Höchste Zeit, darüber zu sprechen
Heikle Fragen, die Sie Ihren alten Eltern schon lange mal stellen wollten
- Von Hörgerät bis zur richtigen Pflege: Die häufigsten Konflikte zwischen Kindern und Eltern im Seniorenalter
- ...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Höchste Zeit, darüber zu sprechen “
- Von Hörgerät bis zur richtigen Pflege: Die häufigsten Konflikte zwischen Kindern und Eltern im Seniorenalter
- Wie können Kinder ihren Eltern im Alter helfen? Tipps für behutsame Gespräche mit den Eltern
- Erklärung der Ursachen für die einzelnen Probleme
Fundiert erklärt der Band körperliche und seelische Ursachen und die Folgen für die Mitmenschen. Anhand praktischer Tipps folgen Ratschläge für klärende und helfende Gespräche mit den Eltern.
Mit den wichtigsten Punkten rund um Hygiene, Sinneskräfte, Liebe, Sexualität, Krankheit, Pflege u.v.m.
Lese-Probe zu „Höchste Zeit, darüber zu sprechen “
Höchste Zeit, darüber zu sprechen von Gertrud TeusenVorwort
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Es gibt Menschen, für die Neugier bedeutet, seine Nase in die Angelegenheiten anderer Menschen zu stecken, also sich für Dinge zu interessieren, die einen gar nichts angehen. Dann doch lieber sich vornehm zurückhalten. Derartige Zurückhaltung legen wir auch gerne bei Themen an den Tag, denen wir am liebsten aus dem Weg gehen. Dieses Buch ist randvoll mit solchen Themen, denn es geht um das Älterwerden und das Altsein. Aber wir wollen darüber nicht so gern reden. Deshalb schweigen wir, anstatt Fragen zu stellen, die uns unter Umständen als neugierig hinstellen.
Doch: »Wer fragt, ist ein Narr für fünf Minuten. Wer nicht fragt, bleibt ein Narr für immer.« Dieses chinesische Sprichwort hat auch etwas mit Neugier zu tun und mit falsch verstandener oder angeblicher Rücksichtnahme. Jeder hat Eltern, alle werden älter, alle quälen mehr oder minder die gleichen Fragen. Viele Dinge, die uns interessieren, wagen wir nicht zu erfragen, weil sie ein Tabu darstellen. Das Schweigen, das an die Stelle notwendiger Auseinandersetzung tritt, ist fatal, denn die Zeit unserer Eltern läuft ab, und so quälen wir uns lieber mit unausgesprochenen Fragen, anstatt sie klar und deutlich zu formulieren.
»Neugier steht an erster Stelle eines Problems, das gelöst werden will.« Auch Galileo Galilei war offensichtlich ein neugieriger Mensch. Und er hatte es gar nicht einfach mit seinen Fragen, und noch unbequemer waren seine Antworten.
Heute scheinen wir das Fragen verlernt zu haben, oder ist uns vielleicht nur der Mut dazu abhandengekommen?
»Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie auch ernst genommen.« Diese Weisheit stammt von Konrad Adenauer. Mit unangenehmen Fragen, die man alten Menschen stellt, macht man sich zumeist wirklich unbeliebt. Aber man erwirbt auch Respekt, denn man vermittelt zugleich Anteilnahme und Wertschätzung. Beides können wir nur im Gespräch weitergeben - und um ein solches in Gang zu bringen, müssen wir eben auch Fragen stellen.
»Ein Dutzend verlogener Komplimente ist leichter zu ertragen als ein einziges aufrichtiges Wort.« Der Schriftsteller Mark Twain hat das gesagt und er trifft damit den Kern der Sache. Die vielfältigen Probleme des Alterns lassen sich auf Dauer nicht ignorieren - zumindest nicht, wenn einem wirklich etwas an den alten Eltern liegt. Manchmal muss man unangenehme Fragen stellen, um die verbleibende Zeit harmonisch verbringen zu können und liebevoll miteinander umzugehen.
In diesem Buch möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nicht nur notwendige Fragen, sondern auch mögliche Antworten mit auf den Weg geben. Sie beleuchten ein Problem aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sollen Verständnis vermitteln und Einblicke gewähren, Fakten klären und erwachsene Kinder - aber auch alte Eltern - zum Gespräch animieren. Nur so lässt sich die Zukunft für beide Seiten friedvoll gestalten. Dafür wünsche ich Ihnen viel Glück.
Gertrud Teusen
Einleitung
Wenn Eltern älter werden, müssen Kinder erwachsen werden
»Es gibt einen bestimmten Lauf des Lebens und einen einzigen Weg der Natur, und zwar einen einfachen. Einem jeden Abschnitt des Lebens ist seine richtige Zeit gegeben, sodass die Schwäche der Kinder, der Ungestüm der jungen Leute, der Ernst des schon gesetzten Alters und die Reife des Greisenalters etwas ganz Natürliches hat, das man zu seiner Zeit erleben muss«, schreibt Cicero in seinem Werk »Über das Alter«. Die Worte sind klar und deutlich und doch hören wir sie nicht gern.
Kein Mensch wird gerne alt, doch älter werden wir jeden Tag, auch wenn uns das nicht ständig gegenwärtig ist.
Als Zwanzigjährige können wir noch ein bauchfreies Top tragen; mit dreißig bekommen wir es an den Nieren, wenn der Rücken frei ist. Durchwachte Nächte am Bett eines kranken Kindes stecken wir als Dreißigjährige noch locker weg; mit vierzig folgen auf durchwachte Nächte nur verschlafene Tage. Mit vierzig tragen wir die Verantwortung mit links und wagen vielleicht einen neuen Anfang; mit fünfzig zwingt uns die Last der Verantwortung manchmal in die Knie und wir denken über den Vorruhestand auf Mallorca nach. Was wir als Fünfzigjährige genießen, stößt uns mit sechzig nur sauer auf. Wie gerne würden wir die Zeit anhalten, wollen nochmal jung und faltenfrei sein.
Das Älterwerden können wir nicht vertagen, jeden Tag können wir die Veränderung spüren, doch lieber verdrängen wir sie. Aber: Älter werden wir nicht später, älter werden wir jetzt.
Rückblende - wir ziehen Bilanz
Warum kann man vierzig, fünfzig Jahre sorglos durch Leben ziehen, und ganz plötzlich wird man in die Vergangenheit zurückkatapultiert? Wenn unsere Eltern alt werden, beziehungsweise wenn wir dieses Altern zur Kenntnis nehmen, führt das automatisch zur Rückbesinnung. Manchmal ist es auch eine Abrechnung, die jetzt scheinbar fällig wird. Wie auf einem Buchhaltungskonto wird das, was wir bekommen haben und was nicht, sorgfältig auseinanderdividiert. Nicht selten überwiegt beim persönlichen Kassensturz die Soll-Seite, sind die Eltern immer noch in der Pflicht der Wiedergutmachung.
Aber auch wenn wir eine »gute« Kindheit hatten, wenn Soll und Haben sich in der emotionalen Abrechnung ausgleichen, lässt das nicht automatisch auf ein harmonisches Verhältnis zu den alten Eltern schließen. Dann nämlich entsteht rückblickend manchmal das Gefühl, man habe ihnen nicht ausreichend gedankt und da wäre noch eine Schuld, die es jetzt - bevor es zu spät ist - abzutragen gilt.
