Hinterland
Roman
Feridun Zaimoglu nimmt seine Leser mit auf eine Reise, die von den Metropolen Osteuropas bis auf eine Insel in der Nordsee führt, von Prag nach Berlin, Istanbul, Ankara, Föhr und zurück. Er folgt Verträumten und Entflammten, die einander treffen, begleiten...
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Produktinformationen zu „Hinterland “
Feridun Zaimoglu nimmt seine Leser mit auf eine Reise, die von den Metropolen Osteuropas bis auf eine Insel in der Nordsee führt, von Prag nach Berlin, Istanbul, Ankara, Föhr und zurück. Er folgt Verträumten und Entflammten, die einander treffen, begleiten oder umgehen, aber gemeinsam verstrickt sind in einen großen Zusammenhang, den sie kaum durchschauen. Im Mittelpunkt stehen Ferda und Aneschka, die sich in Prag gefunden haben, aber immer wieder trennen, um ihren eigenen Weg zu gehen. Ferda macht sich auf in die Türkei und gerät dort in ein Sippentreffen und in Liebeshändel, während Aneschka ihrer Brieffreundin Helen, der Tochter eines Fotografen, nach Berlin folgt. Dort trifft sie Ferda wieder, kehrt mit ihm zurück nach Prag, doch sind die Gefühle in Aufruhr und die Köpfe nicht klar. Überhaupt gewinnt das Irrationale die Oberhand, treffen Zwerge auf Ritter, Hexenbesen und das Tausendgüldenkraut. Geschult an der deutschen Romantik, befeuert von orientalischen Bilderwelten und starken Gefühlen, entwirft Zaimoglu einen mitreißenden Episodenroman mit faszinierenden Figuren, die sich wie in einem Traumgespinst bewegen.
Klappentext zu „Hinterland “
Die Erscheinungsformen der Liebe in unserer ZeitMit Liebesbrand, dem »wuchtigen Plädoyer für jenes kopflose Wagnis zwischen Lächerlichkeit und Leidenschaft, genannt Liebe« (taz), hat sich Feridun Zaimoglu als großer Romantiker erwiesen. Sein neuer Roman Hinterland folgt dieser Spur in die Grenzbereiche der modernen Zivilisation.Dieser Roman schweift aus und ab. Er nimmt den Leser mit auf eine Reise, die von den Metropolen Osteuropas bis auf eine Insel in der Nordsee führt, von Prag nach Berlin, Istanbul, Ankara, Föhr und zurück. Er folgt Verträumten und Entflammten, die einander treffen, begleiten oder umgehen, aber gemeinsam verstrickt sind in einen großen Zusammenhang, den sie kaum durchschauen und erst recht nicht begreifen. Im Mittelpunkt stehen Ferda und Aneschka, die sich in Prag gefunden haben, aber immer wieder trennen, um ihren eigenen Weg zu gehen. Ferda macht sich auf in die Türkei und gerät dort in ein Sippentreffen und in Liebeshändel, während Aneschka ihrerBrieffreundin Helen, der Tochter eines Fotografen, nach Berlin folgt. Dort trifft sie Ferda wieder, kehrt mit ihm zurück nach Prag, doch sind die Gefühle in Aufruhr und die Köpfe nicht klar. Überhaupt gewinnt das Irrationale die Oberhand, treffen Zwerge auf Ritter, Hexenbesen und das Tausendgüldenkraut. Geschult an der deutschen Romantik, befeuert von orientalischen Bilderwelten und starken Gefühlen, entwirft Feridun Zaimoglu einen mitreißenden Episodenroman mit zahlreichen faszinierenden Figuren, die sich wie in einem Traumgespinst bewegen. Verschiedenste Perspektiven werden integriert, Konflikte geschürt und miteinander verknüpft, Ober- und Unterwelten ausgeleuchtet und immer wird dabei den Erscheinungsformen der Liebe in unserer Zeit gefolgt.Die Gesamtauflagenzahl der Bücher Feridun Zaimoglus: 250.000 Exemplare
Lese-Probe zu „Hinterland “
Hinterland von Feridun Zaimogluzwerg
Wie einer unglücklichen Dame Beistand
aus dem Wald zuwächst und ein deutscher
Schuhmachergeselle von seiner Pragerin
an der Hand genommen und durch ihre
Welt geführt wird
Ihr Mann hatte sie wegen einer Jüngeren verlassen, und eines Nachts kam sie die Mitternachtsverzweiflung an, sie trank eine ganze Flasche polnischen Johannisbeerschnaps, sank auf den Fußboden und schlief ihren Rausch aus. Für eine Frau ihres Stolzes (ihr Kinn sinkt nie, niemals, auf die Blusenkragen) machte es keinen Unterschied, daß er der Mittzwanzigerin ihre erste chirurgische Korrektur finanziert hatte: Ihr gewesener Ehemann hält viel von Liebesbeweisen. Seine Neue steckt ihr teures Näschen in den Wind, und sie wird, spätestens in einem Jahr, begreifen, daß er begabt ist, grob zu werden, wann immer der Anfang seiner Zuneigung verwischt in seiner Erinnerung.
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Es ist nichts, es ist passiert, es gibt kein Zurück. Auch kein Zurück zu den Tagen, da sie ihre Freunde in Verlegenheit brachte, weil sie schreiend trank und betrunken schrie. Im Foyer eines Prager Theaters fiel sie nach der Vorstellung dem Hauptdarsteller derart heftig um den Hals, daß er glaubte, sie wollte ihn würgen, und er beschwerte sich bei der Intendantin, bei dem Journalisten und bei allen, die sie, die verlassene Ehefrau, kannten. Im kalten Licht des Mitleids zu stehen brachte sie fast um, alle benahmen sich, als spielten sie das Kinderspiel, bei dem es darum ging, angesichts einer Provokation einen kühlen Kopf zu bewahren. Nein, das war noch nicht der Abend, an dem sie sich schwor, keine über viele Stunden betrunkene Frau sein zu wollen; nach diesem Abend gab es andere peinliche Abende, ihren beiden Katzen machte es nichts aus, daß sie schwankte, sie mußte sich immer hinsetzen, um ihre Futternäpfchen zu füllen. Sie mußte immer mit kleinen Schritten gehen, in ihrer Wohnung wie auf der Straße, und sie mußte sich beherrschen, um nicht ihre Fußknöchel aufzuschürfen an den hohen Bordsteinkanten. Leichter zu sein als die Luft ist ein Fluch, und sie war auf dem besten Wege, mit fünfzig Jahren eines baldigen Tages hinzufallen und nicht aufzustehen – ihre Farben verblaßten, denn sie war bleich und trug kein Make-up, ihre roten Seidenblusen, ihre hellblauen Röcke gab sie weg. Ihre Worte verschwanden, weil sie mitten im Satz ihren Glauben verlor, so wie man eine Kupfermünze oder einen kleingespitzten Bleistift im Utensilienköcher verschwinden läßt und vergißt. Sie geriet ins Wanken, sie war etwas schwerer als Luft, deshalb mußte sie sich festhalten: an Türgriffen, an Tischkanten, an den Unterarmen wildfremder Menschen, an den Ellbogen großer Kinder, an sich selbst.
In dieser Zeit, da an ihrem weiten Pullover viele helle Katzenhaare klebten, kaufte sie alte Teesiebkapseln auf dem Flohmarkt, reinigte sie von den dunklen Flecken und wickelte die Ketten um die Nägel an dem morschen weißen Wegweiser, den sie im Wald gefunden hatte. (Eine Frau geht nicht im dunklen Wald spazieren, und wenn doch, so will sie mit den wispernden Wichteln einen Pakt schließen.) Sie bewegen sich selten, und wenn doch, hängen sie an den dicken Wurzeln, die die Erde durchbrochen haben. Über die Frau hatten sie noch kein Urteil gefällt: Sie war ein Eindringling mit einem ungeübten Auge, sie hielt sie für Wassertropfen oder für bunte Bänder, die sich an Holz und Stein verfangen hatten. Und die Wichtel ahnten, daß sie etwas tun mußten, also sperrten sie die Gehwege der Frau für böse Männer und böse Geister – sie tat ihnen nicht leid, sie wollten ihr nicht helfen, es ärgerte sie nur, daß man sie nicht sah, obwohl sie doch laut an Baumrinden nagten und von Wurzeln herunterhingen, manchmal stundenlang.
