"I am not convinced"
Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre
Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre. Zeitgeschichte von innen: Joschka Fischers Erinnerungen an dramatische Wendepunkte der Zeitgeschichte.
Für die Weltpolitik hatte der 11. September 2001 gravierende Folgen, doch auch die damalige...
Für die Weltpolitik hatte der 11. September 2001 gravierende Folgen, doch auch die damalige...
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Produktinformationen zu „"I am not convinced" “
Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre. Zeitgeschichte von innen: Joschka Fischers Erinnerungen an dramatische Wendepunkte der Zeitgeschichte.
Für die Weltpolitik hatte der 11. September 2001 gravierende Folgen, doch auch die damalige Bundesregierung stellten die Anschläge vor problematische Entscheidungen: So verweigerte sie den USA die Beteiligung am Irak-Krieg. Joschka Fischer erinnert sich an die kritische Zeitspanne. Er berichtet von innen über die dramatischen Hintergründe des Zerwürfnisses mit den USA und die schwierige Gratwanderung zwischen seinem Nein zum Krieg und der Rolle Deutschlands als wichtigstem Bündnispartner der USA in Europa.
Für die Weltpolitik hatte der 11. September 2001 gravierende Folgen, doch auch die damalige Bundesregierung stellten die Anschläge vor problematische Entscheidungen: So verweigerte sie den USA die Beteiligung am Irak-Krieg. Joschka Fischer erinnert sich an die kritische Zeitspanne. Er berichtet von innen über die dramatischen Hintergründe des Zerwürfnisses mit den USA und die schwierige Gratwanderung zwischen seinem Nein zum Krieg und der Rolle Deutschlands als wichtigstem Bündnispartner der USA in Europa.
Klappentext zu „"I am not convinced" “
Zeitgeschichte von innen: Als Deutschland Nein sagte zum Krieg - Joschka Fischers Erinnerungen an dramatische Wendepunkte der Zeitgeschichte.Der 11. September 2001 leitete eine Zeitwende ein, die die Regierung und den damaligen Außenminister der rot-grünen Koalition vor dramatische Herausforderungen stellte. Der zweite Band von Joschka Fischers Erinnerungen reicht vom Beginn des Afghanistan-Kriegs und des Irak-Kriegs bis zum Ende der rot-grünen Epoche.
Der zweite Band von Joschka Fischers Memoiren über seine Zeit als Bundesaußenminister in der rot-grünen Regierung beginnt mit dem 11. September 2001 und behandelt ausführlich den Krieg in Afghanistan und die sich unmittelbar an die Kampfhandlungen anschließende Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn, in der die Nachkriegsordnung für das Land festgelegt wurde.
Im Zentrum des Buchs steht die dramatische Entwicklung hin zum Irak-Krieg, gegen den Fischer seit den allerersten Anfängen Stellung bezogen hat.
Das Zerwürfnis zwischen Deutschland und Amerika wegen des Krieges im Irak, die dramatischen Tage auch innerhalb der Bundesregierung im Januar/Februar 2003, als es um das Abstimmungsverhalten Deutschlands im Sicherheitsrat ging, sowie Deutschlands schwierige Gratwanderung zwischen seinem Nein zum Krieg und seiner Rolle als wichtigster Bündnispartner der USA in Europa werden von Fischer umfassend dargestellt.
2003 begann auch der Versuch der drei europäischen Mächte - Deutschland, Frankreich und Großbritannien -, die drohende Gefahr einer militärischen Nuklearisierung des Irans auf dem Verhandlungswege abzuwenden. Ebenso vertieften sich die Differenzen zwischen Kanzler und Außenminister in der Russland- und Chinapolitik.
Parallel dazu werden die zentralen innenpolitischen Ereignisse und Entwicklungen und ihr Einfluss auf das Schicksal der rot-grünen Koalition geschildert: die für Rot-Grün
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desaströsen Koalitionsverhandlungen im Herbst 2002, die Agenda 2010 und ihre Folgen, die sogenannte "Visa-Affäre" und der "Aufstand der Mumien" im Auswärtigen Amt gegen den Bundesaußenminister, bei dem es um die Nazivergangenheit des Amtes ging.