Erwachsen werden - jetzt!
In jeder Familie steht irgendwann der Führungswechsel an, auch wenn sich die zeitlichen Rahmenbedingungen durch die höhere Lebenserwartung deutlich verschoben haben. Dass die Führungsrolle demnächst vakant wird, ist offensichtlich, doch der Rollentausch erfolgt schrittweise und muss akzeptiert werden, so wie er sich vollzieht. Wichtigste Voraussetzung dafür: das Erwachsenwerden.
Aber sind wir das nicht bereits? Tatsächlich sind es die wenigsten, die diese Frage souverän bejahen können.
Eine Eltern-Kind-Beziehung ist nicht automatisch gut und harmonisch. Je nachdem, wie sie sich in den letzten Jahren gestaltet hat, ist jetzt jedoch der Zeitpunkt gekommen, sich der eigenen Kindrolle bewusst zu werden und das teils kindliche Verhalten gegenüber den eigenen Eltern abzulegen. Das geht nicht von heute auf morgen, aber sich der Tatsache bewusst zu sein setzt zumeist schon eine Veränderung in Gang.
Manche Eltern versuchen in der Beziehung zu ihren Kindern, bewusst oder unbewusst die alten Regeln aufrechtzuerhalten. Weil von den alternden Eltern nur selten Einsicht oder Veränderung zu erwarten ist, müssen die Kinder selbst die Kindrolle abstreifen und die alten Regeln außer Kraft setzen. Nur so ist es möglich, schrittweise mehr Verantwortung für die Eltern zu übernehmen und auch selbst zur Abnabelung beizutragen.
Dieser Prozess, wenn man ihn sich bewusst vor Augen führt, ist schmerzhaft und erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und den Eltern. Denn: Solange man gebunden bleibt, wird man den Eltern stets aus der Position des Kindes heraus begegnen und in alte Beziehungsmuster zurückfallen.
Nun ist es selten so, dass man für diese wichtigen Entwicklungen genügend Zeit hat. Man mag sich sträuben, man mag es ignorieren, doch irgendwann ist der Zeitpunkt zum Handeln da, und es gibt keine Alternativen.
Die Eltern als moralische Instanz
Ganz gleich, wie alt wir werden, solange wir Eltern haben, bleiben wir auch deren Kinder. Die Macht der Eltern ist unermesslich, sie überdauert unbeschadet die Zeit, und selbst größere Distanz kann ihr nichts anhaben. Dem Einfluss der Eltern können wir uns nicht entziehen. Ihre Ermahnungen klingen uns noch in den Ohren, ihre Ansichten sind in uns verwurzelt, sie sind unsere verinnerlichte moralische Instanz. Unser Aussehen haben wir von ihnen geerbt und oft genug wiederholen wir ihre »Fehler« - ganz gegen unseren Willen. Und alles, wonach wir streben - tief in uns drin -, ist ihre Liebe und Anerkennung.
Blick zurück ohne Zorn
Wenn wir älter werden und unsere Eltern alt sind, dann muss sich eine neue Beziehung etablieren. Diese Veränderung im Bindungsgeflecht ist aber nur möglich, wenn beide Seiten - erwachsene Kinder wie alte Eltern -, die Vergangenheit ruhen lassen können. Und je länger solche Beziehungen existieren, desto schwieriger ist es, sie auf eine neue Ebene zu transferieren und den beteiligten Personen neue Rollen zuzuweisen. Lösungen per Knopfdruck gibt es nicht, ebenso wenig wie ein »Tut mir leid« alle Wunden heilen kann. Oft hilft es, zu verzeihen. Doch verzeihen bedeutet nicht, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Das funktioniert nicht. Manchmal gehören Wut, Trauer und Tränen dazu, um eine emotionale Aufarbeitung der Kindheit zu ermöglichen. Was am Ende einer solchen Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern steht, ist ungewiss.
Verständnis ist der erste Schritt zum Verzeihen. Um Verständnis zu haben, muss man erst einmal herausfinden, warum die Erlebnisse von einst bis heute nachwirken und wie sie nachwirken. In einem nächsten Schritt sollte man versuchen, ein Gespräch mit den Eltern zu führen, um vielleicht dabei herauszufinden, dass auch sie sich weiterentwickelt haben und die Fehler von einst heute bereuen.
Das wäre das Ideal, die Realität sieht oft anders aus. Die Aussöhnung ist kein Kuhhandel, bei dem man nur auf den anderen zugeht, wenn auch dieser ein Stück entgegenkommt. Mit der Hoffnung, die Eltern ändern zu können, sollte man nicht seine Zeit vertun. Die Macht zur Veränderung liegt in jedem Menschen selbst, indem er seinen eigenen Wert anerkennt und Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Auf dieser Grundlage ist Verzeihen möglich.
Ein Rollenwechsel steht an
Wenn wir erwachsen werden müssen und der Rollenwechsel ansteht, dann sind wir hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Hilflosigkeit und Pflichtgefühl.
Wenn die einstmals starken Eltern schwächer werden, dann ist es an der Zeit, Verantwortung für sie - teilweise und im richtigen Maß - zu übernehmen. Und nicht nur das: Obwohl wir Kinder unserer Eltern bleiben, müssen wir verantwortlich handeln. Die wichtigste Beziehung in unserem Leben ist dabei, sich grundlegend zu verändern. In jeder Eltern-Kind-Beziehung gestaltet sich dieser Rollenwechsel etwas anders.
Angst vor der Verantwortung
Es ist vollkommen normal, dass man auch Angst entwickelt, wenn so schwer wiegende Veränderungen das Leben auf den Kopf stellen. Die Angst vor der Verantwortung wird im Wesentlichen von zwei Gefühlen genährt.
Das erste Gefühl ist Mitleid. Wir betrauern, stellvertretend für unsere Eltern, ihre Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Wir fragen uns, wie sie mit den anstehenden Veränderungen, der nachlassenden Eigenverantwortung und der zunehmenden Pflegebedürftigkeit, wohl umgehen werden. Wir bemitleiden sie ob der Tatsache, dass sich ihr Leben dem Ende zuneigt.
Das zweite Gefühl, meist noch wichtiger als das erste, ist das Selbstmitleid. Wir wünschen uns einfach, dass alles so bleibt, wie es ist. Und vor allem, dass unsere Eltern so bleiben, wie wir sie in Erinnerung haben. Aber so wie es war, wird es nie wieder sein. Aus dem Selbstmitleid spricht Egoismus: Ich will nicht, dass sich etwas ändert. Ich will meine Sorglosigkeit nicht verlieren. Und aus dem Selbstmitleid spricht Angst: Denn Verantwortung zu übernehmen bedeutet, sich Sorgen zu machen und Entscheidungen zu treffen.
Sich kümmern - eine Pflichtübung?
Eigentlich ist die Sache doch klar: Die Eltern haben uns auf diese Welt gebracht. Über Jahre haben sie für uns gesorgt, uns erzogen und gepflegt. Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich nur logisch, wenn erwachsene Kinder die Verpflichtung fühlen, nun umgekehrt für ihre Eltern zu sorgen. Tatsache ist, dass wir die Verpflichtung zwar »fühlen«, uns ihr aber nicht unbedingt auch gewachsen sehen. Was kommt da auf uns zu? Passt die Sorge um die alten Eltern in unseren eigenen Lebensplan?