Der Mann mit dem kleinsten Stand auf dem Flohmarkt hatte ihr von ihnen erzählt, er verkaufte den Trödel der roten Epoche, und nur die jungen Touristen stürzten sich auf die Wimpel, die Medaillen, die Anstecknadeln und die Russenmützen. Von diesem Mann hatte sie erfahren, daß es nicht ungefährlich war, in einem Waldhaus zu wohnen: Die Wichtel hüpften über das trockene Bachbett und wirbelten im Grund des Hauses, daß die Träume zerrissen im Schlaf. Die Frau aber wußte damals nur so viel, wie der Kummer es zuließ. (Die Bekümmerten drücken auf ihre Augen und glauben, daß sie weinen, sie pressen jedoch nur das Gift heraus, und es rinnt herunter und tropft in den Staub. Es tropft manchmal auf die Mützen der Wichtel, die flüstern mit dem Wind, die zucken mit dem verschreckten Wild, die kräuseln die Nasen.)
Die Nase. Das Näschen. Das Näschen der neuen jungen Frau ihres Mannes. Sie lernte also, am Waldesrand zu wohnen. Sie lernte also mit der Fusselrolle über ihren Pullover zu fahren, und sie riß den katzenhaarbeklebten Streifen ab und warf ihn in den Mülleimer und trank erst dann ihre erste Tasse Kaffee. Jeden Morgen.
Die Bauern – das waren die Männer, deren Väter und Großväter Bauern gewesen sind – gewöhnten sich langsam an die Zugezogene, und sie wunderten sich über eine Städterin, die kein Rouge auflegte und sich auch sonst etwas seltsam benahm. Sie reichte ihnen eine Eisdose aus Plastik, sie wollten schon nach den Löffeln fragen, und da sahen sie die Kümmelkäseplätzchen und erstarrten. Schickte es sich für sie, die Söhne hartleibiger Bauern, Damenhäppchen zu essen und so zu tun, als fügten sie sich den neuen Sitten? Einige Augenblicke lang rieben sie die verstoppelten Wangen und waren still. Ihre Blicke fielen auf die alte Kleekarre in ihrem Garten, die Speichen hatten sich von der Radnabe gelöst und standen nach allen Seiten ab. Im Beet lagen Hacke, Gabel, Rechen ohne Stiel und eine verrostete Bügelgießkanne, mit Glas- und Topfscherben war die winterstarre Erde eingegrenzt. Was sollten sie machen? Sie aßen die Plätzchen, und als die Frau nach den sonderbaren kleinen Rotmützenträgern fragte, hielten sie mitten im Kauen inne und starrten in den Wald und machten sich Sorgen wegen des trockenen Bachbetts: Die Fingerhutmännchen konnten ohne Mühe den Graben überwinden und die Träume der Frau verwispern.
Sie zogen ab, und die Frau schaute ihnen hinterher, vier Bauernsöhne in aufgeknöpften Wolljacken, die Kälte konnte ihnen nichts anhaben, sie würden im Wirtshaus über sie reden, und wahrscheinlich nannten sie sie ›die mit den Katzen‹. Ich sollte meine ganze Hoffnung darauf setzen, hier in Maßen zu verwildern, dachte sie, ich hätte das Recht, diesen Mann, der mir das Waldhaus überlassen, aber nicht geschenkt hat, zu verklagen.
In wenigen Jahren war dieser Mann in die besseren Kreise aufgestiegen, er war gescheit, er war nicht häßlich, und er kam von der Kultur – als Programmdirektor im Rundfunk lernte er, sich vorzusehen: vor den Wetterumschwüngen und vor den Frauen, die in der neuen Zeit neue Kleider trugen; nur ganz wenige trauten sich, noch in weiten Miniröcken herumzulaufen, wie es im roten Krämersystem Mode gewesen war. Ein Wunder wie die Totenerweckung konnte er nicht vollbringen, er konnte aber schweigen und loben, und so machte er sich einen Namen als ein Mann, der junge Talente förderte und eine Richtung vorgab. Nichts davon war wahr. Er entschied, daß er den hübschen gestiefelten Frauen nachschauen durfte, die Ehe hielt, seine Ehe ging ihn doch nur dann etwas an, wenn er in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte.
Hier die Frau, die begann, Farbe abzugeben an die Räume, an die Möbelstücke, an die Tapete. Hier seine Frau. Hier seine Frau, die keine Maßnahmen ergriff gegen die Abzehrung. Hier eine Frau, die den breiten roten Hüftgürtel nicht mehr trug, hier eine kleine Belastung. Wie konnte man das werden, was sie war: Nur ein hübsches Gesicht, mehr nicht?
Dann stieß er sich die Stirn beim Duschen am Wassermischerhebel, der Schmerz kam und ging, und die Gewissheit setzte sich in ihm fest, daß er in ihrer Nähe zum Tolpatsch verkam – er verkam, und sie ließ es zu. Da wappnete er sich für die große Sensation, er schüttelte sich, wie der Hund sich die Zecken aus dem Fell schüttelt, er aß keine Schokolade und keine fritierten Kartoffelecken mehr, und er bat seinen Friseur, sein Haar in Fransen zu schneiden, denn ein Scheitel paßte nicht wirklich zu einem Kulturmann seines Alters. Er wurde auf eine junge Praktikantin aufmerksam (Das Leben ist eine Geschichte, in der sich alle wiedererkennen, und in der sich alles wiederfindet), aber … kann man das überhaupt sagen? Nein, nein. Es geschah, daß er hochsah und den Staub am Deckenstuck seines Büroraumes bemerkte, er stand mit dem Rücken zur Tür, und als ein Dielenbrett knarrte, wirbelte er herum, und da erblickte er eine junge Frau, ihre Nase war eine Nasenspitze zu groß für ihr Gesicht, und ihr leicht seitlich versetzter Mund formte Worte, die er nicht begriff, denn eine Stille fraß sich in seinem Kopf bis zu seinen Ohren vor, und vielleicht war seine Ohrenröte das erste Zeichen seiner Verliebtheit.
Sie zuckte zusammen, als der Direktor, der Mann, der die Decke inspizierte, seine Ohren mit den Händen umschloß, er sah aus, als würden ihm Fäuste aus den Schläfen wachsen. Vier Tage später saß sie mit ihm in einer Bar, die bekannt war für die Sitzschalen, in denen man versank, es war schwierig, sich einigermaßen würdevoll zu erheben, deshalb saß sie mit voller Blase ihm gegenüber, der sich für dieses Treffen keine bunte Krawatte umgebunden hatte. Er sprach davon, daß mancher Menschen Herzen in eine Nußschale paßten, und in der nächsten halben Stunde waren sie damit beschäftigt, aufzuzählen, was alles tatsächlich in einer (halben) Nussschale Platz hatte: eine Rosine, ein Brotkrümel, die Aschesäule einer Zigarette, an der man dreimal gezogen hat, ein Weisheitszahn, ein klitzekleiner Rechenstein, Papierschnipsel … plötzlich stand sie abrupt auf und strebte hastig zur Damentoilette – er sah ihr nach – sie spürte seinen Blick, und als sie etwas später am Waschbecken stand, starrte sie den Seifenspender an und dachte: Oh Gott er möchte eine Affäre mit mir anfangen wenn ich mich nicht irre gibt es zwischen uns einen Altersunterschied von vierundzwanzig Jahren das kann nicht gutgehen und wie erkläre ich es meiner Mutter sie wird mich ein trübes Frauchen schimpfen jetzt wasch dir die Hände und gehe zurück ja ich wußte es er hat in der Zwischenzeit für uns ein zweites Glas Wein bestellt was schwebt ihm da vor heute nacht.