... weniger
Lese-Probe zu „"I am not convinced" “
»I am not convinced« von Joschka Fischer Von New York nach Afghanistan
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Der Terroranschlag vom 11. September 2001 veränderte binnen
weniger Minuten die Politik in den Hauptstädten der Welt. Dieser
weltweit live im Fernsehen übertragene Angriff auf die politischen
und wirtschaftlichen Zentren der Vereinigten Staaten
von Amerika war zu schockierend und dessen absehbare Konsequenzen
waren zu gravierend, als dass man mit dem üblichen
Tagesgeschäft hätte einfach fortfahren können. Selbstverständlich
galt dies auch für Berlin.
Die innen- und außenpolitischen Tagespläne von Regierung
und Parlament wurden binnen Minuten vom Tisch gefegt, bereits
feststehende Termine und Reiseplanungen wurden zu Makulatur,
und die gesamte politische Agenda der Bundeshauptstadt
richtete sich auf die neue terroristische Bedrohung aus.
Innerhalb der Bundesregierung lief nach dem ersten Schock
der Krisenreaktionsmechanismus in den Ministerien an. An
erster Stelle war der für die innere Sicherheit zuständige Innenminister
gefordert, aber auch im Auswärtigen Amt galt es, Maßnahmen
zum verstärkten Schutz der deutschen Auslandsvertretungen
und anderer deutscher Einrichtungen außerhalb unserer
Grenzen einzuleiten sowie unverzüglich telefonisch mit der
internationalen Abstimmung im Rahmen von EU und NATO
und mit unseren wichtigsten Partnern außerhalb von Europa zu
beginnen.
Meinen amerikanischen Kollegen Colin Powell konnte ich
an diesem schicksalhaften Tag allerdings telefonisch nicht erreichen,
da er sich zu einem Besuch in Lima, der Hauptstadt
von Peru, aufhielt und sofort nach Erhalt der schrecklichen
Nachricht zurück nach Washington aufgebrochen war. Erst am
nächsten Abend war es mir möglich, mit ihm zu sprechen und
ihm meine Erschütterung und tiefe Anteilnahme angesichts des
schrecklichen Verbrechens und der großen Zahl unschuldiger
Opfer zu übermitteln. Colin Powell sprach dabei von sich aus
den Nahostkonflikt an, da er an diesem Tag kurz vor unserem
Gespräch mit Arafat telefoniert hatte. Die Konfrontation zwischen
den Palästinensern und Israel verschärfte sich seit einiger
Zeit erneut und forderte immer mehr Opfer auf beiden Seiten.
Der amerikanische Außenminister versicherte mir, dass die USA
weiterhin im Nahen Osten engagiert bleiben würden, und teilte
mir mit, dass er Arafat gesagt habe, dass jetzt der Moment gekommen
wäre, an dem sich die Palästinenser bewegen müssten.
Ich konnte ihm nur zustimmen.
Während dieses Telefonats erläuterte mir Colin Powell
auch zum ersten Mal und in wenigen Worten die ersten Konsequenzen,
welche die US-Regierung aus dem Terroranschlag
vom 11. September zu ziehen gedächte: Die Vereinigten Staaten
würden keineswegs nur gegen die Attentäter dieses Anschlags,
sondern gezielt gegen den Terrorismus insgesamt vorgehen. An
jenem Abend waren mir die Folgen dieser neuen amerikanischen
Strategie noch nicht völlig klar, aber dies sollte sich wenige Tage
danach während meines Besuches in Washington und nach einem
Gespräch mit Paul Wolfowitz, dem stellvertretenden USVerteidigungsminister,
im Pentagon sehr schnell ändern.
Der Bundeskanzler hatte für den späten Nachmittag des
11. September eine Krisensitzung des Bundessicherheitsrates
(der BSR ist ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung, in
dem alle sicherheitsrelevanten Fragen erörtert und die deutschen
Rüstungsexporte beschlossen werden) ins Kanzleramt einberufen,
in der die ersten Maßnahmen und auch die weitergehenden
Schritte beraten und beschlossen werden sollten.
In der Sitzung des BSR wurden von allen betroffenen Ressorts
die Sofortmaßnahmen vorgetragen und auch formell gebilligt.