Die Tatsache bleibt bestehen: Erwachsene Kinder müssen sich um ihre älter werdenden Eltern kümmern. In welcher Form und mit welchem Einsatz sie das tun, bleibt eine individuelle Entscheidung - erst einmal.
Die moralische Verpflichtung zur Unterstützung wird durch den gesellschaftlichen Druck erhöht. Manchmal wirkt alles so stark zusammen, dass es scheinbar kein Entrinnen und keine Alternative gibt. Doch was andere wollen und wir demnach sollen, spielt erst in zweiter Linie eine Rolle. Das Ziel sollte stets sein, die beste Versorgungsmöglichkeit für beide Seiten - erwachsene Kinder und alte Eltern zu finden. Aus reinem Pflichtbewusstsein heraus lässt sich das auf Dauer allerdings nicht bewerkstelligen.
Verantwortung dosiert übernehmen
Wenn die Selbstständigkeit verloren geht, dann muss man sich genau überlegen, in welchen Bereichen man unterstützend eingreifen kann und will. Oft ist es noch ein langer Weg bis zur vollständigen Pflegebedürftigkeit, und es gilt, die Verantwortungsübernahme sorgsam zu dosieren. Die Basis für all das sind offene Gespräche und der Mut, Fragen - auch unangenehme - zu stellen. Wer sich das traut, der hat den Rollenwechsel zumindest angedacht, auch wenn vielleicht noch viel Zeit bleibt, diesen nach und nach zu vollziehen.
Ein Mensch wächst mit seinen Aufgaben, aber im Alter hat auch jeder Mensch das Recht, in manchen Bereichen überfordert zu sein. Je nachdem, wo der persönliche Schwachpunkt liegt, können erwachsene Kinder entlastend eingreifen.
Viele Kinder übernehmen ungefragt gleich die ganze Verantwortung und »entmündigen« quasi ihre Eltern. Das ist nicht wortwörtlich zu verstehen, aber wer über den Kopf einer anderen Person hinweg entscheidet, suggeriert dieser, dass sie ganz offensichtlich diese Hilfe braucht und man deshalb einspringt. So zu handeln hieße aber, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Man sollte immer nur so viel Verantwortung übernehmen, wie die Eltern abgeben wollen. Die schrittweise und wohldosierte Übernahme von Verantwortung macht es allen Seiten leichter: einerseits, die Hilfe zu geben, und andererseits, die Hilfe anzunehmen.
Eigene Bedürfnisse anerkennen - und aussprechen
Wenn Eltern ihre Selbstständigkeit verlieren, so geschieht das manchmal Zug um Zug. In anderen Fällen tritt die Unselbstständigkeit plötzlich und unerwartet ein. So oder so stellt sich irgendwann die Frage, wie viel Verantwortung man übernehmen kann und will. Auch wenn der Wille manchmal Berge versetzen kann, so hat er doch auch seine Grenzen. Wer keine handfesten Argumente hat, die gegen eine Verantwortungsübernahme sprechen, der traut sich selten, seine Vorbehalte auszusprechen. Den Eltern die persönliche Fürsorge zu verweigern hinterlässt fast bei jedem ein Gefühl von Versagen und Schuld. Zwei wenig produktive Emotionen, die zur Entscheidungsfindung nicht beitragen können.
In jedem Fall ist es notwendig, die richtige Balance zwischen Hilfsbereitschaft und Selbstaufgabe zu finden. Darauf gehe ich in meinem Buch »Jetzt wird Mama richtig alt!« ausführlich ein. Alles andere hilft - auf Dauer auch dem Hilfsbedürftigen - wenig.
Die eigenen Bedürfnisse zu formulieren ist dabei sehr schwer, sie gegenüber den Eltern auszusprechen scheint oft auf den ersten Blick schier unmöglich.
Unter Geschwistern: Geteilte Last wiegt doppelt schwer
Die Beziehungen der Geschwister sind aber so vielfältig und individuell verschieden wie alles auf dieser Welt. Nicht alle sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, viele haben sich ganz unterschiedlich entwickelt. Während die einen seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt haben, stehen die anderen in regem Kontakt. Es gibt Mamas Liebling ebenso wie Papas Augenstern - und wenn es um die gleich verteilte Verantwortung unter den Geschwistern geht, so lässt sich nicht immer Harmonie erzeugen.
Der Klassiker unter den Rollenverteilungen ist die Zuweisung der Fürsorge für die Eltern an die weibliche Nachkommenschaft, dicht gefolgt vom Senioritätsprinzip - der/die Älteste trägt die Verantwortung. An dritter Stelle wird gern den Nesthäkchen die Pflegerolle zugeschoben, weil diese ja noch nicht so lange von den Eltern getrennt leben und deshalb mit deren Lebensart noch am meisten vertraut sind oder vielleicht keine eigenen Kinder haben.
Klare Priorität bei der Übernahme von praktischer Verantwortung hat auch immer derjenige/diejenige, der/die noch vor Ort lebt. Die räumliche Nähe gilt als unschlagbares Argument.
So ungerecht die Zuweisungen auch sind, so kommt es oft zur Konfrontation und selten zu klaren Entscheidungen. Am liebsten lässt man die Dinge laufen. Irgendjemand wird schon die Initiative ergreifen. Bei all dem Geschiebe und Gerangel um Verantwortung und Fürsorge vergessen leider viele, dass es keine Objekte sind, über die sie da diskutieren, sondern Menschen, nahestehende Angehörige noch dazu. Je nachdem, wie geistig fit und bewusst die Eltern die Situation erleben, haben auch sie noch ein Wörtchen mitzureden - so lange es irgend geht!
Da jede Familienkonstellation aber eine andere ist, lässt sich schwer prognostizieren, ob der Wille oder die Wünsche der Eltern zur Klärung des Kompetenzgerangels beitragen können. Manche Äußerungen der Alten schüren mehr das Feuer, als dass sie zur Befriedung und Klärung der Situation beitragen.
Allein in der Pflicht: Die Einzelkinder
Wer als einziges Kind der Eltern aufwuchs, hat viele Vorteile, aber auch manche Nachteile zu verkraften. Die Loslösung von den Eltern ist beispielsweise schwerer und die Erwartungshaltung der Eltern größer. Alle Wünsche und Hoffnungen richten sich dann auf eine Person.
Ist die Loslösung in der Jugend geglückt, so holt die besondere Familienkonstellation die Einzelkinder spätestens im Alter wieder ein. Allein steht man jetzt in der Pflicht, den Eltern einen würdigen Lebensabend zu bereiten. Inwieweit eine Verweigerung in dieser Situation überhaupt möglich ist, lässt sich nur ganz schwer beantworten. Es erfordert umso mehr Mut und Fantasie, Möglichkeiten zu finden und mit den alten Eltern zu besprechen, die beiden Seiten zuträglich sind.
Das innige Verhältnis, das viele Einzelkinder zu den Eltern haben, schleppen sie oft wie einen Klotz am Bein mit durchs Leben. Nicht wenige bleiben unverheiratet, und die, die einen Partner haben oder gar Familie, fühlen sich über Jahre hinweg hin- und hergerissen. Das eng gewobene Geflecht aus Liebe und Verpflichtung zieht sich dann in späteren Jahren immer enger zusammen und droht, die Luft zu rauben.
