Himmlische Juwelen
Die arbeitslose Musikwissenschaftlerin Caterina Pellegrini ist begeistert: endlich ein Job! Die Fondazione Musicale Italo-Tedesca beauftragt sie, den Nachlass eines italienischen Barockkomponisten zu begutachten. Caterina bekommt Zugang zu zwei...
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Produktinformationen zu „Himmlische Juwelen “
Die arbeitslose Musikwissenschaftlerin Caterina Pellegrini ist begeistert: endlich ein Job! Die Fondazione Musicale Italo-Tedesca beauftragt sie, den Nachlass eines italienischen Barockkomponisten zu begutachten. Caterina bekommt Zugang zu zwei ungeöffneten Truhen. Voller Eifer erforscht sie das Leben einer einst schillernden Persönlichkeit. Doch je weiter sie mit ihren Entdeckungen kommt, desto brisantere Fragen stellen sich: War der Musiker zu seiner Zeit in einen Mordfall verstrickt? Und dann stellt Caterina fest, dass sie nicht die einzige ist, die sich für den Inhalt der Truhen interessiert.
Klappentext zu „Himmlische Juwelen “
Caterina Pellegrini liebt ihre Heimatstadt Venedig ebenso wie die Musik. Als sich ihr die Chance bietet, in der Fondazione Musicale Italo-Tedesca zwei verschollene Truhen mit dem Nachlass eines Barockkomponisten zu begutachten, ist sie Feuer und Flamme. Doch nicht nur sie ist hinter den Schätzen her, die sich hinter den Dokumenten verbergen könnten
Lese-Probe zu „Himmlische Juwelen “
Himmlische Juwelen von Donna Leon 1
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Caterina war darin ausgebildet, zwischen den Zeilen zu lesen. Es ging ihr wie einem Tierarzt, der sofort merkt, dass der Hund seines Freundes die Räude hat, oder wie einem Gesangslehrer, wenn ein Vibrato um eine Winzigkeit zu stark ist. Die Mail ihrer Schwester beunruhigte sie. Obwohl sie anfangs Genugtuung empfunden hatte bei der Lektüre, machte sie sich Sorgen wegen ihrer Schwester. »et, phone home«, flüsterte sie.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Fakten. Ihre wilden Spekulationen erwiesen sich mithin als durchaus fundiert. Sie dachte an das Porträt von Steffani als Sechzigjährigem, die langen Finger, das bartlose, aufgedunsene Gesicht, dem es so gänzlich an den Kanten und Furchen fehlte, die einen Mann attraktiv machten.
Sie stellte den Computer aus, nahm ihre Tasche und ging nach unten, jedoch nicht ohne vorher zu prüfen, ob Tresor und Bürotür fest verriegelt waren. Roseanna war nicht mehr da. Während sie die Haustür abschloss, bemerkte sie daran ein kleines Schild mit dem Hinweis, die Bibliothek bleibe bis Ende des Monats geschlossen. Immerhin war es warm draußen, die Leute, die den Leseraum in der kalten Jahreszeit als warmes Plätzchen nutzten, würden nicht zu leiden haben. Doch wo sie wohl den ganzen Tag hinbrachten?
In diese und andere Gedanken vertieft, ging Caterina nach Hause; nicht zur Wohnung, in der sie zurzeit lebte, sondern zu ihren Eltern in der Nähe von La Madonna dell'Orto, dem Viertel, das immer ihre Heimat bleiben würde.
Sie hätte zur Anlegestelle Celestia zurückgehen und das Vaporetto nehmen können, aber die Gegend gefiel ihr nicht, so gut beleuchtet sie auch sein mochte; lieber ging sie über den Campo Santa Maria Formosa zur Strada Nuova und von dort nach Hause, wie sie es zu Schulzeiten immer getan hatte.
In Gedanken bei Steffani, schenkte sie dem Mann, der neben ihr auftauchte, zunächst keine Beachtung. Erst als er auf gleicher Höhe mit ihr blieb, warf sie einen kurzen Blick hinüber, aber da sie ihn nicht kannte, ging sie einfach etwas langsamer, um ihn an sich vorbeizulassen. Der Mann aber verlangsamte ebenfalls sein Tempo und hielt mit ihr Schritt. Sie kamen auf den Campo, wo es schon ziemlich dunkel war. Die Pflastersteine waren mit einem dünnen Feuchtigkeitsfilm überzogen, in dem sich das Lampenlicht spiegelte. Einige Meter hinter der Brücke, wo Licht auch aus den Schaufenstern zu ihrer Rechten fiel, blieb sie stehen. Sie tat gar nicht erst so, als wolle sie etwas aus ihrer Tasche nehmen: Sie blieb einfach stehen und wartete, ob der Mann sich verziehen würde. Das tat er nicht.