Diese bezogen sich vor allem auf die Flugsicherheit und den
Schutz der Flughäfen in Deutschland. Zudem wurde aufgrund
des Berichts des Innenministers und der Dienste die Gefährdungslage
für Deutschland erörtert - es konnte nur eine allgemeine
oder »abstrakte« Gefährdung festgestellt werden - und
die nächsten politischen Schritte beraten und beschlossen.
Eigentlich sollte an diesem Abend auch das seit Längerem ge-
plante Sommerfest der Grünen stattfinden, bei dem ich vorbeischauen
wollte. Aber diese Festivität war nach dem Eintreffen der
Schreckensnachrichten aus den USA sofort abgesagt worden. Es
war an diesem Tag niemandem mehr zum Feiern zumute. Stattdessen
hatte der Bundeskanzler für den Abend die Partei- und
Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestages zur Unterrichtung
und Abstimmung ins Bundeskanzleramt eingeladen,
denn angesichts der Tatsache, dass Deutschlands wichtigster
Bündnispartner außerhalb Europas faktisch durch eine kriegsähnliche
Handlung in seinen Entscheidungszentren angegriffen
worden war und sehr viele Opfer zu befürchten waren, bedurfte
es einer gemeinsamen Haltung der demokratischen Parteien im
Deutschen Bundestag.
Zudem war bereits zu diesem frühen Zeitpunkt abzusehen,
dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf Deutschland schwere
Entscheidungen bis hin zur militärischen Solidarität mit den
USA zukommen würden, selbst wenn in diesem Moment noch
völlig unklar war, ob es sich bei den Terrorattacken in New York
und Washington um einen Angriff von außen gehandelt hatte
und, wenn ja, von wem.
Das gesamte Muster dieser Terroranschläge sprach mit hoher
Wahrscheinlichkeit für die Urheberschaft Osama bin Ladens
und seiner islamistischen Terrorgruppe al-Qaida, aber es sollte
noch einige Zeit dauern, bis die Täter und ihr Hintergrund
zweifelsfrei festgestellt werden konnten. Auch unter diesem Gesichtspunkt
war daher eine im Parlament möglichst breit getragene
Antwort der Bundesregierung auf diese neue terroristische
Bedrohung von erheblicher Bedeutung.
Das Treffen mit dem Bundestagspräsidenten und den Spitzen
der im Bundestag vertretenen Fraktionen und Parteien fand um
20.00 Uhr im Kanzleramt statt. Zuvor war um 19.00 Uhr noch
die grüne Bundestagsfraktion im Reichstagsgebäude zu einer
Sondersitzung zusammengetreten.
Allen Teilnehmern der interfraktionellen Runde, wie auch
zuvor den Mitgliedern der grünen Bundestagsfraktion, standen
der Schock und die Erschütterung über die Terroranschläge in
den USA ins Gesicht geschrieben. Jedem und jeder war bewusst,
dass etwas Ungeheuerliches geschehen war und dass dieser Tag
den Gang der Geschichte verändern würde. Die Live-Bilder im
Fernsehen vom Einschlag der Flugzeuge, von den Menschen, die
in den Tod sprangen, um nicht ein Opfer der sich ausbreitenden
Flammenhölle in den Hochhäusern des World Trade Centers zu
werden, und schließlich vom Einsturz der Zwillingstürme und
dem brennenden Gebäude des Pentagons hatten allen eine unmittelbare
Nähe zu den Ereignissen vermittelt, die emotional
tief berührte.
Hier saßen nicht nur gewählte Funktionsträger, die politischen
Spitzen der Republik, zusammen, um erste politische
Konsequenzen dieses Angriffs auf unseren Verbündeten zu beraten,
sondern es waren alles Menschen aus Fleisch und Blut, die
das Grauen dieses Tages auch emotional und jeder für sich zu
verarbeiten hatten. Entsprechend gedrückt war die Stimmung
im Saal.
Vor Beginn des Treffens im Kanzleramt zeigte mir Gerhard
Schröder seinen Sprechzettel. Darin stand die Formulierung von
der »uneingeschränkten Solidarität« mit den Vereinigten Staaten,
und ich verstand sofort, was der Kanzler damit auszudrücken
beabsichtigte: Es war ein Ja Deutschlands zu einer möglichen
militärischen Beteiligung an einem Krieg in Afghanistan, wenn
dieser absehbare Fall nach der Feststellung der Fakten tatsächlich
eintreten würde.