Sie gingen mehrmals aus, heimlich, er ging dazu über, gleich eine Flasche Wein zu bestellen, und auch die Albernheit, am Korken zu riechen, den der Kellner ihm reichte, schreckte sie nicht ab. Der Direktor kümmerte sich um sie, und sie hatte nicht vor, sich hochzuschlafen: Das alles paßte haargenau in die Nußschale. Er brauchte nur einen besseren Haarschnitt, er sah aus wie ihr kleiner Bruder nach dem Aufwachen. Das erste Mal, in einem Hotelzimmer, nicht billig, nicht verhetzt, nicht betrunken, und sie riß nach der schönen Liebe im Bad das Zellophan auf, füllte das Plastikwasserglas voll. Und trank. Sie hatte eine Hausstauballergie und schlief deshalb unter einer Decke mit Astronautenbezug, und als Laken benutzte sie ein großes Tischwachstuch. Sie würde es ihm erklären, und er würde sich daran gewöhnen. Die verdammten Milben brachten sie zum Niesen, sie brachten sie um.
Sie würde nicht einmal zucken, wenn ein Schabernackmännchen durch lautes Lachen sie aus dem Schlaf risse, aber vielleicht hatten sie Angst vor den Katzen, auch sie traute dem Frieden nicht, wenn sich die beiden im Korb kringelten. Sie waren ja Tiere, die ihre Ohren dem Geräusch zuwenden, und die Laute wurden über das Holz und den Beton übertragen. In manchen Nächten hoffte sie auf Ermunterung. In manchen Nächten löste sich eine Ecke der Plane und flappte im Wind. In diesen Nächten trank sie, und trank und trank. Die Trinker mit spitzem Kinn und tiefer Kinnkerbe, mit der Weinflasche vor sich, sie kannte sie. Sie glich ihnen nicht, sie lag nur im Dunkeln, nüchtern war sie farblos, weinheiter war sie über ihr Herzklopfen unbekümmerter. (Nur wer lächelt, wird zum Tanzen aufgefordert.) In vielen Nächten lag sie einfach da, den Zeigefinger im Buch, um die Seite nicht zu verschlagen, so wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. Zuviel Schmerz, um aufzustehen, zuviel Feenstaub an ihrem Kleid, um nicht von einem Tanz mit einem guten Mann zu träumen. In ihren Augen leuchtete ein bißchen Weiß, ein bißchen Braun. Und die Glanzpunkte an ihren Wimpern. Wenn sie schielte, sah sie den Glanz, und sie sagte es laut auf: Ich sehe den Glanz. Es hörte sich verrückt an. Das Wetterleuchten am trüben Himmel über dem Wald trieb sie ans Fenster, und sie hielt sich fest am Fensterbrett, sie schielte, sie sah den Glanz und war froh darüber, was sollte ihr in diesem Augenblick den Frohsinn schwinden machen, wer sollte sie bestehlen. Und dann ein leiser Regen, morgen würden die Schabernackmännchen an den Wurzeln hängen, und sie würde so tun, als hielte sie sie für langgezogene dicke Tropfen. Obwohl es noch kalt war, roch es nach Frühling, zuviel Paradies zur falschen Jahreszeit.
Im Balbin Poesiekneipchen geschah es, es geschah, daß es sie wieder einmal in das Viertel Vinohrady verschlug, am Tag nach der schweren Nacht, am Tag nach ihrer Trunkenheit, und es hatte Stunden gedauert, bis sie den Mut aufbrachte, Lidschatten aufzulegen, endlich Farbe auf ihren Lidern. Ein befreundeter Komponist suchte sie auf, er sprach nach der Umarmung von der Suppe, die in seinem Magen brodelte, sie hat nach Sumpfgrütze geschmeckt, sagte er – so sprach er manchmal, er hatte eine schöne halbvulgäre Art. Und er sagte: Wie soll ich das verstehen, was schon dir schwerfällt, zu verstehen? Er lud sie ein, am Abend in die Stadt zu fahren, er verspreche sich nicht viel von dem Auftritt des jungen Kubaners, doch seine Tochter würde ihren neuen Freund aus Deutschland mitbringen, und man könnte ja sehen. Die Pockennarben auf seinen Wangen, sie starrte darauf und klatschte in die Hände, und er fuhr plötzlich herum und sah lange in den Wald hinein, der leichte Wind trug das Geflüster herbei, das Geflüster der Närrchen, und dann kollerten sie wie Truthähne, und es hörte sich wegen ihrer dünnen Stimmen an, als würde man zwei Kastanienfruchtkapseln aneinanderreiben.
Es waren in dem kleinen Kneipenraum viele Mädchen, die dem unteren Volkshaufen entstammten, manch ein Mädchen drehte sich nach dem bekannten Komponisten um, sie rechnete fast damit, daß man ihn um ein Autogramm bat. Erdnüsse und Chips wurden in der ungeöffneten Verpackung auf Tellern serviert, man mußte am Tresen bestellen. Und dort saß er, der neue Freund, er saß auf einem Barhocker zwischen dem Vater und seiner Tochter, und er traute sich nicht, Händchen zu halten mit seiner jungen Freundin, wahrscheinlich aus altmodischen Gründen. Vielleicht fühlte er sich begünstigt, vielleicht hatte er das leichte Gefühl eines Geistes, der durch Wände gehen kann.
Er konnte kein Wort Tschechisch, dafür sprach sie ein paar Brocken Deutsch, und sie sagte: Gefällt es bei uns? Und er sagte: Es gefällt mir sehr bei Ihnen, danke. Wofür? Sie tat ja nichts dafür, daß der Gast aus Deutschland voller Liebe auf diese Stadt Prag blickte. Der Komponist bedankte sich auch bei ihr – wofür? Sie hatte sich doch einfach überreden lassen, sich auf einem Kleinbühnenkonzert zu betrinken. Ein dunkelhaariger braunäugiger Deutscher war schon ein merkwürdiger Anblick, und es war auch seltsam lustig, daß er verschämt neben der jungen Frau saß und eine verblichene Jeanshose trug, die ihm nicht stand. Der kubanische Sänger sang sich in ein Fiasko, es gab immer wieder Rückkopplungen, sie wurde nüchtern und trank sich müde, und die Mädchen aus der Plattenbausiedlung aßen die Chipstüten leer und hörten mit der Zeit auf, im Takt der Musik zu wippen. Ihre an den Spitzen ondulierten Haare verstrichen zu Strähnen, die auf den nackten Schultern lagen wie abgeschnittene Locken.
Der Komponist kümmerte sich um sie, er fragte sie nach ihrem Leben im Waldhaus und nach ihren Tagen außerhalb der Stadt, und sehr bald – der Kubaner hatte sich in der halbstündigen Pause nach draußen abgesetzt – waren sie in ein Gespräch vertieft, in dem es um die Kaufpaläste im Gewerbegebiet ging. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Gast aus Deutschland einen Kuß auf die Lippen der Freundin drückte, und sie umschloß seinen Hinterkopf mit der Hand und verlängerte den Kuß. Die Liebe der anderen sollte sie nicht bedrücken. (Der Haß, wenn wir es ernst meinen, wenn wir nicht aus nichtigen Gründen hassen, ist eine schöne vergängliche Empfindung: Eine Frau hat einen guten Grund, den Mann zu hassen, der glaubt, er könne sie ungestraft verlassen.) Der Haß, den die Frau mit den verwisperten Träumen empfand, versickerte in grauen Schlieren in ihr Herz, und deshalb hatte sie Herzklopfen, und deshalb trank sie sich jeden Tag besinnungslos, und deshalb aber verlosch sie nicht.
In den Kaufpalästen gibt es nur Plastikkram, sagte der Komponist, und Polyesterkram, mir steigt in Museen und in großen Supermärkten das Blut ins Gesicht, wie ist es bei dir? Ich gehe in kleinen Läden einkaufen, sagte sie, der Kubaner trieb die Musiker zusammen, sie sammelten sich auf der Bühne, dann sang der kleine Mann ein altes tschechisches Sehnsuchtslied, die Mädchen waren getröstet, er schmeichelte mit diesem Lied diesen Mädchen, die fünf Minuten lang lächelnd ins Ungefähre starrten. (Ein Traum kettet sich an den nächsten Traum, und wenn ein Mädchen zum schönen Lied nicht tanzt und sitzen bleibt, wird sie trotzdem begehrt.)