Nicht selten sind es die Eltern, insbesondere die Mütter, die oft mit Mitteln der psychologischen Kriegsführung das einzige Kind wieder fest an sich binden wollen. »Ich habe meine Mutter jahrelang gepflegt. Und das erwarte ich auch von dir!«, lautet die Forderung, und der unausgesprochene Vorwurf klingt mit, dass das einzige Kind sich offenbar aus dieser Verpflichtung stehlen will, und die Drohung, es aber bloß nicht zu wagen.
Besser miteinander auskommen!
Die Basis für ein gutes Miteinander ist die klare Kommunikation. Wie schwer das sein kann, weiß jeder Mensch aus eigener Erfahrung. Insbesondere im Gespräch mit älteren Menschen neigen wir mehr zur Verschleierungstaktik als zu offenen Worten. Dabei ist das Verbiegen und Vertuschen meist vergebene Liebesmühe, denn unser Körper spricht immer mit - und oft eine ganze andere Sprache, als die Worte glauben machen wollen.
Denn jeder Mensch spricht nicht nur mit Worten, sondern unterstreicht das Gesagte ganz automatisch durch Gesten, Mimik und Stimmlage - oder führt es ad absurdum. Sie können sich, wenn Sie beispielsweise von Gewissensbissen geplagt sind, noch sosehr bemühen, einen souveränen Eindruck zu machen, das schlechte Gewissen steht Ihnen dennoch ins Gesicht geschrieben.
Was für die Kommunikation allgemein gilt, gilt für die Gespräche mit älteren Menschen im Besonderen. Und nicht vergessen: Ihr Gesprächspartner, also Ihr Vater oder Ihre Mutter, kennen Sie Ihr ganzes Leben lang. Oft haben sie ein feines Gespür für Zwischentöne und ebenso für ernste Worte. Zwischen dem, was man sagt, und dem, was man fühlt, liegen manchmal Welten - und nochmal größer ist oft der Unterschied zu dem, was bei unserem Gesprächspartner ankommt.
Reden und gehört werden
Es liegt oft gar nicht am nachlassenden Hörvermögen, wenn alte Eltern nicht hören wollen, was wir zu sagen haben. Die individuelle Erwartungshaltung ist steter Quell von zahlreichen Missverständnissen. Und im Gespräch mit älteren Menschen fällt es oft schwer, Worte und Empfindungen in Einklang zu bringen, weil man sie ja nicht verletzen will, nicht verärgern möchte oder auch nur lästigen Diskussionen aus dem Weg gehen will.
Grundvoraussetzung für klare Kommunikation ist das Reden und Gehörtwerden. Wer eine glaubhafte Botschaft übermitteln möchte, der muss auch seine Befindlichkeiten vermitteln.
Probleme im Gespräch mit alten Eltern tauchen immer dann auf, wenn wir »ja« sagen, aber »nein« meinen.
Ein Beispiel: Ihre Mutter ruft an und lädt Sie zum Mittagessen ein, Sie haben aber etwas anderes vor.
»Nein, das geht nicht« ist beispielsweise ein schlechtes Entree, und klingt ohne weitere Erklärung ziemlich aggressiv. Auch vage Formulierungen wie »Das wird zu kompliziert« sind missverständlich. Eine Erklärung wird hier kaum folgen, beziehungsweise das Gegenüber wird diese nicht mehr wahrnehmen, denn es suggeriert ihm/ihr, es sei zu kompliziert es zu erklären.
Ebenso unhöflich und gleichgültig sind Aussagen wie: »Dazu habe ich eigentlich keine Lust.« Wer so formuliert, vermittelt keine Empathie, er lässt seinen Gesprächspartner in Selbstzweifeln zurück.
Das ideale Gespräch sollte so gestaltet sein: Sagen Sie deutlich, dass Sie diese Einladung nicht annehmen können, und führen Sie die tatsächlichen Gründe an. Zeigen Sie Empathie, zum Beispiel so: »Ich weiß, dass du jetzt enttäuscht bist.« Aber unterstreichen Sie Ihre Position: »Es geht aber wirklich nicht.«
Und der gelungene Gesprächsabschluss wäre ein Kompromiss, oder öffnen Sie eine neue Perspektive: »Aber wie wäre es denn nächstes Wochenende ...«
Die Vorteile dieser Gesprächsvariante sind offensichtlich und lassen sich auf alle möglichen Situationen übertragen. Wenn Ihr Gegenüber Sie partout nicht verstehen will, müssen Sie es so lange wiederholen, bis die Botschaft angekommen ist.
Drei Eckpfeiler eines gelungenen Gesprächs:
• Machen Sie eine klare Ansage und erklären Sie sie.
• Bieten Sie Kompromisse an.
• Zeigen Sie Empathie.
Respekt bewahren
Alte Menschen wünschen sich Aufmerksamkeit und Zuneigung, sie fordern Mitleid und Einsatz, sie äußern rücksichtslos ihre Bedürfnisse und verlangen sofortige Befriedigung derselben. Der Vergleich mit dem egoistischen Verhalten mancher Dreijähriger drängt sich manchmal auf. Doch versuchen wir zu verstehen: Die Regression, die das Alter und die nachlassenden Kräfte mit sich bringen, duldet keinen Aufschub bei der Erfüllung der Wünsche und Bedürfnisse. Die Grenzen der Scham und Intimität werden aufgehoben. Die Dimensionen von Zeit und Raum scheinen bedeutungslos, und selbst die prompte Erfüllung aller Forderungen bringt nur kurzfristige Befriedigung.
Dass das Alter den Menschen milde stimmt, können nicht alle erwachsenen Kinder unterschreiben, ebenso wie die alternden Eltern mit dem eigenen Nachwuchs oft höchst unzufrieden sind. Zu dieser Feststellung gelangte auch der Psychoanalytiker Erich Stern: »Alte Menschen führen oft die Klage, dass Kinder sich zu wenig kümmern, dass die Beziehungen oberflächlich, kühl und oft gespannt sind. (...) Hört man die jüngere Generation, so wird sehr oft über die Verständnislosigkeit der alten Eltern geklagt, über die Ansprüche, die sie stellen, über ihre Herrschsucht, ihre Tendenz, in alles hineinzureden.« Diese gegenseitigen Vorwürfe, so Stern, sind ein Indiz dafür, dass sich die Verhältnisse umkehren. Aus den abhängigen Kindern von einst sind starke Erwachsene geworden, aus den starken Eltern werden nunmehr abhängige Alte.
Kinder wie Eltern
Kaum etwas ist ärgerlicher als Erwachsene, die mit ihren Eltern reden wie mit einem Kleinkind. Wenn sich der Rollenwechsel der Verantwortlichkeit vollzogen hat, sind manche erwachsene Kinder geneigt, ihre Führungsrolle auch durch entsprechende Kommunikation zu unterstreichen. Das ist falsch. Denn auch wenn die Hilfsbedürftigkeit der Eltern an die Hilflosigkeit von Kindern erinnert, so gibt es doch einen großen Unterscheid. Die alten Eltern blicken auf einen großen Erfahrungsschatz zurück, der jeden Vergleich hinfällig macht. Die wohlgemeinte Fürsorge, die erwachsene Kinder ihren Eltern angedeihen lassen, darf nicht überhandnehmen und auch nicht die Selbstbestimmung einschränken. Zwar mag das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern eine neue Dimension gewinnen, doch die Zutaten sind wohlbekannt und werden nur neu verteilt.