Der Gemüsestand war schon abgebaut, auf dem Campo waren noch vereinzelte Passanten unterwegs, drei oder vier von ihnen in Rufweite, dachte sie unwillkürlich.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie und überrumpelte damit mehr sich selbst als diesen Mann.
Als er sich ihr jetzt zuwandte, packte sie eine tiefe Abneigung, irrational, aber nicht zu unterdrücken. Das ist ein böser Mann, sagte ihr Instinkt; so dazustehen und sie schweigend anzustarren, das war böse. Sie hatte nicht die geringste Angst - sie standen mitten auf einem Campo, und es waren Leute in der Nähe. Aber sie empfand Unbehagen, und je länger er schwieg, desto unbehaglicher wurde ihr. Der Mann sah absolut durchschnittlich aus: etwa in ihrem Alter, kurzes Haar, kein Bart, normale Nase, helle Augen, unauffällig.
»Was wollen Sie von mir?«, wiederholte sie, aber er schwieg beharrlich. Stand da und sah sie an, musterte ihr Gesicht, ihre Schultern, den ganzen Körper, dann wieder ihr Gesicht, als müsse er sich alles genau einprägen.
Sie wollte nur noch weglaufen oder ihm einen Stoß versetzen und dann weglaufen, unterdrückte jedoch diesen Impuls und blieb regungslos stehen. Eine volle Minute verging. Irgendwo rechts von ihr begann eine Kirchenglocke halb neun zu schlagen: Sie war spät dran fürs Abendessen.
Sie nahm die Brücke auf der anderen Seite des Campo ins Visier und ging los. Sie sah sich nicht um, horchte aber auf Schritte. In ihrem Kopf dröhnte es. Auch konnte sie sich nicht erinnern, ob seine Schritte vorhin zu hören gewesen waren. Am Fuß der Brücke war das Verlangen, sich umzudrehen und nachzusehen, ob er hinter ihr war, schier überwältigend geworden, aber sie widerstand dem Drang, überquerte die Brücke und bog dann in eine der engsten calli der Stadt ein. Sie konnte nur beten, dass ihr vom anderen Ende her jemand entgegenkam, doch da war niemand. Inzwischen bebte sie vor Verlangen, sich umzudrehen, ging aber weiter, bis sie aus der calle herauskam und die nächste Brücke erreichte.
Schon war sie auf dem Campo Santa Marina und hatte mehrere Möglichkeiten: Entweder sie ging rechts, sparte ein paar Minuten, musste aber durch die Calle dei Miracoli, die eng und nur wenig belebt war, oder sie hielt geradeaus auf San Giovanni Crisostomo zu, um im dichten Fußgängergewühl der Strada Nuova nach Hause zu gelangen. Sie ging weiter geradeaus.
Beim Essen erwähnte sie den Mann mit keinem Wort, da sie weder ihre Eltern noch sich selbst beunruhigen wollte. Er hatte sie nicht bedroht, hatte sie nicht einmal angesprochen, und doch hatte er sie aus der Fassung gebracht und - gestand sie sich ein, während sie einer Geschichte ihrer Mutter zu folgen versuchte - in Angst und Schrecken versetzt. Die Stadt war eine sichere Insel in einer Welt, die offenbar immer mehr aus den Fugen geriet: Wenn man die Zeitung las, schien es, als sei eine Seuche im Anzug. Sie konzentrierte sich wieder auf die Geschichte ihrer Mutter und das Essen. Selbstgemachte Polenta, die ihr Vater regelmäßig von einem alten Freund geschickt bekam, der im Friaul noch Mais anbaute. Kaninchen aus Bisiol, wo ihre Mutter sie seit zwanzig Jahren kaufte. Artischocken aus Sant'Erasmo: Ihre Mutter war vor kurzem einer Genossenschaft beigetreten, die zweimal wöchentlich einen Korb Gemüse und Obst anlieferte. Auf den Inhalt des Korbs hatte der Käufer keinen Einfluss: Es kam, was die Jahreszeit gerade hergab, alles biologisch angebaut.