In dem Saal waren nicht so viele Männer, und die wenigen, die hergekommen waren, hielten sich zurück mit dem Trinken, und es gab auch keinen einzigen Mann, der vom Barhocker herunterfiel. Der Clubbesitzer trug einen Dissidentenvollbart, und auf seinem Kopf lag eine Melone auf, sie war zwei Nummern zu klein. Er versuchte sein Glück bei ihr, sie blieb gleichgültig. Da schlug er seine Melone an seinem Jackett ab, ein kleiner Wutanfall, der verging.
Der Zwergenzorn war schlimmer, es war schlimm, den Zorn der Zwerge zu erregen, sie hatte die Närrchen bislang nur ein einziges Mal gegen sich aufgebracht: Sie hatte bei einem ihrer Spaziergänge einem Erdkerlchen die Kappe vom Kopf gerissen, es summte sofort auf vor Schmerz, denn es konnte ohne Kappe nicht verschwinden im Loch, es wäre verloren gewesen in der Wildnis des Gesindels. Das Gesindel lebte in der Oberwelt, und die Daumenköpfchen lebten in der Unterwelt, in der kalten Zeit aber hingen und streckten sie sich, in der Hoffnung auf einen Zuwachs von einem Fingernagel Größe. Die, die nicht schon oben waren, krochen durch die engen Stollen heraus und ließen sich von dem Unbekappten erklären, daß er in seiner Gymnastik nicht ungeschickt vorgegangen war – ihn traf keine Schuld. Die Frau, nein, der linke Fußknöchel der Frau hatte ihn angerempelt, der böse Knöchel ragte aus dem Wanderschuh heraus, nein, da war ein Loch im Schuh. Wer hatte Schuld auf sich geladen? Die Frau. Oder der Knöchel. Oder der Wanderschuh. Oder das Loch. Ja, das Loch. Wie rächt man sich an einem Loch? sagte der Meister der Unterirdischen, ist es da, oder ist es nicht da? Wenn ich den Finger, diesen Finger (Er zeigte ihnen allen seinen rechten Zeigefinger, dem die Kuppe fehlte, weil er eine Käsereibe mit einer Rutsche verwechselt hatte), in die Erde stecke, kann ich den Finger zurückziehen, aber nicht das Loch. Das Loch bleibt da, wo es ist, ich kann es nicht mitnehmen und meinem Weiblein zeigen wie ein angenagtes Kleeblatt, worüber mein Weiblein sich freuen würde, weil wir beide weiternagen würden an dem Blatt … (Er führte diesen Gedanken in vielen vielen Schleifen aus, seltsamerweise lauschten ihm die Zwerge andächtig. Wir merken uns: Die Abschweifung ist für die Närrchen fast so wichtig wie das Verwispern der Träume wildfremder Menschen.) Sie standen eng beieinander, und jeder von ihnen hatte im stillen geschworen, keine Geste der Besänftigung zu erkennen, und die Beeren in ihren zweifäustegroßen Kammern, die Beeren, die sie gesammelt hatten in der Stunde des trübsten Mondscheins, die leckeren giftigen Beeren, die die Menschen umbrachten, diese Beeren also, von denen der Meister sprach, nicht ohne sich über die dicke herabhängende Unterlippe zu lecken, diese Beeren würden sie essen nach ihrem Feldzug gegen das tückische Schuhloch. An einem geflickten Strumpfloch konnte man sich rächen, man nagte an dem Garn, man rupfte den Flicken ab, und schon brachte man die Socke dazu, sich zu schämen. Die Zwerge fauchten wie kleine Gauner, und als wäre das alles nicht schlimm genug, rief die Eule, und da gerieten sie in Aufruhr, und weil sie fast verrückt wurden (Der Zwerg ist ein Rätsel.
Der Zwerg haßt das Rätsel), versuchten sie, sich zwischen den Schuppen der Tannenzapfen zu verstecken. Doch vergebens – der Kopf paßte hinein, der Bauch ragte heraus. Also hüpften sie über das Bachbett und trampelten fast die ganze Nacht vor der Hausschwelle der Frau, sie fiepten und piepten, sie sollte ihnen das elende Loch übergeben, sie verfügten über mehr Zauberkraft als der Wanderschuh.
Sie wachte auf vom Lärm der kleinen Leute, sie blieb liegen und verwarf den Gedanken, sich auf Zehenspitzen zur Tür zu schleichen und sie plötzlich aufzureißen, sie hätte die Närrchen zu Tode erschreckt. Da schrie einer immer wieder ein Wort, ›Plupp‹ oder ›Plipp‹ oder ›Papperlapapp‹ oder ›Plopp hopp‹ – sie konnte ihn nicht richtig verstehen, sie spürte nur die große Erregung, sie hörte nach jedem Wort oder Satz des Schreiers die Hurrarufe und das drauffolgende Trampeln. Bald hielt sie es nicht mehr aus in ihrem Bett, sie ging leise zu einem schattigen Winkel des Nebenzimmers, setzte sich auf den Malhocker und schaute auf die aufgebrachten Rotmützchen: Ein Schimmer glühte um ihre Köpfe, Moos klebte an ihren Ohrläppchen. Sie steckten in schwarzen Pelzpantoffeln, sie waren ordentlich angezogen und nicht zerlumpt. Der Brustlatz war fast verdeckt vom filzigen Bart, und jedesmal, wenn sie wütend sprangen, zitterten ihre Bauchbeulen.
Sie merkte nicht, wie ein neuer Tag anbrach, sie spürte nur, daß der dunkle Schleier auf ihrem Gesicht zerriß. Plötzlich starrten die Kleinchen in Richtung des Waldes, Rückzug, schrie ein dickes Männchen, und da sie erwartet hatte, daß der Haufen geschlossen zurückhüpfte, machte sie große Augen, als die Närrchen aus der Formation ausbrachen: Die einen trotteten drauflos, die anderen kullerten (Tatsächlich, sie kullerten wie eine Murmel), und dann gab es viele, die von einem Bein auf das andere springend einander zum Umfallen brachten. Das Käppchen ward gefunden – sie wußte es. Sie ließ ihnen etwas Zeit für ihre seltsame Gymnastik, am späten Vormittag des nächsten Tages füllte sie Fingerhüte mit zuckersüßem Quittensirup, trat mit einem einzigen Schritt über das Bachbett und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Die hängenden Närrchen schauten sie finster an, so leicht ließen sie sich nicht besänftigen. Am nächsten Tag füllte sie die leeren Fingerhüte mit bittersüßem Granatapfelsirup, die hängenden Närrchen blickten gleichgültig drein. Erst am sechsten Tag – sie trat frühmorgens ins Freie – empfingen die Zwerge sie schon am Erdbuckel zwischen Beet und Bach, sie hielten die Fingerhüte hoch, die sie mit rot gefärbtem Zuckerwasser auffüllte, sie tranken es in einem Zug, und da rollte etwas herbei und richtete sich auf und legte etwas auf ihre Schuhspitze. Es war ein zerkauter weißer Bindfaden, den der Meister darbot, um die Frau zum erwünschten Oberirdischen zu erklären – doch das konnte sie ja nicht wissen.
Wieso starrt sie ihre Schuhe an? dachte der Komponist, er kaute an einer Handvoll Rauchmandeln, und wenn er den Blick schweifen ließ, hoffte er auf eine Frau zu stoßen, bei der er nicht nach einem Monat sein Autoradio aufdrehen mußte: Es war ihm passiert, beim letzten Mal, bei der letzten Bekanntschaft, sie hatte gesagt: In dem toten Eichhörnchen, das wir gerade umfahren haben, steckt mehr Leben als in dir. Das hatte sie gesagt. Sie kannten sich doch erst einen Monat und elf Tage, es war kein Fehler gewesen, diese Frau, die am Bankschalter ihren Dienst tat, anzusprechen. Ganz bestimmt nicht. Das Leben, das sie meinte, bestand aus Tanzveranstaltungen, teurem Wein, Urlaub in exklusiven Inselhotels und einem Überschuß an Übermut. Sie schrie, wenn ihr ein Musikstück gefiel, sie schrie sich fast heiser. Er schrie nur, wenn man ihn zwang, auf eine Leiter zu steigen und die Glühbirne auszuwechseln, er schrie, weil er nicht pfeifen konnte und aber vor Höhenangst pfeifen wollte. Immer wenn er in Liebe zu einer Frau entflammte, sagte er sich laut vor: Diese Liebe wurde im Himmel beschlossen und nicht in der Hölle! Deshalb, wirklich nur deshalb, fing er jedesmal an, sich zu verbessern. Er nahm sich vor, am Tisch und auf jedem Stuhl mit geradem Rücken zu sitzen. Er nahm sich vor, im Schlaf nicht mehr so weit auf seine Seite des Bettes zu rollen, daß er herunterfiel.Er nahm sich vor, Neujahrskarten an Freunde und Bekannte zu verschicken. Die Neue in seinem Leben aber fing gleich am ersten Tag von dem Leben zu schwärmen an, das sie mit ihm teilen wollte. Er fühlte sich in Prag wohl, es war seine schöne Stadt, und daß der neue Freund seiner Tochter der Stadt Komplimente machte, hatte ihn erst mißtrauisch gestimmt. Worauf spielte er an? Er wußte um die Scheidung des Komponisten, die jetzt fast ein Jahrzehnt zurücklag – wollte der Gast aus Deutschland vielleicht mit seiner Liebestauglichkeit angeben? Nein, das wollte er nicht. (Er lag richtig.) Verdammt seien Barhocker! dachte er, seine Füße ruhten auf der Chromstrebe, er hatte kein Gefühl in den Beinen.