So wie wir Kinder in ihren Bedürfnissen ernst nehmen sollten, so müssen wir unsere Eltern auch ernst nehmen, wenn sie auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Eine Kommunikation auf Augenhöhe und nicht über die Köpfe hinweg, muss stets das Ziel sein.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Es gibt Menschen, für die Neugier bedeutet, seine Nase in die Angelegenheiten anderer Menschen zu stecken, also sich für Dinge zu interessieren, die einen gar nichts angehen. Dann doch lieber sich vornehm zurückhalten. Derartige Zurückhaltung legen wir auch gerne bei Themen an den Tag, denen wir am liebsten aus dem Weg gehen. Dieses Buch ist randvoll mit solchen Themen, denn es geht um das Älterwerden und das Altsein. Aber wir wollen darüber nicht so gern reden. Deshalb schweigen wir, anstatt Fragen zu stellen, die uns unter Umständen als neugierig hinstellen.
Doch: »Wer fragt, ist ein Narr für fünf Minuten. Wer nicht fragt, bleibt ein Narr für immer.« Dieses chinesische Sprichwort hat auch etwas mit Neugier zu tun und mit falsch verstandener oder angeblicher Rücksichtnahme. Jeder hat Eltern, alle werden älter, alle quälen mehr oder minder die gleichen Fragen. Viele Dinge, die uns interessieren, wagen wir nicht zu erfragen, weil sie ein Tabu darstellen. Das Schweigen, das an die Stelle notwendiger Auseinandersetzung tritt, ist fatal, denn die Zeit unserer Eltern läuft ab, und so quälen wir uns lieber mit unausgesprochenen Fragen, anstatt sie klar und deutlich zu formulieren.
»Neugier steht an erster Stelle eines Problems, das gelöst werden will.« Auch Galileo Galilei war offensichtlich ein neugieriger Mensch. Und er hatte es gar nicht einfach mit seinen Fragen, und noch unbequemer waren seine Antworten.
Heute scheinen wir das Fragen verlernt zu haben, oder ist uns vielleicht nur der Mut dazu abhandengekommen?
»Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie auch ernst genommen.« Diese Weisheit stammt von Konrad Adenauer. Mit unangenehmen Fragen, die man alten Menschen stellt, macht man sich zumeist wirklich unbeliebt. Aber man erwirbt auch Respekt, denn man vermittelt zugleich Anteilnahme und Wertschätzung. Beides können wir nur im Gespräch weitergeben - und um ein solches in Gang zu bringen, müssen wir eben auch Fragen stellen.
»Ein Dutzend verlogener Komplimente ist leichter zu ertragen als ein einziges aufrichtiges Wort.« Der Schriftsteller Mark Twain hat das gesagt und er trifft damit den Kern der Sache. Die vielfältigen Probleme des Alterns lassen sich auf Dauer nicht ignorieren - zumindest nicht, wenn einem wirklich etwas an den alten Eltern liegt. Manchmal muss man unangenehme Fragen stellen, um die verbleibende Zeit harmonisch verbringen zu können und liebevoll miteinander umzugehen.
In diesem Buch möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nicht nur notwendige Fragen, sondern auch mögliche Antworten mit auf den Weg geben. Sie beleuchten ein Problem aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sollen Verständnis vermitteln und Einblicke gewähren, Fakten klären und erwachsene Kinder - aber auch alte Eltern - zum Gespräch animieren. Nur so lässt sich die Zukunft für beide Seiten friedvoll gestalten. Dafür wünsche ich Ihnen viel Glück.
Gertrud Teusen
Einleitung
Wenn Eltern älter werden, müssen Kinder erwachsen werden
»Es gibt einen bestimmten Lauf des Lebens und einen einzigen Weg der Natur, und zwar einen einfachen. Einem jeden Abschnitt des Lebens ist seine richtige Zeit gegeben, sodass die Schwäche der Kinder, der Ungestüm der jungen Leute, der Ernst des schon gesetzten Alters und die Reife des Greisenalters etwas ganz Natürliches hat, das man zu seiner Zeit erleben muss«, schreibt Cicero in seinem Werk »Über das Alter«. Die Worte sind klar und deutlich und doch hören wir sie nicht gern.
Kein Mensch wird gerne alt, doch älter werden wir jeden Tag, auch wenn uns das nicht ständig gegenwärtig ist.
Als Zwanzigjährige können wir noch ein bauchfreies Top tragen; mit dreißig bekommen wir es an den Nieren, wenn der Rücken frei ist. Durchwachte Nächte am Bett eines kranken Kindes stecken wir als Dreißigjährige noch locker weg; mit vierzig folgen auf durchwachte Nächte nur verschlafene Tage. Mit vierzig tragen wir die Verantwortung mit links und wagen vielleicht einen neuen Anfang; mit fünfzig zwingt uns die Last der Verantwortung manchmal in die Knie und wir denken über den Vorruhestand auf Mallorca nach. Was wir als Fünfzigjährige genießen, stößt uns mit sechzig nur sauer auf. Wie gerne würden wir die Zeit anhalten, wollen nochmal jung und faltenfrei sein.
Das Älterwerden können wir nicht vertagen, jeden Tag können wir die Veränderung spüren, doch lieber verdrängen wir sie. Aber: Älter werden wir nicht später, älter werden wir jetzt.
Rückblende - wir ziehen Bilanz
Warum kann man vierzig, fünfzig Jahre sorglos durch Leben ziehen, und ganz plötzlich wird man in die Vergangenheit zurückkatapultiert? Wenn unsere Eltern alt werden, beziehungsweise wenn wir dieses Altern zur Kenntnis nehmen, führt das automatisch zur Rückbesinnung. Manchmal ist es auch eine Abrechnung, die jetzt scheinbar fällig wird. Wie auf einem Buchhaltungskonto wird das, was wir bekommen haben und was nicht, sorgfältig auseinanderdividiert. Nicht selten überwiegt beim persönlichen Kassensturz die Soll-Seite, sind die Eltern immer noch in der Pflicht der Wiedergutmachung.
Aber auch wenn wir eine »gute« Kindheit hatten, wenn Soll und Haben sich in der emotionalen Abrechnung ausgleichen, lässt das nicht automatisch auf ein harmonisches Verhältnis zu den alten Eltern schließen. Dann nämlich entsteht rückblickend manchmal das Gefühl, man habe ihnen nicht ausreichend gedankt und da wäre noch eine Schuld, die es jetzt - bevor es zu spät ist - abzutragen gilt.
Erwachsen werden - jetzt!
In jeder Familie steht irgendwann der Führungswechsel an, auch wenn sich die zeitlichen Rahmenbedingungen durch die höhere Lebenserwartung deutlich verschoben haben. Dass die Führungsrolle demnächst vakant wird, ist offensichtlich, doch der Rollentausch erfolgt schrittweise und muss akzeptiert werden, so wie er sich vollzieht. Wichtigste Voraussetzung dafür: das Erwachsenwerden.
Aber sind wir das nicht bereits? Tatsächlich sind es die wenigsten, die diese Frage souverän bejahen können.