Ich unterstützte die Haltung des Bundeskanzlers vorbehaltlos,
denn sollten die USA tatsächlich von außen angegriffen worden
sein (was bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit
zu vermuten war), dann würde zumindest politisch
der Bündnisfall in der Nato eintreten, und darauf war
durch die Bundesregierung nur mit »uneingeschränkter Solidarität
« zu antworten, wenn man unsere Beziehungen zu den USA
nicht ernsthaft gefährden wollte. Jedes Zaudern, jedes Wackeln,
ja auch nur eine Undeutlichkeit bei der Beantwortung der sich
stellenden Bündnisfrage hätte für Deutschland fatale Folgen haben
können. Gerade für uns Deutsche zählte aber auch noch ein
sich aus unserer jüngeren Geschichte ergebender emotionaler
Faktor, nämlich Dankbarkeit gegenüber den USA, auch wenn
es sich dabei nicht gerade um einen politischen Begriff handelt.
In diesem Fall und an diesem Tag verband sich aber zu Recht
ein vitales außenpolitisches Interesse unseres Landes mit dem
Begriff der historischen Dankbarkeit.
Die Vereinigten Staaten hatten, gemeinsam mit der Sowjetunion
und Großbritannien, den Nationalsozialismus niedergekämpft
und dadurch Europa und auch Deutschland von dem
Grauen der Nazidiktatur befreit. Sie hatten im Kalten Krieg Stalin
Einhalt geboten und über vier Jahrzehnte lang die Freiheit
Westberlins und Westdeutschlands garantiert und verteidigt. Sie
hatten auch ganz wesentlich zum Aufbau der deutschen Nachkriegsdemokratie
beigetragen. Und sie hatten die deutsche Einheit,
anders als etwa Frankreich und Großbritannien, sofort und
nachdrücklich unterstützt, als sich im Jahr 1989 diese nicht für
möglich gehaltene Chance völlig unverhofft auftat.
Nach dem 11. September ging es für uns also nicht nur allein
um realpolitische Bündnisfragen und deren Konsequenzen, sondern
gerade wir Deutsche hatten gegenüber den angegriffenen
Vereinigten Staaten eine historische Dankesschuld abzutragen.
Der Augenblick dafür war jetzt gekommen.
Gerhard Schröder benutzte diese in den folgenden Monaten
noch sehr oft von ihm wiederholte Formulierung von der »uneingeschränkten
Solidarität« öffentlich zum ersten Mal während
des Treffens im Kanzleramt mit den Spitzen von Parlament, Parteien
und Fraktionen. Auch die Tagesordnung des Plenums für
den nächsten Tag wurde dort umgeworfen, und man vereinbarte
in dieser Sitzung, am nächsten Tag die Plenarsitzung des Parlaments
mit einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers und
einer sich daran anschließenden kurzen Aussprache des Hauses
zu den Terrorattacken vom 11. September zu beginnen.
Spätnachts telefonierte ich noch mit dem israelischen Außenminister
Schimon Peres und mit dem palästinensischen Präsidenten
Jassir Arafat, denn dieser Tag würde ohne jeden Zweifel
auch massive Auswirkungen auf die gesamte Region des Nahen
Ostens haben, sollten die Terroranschläge auf die USA tatsächlich
von al-Qaida oder einer anderen islamistischen Terrororganisation
ausgeführt worden sein.
Für mich bestand vom ersten Augenblick an ein enger politischer
Zusammenhang zwischen dem Nahostkonflikt und den
absehbaren Auswirkungen des 11. September. Ich unterstellte
in meiner Analyse zwar keinen direkten Zusammenhang in
der Sache oder durch die möglichen Akteure, da uns keinerlei
Informationen darüber vorlagen, dass der palästinensische Terror
(israelische Sicht) oder der legitime bewaffnete Widerstand
gegen die Okkupation durch Israel (palästinensische Sicht) über
Kontakte zu Bin Laden verfügte. Umgekehrt hatte sich dieser
bis dato auch nicht sonderlich für die Palästinenser interessiert.