Ihre Mutter hatte sich beklagt, in ihrem ganzen Leben habe sie noch nie so viele Äpfel gegessen, doch als Caterina nun einen davon kostete, in Rotwein gekocht und mit Schlagsahne bedeckt, hätte sie ihre Mutter am liebsten für weitere zwei Monate auf Äpfel abonniert. Sie sprachen über dies und das: die Arbeit ihres Vaters, die Freundinnen ihrer Mutter, die Ehen ihrer Schwestern, über die Nichten und Neffen. Caterina fragte sich, ob sie, sollte sie jemals ein Vermögen besitzen und selbst weder Mann noch Kinder haben, es gern Nichten und Neffen hinterlassen würde. Sie waren alle noch Kinder: Wer wusste schon, wozu sie sich einmal auswachsen würden?
Während sie mit halbem Ohr ihren Eltern zuhörte, dachte sie an Steffani. Er war den größten Teil seines Lebens in Deutschland tätig gewesen und nur gelegentlich und meist nur für kürzere Zeit nach Italien zurückgekehrt. Wie oft mochte er seine Verwandten und deren Kinder gesehen haben? Wie vertraut war er überhaupt mit ihnen, hatte er sie in die Luft geworfen, mit ihnen gespielt und ihnen Lieder vorgesungen? Und erst diese Cousins, die von den Kindeskindern von Steffanis Cousins abstammten: Mit welchem Recht beanspruchten die seine schriftlichen und sonstigen Hinterlassenschaften oder gar einen »Schatz«? Niemand hatte ihr das auch nur mit einem Wort erklärt.
Bisher hatte sie einen einzigen Hinweis auf Steffanis Nachlass gefunden; demnach waren nach Auszahlung seiner Gläubiger »2029 Florin, einige Papiere, Reliquien, Schaumünzen und Notenblätter« übriggeblieben. Dieses »und Notenblätter« traf sie mit voller Wucht. Abgesehen davon hatte der Mann vierundsiebzig Jahre gelebt und nichts hinterlassen als einige Papiere, Reliquien und einiges Geld. Also einen Schatz?
»Woher wissen wir eigentlich, dass dein Urgroßvater alles im Casinò verspielt hat?«, fragte sie unvermittelt ihren Vater. Die Eltern starrten Caterina entgeistert an, auch deshalb, weil sie ihnen so offenkundig nicht zugehört hatte.
Ihr Vater fuhr sich mit beiden Händen durch sein noch dichtes Haar, wie immer, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte. Ihre Mutter tat ihnen, wie immer, wenn etwas anders lief als geplant, noch mehr Essen auf die Teller. Alle in der Familie, ausgenommen ihre Mutter und Cinzia, aßen wie die Wölfe, ohne ein Gramm zuzunehmen. »Ich brauche nur eine Karotte zu sehen, und schon bin ich ein Kilo schwerer «, war ein Lieblingsspruch ihrer Mutter.
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte ihr Vater, was sich nicht auf die von seiner Frau so häufig zitierte Karotte bezog, sondern auf Caterinas Frage. »Es ist eine alte Familiengeschichte. Die haben wir schon als Kinder gehört, Giustino, Rinaldo und ich.«
»Hat mal jemand nachzuprüfen versucht, ob die Geschichte stimmt?«, fragte Caterina.
Ihre Mutter sah sie erschrocken an, aber ihr Vater antwortete lächelnd: »Nein, auf die Idee sind wir nie gekommen. «
»Warum?«
Er überlegte eine Weile. »Wahrscheinlich, weil die Geschichte so phantastisch war, so typisch venezianisch - den Palazzo am Kartentisch verloren, das ganze Familienvermögen verspielt.«
»Was, meinst du, ist tatsächlich passiert?«
Er zuckte die Schultern. »Das Übliche, nehme ich an. Mein Urgroßvater konnte nicht haushalten, hat nicht auf seine Frau gehört und alles verloren.«
Ihre Mutter schaltete sich ein: »So sehen wir uns gern selbst.«
»Wir?«, fragte Caterina.
»Veneziani. Gran signori«, zitierte sie den Beginn eines bekannten Spruchs darüber, dass die Venezianer gern auf großem Fuß lebten.
»Aber?«
»Cati«, sagte ihre Mutter, »so lange warst du nicht fort, dass du das vergessen haben kannst. Wir sind durchtrieben und booten andere gerne aus.«
»Aber du doch nicht, und papà auch nicht«, protestierte sie.