Eine Eltern-Kind-Beziehung ist nicht automatisch gut und harmonisch. Je nachdem, wie sie sich in den letzten Jahren gestaltet hat, ist jetzt jedoch der Zeitpunkt gekommen, sich der eigenen Kindrolle bewusst zu werden und das teils kindliche Verhalten gegenüber den eigenen Eltern abzulegen. Das geht nicht von heute auf morgen, aber sich der Tatsache bewusst zu sein setzt zumeist schon eine Veränderung in Gang.
Manche Eltern versuchen in der Beziehung zu ihren Kindern, bewusst oder unbewusst die alten Regeln aufrechtzuerhalten. Weil von den alternden Eltern nur selten Einsicht oder Veränderung zu erwarten ist, müssen die Kinder selbst die Kindrolle abstreifen und die alten Regeln außer Kraft setzen. Nur so ist es möglich, schrittweise mehr Verantwortung für die Eltern zu übernehmen und auch selbst zur Abnabelung beizutragen.
Dieser Prozess, wenn man ihn sich bewusst vor Augen führt, ist schmerzhaft und erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und den Eltern. Denn: Solange man gebunden bleibt, wird man den Eltern stets aus der Position des Kindes heraus begegnen und in alte Beziehungsmuster zurückfallen.
Nun ist es selten so, dass man für diese wichtigen Entwicklungen genügend Zeit hat. Man mag sich sträuben, man mag es ignorieren, doch irgendwann ist der Zeitpunkt zum Handeln da, und es gibt keine Alternativen.
Die Eltern als moralische Instanz
Ganz gleich, wie alt wir werden, solange wir Eltern haben, bleiben wir auch deren Kinder. Die Macht der Eltern ist unermesslich, sie überdauert unbeschadet die Zeit, und selbst größere Distanz kann ihr nichts anhaben. Dem Einfluss der Eltern können wir uns nicht entziehen. Ihre Ermahnungen klingen uns noch in den Ohren, ihre Ansichten sind in uns verwurzelt, sie sind unsere verinnerlichte moralische Instanz. Unser Aussehen haben wir von ihnen geerbt und oft genug wiederholen wir ihre »Fehler« - ganz gegen unseren Willen. Und alles, wonach wir streben - tief in uns drin -, ist ihre Liebe und Anerkennung.
Blick zurück ohne Zorn
Wenn wir älter werden und unsere Eltern alt sind, dann muss sich eine neue Beziehung etablieren. Diese Veränderung im Bindungsgeflecht ist aber nur möglich, wenn beide Seiten - erwachsene Kinder wie alte Eltern -, die Vergangenheit ruhen lassen können. Und je länger solche Beziehungen existieren, desto schwieriger ist es, sie auf eine neue Ebene zu transferieren und den beteiligten Personen neue Rollen zuzuweisen. Lösungen per Knopfdruck gibt es nicht, ebenso wenig wie ein »Tut mir leid« alle Wunden heilen kann. Oft hilft es, zu verzeihen. Doch verzeihen bedeutet nicht, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Das funktioniert nicht. Manchmal gehören Wut, Trauer und Tränen dazu, um eine emotionale Aufarbeitung der Kindheit zu ermöglichen. Was am Ende einer solchen Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern steht, ist ungewiss.
Verständnis ist der erste Schritt zum Verzeihen. Um Verständnis zu haben, muss man erst einmal herausfinden, warum die Erlebnisse von einst bis heute nachwirken und wie sie nachwirken. In einem nächsten Schritt sollte man versuchen, ein Gespräch mit den Eltern zu führen, um vielleicht dabei herauszufinden, dass auch sie sich weiterentwickelt haben und die Fehler von einst heute bereuen.
Das wäre das Ideal, die Realität sieht oft anders aus. Die Aussöhnung ist kein Kuhhandel, bei dem man nur auf den anderen zugeht, wenn auch dieser ein Stück entgegenkommt. Mit der Hoffnung, die Eltern ändern zu können, sollte man nicht seine Zeit vertun. Die Macht zur Veränderung liegt in jedem Menschen selbst, indem er seinen eigenen Wert anerkennt und Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Auf dieser Grundlage ist Verzeihen möglich.
Ein Rollenwechsel steht an
Wenn wir erwachsen werden müssen und der Rollenwechsel ansteht, dann sind wir hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Hilflosigkeit und Pflichtgefühl.
Wenn die einstmals starken Eltern schwächer werden, dann ist es an der Zeit, Verantwortung für sie - teilweise und im richtigen Maß - zu übernehmen. Und nicht nur das: Obwohl wir Kinder unserer Eltern bleiben, müssen wir verantwortlich handeln. Die wichtigste Beziehung in unserem Leben ist dabei, sich grundlegend zu verändern. In jeder Eltern-Kind-Beziehung gestaltet sich dieser Rollenwechsel etwas anders.
Angst vor der Verantwortung
Es ist vollkommen normal, dass man auch Angst entwickelt, wenn so schwer wiegende Veränderungen das Leben auf den Kopf stellen. Die Angst vor der Verantwortung wird im Wesentlichen von zwei Gefühlen genährt.
Das erste Gefühl ist Mitleid. Wir betrauern, stellvertretend für unsere Eltern, ihre Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Wir fragen uns, wie sie mit den anstehenden Veränderungen, der nachlassenden Eigenverantwortung und der zunehmenden Pflegebedürftigkeit, wohl umgehen werden. Wir bemitleiden sie ob der Tatsache, dass sich ihr Leben dem Ende zuneigt.
Das zweite Gefühl, meist noch wichtiger als das erste, ist das Selbstmitleid. Wir wünschen uns einfach, dass alles so bleibt, wie es ist. Und vor allem, dass unsere Eltern so bleiben, wie wir sie in Erinnerung haben. Aber so wie es war, wird es nie wieder sein. Aus dem Selbstmitleid spricht Egoismus: Ich will nicht, dass sich etwas ändert. Ich will meine Sorglosigkeit nicht verlieren. Und aus dem Selbstmitleid spricht Angst: Denn Verantwortung zu übernehmen bedeutet, sich Sorgen zu machen und Entscheidungen zu treffen.
Sich kümmern - eine Pflichtübung?
Eigentlich ist die Sache doch klar: Die Eltern haben uns auf diese Welt gebracht. Über Jahre haben sie für uns gesorgt, uns erzogen und gepflegt. Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich nur logisch, wenn erwachsene Kinder die Verpflichtung fühlen, nun umgekehrt für ihre Eltern zu sorgen. Tatsache ist, dass wir die Verpflichtung zwar »fühlen«, uns ihr aber nicht unbedingt auch gewachsen sehen. Was kommt da auf uns zu? Passt die Sorge um die alten Eltern in unseren eigenen Lebensplan?
Die Tatsache bleibt bestehen: Erwachsene Kinder müssen sich um ihre älter werdenden Eltern kümmern. In welcher Form und mit welchem Einsatz sie das tun, bleibt eine individuelle Entscheidung - erst einmal.
Die moralische Verpflichtung zur Unterstützung wird durch den gesellschaftlichen Druck erhöht. Manchmal wirkt alles so stark zusammen, dass es scheinbar kein Entrinnen und keine Alternative gibt. Doch was andere wollen und wir demnach sollen, spielt erst in zweiter Linie eine Rolle. Das Ziel sollte stets sein, die beste Versorgungsmöglichkeit für beide Seiten - erwachsene Kinder und alte Eltern zu finden. Aus reinem Pflichtbewusstsein heraus lässt sich das auf Dauer allerdings nicht bewerkstelligen.