Die politischen Auswirkungen auf den israelisch-palästinensischen
Konflikt würden dennoch ganz erheblich sein, denn jegliche
Form von Terrorismus würde fortan von der mit weitem
Abstand größten und mächtigsten Militärmacht der Gegenwart
als eine existenzielle Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit begriffen
werden. Und dieser durch den 11. September völlig veränderte
Blick der USA auf den Terrorismus würde die Grundparameter
des Nahostkonflikts, in dem die Vereinigten Staaten
einer der ganz entscheidenden Spieler waren und sind, radikal
verändern.
Die Palästinenser hatten in ihrem Krieg gegen Israel und die
anhaltende israelische Besetzung des Westjordanlands und des
Gazastreifens vor allem auf die Waffe des Terrors gegen die israelische
Zivilbevölkerung gesetzt, da sie militärisch gegen die
israelische Armee nicht die geringste Chance hatten. Was immer
auch die Ursachenforschung der nächsten Stunden und Tage an
Tätern und Verantwortlichkeiten für den 11. September zutage
fördern würde, so war zumindest völlig klar, dass der Einsatz
von Terror gegen die Zivilbevölkerung von den USA und ihren
internationalen Partnern fortan politisch und moralisch geächtet
und mit allen Mitteln bekämpft werden würde.
Und »alle Mittel« würde im Fall der USA tatsächlich alle militärischen
Mittel meinen. Allerdings konnte ich mir zum damaligen
Zeitpunkt Folter und andere Menschenrechtsverletzungen
- Guantanamo, Abu Ghraib - nicht vorstellen, auch nicht
das Ausmaß der Bürgerrechtseinschränkungen in den USA und
jene »Politik der Angst« der Regierung Bush, die das Land über
Jahre hinweg im Griff halten sollte. Dazu reichte meine Fantasie
an jenem 11. September 2001 schlicht nicht aus.
Für die Palästinenser hieß die Botschaft jenes Tages, dass sie
sich würden entscheiden müssen, auf welcher Seite sie in der
sich abzeichnenden globalen Konfrontation stehen wollten.
Schon einmal hatte Jassir Arafat in einer vergleichbaren historischen
Situation eine fatal falsche Entscheidung für sein Volk
getroffen - als er sich nach dem Überfall des Irak auf Kuwait
für Saddam Hussein entschied. Eine solche historische Fehlentscheidung
durfte sich aber jetzt nicht wiederholen, wenn der
bereits vor dem 11. September stark gefährdete Friedensprozess
zwischen Israelis und Palästinensern nicht endgültig kollabieren
sollte. Und wer weiß, so waren an jenem Abend dieses historischen
Tages meine Überlegungen, vielleicht könnte die Tragödie
von New York und Washington - die Einsicht beider Konfliktparteien
und vor allem Jassir Arafats vorausgesetzt - sogar die
Chance für einen Ausgleich im Nahostkonflikt eröffnen. Es
wäre ja nicht das erste Mal, dass im Nahen Osten aus einer großen
Tragödie ein neuer Schritt nach vorn in Richtung Ausgleich
und Frieden unternommen worden wäre.
Die Formel von der »uneingeschränkten Solidarität« wiederholte
der Bundeskanzler auch am nächsten Morgen in seiner
Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag. Die entscheidenden
Sätze des Kanzlers lauteten:
»Meine Damen und Herren, ich habe dem amerikanischen
Präsidenten das tief empfundene Beileid des gesamten deutschen
Volkes ausgesprochen. Ich habe ihm auch die uneingeschränkte
- ich betone: die uneingeschränkte - Solidarität Deutschlands
zugesichert. Ich bin sicher, unser aller Gedanken sind bei den
Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gilt unser Mitgefühl,
unsere ganze Anteilnahme. Ich möchte hier in Anwesenheit des
neuen amerikanischen Botschafters Dan Coats noch einmal ausdrücklich
versichern: Die Menschen in Deutschland stehen in
dieser schweren Stunde fest an der Seite der Vereinigten Staaten
von Amerika. (Beifall im ganzen Hause).«
Mit diesen Worten hatte der Bundeskanzler die Bundesregierung
und die Koalition für den wahrscheinlichen Fall der Fälle
politisch definitiv festgelegt, wenn es zu einem Militäreinsatz
der USA und ihrer Verbündeten als Antwort auf die Terrorattacke
vom 11. September kommen sollte: Deutschland würde mit
dabei sein. Und alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages
verstanden diese Festlegung nur zu gut.