Ihre Eltern quittierten das mit Schweigen, bis Caterina den Löffel hinlegte und zugab: »Na schön, na schön. Ihr denkt nicht so, aber die meisten Venezianer sind sehr geschäftstüchtig. «
»Du nicht?«, fragte ihre Mutter, als habe Caterina soeben für Kinderprostitution oder das mose-Projekt Partei ergriffen.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie.
Bevor alles noch komplizierter wurde, sagte ihre Mutter: »In zwölf Minuten geht das Boot bei San Marcuola, Cati.« Ihre Mutter hatte weder auf die Uhr gesehen noch nach der Zeit gefragt: Sie hatte das im Gefühl.
Hastige Küsse, das Versprechen, am nächsten Tag anzurufen, ja jeden Tag, der Refrain ihrer Mutter, wie überflüssig es sei, so weit draußen in Castello zu wohnen, wo sie hier ein so schönes Zuhause habe, und dann war sie fort und auf dem Weg zur Anlegestelle.
Ihre Füße kannten den Weg: zur Tür hinaus und rechts am Kanal entlang, dann links über die Brücke, nur ja nicht nachdenken, einfach immer weiter - und neun Minuten später kam sie vor der Kirche San Marcuola heraus, wo, wie sie sich erinnerte, das Grab von Hasse so schwer zu finden war, und schritt geradewegs auf den Anleger zu. Sie nahm ihre imob-Karte aus der Tasche und hielt sie an den Sensor, hörte das bestätigende Piepen und trat auf den beleuchteten embarcadero.
Und da war er wieder, der Mann, der sie von der Stiftung bis hierher verfolgt hatte. Er saß auf der Bank links von ihr, die Beine weit von sich gestreckt, die Füße gekreuzt, die Arme vor der Brust verschränkt, wie ein harmloser Wartender. Er sah auf und starrte sie, genau wie wenige Stunden zuvor, unverwandt an.
Sie steckte das Abo in die Tasche zurück, ging an dem Mann vorbei bis zum Uferrand und sah den Canal Grande hinauf. Das Boot war noch hundert Meter entfernt, deutlich sichtbar auf dem hell erleuchteten Kanal. Sein Scheinwerfer näherte sich. Was sollte sie tun, wenn er ihr aufs Boot folgte? Ihn ignorieren, an der Via Garibaldi aussteigen und zu ihrer Wohnung gehen? Natürlich wären dort noch Leute unterwegs, vielleicht aber nicht in der schmalen calle, wo ihre Wohnung war. Sie könnte die Polizei rufen - aber was, wenn er dann nicht mit ihr ausstieg? Das Boot legte an, sie ging in die Kabine und setzte sich auf einen Gangplatz, von dem aus sie beobachten konnte, wer nach ihr an Bord kam. Er blieb draußen sitzen.
Während der Matrose das Tau löste, rechnete sie damit, dass der Mann jeden Moment auf das abfahrende Boot springen würde. Aber nein. Das Boot fuhr an. Sie schaute hinüber, er saß noch auf der Bank: Die Arme verschränkt, die Beine behaglich ausgestreckt, sah er ihr mit ausdrucksloser Miene nach.
Sie blickte nach vorn. Etwas brannte ihr im Auge, und als sie danach tastete, fühlte sie den Schweiß, der ihr übers Gesicht rann und ihr Haar durchnässte. Bis zur Via Garibaldi war es fast eine halbe Stunde, und Caterina war froh, so viel Zeit zu haben, um sich zu beruhigen.
Das Boot legte an; der Matrose schlang das Tau um den Poller, und fünf oder sechs Leute erhoben sich. Sie schob sich in die Mitte der Schlange und blieb dann hinter einem älteren Pärchen, das langsam die Via Garibaldi hinaufging, bis sie zu ihrer calle gelangte. Calle Schiavona. An der Ecke hielt sie kurz inne. Den Haustürschlüssel hatte sie schon in der Hand, seit das Boot auf die Anlegestelle zugefahren war.
Das Haus stand auf der linken Seite. Vor der Tür angekommen, schloss sie auf und ging hinein. Sie machte Licht, stieg in die oberste Etage und öffnete die Wohnungstür. Drinnen machte sie eine nach der andern alle Lampen an. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie allein in der Wohnung war - eine Überlegung, die sie eilig wieder verscheuchte -, stürzte sie ins Bad und erbrach sich in die Toilette. Sie wusch sich das Gesicht, spülte sich den Mund, brühte sich in der Küche eine Tasse Kamillentee auf und ging damit ins Wohnzimmer.