Er starrte auf den ausgestopften Auerhahn oben an der Längswand, von ihm aus gesehen rechts, und von ihm aus gesehen links saß am entferntesten Ende des langen Kneipentisches eine Frau, die ihm bekannt vorkam, er konnte sie keinem Lied und keinem Konzert zuordnen. Jetzt stand sie auf, blickte ihn an, blickte weg, blickte ihn wieder an, blickte weg, blickte wieder weg. So ging es so lange weiter, bis sie sich durch die Reihen der Mädchen vorgekämpft hatte. Als sie vor ihm stand, rutschte er vom Barhocker herunter, er wäre wegen seiner tauben Beine fast eingeknickt, es kam ihm schon komisch vor, daß sie stehend schwieg, schweigend stand – was in aller Welt wollte sie?
Und dann sagte sie: Edita, erinnerst du dich? Genau. Früher hatten alle in der Klasse sie ›die Edita mit der Eisschicht auf dem Haarknoten‹ genannt, die Edita war im Winter besonders zugeknöpft gewesen, und als er sie einmal zu einer Schülerparty einlud, sagte sie: Bei diesen Minustemperaturen kann mich wirklich niemand trösten. Die Edita bastelte gern Kindermasken aus Wellpappe und Maschendraht oder Zupfpuppen aus Wollresten, sie schnitzte Dame-Steine aus Haselnußstecken oder bog Draht zu Biegepüppchen. (War der höfliche Applaus für den Kubaner ausgeblieben? – er wußte es nicht.) Er winkte seiner Tochter und dem braunäugigen Deutschen zu, er nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit darüber aufzuklären, daß seine Freundin aufgeklärt war.
1. Auflage 2009
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Gesetzt aus der Minion
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ISBN 978-3-462-04133-0
In dieser Zeit, da an ihrem weiten Pullover viele helle Katzenhaare klebten, kaufte sie alte Teesiebkapseln auf dem Flohmarkt, reinigte sie von den dunklen Flecken und wickelte die Ketten um die Nägel an dem morschen weißen Wegweiser, den sie im Wald gefunden hatte. (Eine Frau geht nicht im dunklen Wald spazieren, und wenn doch, so will sie mit den wispernden Wichteln einen Pakt schließen.) Sie bewegen sich selten, und wenn doch, hängen sie an den dicken Wurzeln, die die Erde durchbrochen haben. Über die Frau hatten sie noch kein Urteil gefällt: Sie war ein Eindringling mit einem ungeübten Auge, sie hielt sie für Wassertropfen oder für bunte Bänder, die sich an Holz und Stein verfangen hatten. Und die Wichtel ahnten, daß sie etwas tun mußten, also sperrten sie die Gehwege der Frau für böse Männer und böse Geister – sie tat ihnen nicht leid, sie wollten ihr nicht helfen, es ärgerte sie nur, daß man sie nicht sah, obwohl sie doch laut an Baumrinden nagten und von Wurzeln herunterhingen, manchmal stundenlang.
Der Mann mit dem kleinsten Stand auf dem Flohmarkt hatte ihr von ihnen erzählt, er verkaufte den Trödel der roten Epoche, und nur die jungen Touristen stürzten sich auf die Wimpel, die Medaillen, die Anstecknadeln und die Russenmützen. Von diesem Mann hatte sie erfahren, daß es nicht ungefährlich war, in einem Waldhaus zu wohnen: Die Wichtel hüpften über das trockene Bachbett und wirbelten im Grund des Hauses, daß die Träume zerrissen im Schlaf. Die Frau aber wußte damals nur so viel, wie der Kummer es zuließ. (Die Bekümmerten drücken auf ihre Augen und glauben, daß sie weinen, sie pressen jedoch nur das Gift heraus, und es rinnt herunter und tropft in den Staub. Es tropft manchmal auf die Mützen der Wichtel, die flüstern mit dem Wind, die zucken mit dem verschreckten Wild, die kräuseln die Nasen.)
Die Nase. Das Näschen. Das Näschen der neuen jungen Frau ihres Mannes. Sie lernte also, am Waldesrand zu wohnen. Sie lernte also mit der Fusselrolle über ihren Pullover zu fahren, und sie riß den katzenhaarbeklebten Streifen ab und warf ihn in den Mülleimer und trank erst dann ihre erste Tasse Kaffee. Jeden Morgen.
Die Bauern – das waren die Männer, deren Väter und Großväter Bauern gewesen sind – gewöhnten sich langsam an die Zugezogene, und sie wunderten sich über eine Städterin, die kein Rouge auflegte und sich auch sonst etwas seltsam benahm. Sie reichte ihnen eine Eisdose aus Plastik, sie wollten schon nach den Löffeln fragen, und da sahen sie die Kümmelkäseplätzchen und erstarrten. Schickte es sich für sie, die Söhne hartleibiger Bauern, Damenhäppchen zu essen und so zu tun, als fügten sie sich den neuen Sitten? Einige Augenblicke lang rieben sie die verstoppelten Wangen und waren still. Ihre Blicke fielen auf die alte Kleekarre in ihrem Garten, die Speichen hatten sich von der Radnabe gelöst und standen nach allen Seiten ab. Im Beet lagen Hacke, Gabel, Rechen ohne Stiel und eine verrostete Bügelgießkanne, mit Glas- und Topfscherben war die winterstarre Erde eingegrenzt. Was sollten sie machen? Sie aßen die Plätzchen, und als die Frau nach den sonderbaren kleinen Rotmützenträgern fragte, hielten sie mitten im Kauen inne und starrten in den Wald und machten sich Sorgen wegen des trockenen Bachbetts: Die Fingerhutmännchen konnten ohne Mühe den Graben überwinden und die Träume der Frau verwispern.
Sie zogen ab, und die Frau schaute ihnen hinterher, vier Bauernsöhne in aufgeknöpften Wolljacken, die Kälte konnte ihnen nichts anhaben, sie würden im Wirtshaus über sie reden, und wahrscheinlich nannten sie sie ›die mit den Katzen‹. Ich sollte meine ganze Hoffnung darauf setzen, hier in Maßen zu verwildern, dachte sie, ich hätte das Recht, diesen Mann, der mir das Waldhaus überlassen, aber nicht geschenkt hat, zu verklagen.
In wenigen Jahren war dieser Mann in die besseren Kreise aufgestiegen, er war gescheit, er war nicht häßlich, und er kam von der Kultur – als Programmdirektor im Rundfunk lernte er, sich vorzusehen: vor den Wetterumschwüngen und vor den Frauen, die in der neuen Zeit neue Kleider trugen; nur ganz wenige trauten sich, noch in weiten Miniröcken herumzulaufen, wie es im roten Krämersystem Mode gewesen war. Ein Wunder wie die Totenerweckung konnte er nicht vollbringen, er konnte aber schweigen und loben, und so machte er sich einen Namen als ein Mann, der junge Talente förderte und eine Richtung vorgab. Nichts davon war wahr. Er entschied, daß er den hübschen gestiefelten Frauen nachschauen durfte, die Ehe hielt, seine Ehe ging ihn doch nur dann etwas an, wenn er in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte.
