"Hinter dem weißen Horizont" und "Jenseits der großen Stille"
Zwei Abenteuer-Romane in einem Band
Hinter dem weißen Horizont:
Clarissa verdankt nach einem Flugzeugunglück ihr Leben dem Instinkt eines geheimnisvollen Wolfes. Nur langsam überwindet sie den Tod ihres Mannes. In Frank findet sie eine neue Liebe. Doch dann...
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Hinter dem weißen Horizont:
Clarissa verdankt nach einem Flugzeugunglück ihr Leben dem Instinkt eines geheimnisvollen Wolfes. Nur langsam überwindet sie den Tod ihres Mannes. In Frank findet sie eine neue Liebe. Doch dann wird Frank vermisst. Und Clarissa macht sich in der eisigen Wildnis auf die Suche nach ihm.
Außerdem:
Jenseits der großen Stille.
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Hinter dem weißen Horizont von Christopher Ross1
Clarissa Swenson würde diesen Augenblick niemals vergessen. Den Ruck, der durch die einmotorige Maschine ging, und die plötzliche Stille, als der Motor der Bellanca aussetzte. Das Rauschen des Windes, der an den Tragflächen rüttelte, und den besorgten Blick ihres Mannes, der verzweifelt versuchte, die Maschine im Wind zu halten. Sie war zu lange mit einem Piloten verheiratet, um in Panik zu geraten. Jack war ein erfahrener Buschpilot, der monatelang sein Leben bei den Barnstormers riskiert hatte und seit fünf Jahren über Alaska und den Yukon flog. Er würde die Maschine nach unten bringen. Sie wusste, wie empfindlich die Bellancas in diesem Nebel reagierten, und hatte von Jack gelernt, dass man eine solche Maschine auch ohne laufenden Propeller in der Wildnis landen konnte, wenn man eine Senke oder ein verschneites Ufer fand, um sicher aufsetzen zu können. Aber in diesem Nebel waren selbst die hohen Fichten am zugefrorenen Fluss nur als dunkle Schatten auszumachen. »Wir haben ein Problem«, sagte Jack in seiner nüchternen Art, »wenn wir nicht bald was finden, geht die Maschine zu Bruch.«
Unter normalen Umständen hätte Jack die Bellanca sicher auf den Boden gebracht, davon war Clarissa fest überzeugt. So wie vor einigen Jahren, als sie mit dem Wanderzirkus in Wyoming gastiert hatten und Jack mit einem Doppeldecker über den Festplatz geflogen war. Kein Zuschauer hatte gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung gewesen war. Nur ihr war aufgefallen, dass der abgeschaltete Motor nicht zur Show gehört hatte und Jack bemüht gewesen war, die leichte Maschine in den Wind zu stellen. Er war holpernd auf dem langen Highway gelandet, der vor der Stadt durch das endlose Grasland führte. Aber damals hatte die Sonne geschienen, und jetzt befanden sie sich in einer Nebelwand, die keinen
... mehr
Anfang und kein Ende erkennen ließ und irgendwo in der Ferne mit dem weißen Horizont verschmolz. Ohne Vorwarnung war die weiße Wand vor ihnen aufgetaucht, wie eine zähe Suppe, die ein unsichtbarer Riese hinter den Bergen ausgeschüttet hatte. »Ich muss ein Loch finden«, hatte Jack gesagt, »dann können wir über die Wolken gehen und nach besserem Wetter suchen. Irgendwo muss der Nebel doch zu Ende sein.«
Der Nebel wurde dicker, schien die Maschine wie ein nasses Tuch einzuhüllen und jedes Leben ersticken zu wollen. Ein Blick auf den Höhenmesser zeigte Clarissa, dass sie sich keine zweihundert Fuß mehr über dem Boden befanden und jeden Augenblick die Bäume streifen oder gegen eine Bergwand prallen konnten. In einem Umkreis von zweihundert Meilen war nur Wildnis. Sie hatten den Lake Laberge am frühen Morgen verlassen und befanden sich irgendwo über den Ogilvie Mountains, einer einsamen Gegend, die einigen Polizisten der legendären Royal Canadian Mounted Police zum Verhängnis geworden war, als sie sich in der verschneiten Wildnis verirrt hatten und einen qualvollen Tod in der Kälte gestorben waren. Ihnen würde es ähnlich ergehen, wenn Jack es nicht schaffte, eine Lücke im Nebel zu finden und die Maschine heil auf den Boden zu bringen.
Die Bellanca zitterte im böigen Wind. Die Landkarte, die auf der Ablage über den Armaturen gelegen hatte, war gegen das Seitenfenster gerutscht. Der Nebel drängte sich vor der Frontscheibe und floss bedrohlich an der Maschine entlang. Jack saß gerade auf seinem Sitz, den Kopf weit nach vorn gebeugt, den Blick in das endlose Weiß gerichtet. Seine Hände umklammerten den Steuerknüppel. An den vielen Schweißtropfen, die über seine Stirn und seine Wangen perlten, erkannte Clarissa, wie ernst ihre Lage war. Die Nadel des Höhenmessers drehte sich stetig nach links. »Jack«, sagte sie leise. Sie starrte nach vorn, die Hände in den Sitz gekrallt, und betete stumm. Ihre Angst wurde immer größer. »Wir müssen runter«, sagte sie mit einem Blick auf den Höhenmesser. »Um Gottes willen, wir müssen runter.«
Jack drückte das Ruder nach vorn, arbeitete mit Händen und Füßen, um die Maschine im Gleichgewicht zu halten. Er befand sich nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation, war als Barnstormer im amerikanischen Westen und Buschflieger im hohen Norden schon etliche Male in Lebensgefahr gewesen, zuletzt vor ein paar Wochen, als er in einen eisigen Nebel geraten war, der die Tragflächen seiner Bellanca mit einer dicken Eisschicht überzogen hatte. Eis auf den Tragflächen war das Schlimmste, was einem Buschpiloten passieren konnte, drückte ein kleines Flugzeug wie die Bellanca unweigerlich nach unten und ließ es zerschellen, wenn man zu spät reagierte. Jack hatte die Maschine am Seeufer aufgesetzt und mit dem Propeller ins feuchte Gras gebohrt, ein geringer Schaden, der bald wieder behoben war. Diesmal ging es um Leben und Tod, wenn nicht bald eine Lücke im Nebel sichtbar wurde. Er beugte sich noch weiter nach vorn und starrte angestrengt in das endlose Weiß.
Clarissa sah das Loch zuerst, eine kaum sichtbare Öffnung im Nebel, die den Boden zumindest erahnen ließ. »Jack! Da drüben!«, rief sie aufgeregt. Ihr Mann steuerte die Maschine nach links und hielt mit zitterndem Steuerknüppel auf die Öffnung zu. Der Zeiger des Höhenmessers drehte sich viel zu schnell, als die Bellanca nach unten sauste. Nebelfetzen flogen am grauen Rumpf vorbei und schlugen hinter ihnen zusammen. Das düstere Zwielicht eines späten Herbsttages empfing sie. Die Maschine bockte, wurde vom Wind nach oben und wieder nach unten geworfen, hielt sich kaum noch in der Luft. Unter ihnen tauchten die dunklen Umrisse eines Fichtenwaldes und das graue Band eines zugefrorenen Baches auf. Auf einem Hügelkamm, der sich zwischen einigen Felsen erhob, glaubte Clarissa einen einsamen Wolf zu sehen. Jack suchte nach einem Landeplatz und fand lediglich ein abschüssiges Schneefeld, das sich zwischen einer Felswand und dem Wald erstreckte. Es gab keine andere Möglichkeit, die Maschine zu landen. »Halt dich fest«, warnte Jack seine Frau. »Wir bauen eine Bruchlandung.«
Während die Bellanca ständig tiefer sackte und ihr Mann angestrengt versuchte, die Maschine in den Wind zu drehen, gingen Clarissa die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Sie dachte an jenen Morgen in South Dakota, als sie ihren ersten Looping mit Jack geflogen war. Ein wunderschöner Morgen mit einem wolkenlosen Himmel und strahlendem Sonnenschein, wie zum Fliegen gemacht, hatte Jack gesagt. Sie war zu ihm ins Cockpit geklettert und hatte sich wie ein Kind gefreut, als er die Maschine auf den Kopf gestellt hatte. Mehrere hundert Fuß über dem Erdboden hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. »Natürlich will ich dich heiraten, Jack«, hatte sie geantwortet, »ich dachte schon, du fragst nie.« Nach der Landung waren sie einander in die Arme gefallen, und die Leute hatten begeistert applaudiert.
Sie dachte an ihre wilden Jahre bei den Barnstormers, die vielen unbedeutenden Städte und die schäbigen Motels, in denen sie übernachtet hatten. Es waren schwere Zeiten gewesen, und manchmal hatte ihr Geld nicht einmal für ein ordentliches Frühstück gereicht, aber sie waren glücklich gewesen, obwohl Jack beinahe jeden Nachmittag sein Leben riskiert hatte. Damals hatte Clarissa keine Angst gehabt. Sie war eine Fliegerbraut, gehörte nicht zu den jungen Dingern, die jedem Barnstormer auf Schritt und Tritt folgten und beim ersten Looping in Ohnmacht fielen. Jack war ein erstklassiger Flieger und hatte sie mit seiner Begeisterung angesteckt. Sie hatte sogar daran gedacht, selber das Fliegen zu erlernen. Auch zur Beerdigung ihres Vaters waren sie im Doppeldecker geflogen, und nachdem sie die kleine Farm für ein paar Dollar verkauft hatten, waren sie nach Alaska gegangen, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Seit fünf Jahren waren sie im hohen Norden, zuerst in Alaska und dann im Yukon-Territorium des nördlichen Kanada, und sie hatten ihren Schritt nicht ein einziges Mal bereut. Jack hatte einen Vertrag von der Regierung bekommen und versorgte die Indianerdörfer in den Bergen mit Lebensmitteln und Medikamenten, und es gab genügend Fallensteller und Jäger, die ihn anheuerten, um schneller in die Wildnis zu kommen. Diesmal waren sie ohne Fracht unterwegs, um eine neue Route über die Berge zu erkunden, und Clarissa hatte die Gelegenheit ergriffen, um sich »mal wieder den Wind um die Nase wehen zu lassen«, wie ihr Mann sich auszudrücken pflegte. Niemand würde sie vermissen, wenn sie nach einer Bruchlandung hilflos im eisigen Schnee liegen blieben. Niemand würde nach ihnen suchen. Clarissas Brustkorb verengte sich, als die schrecklichen Bilder eines Absturzes vor ihr auftauchten, und ihre Augen flackerten nervös. Selbst eine Fliegerbraut wie sie spürte Todesangst, wenn ein kleines Flugzeug wie die Bellanca hilflos auf ein abschüssiges Schneefeld zuraste und nur ein Wunder sie noch retten konnte.