Übersetzung: Werner Schmitz
All rights reserved Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 2012 Diogenes Verlag AG Zürich www.diogenes.ch 1000/12/44/1 isbn 978 3 257 06837 5
Caterina war darin ausgebildet, zwischen den Zeilen zu lesen. Es ging ihr wie einem Tierarzt, der sofort merkt, dass der Hund seines Freundes die Räude hat, oder wie einem Gesangslehrer, wenn ein Vibrato um eine Winzigkeit zu stark ist. Die Mail ihrer Schwester beunruhigte sie. Obwohl sie anfangs Genugtuung empfunden hatte bei der Lektüre, machte sie sich Sorgen wegen ihrer Schwester. »et, phone home«, flüsterte sie.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Fakten. Ihre wilden Spekulationen erwiesen sich mithin als durchaus fundiert. Sie dachte an das Porträt von Steffani als Sechzigjährigem, die langen Finger, das bartlose, aufgedunsene Gesicht, dem es so gänzlich an den Kanten und Furchen fehlte, die einen Mann attraktiv machten.
Sie stellte den Computer aus, nahm ihre Tasche und ging nach unten, jedoch nicht ohne vorher zu prüfen, ob Tresor und Bürotür fest verriegelt waren. Roseanna war nicht mehr da. Während sie die Haustür abschloss, bemerkte sie daran ein kleines Schild mit dem Hinweis, die Bibliothek bleibe bis Ende des Monats geschlossen. Immerhin war es warm draußen, die Leute, die den Leseraum in der kalten Jahreszeit als warmes Plätzchen nutzten, würden nicht zu leiden haben. Doch wo sie wohl den ganzen Tag hinbrachten?
In diese und andere Gedanken vertieft, ging Caterina nach Hause; nicht zur Wohnung, in der sie zurzeit lebte, sondern zu ihren Eltern in der Nähe von La Madonna dell'Orto, dem Viertel, das immer ihre Heimat bleiben würde.
Sie hätte zur Anlegestelle Celestia zurückgehen und das Vaporetto nehmen können, aber die Gegend gefiel ihr nicht, so gut beleuchtet sie auch sein mochte; lieber ging sie über den Campo Santa Maria Formosa zur Strada Nuova und von dort nach Hause, wie sie es zu Schulzeiten immer getan hatte.
In Gedanken bei Steffani, schenkte sie dem Mann, der neben ihr auftauchte, zunächst keine Beachtung. Erst als er auf gleicher Höhe mit ihr blieb, warf sie einen kurzen Blick hinüber, aber da sie ihn nicht kannte, ging sie einfach etwas langsamer, um ihn an sich vorbeizulassen. Der Mann aber verlangsamte ebenfalls sein Tempo und hielt mit ihr Schritt. Sie kamen auf den Campo, wo es schon ziemlich dunkel war. Die Pflastersteine waren mit einem dünnen Feuchtigkeitsfilm überzogen, in dem sich das Lampenlicht spiegelte. Einige Meter hinter der Brücke, wo Licht auch aus den Schaufenstern zu ihrer Rechten fiel, blieb sie stehen. Sie tat gar nicht erst so, als wolle sie etwas aus ihrer Tasche nehmen: Sie blieb einfach stehen und wartete, ob der Mann sich verziehen würde. Das tat er nicht.
Der Gemüsestand war schon abgebaut, auf dem Campo waren noch vereinzelte Passanten unterwegs, drei oder vier von ihnen in Rufweite, dachte sie unwillkürlich.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie und überrumpelte damit mehr sich selbst als diesen Mann.
Als er sich ihr jetzt zuwandte, packte sie eine tiefe Abneigung, irrational, aber nicht zu unterdrücken. Das ist ein böser Mann, sagte ihr Instinkt; so dazustehen und sie schweigend anzustarren, das war böse. Sie hatte nicht die geringste Angst - sie standen mitten auf einem Campo, und es waren Leute in der Nähe. Aber sie empfand Unbehagen, und je länger er schwieg, desto unbehaglicher wurde ihr. Der Mann sah absolut durchschnittlich aus: etwa in ihrem Alter, kurzes Haar, kein Bart, normale Nase, helle Augen, unauffällig.