Am Mittag machte ich mich dann auf den Weg nach Brüssel,
um an der von der belgischen EU-Präsidentschaft einberufenen
Sondersitzung der Außenminister der Europäischen Union teilzunehmen.
Auch der Generalsekretär der Nato, George Robertson,
war eingeladen worden und nahm an der Sitzung teil.
George Robertson war ein knorriger Schotte, ein ehemaliger
Gewerkschaftsführer, zudem ein überzeugter Transatlantiker,
der im ersten Kabinett von Tony Blair Verteidigungsminister
gewesen war. Bei seinem Ausscheiden aus der britischen Regierung
war er von der Königin zum Lord Robertson of Port
Ellen geadelt worden. Robin Cook, der britische Außenminister,
pflegte in feinsinniger Ironie George Robertson als »Eure
Lordschaft« (your lordship) anzusprechen, was angesichts dessen
harten schottischen Akzents und seiner eher handfesten Erscheinung
stets zu einiger Heiterkeit im Nato-Rat führte. Ich
übernahm die Anrede »your lordship« nur allzu gerne, was der
Nato-Generalsekretär, wissend um meine linksradikale Vergangenheit,
mit einem »comrade Fischer« (Genosse Fischer) zu
kontern pflegte. George Robertson war selten um einen Scherz
oder um ein heiteres Wort verlegen, wir beide hatten im Laufe
der Zeit ein politisch enges Verhältnis zueinander aufgebaut.
Aber an diesem 12. September 2001 war kein Platz für Ironie
oder gar heitere Worte.
Während der Sitzung erreichte mich ein Anruf meines Büroleiters
Martin Kobler, der mir mitteilte, dass die Gebäude
des Auswärtigen Amtes im Augenblick wegen einer anonymen
Bombendrohung vollständig geräumt würden. Falls ich jemanden
erreichen wolle, müsse ich mich in der nächsten Stunde über
ihn und sein Mobiltelefon vermitteln lassen. Im Hintergrund
hörte ich die Alarmsirene heulen. In anderen Zeiten hätte ich
ein solches Ereignis als einen mutmaßlichen Fehlalarm abgetan,
aber jetzt, einen Tag nach dem 11. September 2001, beschlich
mich doch ein sorgenvolles Gefühl. Gott sei Dank erwies sich
diese Bombendrohung als falscher Alarm.
Zurück in der Sitzung unterrichtete der Nato-Generalsekretär
die versammelte EU-Ministerrunde, dass er daran dächte,
am Abend dem Nato-Rat vorzuschlagen, förmlich den Bündnisfall
nach Artikel 5 des Nato-Vertrags zu erklären. Dadurch
sollte die Solidarität des Bündnisses mit den angegriffenen
Vereinigten Staaten zum Ausdruck gebracht und die uneingeschränkte
Solidarität der Europäer mit den USA demonstriert
werden. Robertson bat die anwesenden EU-Außenminister um
Unterstützung, und dies galt ganz besonders für jene Staaten,
die zugleich auch Mitglied der Nato waren.
Robertsons Vorschlag war zwar grundsätzlich richtig, allein
zur Stunde stand noch nicht einmal fest, von wo dieser Terroranschlag
gekommen war und wer für ihn die Verantwortung
trug. Ich sagte mir, dass es vielleicht besser wäre, die Klärung
dieser beiden Fragen abzuwarten, aber andererseits musste der
Vorschlag, nachdem ihn der Nato-Generalsekretär jetzt gemacht
hatte, voll unterstützt und im Nato-Rat angenommen
werden. Alles andere wäre als eine Verweigerung der Solidarität
mit den USA angesehen worden.