Die weiße Wand des schneebedeckten Hanges kam bedrohlich schnell auf sie zu. Ihre Gedanken wurden vom pfeifenden Wind zerfetzt, und die Maschine klapperte wie ein Wrack, das von einem Sturm gegen die Hangarwand getrieben wird. Sie schrien nicht, als die Maschine aufsetzte und die Skier abbrachen, nur Jack stieß einen deftigen Fluch aus, bevor er nach vorn geschleudert wurde und mit dem Kopf in die Frontscheibe krachte. Clarissa hatte mehr Glück, fiel gegen ihren verletzten Mann und blieb bei Bewusstsein, während die Bellanca steuerlos über das Schneefeld holperte, sich einmal überschlug und auf den Wald zuraste. Sie hielt sich mit beiden Händen fest, sah das Blut ihres Mannes auf der Frontscheibe und erkannte schon in diesem Augenblick, dass Jack nicht mehr zu helfen war. Jetzt schrie sie, unkontrolliert und laut, bis die Maschine gegen einen Baum knallte, sie durch die aufgesprungene Tür nach draußen geschleudert wurde und regungslos liegen blieb. Sie sah nicht mehr, wie das Flugzeug explodierte und ihr Mann bis zur Unkenntlichkeit verbrannte, wachte erst wieder auf, als ein kalter Windstoß ihre Augen öffnete und sie aus der Bewusstlosigkeit riss.
Clarissa starrte in die Flammen, die immer noch aus der Maschine schlugen, wollte aufstehen und zu ihrem Mann laufen und fiel mit einem Aufschrei in den Schnee zurück. Ihr rechtes Bein war gebrochen. »Jack. Jack.« Sie wollte schreien, aber sie brachte nur ein heiseres Krächzen heraus, und als sie sich zur Seite drehte, schoss ein brennender Schmerz durch ihren Körper und lenkte sie vom Schicksal ihres Mannes ab. Sie blieb liegen, weinte schluchzend, bis keine Tränen mehr kamen, und beschloss erst dann, um ihr eigenes Leben zu kämpfen. Trauer und Mitleid hatten in dieser Wildnis keinen Platz. Ihrem Mann war nicht mehr zu helfen, und es ging jetzt nur noch darum, selbst zu überleben.
Aus dem Norden zog ein frostiger Wind heran, die Temperatur war auf mindestens zehn Grad unter null gesunken. Clarissa stützte sich auf die Ellenbogen und blickte Hilfe suchend in die Runde. Hinter ihr erstreckte sich die glitzernde Ebene, jungfräulicher Schnee, der nur von der tiefen Schleifspur der Bellanca durchzogen war. Die zerklüfteten Felsen ragten wie die gichtkranken Hände eines Greises dahinter empor. Vor ihr lag der dunkle Fichtenwald. Sie konnte sich nicht daran erinnern, aus der Luft eine Trapperhütte oder irgendeinen anderen Hinweis auf menschliches Leben gesehen zu haben. Sie war allein, fernab der Zivilisation, und durch das gebrochene Bein zum Tode verurteilt. Selbst wenn es ihr gelang, das verletzte Bein zu schienen und Krücken zu finden, könnte sie niemals in dieser Wildnis überleben. Hier gab es hungrige Wölfe, die sie anfallen würden, sobald sie ihre Schwäche bemerkten, und sie konnte sich glücklich schätzen, wenn sich die Bären schon zum Winterschlaf zurückgezogen hatten. Der Winter hatte sich mit den ersten Schneefällen angekündigt, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Temperaturen noch tiefer sanken und der unbarmherzige Frost ihr Leben auslöschen würde. Sie brauchte einen warmen Unterschlupf und etwas zu essen und zu trinken, sonst würde es nur wenige Stunden dauern, bis sie ihrem Mann folgte.
Clarissa lebte lange genug in der Wildnis, um sich keinen Illusionen hinzugeben. Nur ein Wunder konnte sie noch retten. Die Chancen, mit einem gebrochenen Bein in dieser Eiseskälte zu überleben, waren beinahe aussichtslos. Sie blickte zu dem brennenden Flugzeug hinüber und spürte, wie ihr Brustkorb sich zusammenzog. Für einen langen Augenblick verdrängte die Trauer um ihren toten Mann den eigenen Schmerz. Ihr wurde klar, dass Jack für alle Zeiten von ihr gegangen war und sie ihn niemals wieder sehen würde. Das lausbubenhafte Grinsen, das seinen Mund manchmal umspielt hatte, würde sie niemals wieder verzaubern, und seine sanften Hände würden ihr nicht mehr sagen, dass er sie liebte. Sie schloss für einige Momente die Augen und fraß den Schmerz in sich hinein. Wenn sie weiterleben wollte, musste sie etwas tun. Wenn sie untätig liegen blieb, würde die eisige Kälte sie in den sicheren Tod schicken.
Schließlich zog sie sich mit den Händen durch den Schnee, stützte sich mit dem gesunden Bein ab und schrie vor Schmerzen auf, als sie das gebrochene Bein bewegte. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen eine erneute Ohnmacht an. Sie kroch ein paar Meter und bekam eine hölzerne Strebe des Flugzeugs zu fassen, die während der Bruchlandung abgesplittert war. Jede Bewegung bereitete ihr höllische Schmerzen. Sie drückte das gebrochene Bein mit dem gesunden Fuß nach unten, atmete tief durch, um die schwarzen Schleier vor ihren Augen zu vertreiben, und legte die Strebe an den Unterschenkel. Sie band das Holz mit einigen Rohhautschnüren fest, die sie in der Tasche ihres Anoraks gefunden hatte. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. Sie kroch zum Waldrand und suchte zwei abgebrochene Äste, die ihr als Krücken dienen konnten, stemmte sich vom Boden hoch und sank erschöpft gegen einen Baum. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie sich von der Anstrengung erholt hatte und wieder ruhig atmen konnte. Sie humpelte ein paar Meter und blieb stehen.
Dann stützte sie sich wieder auf die Krücken und näherte sich dem ausgebrannten Flugzeug. Vielleicht ließen sich einige Sachen gebrauchen. In angemessener Entfernung blieb sie stehen. »Liebster Jack«, flüsterte sie traurig, »und ich kann dich nicht mal begraben.« Sie kehrte um und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, nur weg von dem Wrack und ihrem verbrannten Mann. Auf dem Schneehang zögerte sie minutenlang. Erst jetzt wurde ihr die eisige Kälte bewusst. Sie würde es nicht schaffen! Sie würde keinen Tag in dieser arktischen Kälte überstehen, obwohl sie einen winterfesten Anorak aus Karibufell und gefütterte Hosen trug. Ihre Stiefel waren mit Eisbärenfell überzogen, das Geschenk eines Inuit, der mit ihnen nach Barrow geflogen war. Sie trug eine Fellmütze mit Ohrenschützern und hatte sogar eine Schneebrille aus Elfenbein um den Hals hängen. Darauf hatte Jack immer geachtet. Wer über menschenleere Gebiete flog, musste immer mit einem Wetterumschwung rechnen und darauf gefasst sein, auf einem See oder an einem Flussufer zu landen und einige Zeit in der Kälte auszuharren. Clarissa blickte zu dem Flugzeug zurück. Was tat man, wenn die Maschine ausgebrannt war und die nächste Siedlung über zweihundert Meilen entfernt war? Wie kam man mit einem gebrochenen Bein durch den Schnee?
Sie humpelte am Waldrand entlang, wo der Schnee nicht so tief war und der Wind nicht so stark blies. Ihre einzige Chance bestand darin, einen Fallensteller oder eine Patrouille der Royal Canadian Mounted Police aufzuspüren. Ein beinahe aussichtsloses Unterfangen in dieser endlosen Weite. Oder sie begegnete einigen Indianern, aber die gingen im Winter kaum auf die Jagd und verirrten sich nur selten in die geheimnisvollen Ogilvie Mountains. Zumindest die Han, die an den Ufern des Yukon lebten, wagten sich nicht in die dunklen Schluchten. Sie fürchteten sich vor den bösen Geistern, die nur darauf warteten, einen stattlichen Jäger ins Verderben zu locken. In den Bergen regierten die Bären und die Wölfe. Sie hatten die weißen Goldsucher vertrieben, die vor mehr als dreißig Jahren über die versteckten Pfade gezogen waren, und wurden den Polizisten zum Verhängnis, die so unvorsichtig gewesen waren, im tiefsten Winter das Schicksal herauszufordern.
Das einzige Lebewesen, das es jemals mit den bösen Geistern aufgenommen hatte, war ein Krieger der Hare gewesen, der vom Mackenzie River gekommen war und seine Frau in einem Schneesturm verloren hatte. Er war tagelang durch die Wildnis geirrt, um sie zu finden, und hatte einen einsamen Wolf getötet, um in der Einsamkeit überleben zu können. Er hatte das rohe Fleisch des Wolfes gegessen und sein Blut getrunken, und manche Indianer erzählten, dass er zu einem Wolfshund geworden war, zu einem Geist-Tier, das ziellos durch die Ogilvie Mountains zog, auf der Suche nach seiner geliebten Frau und darum bemüht, unschuldige Menschen vor dem Tod zu retten.