Verantwortung dosiert übernehmen
Wenn die Selbstständigkeit verloren geht, dann muss man sich genau überlegen, in welchen Bereichen man unterstützend eingreifen kann und will. Oft ist es noch ein langer Weg bis zur vollständigen Pflegebedürftigkeit, und es gilt, die Verantwortungsübernahme sorgsam zu dosieren. Die Basis für all das sind offene Gespräche und der Mut, Fragen - auch unangenehme - zu stellen. Wer sich das traut, der hat den Rollenwechsel zumindest angedacht, auch wenn vielleicht noch viel Zeit bleibt, diesen nach und nach zu vollziehen.
Ein Mensch wächst mit seinen Aufgaben, aber im Alter hat auch jeder Mensch das Recht, in manchen Bereichen überfordert zu sein. Je nachdem, wo der persönliche Schwachpunkt liegt, können erwachsene Kinder entlastend eingreifen.
Viele Kinder übernehmen ungefragt gleich die ganze Verantwortung und »entmündigen« quasi ihre Eltern. Das ist nicht wortwörtlich zu verstehen, aber wer über den Kopf einer anderen Person hinweg entscheidet, suggeriert dieser, dass sie ganz offensichtlich diese Hilfe braucht und man deshalb einspringt. So zu handeln hieße aber, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Man sollte immer nur so viel Verantwortung übernehmen, wie die Eltern abgeben wollen. Die schrittweise und wohldosierte Übernahme von Verantwortung macht es allen Seiten leichter: einerseits, die Hilfe zu geben, und andererseits, die Hilfe anzunehmen.
Eigene Bedürfnisse anerkennen - und aussprechen
Wenn Eltern ihre Selbstständigkeit verlieren, so geschieht das manchmal Zug um Zug. In anderen Fällen tritt die Unselbstständigkeit plötzlich und unerwartet ein. So oder so stellt sich irgendwann die Frage, wie viel Verantwortung man übernehmen kann und will. Auch wenn der Wille manchmal Berge versetzen kann, so hat er doch auch seine Grenzen. Wer keine handfesten Argumente hat, die gegen eine Verantwortungsübernahme sprechen, der traut sich selten, seine Vorbehalte auszusprechen. Den Eltern die persönliche Fürsorge zu verweigern hinterlässt fast bei jedem ein Gefühl von Versagen und Schuld. Zwei wenig produktive Emotionen, die zur Entscheidungsfindung nicht beitragen können.
In jedem Fall ist es notwendig, die richtige Balance zwischen Hilfsbereitschaft und Selbstaufgabe zu finden. Darauf gehe ich in meinem Buch »Jetzt wird Mama richtig alt!« ausführlich ein. Alles andere hilft - auf Dauer auch dem Hilfsbedürftigen - wenig.
Die eigenen Bedürfnisse zu formulieren ist dabei sehr schwer, sie gegenüber den Eltern auszusprechen scheint oft auf den ersten Blick schier unmöglich.
Unter Geschwistern: Geteilte Last wiegt doppelt schwer
Die Beziehungen der Geschwister sind aber so vielfältig und individuell verschieden wie alles auf dieser Welt. Nicht alle sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, viele haben sich ganz unterschiedlich entwickelt. Während die einen seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt haben, stehen die anderen in regem Kontakt. Es gibt Mamas Liebling ebenso wie Papas Augenstern - und wenn es um die gleich verteilte Verantwortung unter den Geschwistern geht, so lässt sich nicht immer Harmonie erzeugen.
Der Klassiker unter den Rollenverteilungen ist die Zuweisung der Fürsorge für die Eltern an die weibliche Nachkommenschaft, dicht gefolgt vom Senioritätsprinzip - der/die Älteste trägt die Verantwortung. An dritter Stelle wird gern den Nesthäkchen die Pflegerolle zugeschoben, weil diese ja noch nicht so lange von den Eltern getrennt leben und deshalb mit deren Lebensart noch am meisten vertraut sind oder vielleicht keine eigenen Kinder haben.
Klare Priorität bei der Übernahme von praktischer Verantwortung hat auch immer derjenige/diejenige, der/die noch vor Ort lebt. Die räumliche Nähe gilt als unschlagbares Argument.
So ungerecht die Zuweisungen auch sind, so kommt es oft zur Konfrontation und selten zu klaren Entscheidungen. Am liebsten lässt man die Dinge laufen. Irgendjemand wird schon die Initiative ergreifen. Bei all dem Geschiebe und Gerangel um Verantwortung und Fürsorge vergessen leider viele, dass es keine Objekte sind, über die sie da diskutieren, sondern Menschen, nahestehende Angehörige noch dazu. Je nachdem, wie geistig fit und bewusst die Eltern die Situation erleben, haben auch sie noch ein Wörtchen mitzureden - so lange es irgend geht!
Da jede Familienkonstellation aber eine andere ist, lässt sich schwer prognostizieren, ob der Wille oder die Wünsche der Eltern zur Klärung des Kompetenzgerangels beitragen können. Manche Äußerungen der Alten schüren mehr das Feuer, als dass sie zur Befriedung und Klärung der Situation beitragen.
Allein in der Pflicht: Die Einzelkinder
Wer als einziges Kind der Eltern aufwuchs, hat viele Vorteile, aber auch manche Nachteile zu verkraften. Die Loslösung von den Eltern ist beispielsweise schwerer und die Erwartungshaltung der Eltern größer. Alle Wünsche und Hoffnungen richten sich dann auf eine Person.
Ist die Loslösung in der Jugend geglückt, so holt die besondere Familienkonstellation die Einzelkinder spätestens im Alter wieder ein. Allein steht man jetzt in der Pflicht, den Eltern einen würdigen Lebensabend zu bereiten. Inwieweit eine Verweigerung in dieser Situation überhaupt möglich ist, lässt sich nur ganz schwer beantworten. Es erfordert umso mehr Mut und Fantasie, Möglichkeiten zu finden und mit den alten Eltern zu besprechen, die beiden Seiten zuträglich sind.
Das innige Verhältnis, das viele Einzelkinder zu den Eltern haben, schleppen sie oft wie einen Klotz am Bein mit durchs Leben. Nicht wenige bleiben unverheiratet, und die, die einen Partner haben oder gar Familie, fühlen sich über Jahre hinweg hin- und hergerissen. Das eng gewobene Geflecht aus Liebe und Verpflichtung zieht sich dann in späteren Jahren immer enger zusammen und droht, die Luft zu rauben.
Nicht selten sind es die Eltern, insbesondere die Mütter, die oft mit Mitteln der psychologischen Kriegsführung das einzige Kind wieder fest an sich binden wollen. »Ich habe meine Mutter jahrelang gepflegt. Und das erwarte ich auch von dir!«, lautet die Forderung, und der unausgesprochene Vorwurf klingt mit, dass das einzige Kind sich offenbar aus dieser Verpflichtung stehlen will, und die Drohung, es aber bloß nicht zu wagen.
Besser miteinander auskommen!