Hier die Frau, die begann, Farbe abzugeben an die Räume, an die Möbelstücke, an die Tapete. Hier seine Frau. Hier seine Frau, die keine Maßnahmen ergriff gegen die Abzehrung. Hier eine Frau, die den breiten roten Hüftgürtel nicht mehr trug, hier eine kleine Belastung. Wie konnte man das werden, was sie war: Nur ein hübsches Gesicht, mehr nicht?
Dann stieß er sich die Stirn beim Duschen am Wassermischerhebel, der Schmerz kam und ging, und die Gewissheit setzte sich in ihm fest, daß er in ihrer Nähe zum Tolpatsch verkam – er verkam, und sie ließ es zu. Da wappnete er sich für die große Sensation, er schüttelte sich, wie der Hund sich die Zecken aus dem Fell schüttelt, er aß keine Schokolade und keine fritierten Kartoffelecken mehr, und er bat seinen Friseur, sein Haar in Fransen zu schneiden, denn ein Scheitel paßte nicht wirklich zu einem Kulturmann seines Alters. Er wurde auf eine junge Praktikantin aufmerksam (Das Leben ist eine Geschichte, in der sich alle wiedererkennen, und in der sich alles wiederfindet), aber … kann man das überhaupt sagen? Nein, nein. Es geschah, daß er hochsah und den Staub am Deckenstuck seines Büroraumes bemerkte, er stand mit dem Rücken zur Tür, und als ein Dielenbrett knarrte, wirbelte er herum, und da erblickte er eine junge Frau, ihre Nase war eine Nasenspitze zu groß für ihr Gesicht, und ihr leicht seitlich versetzter Mund formte Worte, die er nicht begriff, denn eine Stille fraß sich in seinem Kopf bis zu seinen Ohren vor, und vielleicht war seine Ohrenröte das erste Zeichen seiner Verliebtheit.
Sie zuckte zusammen, als der Direktor, der Mann, der die Decke inspizierte, seine Ohren mit den Händen umschloß, er sah aus, als würden ihm Fäuste aus den Schläfen wachsen. Vier Tage später saß sie mit ihm in einer Bar, die bekannt war für die Sitzschalen, in denen man versank, es war schwierig, sich einigermaßen würdevoll zu erheben, deshalb saß sie mit voller Blase ihm gegenüber, der sich für dieses Treffen keine bunte Krawatte umgebunden hatte. Er sprach davon, daß mancher Menschen Herzen in eine Nußschale paßten, und in der nächsten halben Stunde waren sie damit beschäftigt, aufzuzählen, was alles tatsächlich in einer (halben) Nussschale Platz hatte: eine Rosine, ein Brotkrümel, die Aschesäule einer Zigarette, an der man dreimal gezogen hat, ein Weisheitszahn, ein klitzekleiner Rechenstein, Papierschnipsel … plötzlich stand sie abrupt auf und strebte hastig zur Damentoilette – er sah ihr nach – sie spürte seinen Blick, und als sie etwas später am Waschbecken stand, starrte sie den Seifenspender an und dachte: Oh Gott er möchte eine Affäre mit mir anfangen wenn ich mich nicht irre gibt es zwischen uns einen Altersunterschied von vierundzwanzig Jahren das kann nicht gutgehen und wie erkläre ich es meiner Mutter sie wird mich ein trübes Frauchen schimpfen jetzt wasch dir die Hände und gehe zurück ja ich wußte es er hat in der Zwischenzeit für uns ein zweites Glas Wein bestellt was schwebt ihm da vor heute nacht.
Sie gingen mehrmals aus, heimlich, er ging dazu über, gleich eine Flasche Wein zu bestellen, und auch die Albernheit, am Korken zu riechen, den der Kellner ihm reichte, schreckte sie nicht ab. Der Direktor kümmerte sich um sie, und sie hatte nicht vor, sich hochzuschlafen: Das alles paßte haargenau in die Nußschale. Er brauchte nur einen besseren Haarschnitt, er sah aus wie ihr kleiner Bruder nach dem Aufwachen. Das erste Mal, in einem Hotelzimmer, nicht billig, nicht verhetzt, nicht betrunken, und sie riß nach der schönen Liebe im Bad das Zellophan auf, füllte das Plastikwasserglas voll. Und trank. Sie hatte eine Hausstauballergie und schlief deshalb unter einer Decke mit Astronautenbezug, und als Laken benutzte sie ein großes Tischwachstuch. Sie würde es ihm erklären, und er würde sich daran gewöhnen. Die verdammten Milben brachten sie zum Niesen, sie brachten sie um.
Sie würde nicht einmal zucken, wenn ein Schabernackmännchen durch lautes Lachen sie aus dem Schlaf risse, aber vielleicht hatten sie Angst vor den Katzen, auch sie traute dem Frieden nicht, wenn sich die beiden im Korb kringelten. Sie waren ja Tiere, die ihre Ohren dem Geräusch zuwenden, und die Laute wurden über das Holz und den Beton übertragen. In manchen Nächten hoffte sie auf Ermunterung. In manchen Nächten löste sich eine Ecke der Plane und flappte im Wind. In diesen Nächten trank sie, und trank und trank. Die Trinker mit spitzem Kinn und tiefer Kinnkerbe, mit der Weinflasche vor sich, sie kannte sie. Sie glich ihnen nicht, sie lag nur im Dunkeln, nüchtern war sie farblos, weinheiter war sie über ihr Herzklopfen unbekümmerter. (Nur wer lächelt, wird zum Tanzen aufgefordert.) In vielen Nächten lag sie einfach da, den Zeigefinger im Buch, um die Seite nicht zu verschlagen, so wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. Zuviel Schmerz, um aufzustehen, zuviel Feenstaub an ihrem Kleid, um nicht von einem Tanz mit einem guten Mann zu träumen. In ihren Augen leuchtete ein bißchen Weiß, ein bißchen Braun. Und die Glanzpunkte an ihren Wimpern. Wenn sie schielte, sah sie den Glanz, und sie sagte es laut auf: Ich sehe den Glanz. Es hörte sich verrückt an. Das Wetterleuchten am trüben Himmel über dem Wald trieb sie ans Fenster, und sie hielt sich fest am Fensterbrett, sie schielte, sie sah den Glanz und war froh darüber, was sollte ihr in diesem Augenblick den Frohsinn schwinden machen, wer sollte sie bestehlen. Und dann ein leiser Regen, morgen würden die Schabernackmännchen an den Wurzeln hängen, und sie würde so tun, als hielte sie sie für langgezogene dicke Tropfen. Obwohl es noch kalt war, roch es nach Frühling, zuviel Paradies zur falschen Jahreszeit.
Im Balbin Poesiekneipchen geschah es, es geschah, daß es sie wieder einmal in das Viertel Vinohrady verschlug, am Tag nach der schweren Nacht, am Tag nach ihrer Trunkenheit, und es hatte Stunden gedauert, bis sie den Mut aufbrachte, Lidschatten aufzulegen, endlich Farbe auf ihren Lidern. Ein befreundeter Komponist suchte sie auf, er sprach nach der Umarmung von der Suppe, die in seinem Magen brodelte, sie hat nach Sumpfgrütze geschmeckt, sagte er – so sprach er manchmal, er hatte eine schöne halbvulgäre Art. Und er sagte: Wie soll ich das verstehen, was schon dir schwerfällt, zu verstehen? Er lud sie ein, am Abend in die Stadt zu fahren, er verspreche sich nicht viel von dem Auftritt des jungen Kubaners, doch seine Tochter würde ihren neuen Freund aus Deutschland mitbringen, und man könnte ja sehen. Die Pockennarben auf seinen Wangen, sie starrte darauf und klatschte in die Hände, und er fuhr plötzlich herum und sah lange in den Wald hinein, der leichte Wind trug das Geflüster herbei, das Geflüster der Närrchen, und dann kollerten sie wie Truthähne, und es hörte sich wegen ihrer dünnen Stimmen an, als würde man zwei Kastanienfruchtkapseln aneinanderreiben.