Daran musste Clarissa denken, als sie die schattenhaften Umrisse eines einsamen Wolfes in der Dämmerung sah. Er stand auf einem fernen Hügelkamm, den Kopf stolz erhoben, und blickte zu ihr herab. Das musste derselbe Wolf sein, den sie vom Flugzeug aus entdeckt hatte. Sie blickte genauer hin und rieb sich erstaunt die Augen, denn plötzlich war der Wolf verschwunden, und sie war wieder allein mit der Wildnis und dem Wind. Sie blieb stehen und sprach ein Gebet, das sie als Kind von ihrer Mutter gelernt hatte. Es machte wenig Sinn in dieser Abgeschiedenheit, doch ihr fielen keine anderen Worte ein, und dem lieben Gott würde es egal sein, was sie sagte, solange sie sich nur an ihn wandte. »Und dass du mir gut für meinen Jack sorgst«, fügte sie ernst hinzu. »Er war ein guter Mann.«
Jenseits der großen Stille von Christopher Ross
1
Das Heulen der Wölfe war bis in die Stadt zu hören. Ein lang gezogenes Klagen aus den nahen Wäldern, das mit dem kühlen Wind über die Rollbahn getragen wurde. Dichte Nebelschwaden hingen über Weeks Field. Die Positionslichter der Rollbahn flackerten im feuchten Dunst und blendeten die elegant gekleidete Frau, die ihren Chevrolet neben der Holzhütte des Airport Managers parkte und ihren Mantelkragen zuknöpfte, bevor sie ausstieg. Eisiger Nieselregen schlug ihr entgegen. Sie rannte geduckt zum Büroeingang und atmete erleichtert auf, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. »Scheußliches Wetter!«
»Hi, Clarissa«, begrüßte Harry Cheek die eintretende Frau. Der ehemalige Pilot arbeitete für den Flughafen, seit er bei einer Bruchlandung ein Auge verloren hatte und gezwungen war, auf dem Boden zu bleiben. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er in der Luft verbracht und es niemals verwunden, dass ihm das Schicksal so übel mitgespielt hatte. »Frank ist schon unterwegs! Er musste einen Colonel der Army mitnehmen, sonst wäre er gar nicht losgeflogen. In Chena ist der Nebel noch dichter als hier! Hatte es furchtbar eilig, der Lamettaträger. Tat gerade so, als müsste er noch heute Abend nach Europa fliegen und den Krieg gegen die Deutschen gewinnen! Wie wär's mit einem Kaffee?«
»Immer«, erwiderte Clarissa und versuchte ihre Nervosität hinter einem flüchtigen Lächeln zu verbergen. »Mit viel Milch und Zucker.« Sie öffnete ihren Mantel und wärmte ihre Hände über dem heißen Ofen. »Danke, dass du mich angerufen hast. Ich wollte gerade aus dem Haus.
Du weißt schon, heute findet die Benefizveranstaltung für die neue Konzerthalle statt.« Sie trat ans Fenster und blickte besorgt in den Nebel hinaus. »Ich hätte nie gedacht, dass Frank bei diesem Wetter losfliegt! Hat die Armee denn keine eigenen Flugzeuge?«
Harry grinste. »Doch. Aber bei dem Nebel will keiner von den Burschen in die Luft! Das schaffen nur ganze Kerle wie dein Frank!« Er rührte seinen Kaffee um und stellte den Becher auf den Tisch. Sein Blick fiel auf ihr dunkelgrünes Kostüm mit der silbernen Brosche. Er nickte anerkennend. »Du siehst gut aus, Clarissa!«
Ein amüsiertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Weil ich mich so aufgetakelt habe?« Sie strich nachdenklich über den edlen Stoff; das kostbare Kostüm hatte sie auf ihrer letzten Reise nach Anchorage erstanden. »Ich will einen guten Eindruck bei den Leuten machen, das ist alles. Der Reporter des News-Miner macht bestimmt wieder ein Foto von mir, und ich möchte besser aussehen als nach dem Derby!« Clarissa hatte das »Dog Derby« gewonnen, ein Schlittenhundrennen, das jedes Jahr nach dem »Winter Carnival« in Fairbanks veranstaltet wurde. Seitdem hingen die Reporter des Fairbanks Daily News-Miner an ihren Fersen. Sie war noch berühmter als vor zehn Jahren, als sie mit ihrem Mann, einem ehemaligen Polizisten der Royal Canadian Mounted Police, nach Alaska gekommen war. Damals hatte sie die »Yukon Trophy« gewonnen, das angeblich »härteste Schlittenhundrennen der Welt«. Doch ihr Ruhm war schnell verblasst und erst wieder aufgeblüht, als sie ihre wesentlich jüngeren Konkurrenten beim Dog Derby besiegt hatte. Jetzt war sie vierzig.
»Bist du nächsten Winter wieder dabei?«, fragte Harry. Er steckte seine Pfeife an und blies den Rauch an Clarissa vorbei. Sie hatte ihm oft genug versichert, dass ihr der Rauch nichts ausmachte. Ihr Mann rauchte Zigarre. »Deine Hunde sind schneller als im letzten Winter, besonders der Leithund. Dusty, nicht wahr?«
Clarissa nickte, ohne den Blick von der Rollbahn zu nehmen. Sie stand immer noch am Fenster. Der Nebel schien dichter geworden zu sein und hing in zerfetzten Schwaden über dem Flugplatz. Sie wandte sich zu Harry. »Dusty hat das letzte Rennen ganz allein gewonnen«, erwiderte sie. »Hab ich dir mal erzählt, wie er den jungen Grumpy zum Weiterlaufen gebracht hat? Das war oben in den Highlands. Hinter dem Kontrollpunkt legte sich der Kleine in den Schnee und streikte. Er hatte keine Lust mehr. Dusty bellte ihn so wütend an, dass er wie ein aufgeschrecktes Kaninchen losrannte und beinahe den Schlitten umgekippt hat! Seitdem gehört er zu meinen besten Hunden!« Sie trank von dem heißen Kaffee und nickte in Richtung des Funkgeräts. »Frank hat sich noch nicht gemeldet, oder? Er müsste doch längst hier sein!«
Harry gab sich Mühe, seine Besorgnis zu verbergen. Mit einem Blick auf die Wanduhr sagte er: »Zehn, fünfzehn Minuten wird er wohl noch brauchen! Selbst dein Mann kann nicht zaubern!« Sein Lachen klang gekünstelt. »Mach dir keine Sorgen, Clarissa! Frank ist die Vorsicht in Person! Er gehört zu unseren erfahrensten Piloten! Eher setzt er diesen Colonel in Seattle ab, bevor er eine Bruchlandung im Nebel riskiert!« Er deutete aus dem Fenster. »Aber Frank findet immer eine Lücke!«
Clarissa teilte das Vertrauen des Managers nur zum Teil. Vor zehn Jahren war sie mit ihrem ersten Mann amYukon abgestürzt. Auch er war ein erfahrener Buschpilot gewesen. Sie hatte neben ihm im Cockpit gesessen, als der Motor abstarb und sie zu einer Bruchlandung gezwungen waren. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die furchtbaren Bilder noch immer. Das zerfetzte Wrack der Bellanca, die brennenden Holzstreben und den verkohlten Körper ihres Mannes. In ihren Träumen schiente sie noch einmal ihr gebrochenes Bein und humpelte zu der rettenden Hütte. Ein Wolfshund hatte ihr damals den Weg gezeigt und ihr das Leben gerettet. Außer Frank, der Nanuk mit eigenen Augen gesehen hatte, glaubte kaum jemand diese sagenhafte Geschichte. Eine Legende der Indianer berichtete von einem verzweifelten Krieger, der vom Mackenzie River gekommen war und seine Frau in einem Schneesturm verloren hatte. Tagelang irrte er durch die Wildnis und tötete einen einsamen Wolf, um in der Einsamkeit überleben zu können. Er aß das rohe Fleisch des Tieres und trank sein Blut, und einige Indianer behaupteten, dass er zu einem Wolfshund geworden war, zu einem Geist-Tier, das ziellos durch die Berge des Nordens zog, auf der Suche nach seiner geliebten Frau und immer darum bemüht, unschuldige Menschen vor dem Tod zu retten.
Aus dem Nebel drang das vielstimmige Geheul der Wölfe. Obwohl das Fenster geschlossen war, konnte man es deutlich hören. Clarissa versuchte, die Nebelfetzen mit ihrem Blick zu durchdringen. Im trüben Grau des frühen Abends erkannte sie die Umrisse einiger Häuser und den baufälligen Zaun, der den Flughafen umgab. Auf dem Rollfeld standen zwei kleinere Flugzeuge, eine Standard und eine Bellanca. Sie erkannte die Maschinen nur an ihren schemenhaften Umrissen. Ein Pickup fuhr am Zaun entlang und ließ die Ergebnistafel des heimischen Baseball-Clubs im Scheinwerferlicht erkennen. Auf dem staubigen Platz fand jeden Sonntag ein Meisterschaftsspiel statt. Die Nebelschwaden hingen wie der gefrorene Atem eines unheimlichen Riesen über dem Boden und ließen das Wolfsgeheul noch bedrohlicher erscheinen. »So nahe waren sie schon lange nicht mehr«, sagte Clarissa, ohne sich umzudrehen. »Die haben bestimmt großen Hunger!«
»Wär nicht das erste Mal«, meinte der Manager. Er zog nachdenklich an seiner Pfeife. »Anfang der dreißiger Jahre kamen sie bis in die Stadt! Ich war damals für den Fairbanks Air Service unterwegs. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich die Wölfe aus der Luft gesehen habe! Die Biester waren vor Hunger fast verrückt! Sie rissen die Milchkuh vom alten Scotty und wagten sich bis auf die Front Street vor. Hätte dieser Polizist nicht das Leittier erschossen, wär's wohl noch schlimmer gekommen!«
Clarissa hatte keine Angst vor Wölfen. Sie lebte seit über
zehn Jahren in der Wildnis und war mit den Tieren vertraut. Sie griffen nur selten einen Menschen an. Erst vor zwei Wochen hatte der News-Miner berichtet, dass während der letzten zehn Jahre nur ein Bewohner der Stadt von einem Wolf getötet worden war, und der hatte die Tollwut gehabt.Wölfe mieden die Menschen und näherten sich einer Siedlung nur, wenn ihr Hunger unerträglich wurde. »Seltsam«, erwiderte sie, »eigentlich müssten sie satt sein. In den Wäldern gibt es genug Wild, und gebrannt hat es nur im Norden. Ob es ein Rudel nach Süden verschlagen hat?«
»Keine Ahnung«, antwortete Harry, »darum soll sich die Regierung kümmern! Ich hab mit Wölfen wenig im Sinn. Früher hab ich mich mit ihnen angelegt, so wie damals in den Highlands, als mir dieses Biest direkt vor die Maschine lief! Den hab ich mit einer Kugel vertrieben! Heute verlasse ich die Stadt kaum noch.«
Clarissa blickte in ihren Kaffeebecher und vor ihren Augen erschien das Bild eines wütenden Wolfsrudels, das sie bedrängte. Wenige Meter vor der Blockhütte war sie von den hungrigen Tieren eingekreist worden, kurz nachdem sie ihren Mann verloren hatte. Und auch aus dieser gefährlichen Lage hatte Nanuk sie befreit. Der Wolfshund hatte seine wilden Brüder vertrieben.
