierend, fragte der Graf: »Nun, Tanya, ich nehme an, du hast ein fabelhaftes Zeugnis. Darf ich es denn mal sehen?«
»Ich habe es Tante Wilhelmine gegeben«, antwortete Tanya schüchtern.
»So, und wie ist es?« Fragend blickte er zu seiner Frau.
»Ich hatte noch keine Zeit, es mir anzusehen«, sagte diese unwirsch.
»Soso, mit was warst du denn so beschäftigt?« Der Graf hob verärgert die Augenbrauen.
»Gestern hatte ich die Kommerzienrätin Heller zum Tee, und Elvira war auch kurz da ...«
»Das ist ja hochinteressant!« Die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören. Bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, wurde die Unterhaltung von Kurt unterbrochen, der auf einem silbernen Tablett die Post brachte. »Ah, Jesko Kaulitz kommt mit Eberhard zur Saujagd«, rief der Graf erfreut, als er das erste Couvert geöffnet hatte. »Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Eberhard muss jetzt auch schon Anfang zwanzig sein.«
»Er ist vier Jahre älter als ich«, sagte Aglaia. »Tante Elvira hat es mir kürzlich erzählt.«
»Ach, die gute Elvira, wie geht es ihr denn? Durch meine ständigen Reisen nach Berlin sehe ich sie ja kaum noch.« Sie war eine der wenigen Freundinnen seiner Frau, die er mochte. »Wird sie auch zur Saujagd kommen?«
»Ja«, sagte Wilhelmine indigniert, »und wahrscheinlich in einem farbigen Kleid!«
»Und was ist daran so ungewöhnlich, ich meine, was stört dich daran?« Wieder sah er seine Frau fragend an.
»Sie ist schließlich Witwe.« Wilhelmine schnaufte empört.
»Nun lass mal die Kirche im Dorf.« Er wurde jetzt wirklich ärgerlich. »Manfred ist bald zwei Jahre tot ...«
»Eineinhalb!«
»Nun dann eben eineinhalb. Aber Elvira ist eine lebenslustige Person. Es ist bestimmt nicht in Manfreds Sinn, dass sie für den Rest ihres Lebens in Trauer versinkt.« Aglaia und Tanya wechselten einen verstohlenen Blick. Die Diskussion wurde ihnen zu ungemütlich. Wilhelmines Gesicht war verdächtig rot angelaufen.
»Dürfen wir aufstehen, Mamachen?«, bat Aglaia. »Du weißt, nach dem Frühstück brauche ich immer frische Luft.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie Tanya mit sich aus dem Zimmer.
Auch der Graf erhob sich. »Verzeih, meine Liebe. Ich habe wichtige Post. Du weißt, die Revolution ... Wir sehen uns später.« Eilig verließ auch er den Raum. Die wütende Wilhelmine blieb allein zurück.
Seit Tagen herrschte im Schloss rege Betriebsamkeit. Gästezimmer wurden gelüftet, Betten frisch bezogen, Böden geschrubbt, Regale abgestaubt und alle vorhandenen Kamine angeheizt. Die Vorbereitungen für die Saujagd liefen auf Hochtouren, und auch in der Küche herrschte Hochbetrieb. Die Mamsell trieb mit lauter Stimme die Küchenmädchen zur Eile an, und wenn mal wieder eine Pastete oder Sülze nicht so geworden war, wie sie es sich vorgestellt hatte, hörte man bis in den grünen Salon ihr entsetztes »Erbarrrmung!«. Ungefähr vierzig Gäste wurden erwartet, ganz genau wusste man das nie. Die meisten würden übernachten, und wenn ihnen danach war, auch einige Tage länger bleiben. Das war so üblich in Ostpreußen, und kein Gastgeber käme auf die Idee zu fragen, wie lange man denn zu bleiben gedenke. Wilhelmine war in ihrem Element. Sie kommandierte die Stubenmädchen herum, ließ wegen jeder Kleinigkeit die Hausdame kommen und ermahnte mehrmals Kurt, den ersten Diener, darauf zu achten, dass die Livree der Lakaien jederzeit ausgebürstet, die Handschuhe makellos weiß und die Schuhe blank geputzt seien. Gerda, ihre Zofe, wurde angewiesen, ihr neues Abendkleid etwas auszulassen. Nach der unverschämten Bemerkung Elviras über ihr Gewicht hatte Wilhelmine es vorsichtshalber noch einmal anprobiert, und tatsächlich war es etwas zu eng.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Maja Schulze-Lackner
- 2012, 2. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404606701
- ISBN-13: 9783404606702
- Erscheinungsdatum: 22.06.2012
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