Allerdings konnte ich unmöglich allein über den Eintritt des
Bündnisfalles entscheiden - zum ersten Mal überhaupt in der
Geschichte der Nato! -, ohne nicht zumindest versucht zu
haben, den Bundeskanzler zu unterrichten und mich mit ihm
abzustimmen. Zwar hatten die EU-Außenminister in dieser
Frage formal nichts zu sagen, aber wenn ich hier und jetzt für
die Bundesregierung unsere Zustimmung signalisierte, dann
wäre die Sache entschieden.
Und ausgerechnet jetzt, angesichts einer solch herausragend
wichtigen Entscheidung, war das Amt in Berlin geräumt worden
und nur eingeschränkt handlungsfähig! Ich nutzte daher
die noch anhaltende Debatte im Rat, um Martin Kobler zurückzurufen,
der dann sehr schnell eine Verbindung mit dem
Bundeskanzler herstellte. Der Kanzler war mit der Sache bereits
vertraut, denn er war zuvor schon von Präsident Bush angerufen
worden. Nachdem ich ihn über die Lage im Rat unterrichtet
hatte, waren wir uns einig, dass es nur ein klares Ja der Bundesregierung
zu dem Vorschlag des Nato-Generalsekretärs geben
konnte.
Der Vorschlag von George Robertson, formell den Eintritt
des NATO-Bündnisfalles zu erklären, wurde von den Außenministern,
die in Brüssel versammelt waren, einhellig unterstützt,
und am Abend beschloss dann der Nato-Rat, in dem
die Mitgliedsstaaten durch ihre Botschafter vertreten sind, auf
einer außerordentlichen Sitzung einstimmig die Erklärung des
Bündnisfalles nach Artikel 5 des Nato-Vertrags für den Fall
eines Angriffs von außen:
»Der Rat stimmte überein, dass - falls festgestellt wird, dass
dieser Angriff aus dem Ausland gegen die Vereinigten Staaten
gerichtet wurde - er als eine Aktion angesehen wird, die unter
Artikel 5 des Washingtoner Vertrages fällt, welcher festlegt, dass
ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere der Bündnispartner
in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen alle
angesehen wird [...] Artikel 5 des Washingtoner Vertrags legt
fest, dass im Falle eines solchen Angriffs jeder Bündnispartner
der Partei Beistand leistet, die angegriffen wurde, indem er die
Maßnahmen ergreift, die für erforderlich erachtet werden. Dementsprechend
stehen die Nato-Verbündeten der Vereinigten
Staaten bereit, die Unterstützung zur Verfügung zu stellen,
die als Konsequenz dieser barbarischen Akte erforderlich sein
wird.«
Am nächsten Tag fand nachmittags im Reichstagsgebäude
eine Fraktionssitzung der Grünen statt, in der ich über diesen
Beschluss der Nato berichtete und seine möglichen Konsequenzen
erläuterte. Die Fraktion stimmte der Erklärung
des Bündnisfalles bei drei Gegenstimmen zu, unsere Vizepräsidentin
Antje Vollmer enthielt sich der Stimme. Sie argumentierte
vehement und massiv gegen eine militärische Teilnahme
Deutschlands an einem möglichen Gegenschlag der USA in
Afghanistan.
Der grün-protestantische Nationalpazifismus erhob also auch
diesmal wieder sein Haupt, und damit wurde zu einem recht
frühen Zeitpunkt in diesem sich abzeichnenden Konflikt um Afghanistan
erneut jene Bruchlinie in Fraktion und Partei sichtbar,
die bereits in der Kosovo-Krise nur mit allergrößten Anstrengungen
überbrückt werden konnte. Mir war allerdings seit dem
11. September bewusst, dass jetzt ein weltpolitischer Orkan zu
toben begonnen hatte und wir dadurch in Entscheidungszwänge
hineingeraten würden, gegenüber denen der Kosovo-Krieg
lediglich eine kleinere Herausforderung gewesen war.
Sofort nach dem ersten Schock hatte in den USA die fieberhaf-
te Suche nach den Tätern und deren Auftraggebern begonnen,
und anhand der Passagierlisten der entführten Flugzeuge wurden
die amerikanischen Ermittlungsbehörden auch sehr schnell
fündig. Binnen weniger Tage gelang es, den Hintergrund der Täter
festzustellen, die Erkenntnisse führten eindeutig zu Osama
bin Laden. Einen vernünftigen Zweifel, dass die Terrorattacke
des 11. September von al-Qaida verübt worden war, konnte es
danach nicht mehr geben.