Durch den Nebel drang das leise Brummen eines Flugzeugmotors. Ein vertrautes Geräusch, das ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. So wie vor über zehn Jahren, als Jack mit seiner Standard vor ihrem Haus gelandet war und sie zu einem Flug über die Felder abgeholt hatte. Unterwegs hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte angenommen und war mit ihm nach Alaska und an den Yukon gezogen. Auch dort war das Brummen stets gegenwärtig. Wie oft hatte sie besorgt in ihrer Blockhütte gesessen und ihren Mann herbeigesehnt! Das gemeinsame Schicksal aller Frauen, die mit einem Buschpiloten verheiratet waren. Ein Flug in die Wildnis war immer mit Gefahren verbunden, auch für einen erfahrenen Piloten, und das Motorengeräusch, das durch die arktische Kälte drang, wurde zu einem Signal der Hoffnung und der Freude.Wenn sie es hörte, wusste sie, da kommt mein Mann! Er kommt nach Hause! Nichts war schlimmer als die Stille, wenn man auf den geliebten Partner wartete. So war es auch bei Frank, der seinen Job bei der Royal Canadian Mounted Police gekündigt hatte und Buschpilot geworden war. »Ich weiß, wie sehr du um deinen Mann trauerst«, hatte er gesagt. Er sprach immer noch von »ihrem Mann«, wenn er Jack erwähnte. Dann hatte er dieses verschmitzte Lächeln im. Gesicht, das sie so an ihm liebte. »Ich passe auf mich auf, Clarissa! Hörst du? Ich lasse dich nicht allein!«
Das Funkgerät knisterte. »Fairbanks Radio! Fairbanks Radio! Hier ist Fairchild Zwei-Null-Sieben-Sechs-Sechs! Ich bin gleich bei euch! Was habt ihr für ein Wetter da unten?«
»Frank!«, rief Clarissa aufgeregt.
Harry Cheek eilte ans Funkgerät und legte einen Kippschalter um. »Fairbanks Radio! Fairbanks Radio! Es sieht übel aus, mein Junge! Über dem Flughafen hängt eine dichte Wolkendecke, ungefähr dreihundert Fuß, und hier unten macht sich der Nebel breit! Aber wenn du eine Lücke findest und unter die Wolken kommst, schaffst du es! Ich schalte die Festbeleuchtung ein, okay?«
»Roger, Harry«, antwortete Frank. Seine Stimme klang verzerrt. »Ich flieg nach Süden, vielleicht gibt es da eine Lücke! Ist nicht das erste Mal, dass ich einen Umweg fliegen muss. Über dem Valley sind immer Löcher. Weiß meine Frau, dass ich komme?«
»Sie steht neben mir, Frank!«
»Hallo, Schatz!«, grüßte Frank über das Funkgerät. Clarissa griff nach dem Mikrofon und versuchte ihrer Stimme einen aufmunternden Klang zu geben. »Hallo, Frank! Musst du ausgerechnet bei diesem Sauwetter durch die Gegend fliegen? Oder hast du dir eine DC-3 geliehen?« Ihr Lachen klang gekünstelt. »Pass auf dich auf, ja? Ich hab keine Lust, dich wieder gesund zu pflegen!«
»Keine Bange, Schatz!«, kam die zuversichtliche Antwort. »Ich finde schon eine Lücke! Ich hab einen wichtigen Passagier bei mir, einen Colonel, der unbedingt zu seiner Einheit muss. Es wär bestimmt nicht in seinem Sinne, wenn ich irgendwo in den Bergen lande und mit ihm auf Bärenjagd gehe!« Sein Lachen war fröhlicher. »Wer hätte das gedacht! Ein kanadischer Ex-Mountie rettet die Ehre der US-Armee! Wenn ich nicht aufpasse, steckt mich der Colonel in einen dieser schnellen Abfangjäger!«
Sie war viel zu nervös, um auf seine Scherze einzugehen. »Geh kein Risiko ein, Frank! Lande irgendwo anders, wenn der Nebel zu dicht ist!«
»Ich passe auf, Schatz! Ganz bestimmt!«
Das Funkgerät verstummte, und sie kehrte nachdenklich ans Fenster zurück. Sie war zu lange mit einem Buschpiloten verheiratet, um den Ernst der Lage zu verkennen. Auch wenn seine Maschine voll getankt war, bestand die Gefahr, dass er keine Lücke in der Wolkendecke fand und riskieren musste, blind nach unten zu stoßen. Selbst wenn er es schaffte, drohte ihm eine Bruchlandung. Außerhalb der Stadt gab es kaum Lichter, und die Wahrscheinlichkeit, im dichten Nebel in den Bergen zu zerschellen oder in den Baumkronen zu landen, war groß. So war ihr erster Mann gestorben, ein erfahrener Buschflieger, der niemals ein unnötiges Risiko eingegangen war. »Als Buschflieger musst du das Glück gepachtet haben«, sagten die Oldtimer, »sonst hast du keine Chance in diesem wilden Land!« Ein winziger Fehler, und man war der übermächtigen Natur ausgeliefert. »Wird schon schief gehen«, versuchte Harry sie aufzumuntern, »so was kommt alle paar Tage vor, das weißt du doch am besten! Irgendwo gibt es immer eine Lücke, und der Rest ist ein Kinderspiel! Das hab ich oft genug erlebt! Hab ich dir mal von meinem Flug nach Barrow erzählt, das muss Ende der Zwanziger gewesen sein. Ich hatte einen Hundeschlitten geladen und kam in diesen fürchterlichen Eisnebel! Du hast kaum die Hand vor Augen gesehen, und ein Funkgerät gab es damals noch nicht ...«
Lampe stehen. In dem kalten Licht wirkte ihr Gesicht unnatürlich blass. Der Regen hing wie silberner Staub in der feuchten Luft und vermischte sich mit den Nebelschwaden, die selbst die Lichter der nahen Stadt in weite Ferne rückten. Ihre Nervosität kehrte zurück. Besorgt horchte sie auf das nahende Motorengeräusch. Auch ein erfahrener Pilot musste sein ganzes Können aufbieten, um bei diesem Wetter sicher aufzusetzen.
Später würde sie oft an jenen Augenblick denken, als die Fairchild aus den Wolken tauchte und wie ein dunkler Schatten durch den Nebel taumelte. Genauso war es gewesen, als sie mit Jack abgestürzt war. »Frank! Mein Gott, Frank! Was ist los?«
Frank hatte die Kontrolle über die Maschine verloren. Die Fairchild torkelte führerlos durch den Nebel, und es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht wie ein Stein zu Boden fiel. »Zieh sie nach oben, Frank!«, rief Clarissa in aufkommender Panik. »Mehr Seitenruder! Himmel, was tust du da, Frank? Halte sie gerade!«
Die Fairchild kam näher, brach nach links aus und zog wieder nach rechts. Unter der Maschine leuchteten die Positionslichter der Landebahn. »Du bist zu schnell!«, rief Clarissa. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, und sie merkte gar nicht, dass Harry Cheek aus der Hütte gerannt kam und schwer atmend neben ihr stehen blieb. Sie begann zu weinen. »Frank... viel zu schnell ...«
Auch Harry schrie und gestikulierte, aber sie nahm ihn nicht wahr. Ihr entsetzter Blick folgte der Maschine, die viel zu steil auf die Landebahn zuraste, mit einer Tragfläche den nassen Boden berührte und in einer schmutzigen Wolke um die eigene Achse gewirbelt wurde. Die Schnauze kippte nach vorn, der Propeller brach ab und wirbelte durch die Luft. Aus der linken Tragfläche schoss eine Stichflamme. Clarissa sah, wie der Körper ihres Mannes aus der brennenden Maschine geschleudert wurde und im Schlamm liegen blieb. Sekunden später explodierte die Fairchild. Eine grelle Stichflamme stieg
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»Radio Fairbanks! Radio Fairbanks!«, unterbrach ihn die Stimme aus dem Funkgerät. »Hier ist Fairchild Zwei-NullSieben-Sechs-Sechs! Ich hab die Lücke gefunden! Setz schon mal den Kaffee auf, und sag der Army, sie soll einen Fahrer schicken!«
Harry nahm erleichtert die Pfeife aus dem Mund. »Na, also! Ich hab doch gewusst, dass du dich nicht unterkriegen lässt!« Er las einige Daten von seinem Notizblock ab und strahlte Clarissa an. »Und einen schönen Gruß von deiner Frau soll ich dir bestellen! Sie kann es gar nicht erwarten, dich in die Arme zu schließen!«
»Sag ihr, dass ich sie liebe, okay?«
Jetzt schaffte auch Clarissa ein Lächeln. »Woher weißt du das alles?«, fragte sie, nachdem Harry auf Empfang gestellt hatte. »Das ist nicht schwer zu erraten«, erwiderte er.