Die Basis für ein gutes Miteinander ist die klare Kommunikation. Wie schwer das sein kann, weiß jeder Mensch aus eigener Erfahrung. Insbesondere im Gespräch mit älteren Menschen neigen wir mehr zur Verschleierungstaktik als zu offenen Worten. Dabei ist das Verbiegen und Vertuschen meist vergebene Liebesmühe, denn unser Körper spricht immer mit - und oft eine ganze andere Sprache, als die Worte glauben machen wollen.
Denn jeder Mensch spricht nicht nur mit Worten, sondern unterstreicht das Gesagte ganz automatisch durch Gesten, Mimik und Stimmlage - oder führt es ad absurdum. Sie können sich, wenn Sie beispielsweise von Gewissensbissen geplagt sind, noch sosehr bemühen, einen souveränen Eindruck zu machen, das schlechte Gewissen steht Ihnen dennoch ins Gesicht geschrieben.
Was für die Kommunikation allgemein gilt, gilt für die Gespräche mit älteren Menschen im Besonderen. Und nicht vergessen: Ihr Gesprächspartner, also Ihr Vater oder Ihre Mutter, kennen Sie Ihr ganzes Leben lang. Oft haben sie ein feines Gespür für Zwischentöne und ebenso für ernste Worte. Zwischen dem, was man sagt, und dem, was man fühlt, liegen manchmal Welten - und nochmal größer ist oft der Unterschied zu dem, was bei unserem Gesprächspartner ankommt.
Reden und gehört werden
Es liegt oft gar nicht am nachlassenden Hörvermögen, wenn alte Eltern nicht hören wollen, was wir zu sagen haben. Die individuelle Erwartungshaltung ist steter Quell von zahlreichen Missverständnissen. Und im Gespräch mit älteren Menschen fällt es oft schwer, Worte und Empfindungen in Einklang zu bringen, weil man sie ja nicht verletzen will, nicht verärgern möchte oder auch nur lästigen Diskussionen aus dem Weg gehen will.
Grundvoraussetzung für klare Kommunikation ist das Reden und Gehörtwerden. Wer eine glaubhafte Botschaft übermitteln möchte, der muss auch seine Befindlichkeiten vermitteln.
Probleme im Gespräch mit alten Eltern tauchen immer dann auf, wenn wir »ja« sagen, aber »nein« meinen.
Ein Beispiel: Ihre Mutter ruft an und lädt Sie zum Mittagessen ein, Sie haben aber etwas anderes vor.
»Nein, das geht nicht« ist beispielsweise ein schlechtes Entree, und klingt ohne weitere Erklärung ziemlich aggressiv. Auch vage Formulierungen wie »Das wird zu kompliziert« sind missverständlich. Eine Erklärung wird hier kaum folgen, beziehungsweise das Gegenüber wird diese nicht mehr wahrnehmen, denn es suggeriert ihm/ihr, es sei zu kompliziert es zu erklären.
Ebenso unhöflich und gleichgültig sind Aussagen wie: »Dazu habe ich eigentlich keine Lust.« Wer so formuliert, vermittelt keine Empathie, er lässt seinen Gesprächspartner in Selbstzweifeln zurück.
Das ideale Gespräch sollte so gestaltet sein: Sagen Sie deutlich, dass Sie diese Einladung nicht annehmen können, und führen Sie die tatsächlichen Gründe an. Zeigen Sie Empathie, zum Beispiel so: »Ich weiß, dass du jetzt enttäuscht bist.« Aber unterstreichen Sie Ihre Position: »Es geht aber wirklich nicht.«
Und der gelungene Gesprächsabschluss wäre ein Kompromiss, oder öffnen Sie eine neue Perspektive: »Aber wie wäre es denn nächstes Wochenende ...«
Die Vorteile dieser Gesprächsvariante sind offensichtlich und lassen sich auf alle möglichen Situationen übertragen. Wenn Ihr Gegenüber Sie partout nicht verstehen will, müssen Sie es so lange wiederholen, bis die Botschaft angekommen ist.
Drei Eckpfeiler eines gelungenen Gesprächs:
• Machen Sie eine klare Ansage und erklären Sie sie.
• Bieten Sie Kompromisse an.
• Zeigen Sie Empathie.
Respekt bewahren
Alte Menschen wünschen sich Aufmerksamkeit und Zuneigung, sie fordern Mitleid und Einsatz, sie äußern rücksichtslos ihre Bedürfnisse und verlangen sofortige Befriedigung derselben. Der Vergleich mit dem egoistischen Verhalten mancher Dreijähriger drängt sich manchmal auf. Doch versuchen wir zu verstehen: Die Regression, die das Alter und die nachlassenden Kräfte mit sich bringen, duldet keinen Aufschub bei der Erfüllung der Wünsche und Bedürfnisse. Die Grenzen der Scham und Intimität werden aufgehoben. Die Dimensionen von Zeit und Raum scheinen bedeutungslos, und selbst die prompte Erfüllung aller Forderungen bringt nur kurzfristige Befriedigung.
Dass das Alter den Menschen milde stimmt, können nicht alle erwachsenen Kinder unterschreiben, ebenso wie die alternden Eltern mit dem eigenen Nachwuchs oft höchst unzufrieden sind. Zu dieser Feststellung gelangte auch der Psychoanalytiker Erich Stern: »Alte Menschen führen oft die Klage, dass Kinder sich zu wenig kümmern, dass die Beziehungen oberflächlich, kühl und oft gespannt sind. (...) Hört man die jüngere Generation, so wird sehr oft über die Verständnislosigkeit der alten Eltern geklagt, über die Ansprüche, die sie stellen, über ihre Herrschsucht, ihre Tendenz, in alles hineinzureden.« Diese gegenseitigen Vorwürfe, so Stern, sind ein Indiz dafür, dass sich die Verhältnisse umkehren. Aus den abhängigen Kindern von einst sind starke Erwachsene geworden, aus den starken Eltern werden nunmehr abhängige Alte.
Kinder wie Eltern
Kaum etwas ist ärgerlicher als Erwachsene, die mit ihren Eltern reden wie mit einem Kleinkind. Wenn sich der Rollenwechsel der Verantwortlichkeit vollzogen hat, sind manche erwachsene Kinder geneigt, ihre Führungsrolle auch durch entsprechende Kommunikation zu unterstreichen. Das ist falsch. Denn auch wenn die Hilfsbedürftigkeit der Eltern an die Hilflosigkeit von Kindern erinnert, so gibt es doch einen großen Unterscheid. Die alten Eltern blicken auf einen großen Erfahrungsschatz zurück, der jeden Vergleich hinfällig macht. Die wohlgemeinte Fürsorge, die erwachsene Kinder ihren Eltern angedeihen lassen, darf nicht überhandnehmen und auch nicht die Selbstbestimmung einschränken. Zwar mag das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern eine neue Dimension gewinnen, doch die Zutaten sind wohlbekannt und werden nur neu verteilt.
So wie wir Kinder in ihren Bedürfnissen ernst nehmen sollten, so müssen wir unsere Eltern auch ernst nehmen, wenn sie auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Eine Kommunikation auf Augenhöhe und nicht über die Köpfe hinweg, muss stets das Ziel sein.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Gertrud Teusen
- 176 Seiten, Hochwertige Broschur
- ISBN-10: 3828936644
- ISBN-13: 9783828936645
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