Es waren in dem kleinen Kneipenraum viele Mädchen, die dem unteren Volkshaufen entstammten, manch ein Mädchen drehte sich nach dem bekannten Komponisten um, sie rechnete fast damit, daß man ihn um ein Autogramm bat. Erdnüsse und Chips wurden in der ungeöffneten Verpackung auf Tellern serviert, man mußte am Tresen bestellen. Und dort saß er, der neue Freund, er saß auf einem Barhocker zwischen dem Vater und seiner Tochter, und er traute sich nicht, Händchen zu halten mit seiner jungen Freundin, wahrscheinlich aus altmodischen Gründen. Vielleicht fühlte er sich begünstigt, vielleicht hatte er das leichte Gefühl eines Geistes, der durch Wände gehen kann.
Er konnte kein Wort Tschechisch, dafür sprach sie ein paar Brocken Deutsch, und sie sagte: Gefällt es bei uns? Und er sagte: Es gefällt mir sehr bei Ihnen, danke. Wofür? Sie tat ja nichts dafür, daß der Gast aus Deutschland voller Liebe auf diese Stadt Prag blickte. Der Komponist bedankte sich auch bei ihr – wofür? Sie hatte sich doch einfach überreden lassen, sich auf einem Kleinbühnenkonzert zu betrinken. Ein dunkelhaariger braunäugiger Deutscher war schon ein merkwürdiger Anblick, und es war auch seltsam lustig, daß er verschämt neben der jungen Frau saß und eine verblichene Jeanshose trug, die ihm nicht stand. Der kubanische Sänger sang sich in ein Fiasko, es gab immer wieder Rückkopplungen, sie wurde nüchtern und trank sich müde, und die Mädchen aus der Plattenbausiedlung aßen die Chipstüten leer und hörten mit der Zeit auf, im Takt der Musik zu wippen. Ihre an den Spitzen ondulierten Haare verstrichen zu Strähnen, die auf den nackten Schultern lagen wie abgeschnittene Locken.
Der Komponist kümmerte sich um sie, er fragte sie nach ihrem Leben im Waldhaus und nach ihren Tagen außerhalb der Stadt, und sehr bald – der Kubaner hatte sich in der halbstündigen Pause nach draußen abgesetzt – waren sie in ein Gespräch vertieft, in dem es um die Kaufpaläste im Gewerbegebiet ging. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Gast aus Deutschland einen Kuß auf die Lippen der Freundin drückte, und sie umschloß seinen Hinterkopf mit der Hand und verlängerte den Kuß. Die Liebe der anderen sollte sie nicht bedrücken. (Der Haß, wenn wir es ernst meinen, wenn wir nicht aus nichtigen Gründen hassen, ist eine schöne vergängliche Empfindung: Eine Frau hat einen guten Grund, den Mann zu hassen, der glaubt, er könne sie ungestraft verlassen.) Der Haß, den die Frau mit den verwisperten Träumen empfand, versickerte in grauen Schlieren in ihr Herz, und deshalb hatte sie Herzklopfen, und deshalb trank sie sich jeden Tag besinnungslos, und deshalb aber verlosch sie nicht.
In den Kaufpalästen gibt es nur Plastikkram, sagte der Komponist, und Polyesterkram, mir steigt in Museen und in großen Supermärkten das Blut ins Gesicht, wie ist es bei dir? Ich gehe in kleinen Läden einkaufen, sagte sie, der Kubaner trieb die Musiker zusammen, sie sammelten sich auf der Bühne, dann sang der kleine Mann ein altes tschechisches Sehnsuchtslied, die Mädchen waren getröstet, er schmeichelte mit diesem Lied diesen Mädchen, die fünf Minuten lang lächelnd ins Ungefähre starrten. (Ein Traum kettet sich an den nächsten Traum, und wenn ein Mädchen zum schönen Lied nicht tanzt und sitzen bleibt, wird sie trotzdem begehrt.)
In dem Saal waren nicht so viele Männer, und die wenigen, die hergekommen waren, hielten sich zurück mit dem Trinken, und es gab auch keinen einzigen Mann, der vom Barhocker herunterfiel. Der Clubbesitzer trug einen Dissidentenvollbart, und auf seinem Kopf lag eine Melone auf, sie war zwei Nummern zu klein. Er versuchte sein Glück bei ihr, sie blieb gleichgültig. Da schlug er seine Melone an seinem Jackett ab, ein kleiner Wutanfall, der verging.
Der Zwergenzorn war schlimmer, es war schlimm, den Zorn der Zwerge zu erregen, sie hatte die Närrchen bislang nur ein einziges Mal gegen sich aufgebracht: Sie hatte bei einem ihrer Spaziergänge einem Erdkerlchen die Kappe vom Kopf gerissen, es summte sofort auf vor Schmerz, denn es konnte ohne Kappe nicht verschwinden im Loch, es wäre verloren gewesen in der Wildnis des Gesindels. Das Gesindel lebte in der Oberwelt, und die Daumenköpfchen lebten in der Unterwelt, in der kalten Zeit aber hingen und streckten sie sich, in der Hoffnung auf einen Zuwachs von einem Fingernagel Größe. Die, die nicht schon oben waren, krochen durch die engen Stollen heraus und ließen sich von dem Unbekappten erklären, daß er in seiner Gymnastik nicht ungeschickt vorgegangen war – ihn traf keine Schuld. Die Frau, nein, der linke Fußknöchel der Frau hatte ihn angerempelt, der böse Knöchel ragte aus dem Wanderschuh heraus, nein, da war ein Loch im Schuh. Wer hatte Schuld auf sich geladen? Die Frau. Oder der Knöchel. Oder der Wanderschuh. Oder das Loch. Ja, das Loch. Wie rächt man sich an einem Loch? sagte der Meister der Unterirdischen, ist es da, oder ist es nicht da? Wenn ich den Finger, diesen Finger (Er zeigte ihnen allen seinen rechten Zeigefinger, dem die Kuppe fehlte, weil er eine Käsereibe mit einer Rutsche verwechselt hatte), in die Erde stecke, kann ich den Finger zurückziehen, aber nicht das Loch. Das Loch bleibt da, wo es ist, ich kann es nicht mitnehmen und meinem Weiblein zeigen wie ein angenagtes Kleeblatt, worüber mein Weiblein sich freuen würde, weil wir beide weiternagen würden an dem Blatt … (Er führte diesen Gedanken in vielen vielen Schleifen aus, seltsamerweise lauschten ihm die Zwerge andächtig. Wir merken uns: Die Abschweifung ist für die Närrchen fast so wichtig wie das Verwispern der Träume wildfremder Menschen.) Sie standen eng beieinander, und jeder von ihnen hatte im stillen geschworen, keine Geste der Besänftigung zu erkennen, und die Beeren in ihren zweifäustegroßen Kammern, die Beeren, die sie gesammelt hatten in der Stunde des trübsten Mondscheins, die leckeren giftigen Beeren, die die Menschen umbrachten, diese Beeren also, von denen der Meister sprach, nicht ohne sich über die dicke herabhängende Unterlippe zu lecken, diese Beeren würden sie essen nach ihrem Feldzug gegen das tückische Schuhloch. An einem geflickten Strumpfloch konnte man sich rächen, man nagte an dem Garn, man rupfte den Flicken ab, und schon brachte man die Socke dazu, sich zu schämen. Die Zwerge fauchten wie kleine Gauner, und als wäre das alles nicht schlimm genug, rief die Eule, und da gerieten sie in Aufruhr, und weil sie fast verrückt wurden (Der Zwerg ist ein Rätsel.
Der Zwerg haßt das Rätsel), versuchten sie, sich zwischen den Schuppen der Tannenzapfen zu verstecken. Doch vergebens – der Kopf paßte hinein, der Bauch ragte heraus. Also hüpften sie über das Bachbett und trampelten fast die ganze Nacht vor der Hausschwelle der Frau, sie fiepten und piepten, sie sollte ihnen das elende Loch übergeben, sie verfügten über mehr Zauberkraft als der Wanderschuh.