Ihr Lächeln ließ sie mädchenhaft wirken. Eide Beobachtung, die ihren Mann und viele ihrer Bekannten faszinierte. Obwohl sie vor einigen Tagen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert und einen großen Teil ihres Lebens in der Wildnis des Hohen Nordens verbracht hatte, war ihr Gesicht kaum gealtert. »Das ist die frische Luft«, sagte sie, wenn man sie darauf ansprach. Frank schob es auf ihre Augen. Das Leuchten schien tief aus ihrer Seele zu kommen. Gleich am ersten Tag, als er verletzt in ihren Armen aufgewacht war, hatte er erkannt, wie viel Sanftmut und Zärtlichkeit diese Frau ausstrahlte. »Ich weiß, dass du deinen Mann immer noch liebst«, hatte er an ihrem ersten Hochzeitstag gesagt, »und ich danke dir für die Liebe, die du für mich aufgehoben hast! Du hast die schönsten Augen der Welt, Clarissa!«
Das Motorengeräusch der Fairchild kam näher und ließ sie unruhig werden. »Ich warte draußen, Harry.« Sie öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um, als ihr der kühle Wind den Nieselregen ins Gesicht trieb, »Vergiss nicht, den Kaffee aufzusetzen!«
Sie lief über den regennassen Platz und blieb unter einer aus dem Wrack und durchbrach die dichten Nebelschwaden wie ein Blitz.
Clarissa starrte mit geweiteten Augen in den Nebel. Tiefes Entsetzen lähmte ihren Körper. Das Prasseln des Feuers und das Poltern der herabfallenden Wrackteile drang durch einen dichten Schleier zu ihr. Der Nebel wurde eins mit den Flammen und dem reglosen Schatten ihres Mannes. Erst dann wurde ihr das ganze Ausmaß des Unglücks bewusst. »Frank!«, kam es verzweifelt über ihre Lippen. »Bitte nicht, Frank! Nicht schon wieder!« Sie rannte in panischer Angst über den Platz, fiel weinend neben ihrem Mann auf die Knie und schloss ihn vorsichtig in die Arme.
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Der Nebel wurde dicker, schien die Maschine wie ein nasses Tuch einzuhüllen und jedes Leben ersticken zu wollen. Ein Blick auf den Höhenmesser zeigte Clarissa, dass sie sich keine zweihundert Fuß mehr über dem Boden befanden und jeden Augenblick die Bäume streifen oder gegen eine Bergwand prallen konnten. In einem Umkreis von zweihundert Meilen war nur Wildnis. Sie hatten den Lake Laberge am frühen Morgen verlassen und befanden sich irgendwo über den Ogilvie Mountains, einer einsamen Gegend, die einigen Polizisten der legendären Royal Canadian Mounted Police zum Verhängnis geworden war, als sie sich in der verschneiten Wildnis verirrt hatten und einen qualvollen Tod in der Kälte gestorben waren. Ihnen würde es ähnlich ergehen, wenn Jack es nicht schaffte, eine Lücke im Nebel zu finden und die Maschine heil auf den Boden zu bringen.
Die Bellanca zitterte im böigen Wind. Die Landkarte, die auf der Ablage über den Armaturen gelegen hatte, war gegen das Seitenfenster gerutscht. Der Nebel drängte sich vor der Frontscheibe und floss bedrohlich an der Maschine entlang. Jack saß gerade auf seinem Sitz, den Kopf weit nach vorn gebeugt, den Blick in das endlose Weiß gerichtet. Seine Hände umklammerten den Steuerknüppel. An den vielen Schweißtropfen, die über seine Stirn und seine Wangen perlten, erkannte Clarissa, wie ernst ihre Lage war. Die Nadel des Höhenmessers drehte sich stetig nach links. »Jack«, sagte sie leise. Sie starrte nach vorn, die Hände in den Sitz gekrallt, und betete stumm. Ihre Angst wurde immer größer. »Wir müssen runter«, sagte sie mit einem Blick auf den Höhenmesser. »Um Gottes willen, wir müssen runter.«
Jack drückte das Ruder nach vorn, arbeitete mit Händen und Füßen, um die Maschine im Gleichgewicht zu halten. Er befand sich nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation, war als Barnstormer im amerikanischen Westen und Buschflieger im hohen Norden schon etliche Male in Lebensgefahr gewesen, zuletzt vor ein paar Wochen, als er in einen eisigen Nebel geraten war, der die Tragflächen seiner Bellanca mit einer dicken Eisschicht überzogen hatte. Eis auf den Tragflächen war das Schlimmste, was einem Buschpiloten passieren konnte, drückte ein kleines Flugzeug wie die Bellanca unweigerlich nach unten und ließ es zerschellen, wenn man zu spät reagierte. Jack hatte die Maschine am Seeufer aufgesetzt und mit dem Propeller ins feuchte Gras gebohrt, ein geringer Schaden, der bald wieder behoben war. Diesmal ging es um Leben und Tod, wenn nicht bald eine Lücke im Nebel sichtbar wurde. Er beugte sich noch weiter nach vorn und starrte angestrengt in das endlose Weiß.
Clarissa sah das Loch zuerst, eine kaum sichtbare Öffnung im Nebel, die den Boden zumindest erahnen ließ. »Jack! Da drüben!«, rief sie aufgeregt. Ihr Mann steuerte die Maschine nach links und hielt mit zitterndem Steuerknüppel auf die Öffnung zu. Der Zeiger des Höhenmessers drehte sich viel zu schnell, als die Bellanca nach unten sauste. Nebelfetzen flogen am grauen Rumpf vorbei und schlugen hinter ihnen zusammen. Das düstere Zwielicht eines späten Herbsttages empfing sie. Die Maschine bockte, wurde vom Wind nach oben und wieder nach unten geworfen, hielt sich kaum noch in der Luft. Unter ihnen tauchten die dunklen Umrisse eines Fichtenwaldes und das graue Band eines zugefrorenen Baches auf. Auf einem Hügelkamm, der sich zwischen einigen Felsen erhob, glaubte Clarissa einen einsamen Wolf zu sehen. Jack suchte nach einem Landeplatz und fand lediglich ein abschüssiges Schneefeld, das sich zwischen einer Felswand und dem Wald erstreckte. Es gab keine andere Möglichkeit, die Maschine zu landen. »Halt dich fest«, warnte Jack seine Frau. »Wir bauen eine Bruchlandung.«
Während die Bellanca ständig tiefer sackte und ihr Mann angestrengt versuchte, die Maschine in den Wind zu drehen, gingen Clarissa die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Sie dachte an jenen Morgen in South Dakota, als sie ihren ersten Looping mit Jack geflogen war. Ein wunderschöner Morgen mit einem wolkenlosen Himmel und strahlendem Sonnenschein, wie zum Fliegen gemacht, hatte Jack gesagt. Sie war zu ihm ins Cockpit geklettert und hatte sich wie ein Kind gefreut, als er die Maschine auf den Kopf gestellt hatte. Mehrere hundert Fuß über dem Erdboden hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. »Natürlich will ich dich heiraten, Jack«, hatte sie geantwortet, »ich dachte schon, du fragst nie.« Nach der Landung waren sie einander in die Arme gefallen, und die Leute hatten begeistert applaudiert.
Sie dachte an ihre wilden Jahre bei den Barnstormers, die vielen unbedeutenden Städte und die schäbigen Motels, in denen sie übernachtet hatten. Es waren schwere Zeiten gewesen, und manchmal hatte ihr Geld nicht einmal für ein ordentliches Frühstück gereicht, aber sie waren glücklich gewesen, obwohl Jack beinahe jeden Nachmittag sein Leben riskiert hatte. Damals hatte Clarissa keine Angst gehabt. Sie war eine Fliegerbraut, gehörte nicht zu den jungen Dingern, die jedem Barnstormer auf Schritt und Tritt folgten und beim ersten Looping in Ohnmacht fielen. Jack war ein erstklassiger Flieger und hatte sie mit seiner Begeisterung angesteckt. Sie hatte sogar daran gedacht, selber das Fliegen zu erlernen. Auch zur Beerdigung ihres Vaters waren sie im Doppeldecker geflogen, und nachdem sie die kleine Farm für ein paar Dollar verkauft hatten, waren sie nach Alaska gegangen, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Seit fünf Jahren waren sie im hohen Norden, zuerst in Alaska und dann im Yukon-Territorium des nördlichen Kanada, und sie hatten ihren Schritt nicht ein einziges Mal bereut. Jack hatte einen Vertrag von der Regierung bekommen und versorgte die Indianerdörfer in den Bergen mit Lebensmitteln und Medikamenten, und es gab genügend Fallensteller und Jäger, die ihn anheuerten, um schneller in die Wildnis zu kommen. Diesmal waren sie ohne Fracht unterwegs, um eine neue Route über die Berge zu erkunden, und Clarissa hatte die Gelegenheit ergriffen, um sich »mal wieder den Wind um die Nase wehen zu lassen«, wie ihr Mann sich auszudrücken pflegte. Niemand würde sie vermissen, wenn sie nach einer Bruchlandung hilflos im eisigen Schnee liegen blieben. Niemand würde nach ihnen suchen. Clarissas Brustkorb verengte sich, als die schrecklichen Bilder eines Absturzes vor ihr auftauchten, und ihre Augen flackerten nervös. Selbst eine Fliegerbraut wie sie spürte Todesangst, wenn ein kleines Flugzeug wie die Bellanca hilflos auf ein abschüssiges Schneefeld zuraste und nur ein Wunder sie noch retten konnte.
Die weiße Wand des schneebedeckten Hanges kam bedrohlich schnell auf sie zu. Ihre Gedanken wurden vom pfeifenden Wind zerfetzt, und die Maschine klapperte wie ein Wrack, das von einem Sturm gegen die Hangarwand getrieben wird. Sie schrien nicht, als die Maschine aufsetzte und die Skier abbrachen, nur Jack stieß einen deftigen Fluch aus, bevor er nach vorn geschleudert wurde und mit dem Kopf in die Frontscheibe krachte. Clarissa hatte mehr Glück, fiel gegen ihren verletzten Mann und blieb bei Bewusstsein, während die Bellanca steuerlos über das Schneefeld holperte, sich einmal überschlug und auf den Wald zuraste. Sie hielt sich mit beiden Händen fest, sah das Blut ihres Mannes auf der Frontscheibe und erkannte schon in diesem Augenblick, dass Jack nicht mehr zu helfen war. Jetzt schrie sie, unkontrolliert und laut, bis die Maschine gegen einen Baum knallte, sie durch die aufgesprungene Tür nach draußen geschleudert wurde und regungslos liegen blieb. Sie sah nicht mehr, wie das Flugzeug explodierte und ihr Mann bis zur Unkenntlichkeit verbrannte, wachte erst wieder auf, als ein kalter Windstoß ihre Augen öffnete und sie aus der Bewusstlosigkeit riss.