»Was wollen Sie von mir?«, wiederholte sie, aber er schwieg beharrlich. Stand da und sah sie an, musterte ihr Gesicht, ihre Schultern, den ganzen Körper, dann wieder ihr Gesicht, als müsse er sich alles genau einprägen.
Sie wollte nur noch weglaufen oder ihm einen Stoß versetzen und dann weglaufen, unterdrückte jedoch diesen Impuls und blieb regungslos stehen. Eine volle Minute verging. Irgendwo rechts von ihr begann eine Kirchenglocke halb neun zu schlagen: Sie war spät dran fürs Abendessen.
Sie nahm die Brücke auf der anderen Seite des Campo ins Visier und ging los. Sie sah sich nicht um, horchte aber auf Schritte. In ihrem Kopf dröhnte es. Auch konnte sie sich nicht erinnern, ob seine Schritte vorhin zu hören gewesen waren. Am Fuß der Brücke war das Verlangen, sich umzudrehen und nachzusehen, ob er hinter ihr war, schier überwältigend geworden, aber sie widerstand dem Drang, überquerte die Brücke und bog dann in eine der engsten calli der Stadt ein. Sie konnte nur beten, dass ihr vom anderen Ende her jemand entgegenkam, doch da war niemand. Inzwischen bebte sie vor Verlangen, sich umzudrehen, ging aber weiter, bis sie aus der calle herauskam und die nächste Brücke erreichte.
Schon war sie auf dem Campo Santa Marina und hatte mehrere Möglichkeiten: Entweder sie ging rechts, sparte ein paar Minuten, musste aber durch die Calle dei Miracoli, die eng und nur wenig belebt war, oder sie hielt geradeaus auf San Giovanni Crisostomo zu, um im dichten Fußgängergewühl der Strada Nuova nach Hause zu gelangen. Sie ging weiter geradeaus.
Beim Essen erwähnte sie den Mann mit keinem Wort, da sie weder ihre Eltern noch sich selbst beunruhigen wollte. Er hatte sie nicht bedroht, hatte sie nicht einmal angesprochen, und doch hatte er sie aus der Fassung gebracht und - gestand sie sich ein, während sie einer Geschichte ihrer Mutter zu folgen versuchte - in Angst und Schrecken versetzt. Die Stadt war eine sichere Insel in einer Welt, die offenbar immer mehr aus den Fugen geriet: Wenn man die Zeitung las, schien es, als sei eine Seuche im Anzug. Sie konzentrierte sich wieder auf die Geschichte ihrer Mutter und das Essen. Selbstgemachte Polenta, die ihr Vater regelmäßig von einem alten Freund geschickt bekam, der im Friaul noch Mais anbaute. Kaninchen aus Bisiol, wo ihre Mutter sie seit zwanzig Jahren kaufte. Artischocken aus Sant'Erasmo: Ihre Mutter war vor kurzem einer Genossenschaft beigetreten, die zweimal wöchentlich einen Korb Gemüse und Obst anlieferte. Auf den Inhalt des Korbs hatte der Käufer keinen Einfluss: Es kam, was die Jahreszeit gerade hergab, alles biologisch angebaut.
Ihre Mutter hatte sich beklagt, in ihrem ganzen Leben habe sie noch nie so viele Äpfel gegessen, doch als Caterina nun einen davon kostete, in Rotwein gekocht und mit Schlagsahne bedeckt, hätte sie ihre Mutter am liebsten für weitere zwei Monate auf Äpfel abonniert. Sie sprachen über dies und das: die Arbeit ihres Vaters, die Freundinnen ihrer Mutter, die Ehen ihrer Schwestern, über die Nichten und Neffen. Caterina fragte sich, ob sie, sollte sie jemals ein Vermögen besitzen und selbst weder Mann noch Kinder haben, es gern Nichten und Neffen hinterlassen würde. Sie waren alle noch Kinder: Wer wusste schon, wozu sie sich einmal auswachsen würden?
Während sie mit halbem Ohr ihren Eltern zuhörte, dachte sie an Steffani. Er war den größten Teil seines Lebens in Deutschland tätig gewesen und nur gelegentlich und meist nur für kürzere Zeit nach Italien zurückgekehrt. Wie oft mochte er seine Verwandten und deren Kinder gesehen haben? Wie vertraut war er überhaupt mit ihnen, hatte er sie in die Luft geworfen, mit ihnen gespielt und ihnen Lieder vorgesungen? Und erst diese Cousins, die von den Kindeskindern von Steffanis Cousins abstammten: Mit welchem Recht beanspruchten die seine schriftlichen und sonstigen Hinterlassenschaften oder gar einen »Schatz«? Niemand hatte ihr das auch nur mit einem Wort erklärt.