Sie wachte auf vom Lärm der kleinen Leute, sie blieb liegen und verwarf den Gedanken, sich auf Zehenspitzen zur Tür zu schleichen und sie plötzlich aufzureißen, sie hätte die Närrchen zu Tode erschreckt. Da schrie einer immer wieder ein Wort, ›Plupp‹ oder ›Plipp‹ oder ›Papperlapapp‹ oder ›Plopp hopp‹ – sie konnte ihn nicht richtig verstehen, sie spürte nur die große Erregung, sie hörte nach jedem Wort oder Satz des Schreiers die Hurrarufe und das drauffolgende Trampeln. Bald hielt sie es nicht mehr aus in ihrem Bett, sie ging leise zu einem schattigen Winkel des Nebenzimmers, setzte sich auf den Malhocker und schaute auf die aufgebrachten Rotmützchen: Ein Schimmer glühte um ihre Köpfe, Moos klebte an ihren Ohrläppchen. Sie steckten in schwarzen Pelzpantoffeln, sie waren ordentlich angezogen und nicht zerlumpt. Der Brustlatz war fast verdeckt vom filzigen Bart, und jedesmal, wenn sie wütend sprangen, zitterten ihre Bauchbeulen.
Sie merkte nicht, wie ein neuer Tag anbrach, sie spürte nur, daß der dunkle Schleier auf ihrem Gesicht zerriß. Plötzlich starrten die Kleinchen in Richtung des Waldes, Rückzug, schrie ein dickes Männchen, und da sie erwartet hatte, daß der Haufen geschlossen zurückhüpfte, machte sie große Augen, als die Närrchen aus der Formation ausbrachen: Die einen trotteten drauflos, die anderen kullerten (Tatsächlich, sie kullerten wie eine Murmel), und dann gab es viele, die von einem Bein auf das andere springend einander zum Umfallen brachten. Das Käppchen ward gefunden – sie wußte es. Sie ließ ihnen etwas Zeit für ihre seltsame Gymnastik, am späten Vormittag des nächsten Tages füllte sie Fingerhüte mit zuckersüßem Quittensirup, trat mit einem einzigen Schritt über das Bachbett und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Die hängenden Närrchen schauten sie finster an, so leicht ließen sie sich nicht besänftigen. Am nächsten Tag füllte sie die leeren Fingerhüte mit bittersüßem Granatapfelsirup, die hängenden Närrchen blickten gleichgültig drein. Erst am sechsten Tag – sie trat frühmorgens ins Freie – empfingen die Zwerge sie schon am Erdbuckel zwischen Beet und Bach, sie hielten die Fingerhüte hoch, die sie mit rot gefärbtem Zuckerwasser auffüllte, sie tranken es in einem Zug, und da rollte etwas herbei und richtete sich auf und legte etwas auf ihre Schuhspitze. Es war ein zerkauter weißer Bindfaden, den der Meister darbot, um die Frau zum erwünschten Oberirdischen zu erklären – doch das konnte sie ja nicht wissen.
Wieso starrt sie ihre Schuhe an? dachte der Komponist, er kaute an einer Handvoll Rauchmandeln, und wenn er den Blick schweifen ließ, hoffte er auf eine Frau zu stoßen, bei der er nicht nach einem Monat sein Autoradio aufdrehen mußte: Es war ihm passiert, beim letzten Mal, bei der letzten Bekanntschaft, sie hatte gesagt: In dem toten Eichhörnchen, das wir gerade umfahren haben, steckt mehr Leben als in dir. Das hatte sie gesagt. Sie kannten sich doch erst einen Monat und elf Tage, es war kein Fehler gewesen, diese Frau, die am Bankschalter ihren Dienst tat, anzusprechen. Ganz bestimmt nicht. Das Leben, das sie meinte, bestand aus Tanzveranstaltungen, teurem Wein, Urlaub in exklusiven Inselhotels und einem Überschuß an Übermut. Sie schrie, wenn ihr ein Musikstück gefiel, sie schrie sich fast heiser. Er schrie nur, wenn man ihn zwang, auf eine Leiter zu steigen und die Glühbirne auszuwechseln, er schrie, weil er nicht pfeifen konnte und aber vor Höhenangst pfeifen wollte. Immer wenn er in Liebe zu einer Frau entflammte, sagte er sich laut vor: Diese Liebe wurde im Himmel beschlossen und nicht in der Hölle! Deshalb, wirklich nur deshalb, fing er jedesmal an, sich zu verbessern. Er nahm sich vor, am Tisch und auf jedem Stuhl mit geradem Rücken zu sitzen. Er nahm sich vor, im Schlaf nicht mehr so weit auf seine Seite des Bettes zu rollen, daß er herunterfiel.Er nahm sich vor, Neujahrskarten an Freunde und Bekannte zu verschicken. Die Neue in seinem Leben aber fing gleich am ersten Tag von dem Leben zu schwärmen an, das sie mit ihm teilen wollte. Er fühlte sich in Prag wohl, es war seine schöne Stadt, und daß der neue Freund seiner Tochter der Stadt Komplimente machte, hatte ihn erst mißtrauisch gestimmt. Worauf spielte er an? Er wußte um die Scheidung des Komponisten, die jetzt fast ein Jahrzehnt zurücklag – wollte der Gast aus Deutschland vielleicht mit seiner Liebestauglichkeit angeben? Nein, das wollte er nicht. (Er lag richtig.) Verdammt seien Barhocker! dachte er, seine Füße ruhten auf der Chromstrebe, er hatte kein Gefühl in den Beinen.
Er starrte auf den ausgestopften Auerhahn oben an der Längswand, von ihm aus gesehen rechts, und von ihm aus gesehen links saß am entferntesten Ende des langen Kneipentisches eine Frau, die ihm bekannt vorkam, er konnte sie keinem Lied und keinem Konzert zuordnen. Jetzt stand sie auf, blickte ihn an, blickte weg, blickte ihn wieder an, blickte weg, blickte wieder weg. So ging es so lange weiter, bis sie sich durch die Reihen der Mädchen vorgekämpft hatte. Als sie vor ihm stand, rutschte er vom Barhocker herunter, er wäre wegen seiner tauben Beine fast eingeknickt, es kam ihm schon komisch vor, daß sie stehend schwieg, schweigend stand – was in aller Welt wollte sie?
Und dann sagte sie: Edita, erinnerst du dich? Genau. Früher hatten alle in der Klasse sie ›die Edita mit der Eisschicht auf dem Haarknoten‹ genannt, die Edita war im Winter besonders zugeknöpft gewesen, und als er sie einmal zu einer Schülerparty einlud, sagte sie: Bei diesen Minustemperaturen kann mich wirklich niemand trösten. Die Edita bastelte gern Kindermasken aus Wellpappe und Maschendraht oder Zupfpuppen aus Wollresten, sie schnitzte Dame-Steine aus Haselnußstecken oder bog Draht zu Biegepüppchen. (War der höfliche Applaus für den Kubaner ausgeblieben? – er wußte es nicht.) Er winkte seiner Tochter und dem braunäugigen Deutschen zu, er nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit darüber aufzuklären, daß seine Freundin aufgeklärt war.
1. Auflage 2009
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Feridun Zaimoglu
Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit seinem sechsten Lebensmonat in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel und schreibt für Die Welt, die Frankfurter Rundschau, Die Zeit und die FAZ. 2002 erhielt er den Hebbel-Preis, 2003 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2005 den Adelbert-von Chamisso-Preis. Im Jahr 2005 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Zahlreiche weitere Preise folgten, u.a. der Grimmelshausen-Preis (2007), der Corine-Preis (2008), der Jakob-Wassermann Literaturpreis (2010) sowie der Preis der Literaturhäuser (2012). 2016 erhielt er den Berliner Literaturpreis sowie die Ehrenprofessur des Landes Schleswig-Holstein. Nach »Leyla«, »Liebesbrand«, »Siebentürmeviertel« und »Evangelio« erschien zuletzt sein Roman »Die Geschichte der Frau« (nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019).
Bibliographische Angaben
- Autor: Feridun Zaimoglu
- 2009, 1. Auflage., 442 Seiten, Maße: 13,5 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462041339
- ISBN-13: 9783462041330
- Erscheinungsdatum: 19.08.2009
Rezension zu „Hinterland “
»[...] ein wucherndes Labyrinth, von Feen und Geistern bevölkert und verziert mit den Scherben eines Sonntagnachmittags. Man kann dieses Buch nicht lesen, man muss es bereisen.« Ariadne von Schirach Welt am Sonntag
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