Clarissa starrte in die Flammen, die immer noch aus der Maschine schlugen, wollte aufstehen und zu ihrem Mann laufen und fiel mit einem Aufschrei in den Schnee zurück. Ihr rechtes Bein war gebrochen. »Jack. Jack.« Sie wollte schreien, aber sie brachte nur ein heiseres Krächzen heraus, und als sie sich zur Seite drehte, schoss ein brennender Schmerz durch ihren Körper und lenkte sie vom Schicksal ihres Mannes ab. Sie blieb liegen, weinte schluchzend, bis keine Tränen mehr kamen, und beschloss erst dann, um ihr eigenes Leben zu kämpfen. Trauer und Mitleid hatten in dieser Wildnis keinen Platz. Ihrem Mann war nicht mehr zu helfen, und es ging jetzt nur noch darum, selbst zu überleben.
Aus dem Norden zog ein frostiger Wind heran, die Temperatur war auf mindestens zehn Grad unter null gesunken. Clarissa stützte sich auf die Ellenbogen und blickte Hilfe suchend in die Runde. Hinter ihr erstreckte sich die glitzernde Ebene, jungfräulicher Schnee, der nur von der tiefen Schleifspur der Bellanca durchzogen war. Die zerklüfteten Felsen ragten wie die gichtkranken Hände eines Greises dahinter empor. Vor ihr lag der dunkle Fichtenwald. Sie konnte sich nicht daran erinnern, aus der Luft eine Trapperhütte oder irgendeinen anderen Hinweis auf menschliches Leben gesehen zu haben. Sie war allein, fernab der Zivilisation, und durch das gebrochene Bein zum Tode verurteilt. Selbst wenn es ihr gelang, das verletzte Bein zu schienen und Krücken zu finden, könnte sie niemals in dieser Wildnis überleben. Hier gab es hungrige Wölfe, die sie anfallen würden, sobald sie ihre Schwäche bemerkten, und sie konnte sich glücklich schätzen, wenn sich die Bären schon zum Winterschlaf zurückgezogen hatten. Der Winter hatte sich mit den ersten Schneefällen angekündigt, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Temperaturen noch tiefer sanken und der unbarmherzige Frost ihr Leben auslöschen würde. Sie brauchte einen warmen Unterschlupf und etwas zu essen und zu trinken, sonst würde es nur wenige Stunden dauern, bis sie ihrem Mann folgte.
Clarissa lebte lange genug in der Wildnis, um sich keinen Illusionen hinzugeben. Nur ein Wunder konnte sie noch retten. Die Chancen, mit einem gebrochenen Bein in dieser Eiseskälte zu überleben, waren beinahe aussichtslos. Sie blickte zu dem brennenden Flugzeug hinüber und spürte, wie ihr Brustkorb sich zusammenzog. Für einen langen Augenblick verdrängte die Trauer um ihren toten Mann den eigenen Schmerz. Ihr wurde klar, dass Jack für alle Zeiten von ihr gegangen war und sie ihn niemals wieder sehen würde. Das lausbubenhafte Grinsen, das seinen Mund manchmal umspielt hatte, würde sie niemals wieder verzaubern, und seine sanften Hände würden ihr nicht mehr sagen, dass er sie liebte. Sie schloss für einige Momente die Augen und fraß den Schmerz in sich hinein. Wenn sie weiterleben wollte, musste sie etwas tun. Wenn sie untätig liegen blieb, würde die eisige Kälte sie in den sicheren Tod schicken.
Schließlich zog sie sich mit den Händen durch den Schnee, stützte sich mit dem gesunden Bein ab und schrie vor Schmerzen auf, als sie das gebrochene Bein bewegte. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen eine erneute Ohnmacht an. Sie kroch ein paar Meter und bekam eine hölzerne Strebe des Flugzeugs zu fassen, die während der Bruchlandung abgesplittert war. Jede Bewegung bereitete ihr höllische Schmerzen. Sie drückte das gebrochene Bein mit dem gesunden Fuß nach unten, atmete tief durch, um die schwarzen Schleier vor ihren Augen zu vertreiben, und legte die Strebe an den Unterschenkel. Sie band das Holz mit einigen Rohhautschnüren fest, die sie in der Tasche ihres Anoraks gefunden hatte. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. Sie kroch zum Waldrand und suchte zwei abgebrochene Äste, die ihr als Krücken dienen konnten, stemmte sich vom Boden hoch und sank erschöpft gegen einen Baum. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie sich von der Anstrengung erholt hatte und wieder ruhig atmen konnte. Sie humpelte ein paar Meter und blieb stehen.
Dann stützte sie sich wieder auf die Krücken und näherte sich dem ausgebrannten Flugzeug. Vielleicht ließen sich einige Sachen gebrauchen. In angemessener Entfernung blieb sie stehen. »Liebster Jack«, flüsterte sie traurig, »und ich kann dich nicht mal begraben.« Sie kehrte um und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, nur weg von dem Wrack und ihrem verbrannten Mann. Auf dem Schneehang zögerte sie minutenlang. Erst jetzt wurde ihr die eisige Kälte bewusst. Sie würde es nicht schaffen! Sie würde keinen Tag in dieser arktischen Kälte überstehen, obwohl sie einen winterfesten Anorak aus Karibufell und gefütterte Hosen trug. Ihre Stiefel waren mit Eisbärenfell überzogen, das Geschenk eines Inuit, der mit ihnen nach Barrow geflogen war. Sie trug eine Fellmütze mit Ohrenschützern und hatte sogar eine Schneebrille aus Elfenbein um den Hals hängen. Darauf hatte Jack immer geachtet. Wer über menschenleere Gebiete flog, musste immer mit einem Wetterumschwung rechnen und darauf gefasst sein, auf einem See oder an einem Flussufer zu landen und einige Zeit in der Kälte auszuharren. Clarissa blickte zu dem Flugzeug zurück. Was tat man, wenn die Maschine ausgebrannt war und die nächste Siedlung über zweihundert Meilen entfernt war? Wie kam man mit einem gebrochenen Bein durch den Schnee?
Sie humpelte am Waldrand entlang, wo der Schnee nicht so tief war und der Wind nicht so stark blies. Ihre einzige Chance bestand darin, einen Fallensteller oder eine Patrouille der Royal Canadian Mounted Police aufzuspüren. Ein beinahe aussichtsloses Unterfangen in dieser endlosen Weite. Oder sie begegnete einigen Indianern, aber die gingen im Winter kaum auf die Jagd und verirrten sich nur selten in die geheimnisvollen Ogilvie Mountains. Zumindest die Han, die an den Ufern des Yukon lebten, wagten sich nicht in die dunklen Schluchten. Sie fürchteten sich vor den bösen Geistern, die nur darauf warteten, einen stattlichen Jäger ins Verderben zu locken. In den Bergen regierten die Bären und die Wölfe. Sie hatten die weißen Goldsucher vertrieben, die vor mehr als dreißig Jahren über die versteckten Pfade gezogen waren, und wurden den Polizisten zum Verhängnis, die so unvorsichtig gewesen waren, im tiefsten Winter das Schicksal herauszufordern.
Das einzige Lebewesen, das es jemals mit den bösen Geistern aufgenommen hatte, war ein Krieger der Hare gewesen, der vom Mackenzie River gekommen war und seine Frau in einem Schneesturm verloren hatte. Er war tagelang durch die Wildnis geirrt, um sie zu finden, und hatte einen einsamen Wolf getötet, um in der Einsamkeit überleben zu können. Er hatte das rohe Fleisch des Wolfes gegessen und sein Blut getrunken, und manche Indianer erzählten, dass er zu einem Wolfshund geworden war, zu einem Geist-Tier, das ziellos durch die Ogilvie Mountains zog, auf der Suche nach seiner geliebten Frau und darum bemüht, unschuldige Menschen vor dem Tod zu retten.
Daran musste Clarissa denken, als sie die schattenhaften Umrisse eines einsamen Wolfes in der Dämmerung sah. Er stand auf einem fernen Hügelkamm, den Kopf stolz erhoben, und blickte zu ihr herab. Das musste derselbe Wolf sein, den sie vom Flugzeug aus entdeckt hatte. Sie blickte genauer hin und rieb sich erstaunt die Augen, denn plötzlich war der Wolf verschwunden, und sie war wieder allein mit der Wildnis und dem Wind. Sie blieb stehen und sprach ein Gebet, das sie als Kind von ihrer Mutter gelernt hatte. Es machte wenig Sinn in dieser Abgeschiedenheit, doch ihr fielen keine anderen Worte ein, und dem lieben Gott würde es egal sein, was sie sagte, solange sie sich nur an ihn wandte. »Und dass du mir gut für meinen Jack sorgst«, fügte sie ernst hinzu. »Er war ein guter Mann.«
Jenseits der großen Stille von Christopher Ross
1
Das Heulen der Wölfe war bis in die Stadt zu hören. Ein lang gezogenes Klagen aus den nahen Wäldern, das mit dem kühlen Wind über die Rollbahn getragen wurde. Dichte Nebelschwaden hingen über Weeks Field. Die Positionslichter der Rollbahn flackerten im feuchten Dunst und blendeten die elegant gekleidete Frau, die ihren Chevrolet neben der Holzhütte des Airport Managers parkte und ihren Mantelkragen zuknöpfte, bevor sie ausstieg. Eisiger Nieselregen schlug ihr entgegen. Sie rannte geduckt zum Büroeingang und atmete erleichtert auf, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. »Scheußliches Wetter!«
»Hi, Clarissa«, begrüßte Harry Cheek die eintretende Frau. Der ehemalige Pilot arbeitete für den Flughafen, seit er bei einer Bruchlandung ein Auge verloren hatte und gezwungen war, auf dem Boden zu bleiben. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er in der Luft verbracht und es niemals verwunden, dass ihm das Schicksal so übel mitgespielt hatte. »Frank ist schon unterwegs! Er musste einen Colonel der Army mitnehmen, sonst wäre er gar nicht losgeflogen. In Chena ist der Nebel noch dichter als hier! Hatte es furchtbar eilig, der Lamettaträger. Tat gerade so, als müsste er noch heute Abend nach Europa fliegen und den Krieg gegen die Deutschen gewinnen! Wie wär's mit einem Kaffee?«
»Immer«, erwiderte Clarissa und versuchte ihre Nervosität hinter einem flüchtigen Lächeln zu verbergen. »Mit viel Milch und Zucker.« Sie öffnete ihren Mantel und wärmte ihre Hände über dem heißen Ofen. »Danke, dass du mich angerufen hast. Ich wollte gerade aus dem Haus.