Bisher hatte sie einen einzigen Hinweis auf Steffanis Nachlass gefunden; demnach waren nach Auszahlung seiner Gläubiger »2029 Florin, einige Papiere, Reliquien, Schaumünzen und Notenblätter« übriggeblieben. Dieses »und Notenblätter« traf sie mit voller Wucht. Abgesehen davon hatte der Mann vierundsiebzig Jahre gelebt und nichts hinterlassen als einige Papiere, Reliquien und einiges Geld. Also einen Schatz?
»Woher wissen wir eigentlich, dass dein Urgroßvater alles im Casinò verspielt hat?«, fragte sie unvermittelt ihren Vater. Die Eltern starrten Caterina entgeistert an, auch deshalb, weil sie ihnen so offenkundig nicht zugehört hatte.
Ihr Vater fuhr sich mit beiden Händen durch sein noch dichtes Haar, wie immer, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte. Ihre Mutter tat ihnen, wie immer, wenn etwas anders lief als geplant, noch mehr Essen auf die Teller. Alle in der Familie, ausgenommen ihre Mutter und Cinzia, aßen wie die Wölfe, ohne ein Gramm zuzunehmen. »Ich brauche nur eine Karotte zu sehen, und schon bin ich ein Kilo schwerer «, war ein Lieblingsspruch ihrer Mutter.
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte ihr Vater, was sich nicht auf die von seiner Frau so häufig zitierte Karotte bezog, sondern auf Caterinas Frage. »Es ist eine alte Familiengeschichte. Die haben wir schon als Kinder gehört, Giustino, Rinaldo und ich.«
»Hat mal jemand nachzuprüfen versucht, ob die Geschichte stimmt?«, fragte Caterina.
Ihre Mutter sah sie erschrocken an, aber ihr Vater antwortete lächelnd: »Nein, auf die Idee sind wir nie gekommen. «
»Warum?«
Er überlegte eine Weile. »Wahrscheinlich, weil die Geschichte so phantastisch war, so typisch venezianisch - den Palazzo am Kartentisch verloren, das ganze Familienvermögen verspielt.«
»Was, meinst du, ist tatsächlich passiert?«
Er zuckte die Schultern. »Das Übliche, nehme ich an. Mein Urgroßvater konnte nicht haushalten, hat nicht auf seine Frau gehört und alles verloren.«
Ihre Mutter schaltete sich ein: »So sehen wir uns gern selbst.«
»Wir?«, fragte Caterina.
»Veneziani. Gran signori«, zitierte sie den Beginn eines bekannten Spruchs darüber, dass die Venezianer gern auf großem Fuß lebten.
»Aber?«
»Cati«, sagte ihre Mutter, »so lange warst du nicht fort, dass du das vergessen haben kannst. Wir sind durchtrieben und booten andere gerne aus.«
»Aber du doch nicht, und papà auch nicht«, protestierte sie.
Ihre Eltern quittierten das mit Schweigen, bis Caterina den Löffel hinlegte und zugab: »Na schön, na schön. Ihr denkt nicht so, aber die meisten Venezianer sind sehr geschäftstüchtig. «
»Du nicht?«, fragte ihre Mutter, als habe Caterina soeben für Kinderprostitution oder das mose-Projekt Partei ergriffen.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie.
Bevor alles noch komplizierter wurde, sagte ihre Mutter: »In zwölf Minuten geht das Boot bei San Marcuola, Cati.« Ihre Mutter hatte weder auf die Uhr gesehen noch nach der Zeit gefragt: Sie hatte das im Gefühl.
Hastige Küsse, das Versprechen, am nächsten Tag anzurufen, ja jeden Tag, der Refrain ihrer Mutter, wie überflüssig es sei, so weit draußen in Castello zu wohnen, wo sie hier ein so schönes Zuhause habe, und dann war sie fort und auf dem Weg zur Anlegestelle.