Du weißt schon, heute findet die Benefizveranstaltung für die neue Konzerthalle statt.« Sie trat ans Fenster und blickte besorgt in den Nebel hinaus. »Ich hätte nie gedacht, dass Frank bei diesem Wetter losfliegt! Hat die Armee denn keine eigenen Flugzeuge?«
Harry grinste. »Doch. Aber bei dem Nebel will keiner von den Burschen in die Luft! Das schaffen nur ganze Kerle wie dein Frank!« Er rührte seinen Kaffee um und stellte den Becher auf den Tisch. Sein Blick fiel auf ihr dunkelgrünes Kostüm mit der silbernen Brosche. Er nickte anerkennend. »Du siehst gut aus, Clarissa!«
Ein amüsiertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Weil ich mich so aufgetakelt habe?« Sie strich nachdenklich über den edlen Stoff; das kostbare Kostüm hatte sie auf ihrer letzten Reise nach Anchorage erstanden. »Ich will einen guten Eindruck bei den Leuten machen, das ist alles. Der Reporter des News-Miner macht bestimmt wieder ein Foto von mir, und ich möchte besser aussehen als nach dem Derby!« Clarissa hatte das »Dog Derby« gewonnen, ein Schlittenhundrennen, das jedes Jahr nach dem »Winter Carnival« in Fairbanks veranstaltet wurde. Seitdem hingen die Reporter des Fairbanks Daily News-Miner an ihren Fersen. Sie war noch berühmter als vor zehn Jahren, als sie mit ihrem Mann, einem ehemaligen Polizisten der Royal Canadian Mounted Police, nach Alaska gekommen war. Damals hatte sie die »Yukon Trophy« gewonnen, das angeblich »härteste Schlittenhundrennen der Welt«. Doch ihr Ruhm war schnell verblasst und erst wieder aufgeblüht, als sie ihre wesentlich jüngeren Konkurrenten beim Dog Derby besiegt hatte. Jetzt war sie vierzig.
»Bist du nächsten Winter wieder dabei?«, fragte Harry. Er steckte seine Pfeife an und blies den Rauch an Clarissa vorbei. Sie hatte ihm oft genug versichert, dass ihr der Rauch nichts ausmachte. Ihr Mann rauchte Zigarre. »Deine Hunde sind schneller als im letzten Winter, besonders der Leithund. Dusty, nicht wahr?«
Clarissa nickte, ohne den Blick von der Rollbahn zu nehmen. Sie stand immer noch am Fenster. Der Nebel schien dichter geworden zu sein und hing in zerfetzten Schwaden über dem Flugplatz. Sie wandte sich zu Harry. »Dusty hat das letzte Rennen ganz allein gewonnen«, erwiderte sie. »Hab ich dir mal erzählt, wie er den jungen Grumpy zum Weiterlaufen gebracht hat? Das war oben in den Highlands. Hinter dem Kontrollpunkt legte sich der Kleine in den Schnee und streikte. Er hatte keine Lust mehr. Dusty bellte ihn so wütend an, dass er wie ein aufgeschrecktes Kaninchen losrannte und beinahe den Schlitten umgekippt hat! Seitdem gehört er zu meinen besten Hunden!« Sie trank von dem heißen Kaffee und nickte in Richtung des Funkgeräts. »Frank hat sich noch nicht gemeldet, oder? Er müsste doch längst hier sein!«
Harry gab sich Mühe, seine Besorgnis zu verbergen. Mit einem Blick auf die Wanduhr sagte er: »Zehn, fünfzehn Minuten wird er wohl noch brauchen! Selbst dein Mann kann nicht zaubern!« Sein Lachen klang gekünstelt. »Mach dir keine Sorgen, Clarissa! Frank ist die Vorsicht in Person! Er gehört zu unseren erfahrensten Piloten! Eher setzt er diesen Colonel in Seattle ab, bevor er eine Bruchlandung im Nebel riskiert!« Er deutete aus dem Fenster. »Aber Frank findet immer eine Lücke!«
Clarissa teilte das Vertrauen des Managers nur zum Teil. Vor zehn Jahren war sie mit ihrem ersten Mann amYukon abgestürzt. Auch er war ein erfahrener Buschpilot gewesen. Sie hatte neben ihm im Cockpit gesessen, als der Motor abstarb und sie zu einer Bruchlandung gezwungen waren. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die furchtbaren Bilder noch immer. Das zerfetzte Wrack der Bellanca, die brennenden Holzstreben und den verkohlten Körper ihres Mannes. In ihren Träumen schiente sie noch einmal ihr gebrochenes Bein und humpelte zu der rettenden Hütte. Ein Wolfshund hatte ihr damals den Weg gezeigt und ihr das Leben gerettet. Außer Frank, der Nanuk mit eigenen Augen gesehen hatte, glaubte kaum jemand diese sagenhafte Geschichte. Eine Legende der Indianer berichtete von einem verzweifelten Krieger, der vom Mackenzie River gekommen war und seine Frau in einem Schneesturm verloren hatte. Tagelang irrte er durch die Wildnis und tötete einen einsamen Wolf, um in der Einsamkeit überleben zu können. Er aß das rohe Fleisch des Tieres und trank sein Blut, und einige Indianer behaupteten, dass er zu einem Wolfshund geworden war, zu einem Geist-Tier, das ziellos durch die Berge des Nordens zog, auf der Suche nach seiner geliebten Frau und immer darum bemüht, unschuldige Menschen vor dem Tod zu retten.
Aus dem Nebel drang das vielstimmige Geheul der Wölfe. Obwohl das Fenster geschlossen war, konnte man es deutlich hören. Clarissa versuchte, die Nebelfetzen mit ihrem Blick zu durchdringen. Im trüben Grau des frühen Abends erkannte sie die Umrisse einiger Häuser und den baufälligen Zaun, der den Flughafen umgab. Auf dem Rollfeld standen zwei kleinere Flugzeuge, eine Standard und eine Bellanca. Sie erkannte die Maschinen nur an ihren schemenhaften Umrissen. Ein Pickup fuhr am Zaun entlang und ließ die Ergebnistafel des heimischen Baseball-Clubs im Scheinwerferlicht erkennen. Auf dem staubigen Platz fand jeden Sonntag ein Meisterschaftsspiel statt. Die Nebelschwaden hingen wie der gefrorene Atem eines unheimlichen Riesen über dem Boden und ließen das Wolfsgeheul noch bedrohlicher erscheinen. »So nahe waren sie schon lange nicht mehr«, sagte Clarissa, ohne sich umzudrehen. »Die haben bestimmt großen Hunger!«
»Wär nicht das erste Mal«, meinte der Manager. Er zog nachdenklich an seiner Pfeife. »Anfang der dreißiger Jahre kamen sie bis in die Stadt! Ich war damals für den Fairbanks Air Service unterwegs. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich die Wölfe aus der Luft gesehen habe! Die Biester waren vor Hunger fast verrückt! Sie rissen die Milchkuh vom alten Scotty und wagten sich bis auf die Front Street vor. Hätte dieser Polizist nicht das Leittier erschossen, wär's wohl noch schlimmer gekommen!«
Clarissa hatte keine Angst vor Wölfen. Sie lebte seit über
zehn Jahren in der Wildnis und war mit den Tieren vertraut. Sie griffen nur selten einen Menschen an. Erst vor zwei Wochen hatte der News-Miner berichtet, dass während der letzten zehn Jahre nur ein Bewohner der Stadt von einem Wolf getötet worden war, und der hatte die Tollwut gehabt.Wölfe mieden die Menschen und näherten sich einer Siedlung nur, wenn ihr Hunger unerträglich wurde. »Seltsam«, erwiderte sie, »eigentlich müssten sie satt sein. In den Wäldern gibt es genug Wild, und gebrannt hat es nur im Norden. Ob es ein Rudel nach Süden verschlagen hat?«
»Keine Ahnung«, antwortete Harry, »darum soll sich die Regierung kümmern! Ich hab mit Wölfen wenig im Sinn. Früher hab ich mich mit ihnen angelegt, so wie damals in den Highlands, als mir dieses Biest direkt vor die Maschine lief! Den hab ich mit einer Kugel vertrieben! Heute verlasse ich die Stadt kaum noch.«
Clarissa blickte in ihren Kaffeebecher und vor ihren Augen erschien das Bild eines wütenden Wolfsrudels, das sie bedrängte. Wenige Meter vor der Blockhütte war sie von den hungrigen Tieren eingekreist worden, kurz nachdem sie ihren Mann verloren hatte. Und auch aus dieser gefährlichen Lage hatte Nanuk sie befreit. Der Wolfshund hatte seine wilden Brüder vertrieben.
Durch den Nebel drang das leise Brummen eines Flugzeugmotors. Ein vertrautes Geräusch, das ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. So wie vor über zehn Jahren, als Jack mit seiner Standard vor ihrem Haus gelandet war und sie zu einem Flug über die Felder abgeholt hatte. Unterwegs hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte angenommen und war mit ihm nach Alaska und an den Yukon gezogen. Auch dort war das Brummen stets gegenwärtig. Wie oft hatte sie besorgt in ihrer Blockhütte gesessen und ihren Mann herbeigesehnt! Das gemeinsame Schicksal aller Frauen, die mit einem Buschpiloten verheiratet waren. Ein Flug in die Wildnis war immer mit Gefahren verbunden, auch für einen erfahrenen Piloten, und das Motorengeräusch, das durch die arktische Kälte drang, wurde zu einem Signal der Hoffnung und der Freude.Wenn sie es hörte, wusste sie, da kommt mein Mann! Er kommt nach Hause! Nichts war schlimmer als die Stille, wenn man auf den geliebten Partner wartete. So war es auch bei Frank, der seinen Job bei der Royal Canadian Mounted Police gekündigt hatte und Buschpilot geworden war. »Ich weiß, wie sehr du um deinen Mann trauerst«, hatte er gesagt. Er sprach immer noch von »ihrem Mann«, wenn er Jack erwähnte. Dann hatte er dieses verschmitzte Lächeln im. Gesicht, das sie so an ihm liebte. »Ich passe auf mich auf, Clarissa! Hörst du? Ich lasse dich nicht allein!«
Das Funkgerät knisterte. »Fairbanks Radio! Fairbanks Radio! Hier ist Fairchild Zwei-Null-Sieben-Sechs-Sechs! Ich bin gleich bei euch! Was habt ihr für ein Wetter da unten?«
»Frank!«, rief Clarissa aufgeregt.
Harry Cheek eilte ans Funkgerät und legte einen Kippschalter um. »Fairbanks Radio! Fairbanks Radio! Es sieht übel aus, mein Junge! Über dem Flughafen hängt eine dichte Wolkendecke, ungefähr dreihundert Fuß, und hier unten macht sich der Nebel breit! Aber wenn du eine Lücke findest und unter die Wolken kommst, schaffst du es! Ich schalte die Festbeleuchtung ein, okay?«
»Roger, Harry«, antwortete Frank. Seine Stimme klang verzerrt. »Ich flieg nach Süden, vielleicht gibt es da eine Lücke! Ist nicht das erste Mal, dass ich einen Umweg fliegen muss. Über dem Valley sind immer Löcher. Weiß meine Frau, dass ich komme?«
»Sie steht neben mir, Frank!«
»Hallo, Schatz!«, grüßte Frank über das Funkgerät. Clarissa griff nach dem Mikrofon und versuchte ihrer Stimme einen aufmunternden Klang zu geben. »Hallo, Frank! Musst du ausgerechnet bei diesem Sauwetter durch die Gegend fliegen? Oder hast du dir eine DC-3 geliehen?« Ihr Lachen klang gekünstelt. »Pass auf dich auf, ja? Ich hab keine Lust, dich wieder gesund zu pflegen!«
»Keine Bange, Schatz!«, kam die zuversichtliche Antwort. »Ich finde schon eine Lücke! Ich hab einen wichtigen Passagier bei mir, einen Colonel, der unbedingt zu seiner Einheit muss. Es wär bestimmt nicht in seinem Sinne, wenn ich irgendwo in den Bergen lande und mit ihm auf Bärenjagd gehe!« Sein Lachen war fröhlicher. »Wer hätte das gedacht! Ein kanadischer Ex-Mountie rettet die Ehre der US-Armee! Wenn ich nicht aufpasse, steckt mich der Colonel in einen dieser schnellen Abfangjäger!«
Sie war viel zu nervös, um auf seine Scherze einzugehen. »Geh kein Risiko ein, Frank! Lande irgendwo anders, wenn der Nebel zu dicht ist!«
»Ich passe auf, Schatz! Ganz bestimmt!«
Das Funkgerät verstummte, und sie kehrte nachdenklich ans Fenster zurück. Sie war zu lange mit einem Buschpiloten verheiratet, um den Ernst der Lage zu verkennen. Auch wenn seine Maschine voll getankt war, bestand die Gefahr, dass er keine Lücke in der Wolkendecke fand und riskieren musste, blind nach unten zu stoßen. Selbst wenn er es schaffte, drohte ihm eine Bruchlandung. Außerhalb der Stadt gab es kaum Lichter, und die Wahrscheinlichkeit, im dichten Nebel in den Bergen zu zerschellen oder in den Baumkronen zu landen, war groß. So war ihr erster Mann gestorben, ein erfahrener Buschflieger, der niemals ein unnötiges Risiko eingegangen war. »Als Buschflieger musst du das Glück gepachtet haben«, sagten die Oldtimer, »sonst hast du keine Chance in diesem wilden Land!« Ein winziger Fehler, und man war der übermächtigen Natur ausgeliefert. »Wird schon schief gehen«, versuchte Harry sie aufzumuntern, »so was kommt alle paar Tage vor, das weißt du doch am besten! Irgendwo gibt es immer eine Lücke, und der Rest ist ein Kinderspiel! Das hab ich oft genug erlebt! Hab ich dir mal von meinem Flug nach Barrow erzählt, das muss Ende der Zwanziger gewesen sein. Ich hatte einen Hundeschlitten geladen und kam in diesen fürchterlichen Eisnebel! Du hast kaum die Hand vor Augen gesehen, und ein Funkgerät gab es damals noch nicht ...«
Lampe stehen. In dem kalten Licht wirkte ihr Gesicht unnatürlich blass. Der Regen hing wie silberner Staub in der feuchten Luft und vermischte sich mit den Nebelschwaden, die selbst die Lichter der nahen Stadt in weite Ferne rückten. Ihre Nervosität kehrte zurück. Besorgt horchte sie auf das nahende Motorengeräusch. Auch ein erfahrener Pilot musste sein ganzes Können aufbieten, um bei diesem Wetter sicher aufzusetzen.
Später würde sie oft an jenen Augenblick denken, als die Fairchild aus den Wolken tauchte und wie ein dunkler Schatten durch den Nebel taumelte. Genauso war es gewesen, als sie mit Jack abgestürzt war. »Frank! Mein Gott, Frank! Was ist los?«
Frank hatte die Kontrolle über die Maschine verloren. Die Fairchild torkelte führerlos durch den Nebel, und es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht wie ein Stein zu Boden fiel. »Zieh sie nach oben, Frank!«, rief Clarissa in aufkommender Panik. »Mehr Seitenruder! Himmel, was tust du da, Frank? Halte sie gerade!«
Die Fairchild kam näher, brach nach links aus und zog wieder nach rechts. Unter der Maschine leuchteten die Positionslichter der Landebahn. »Du bist zu schnell!«, rief Clarissa. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, und sie merkte gar nicht, dass Harry Cheek aus der Hütte gerannt kam und schwer atmend neben ihr stehen blieb. Sie begann zu weinen. »Frank... viel zu schnell ...«
Auch Harry schrie und gestikulierte, aber sie nahm ihn nicht wahr. Ihr entsetzter Blick folgte der Maschine, die viel zu steil auf die Landebahn zuraste, mit einer Tragfläche den nassen Boden berührte und in einer schmutzigen Wolke um die eigene Achse gewirbelt wurde. Die Schnauze kippte nach vorn, der Propeller brach ab und wirbelte durch die Luft. Aus der linken Tragfläche schoss eine Stichflamme. Clarissa sah, wie der Körper ihres Mannes aus der brennenden Maschine geschleudert wurde und im Schlamm liegen blieb. Sekunden später explodierte die Fairchild. Eine grelle Stichflamme stieg
281
»Radio Fairbanks! Radio Fairbanks!«, unterbrach ihn die Stimme aus dem Funkgerät. »Hier ist Fairchild Zwei-NullSieben-Sechs-Sechs! Ich hab die Lücke gefunden! Setz schon mal den Kaffee auf, und sag der Army, sie soll einen Fahrer schicken!«
Harry nahm erleichtert die Pfeife aus dem Mund. »Na, also! Ich hab doch gewusst, dass du dich nicht unterkriegen lässt!« Er las einige Daten von seinem Notizblock ab und strahlte Clarissa an. »Und einen schönen Gruß von deiner Frau soll ich dir bestellen! Sie kann es gar nicht erwarten, dich in die Arme zu schließen!«
»Sag ihr, dass ich sie liebe, okay?«
Jetzt schaffte auch Clarissa ein Lächeln. »Woher weißt du das alles?«, fragte sie, nachdem Harry auf Empfang gestellt hatte. »Das ist nicht schwer zu erraten«, erwiderte er.
Ihr Lächeln ließ sie mädchenhaft wirken. Eide Beobachtung, die ihren Mann und viele ihrer Bekannten faszinierte. Obwohl sie vor einigen Tagen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert und einen großen Teil ihres Lebens in der Wildnis des Hohen Nordens verbracht hatte, war ihr Gesicht kaum gealtert. »Das ist die frische Luft«, sagte sie, wenn man sie darauf ansprach. Frank schob es auf ihre Augen. Das Leuchten schien tief aus ihrer Seele zu kommen. Gleich am ersten Tag, als er verletzt in ihren Armen aufgewacht war, hatte er erkannt, wie viel Sanftmut und Zärtlichkeit diese Frau ausstrahlte. »Ich weiß, dass du deinen Mann immer noch liebst«, hatte er an ihrem ersten Hochzeitstag gesagt, »und ich danke dir für die Liebe, die du für mich aufgehoben hast! Du hast die schönsten Augen der Welt, Clarissa!«
Das Motorengeräusch der Fairchild kam näher und ließ sie unruhig werden. »Ich warte draußen, Harry.« Sie öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um, als ihr der kühle Wind den Nieselregen ins Gesicht trieb, »Vergiss nicht, den Kaffee aufzusetzen!«
Sie lief über den regennassen Platz und blieb unter einer aus dem Wrack und durchbrach die dichten Nebelschwaden wie ein Blitz.
Clarissa starrte mit geweiteten Augen in den Nebel. Tiefes Entsetzen lähmte ihren Körper. Das Prasseln des Feuers und das Poltern der herabfallenden Wrackteile drang durch einen dichten Schleier zu ihr. Der Nebel wurde eins mit den Flammen und dem reglosen Schatten ihres Mannes. Erst dann wurde ihr das ganze Ausmaß des Unglücks bewusst. »Frank!«, kam es verzweifelt über ihre Lippen. »Bitte nicht, Frank! Nicht schon wieder!« Sie rannte in panischer Angst über den Platz, fiel weinend neben ihrem Mann auf die Knie und schloss ihn vorsichtig in die Arme.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Christopher Ross
- 2009, 1, 543 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868002820
- ISBN-13: 9783868002829
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