Ihre Füße kannten den Weg: zur Tür hinaus und rechts am Kanal entlang, dann links über die Brücke, nur ja nicht nachdenken, einfach immer weiter - und neun Minuten später kam sie vor der Kirche San Marcuola heraus, wo, wie sie sich erinnerte, das Grab von Hasse so schwer zu finden war, und schritt geradewegs auf den Anleger zu. Sie nahm ihre imob-Karte aus der Tasche und hielt sie an den Sensor, hörte das bestätigende Piepen und trat auf den beleuchteten embarcadero.
Und da war er wieder, der Mann, der sie von der Stiftung bis hierher verfolgt hatte. Er saß auf der Bank links von ihr, die Beine weit von sich gestreckt, die Füße gekreuzt, die Arme vor der Brust verschränkt, wie ein harmloser Wartender. Er sah auf und starrte sie, genau wie wenige Stunden zuvor, unverwandt an.
Sie steckte das Abo in die Tasche zurück, ging an dem Mann vorbei bis zum Uferrand und sah den Canal Grande hinauf. Das Boot war noch hundert Meter entfernt, deutlich sichtbar auf dem hell erleuchteten Kanal. Sein Scheinwerfer näherte sich. Was sollte sie tun, wenn er ihr aufs Boot folgte? Ihn ignorieren, an der Via Garibaldi aussteigen und zu ihrer Wohnung gehen? Natürlich wären dort noch Leute unterwegs, vielleicht aber nicht in der schmalen calle, wo ihre Wohnung war. Sie könnte die Polizei rufen - aber was, wenn er dann nicht mit ihr ausstieg? Das Boot legte an, sie ging in die Kabine und setzte sich auf einen Gangplatz, von dem aus sie beobachten konnte, wer nach ihr an Bord kam. Er blieb draußen sitzen.
Während der Matrose das Tau löste, rechnete sie damit, dass der Mann jeden Moment auf das abfahrende Boot springen würde. Aber nein. Das Boot fuhr an. Sie schaute hinüber, er saß noch auf der Bank: Die Arme verschränkt, die Beine behaglich ausgestreckt, sah er ihr mit ausdrucksloser Miene nach.
Sie blickte nach vorn. Etwas brannte ihr im Auge, und als sie danach tastete, fühlte sie den Schweiß, der ihr übers Gesicht rann und ihr Haar durchnässte. Bis zur Via Garibaldi war es fast eine halbe Stunde, und Caterina war froh, so viel Zeit zu haben, um sich zu beruhigen.
Das Boot legte an; der Matrose schlang das Tau um den Poller, und fünf oder sechs Leute erhoben sich. Sie schob sich in die Mitte der Schlange und blieb dann hinter einem älteren Pärchen, das langsam die Via Garibaldi hinaufging, bis sie zu ihrer calle gelangte. Calle Schiavona. An der Ecke hielt sie kurz inne. Den Haustürschlüssel hatte sie schon in der Hand, seit das Boot auf die Anlegestelle zugefahren war.
Das Haus stand auf der linken Seite. Vor der Tür angekommen, schloss sie auf und ging hinein. Sie machte Licht, stieg in die oberste Etage und öffnete die Wohnungstür. Drinnen machte sie eine nach der andern alle Lampen an. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie allein in der Wohnung war - eine Überlegung, die sie eilig wieder verscheuchte -, stürzte sie ins Bad und erbrach sich in die Toilette. Sie wusch sich das Gesicht, spülte sich den Mund, brühte sich in der Küche eine Tasse Kamillentee auf und ging damit ins Wohnzimmer.
Übersetzung: Werner Schmitz
All rights reserved Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 2012 Diogenes Verlag AG Zürich www.diogenes.ch 1000/12/44/1 isbn 978 3 257 06837 5
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Autoren-Porträt von Donna Leon
Donna Leon, geb. 1942, verließ mit 23 Jahren New Jersey, um in Perugia und Siena weiterzustudieren. Seit 1965 lebt sie ständig im Ausland, arbeitet als Reiseleiterin in Rom, als Werbetexterin in London, an amerikanischen Schulen in der Schweiz, im Iran, in China und Saudi-Arabien. Seit 1981 lebt und arbeitet sie in Venedig.Werner Schmitz wurde 2011 mit dem "Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis" ausgezeichnet. Er wurde für seine Übersetzungen zeitgenössischer amerikanischer Literatur, insbesondere für seine Übertragung der Romane Paul Austers geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Donna Leon
- 2012, 297 Seiten, Maße: 12,4 x 18,9 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzung: Schmitz, Werner
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257068379
- ISBN-13: 9783257068375
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