Bei den Attentätern handelte es sich um junge Männer, die
fast alle aus Saudi-Arabien, Ägypten und den Golf-Staaten
stammten. Als ihr Anführer kristallisierte sich ein ägyptischer
Staatsangehöriger namens Mohammed Atta heraus. Im Zuge der
Ermittlungen stießen die amerikanischen Sicherheitsbehörden
ebenfalls sehr schnell darauf, dass sich Atta und einige der anderen
Terroristen des 11. September zuvor jahrelang in Deutschland
aufgehalten hatten. Schlimmer noch, ganz offensichtlich
hatten wesentliche Teile der Planung der Terroroffensive gegen
die USA in Hamburg-Harburg stattgefunden, ohne dass die
deutschen Sicherheitsbehörden davon irgendetwas mitbekommen
hatten.
Es drängten sich für die Bundesregierung hochnotpeinliche
Fragen auf, deren Beantwortung unsere Beziehungen zu den
USA tief gehend erschüttern konnten. Hätte Deutschland die
Terroranschläge vom 11. September verhindern können, ja verhindern
müssen? Traf am Ende gar die deutschen Sicherheitsbehörden
die Schuld oder wenigstens Mitschuld daran, dass
der Angriff auf die Vereinigten Staaten nicht rechtzeitig unterbunden
werden konnte? Diese Fragen stellten sich leider und
zu Recht ganz unmittelbar an die Adresse der Bundesregierung.
Und auch die US-Regierung, die angesichts der schrecklichen
Ereignisse und des Versagens der amerikanischen Sicherheitsnetze
unter einem erheblichen öffentlichen Druck stand, stellte
diese Fragen in unsere Richtung sehr aggressiv.
Der Bundesregierung war die außenpolitische Dimension der
Enttarnung der sogenannten »Hamburger Zelle« sofort bewusst,
und auch gerade angesichts dieser schockierenden Erkenntnisse
erwies sich die Position der »uneingeschränkten Solidarität« mit
den USA, wie sie Gerhard Schröder für die Bundesregierung
festgelegt hatte, bereits zu diesem sehr frühen Zeitpunkt als
überaus weitsichtig.
Denn die Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit, in
Parlament und Regierung war nach dem Schock und dem Grauen
des 11. September nicht gerade auf eine differenzierte Analyse
der Ereignisse ausgerichtet, sondern die Reaktionen würden
dominiert von Entsetzen, Schmerz und Wut. Wenn Deutschland
in den USA als Schuldiger oder auch nur Mitschuldiger für den
11. September angesehen werden würde, dann würden wir ein
sehr großes außenpolitisches Problem bekommen. Eine tiefe
Krise bis hin zu einem emotionalen Bruch in den deutsch-amerikanischen
Beziehungen mit kaum absehbaren Folgen wäre
dann nicht mehr auszuschließen.
Colin Powell hatte mir gegenüber zwar niemals irgendwelche
Vorhaltungen gemacht, aber Innenminister Otto Schily hatte
einige sehr unangenehme Gespräche hinter sich zu bringen.
Allein die Tatsache, dass die Terroristen ihre Flugausbildung in
den USA erhalten hatten, die für die Durchführung der Terrorattacke
von entscheidender Bedeutung gewesen war, nahm etwas
den Druck von Deutschland weg. Dennoch sollte der mehr
oder weniger offen formulierte Vorwurf der amerikanischen
Seite, dass Deutschland den 11. September hätte verhindern
können, noch für lange Zeit in zahlreichen internen Gesprächen
zwischen den Regierungen und auf den verschiedensten Ebenen
eine Rolle spielen. Umso wichtiger war es daher, dass es an der
»uneingeschränkten Solidarität« Deutschlands mit den USA
nicht den geringsten Zweifel geben durfte.
Aber auch für die Bundesregierung und die deutschen Sicherheitsbehörden
waren die Erkenntnisse über die »Hamburger
Zelle« ein gewaltiger Schock. Wie hatte es passieren
können, dass eine Gruppe der gefährlichsten internationalen
Terrororganisation über längere Zeit hinweg Deutschland als
Rückzugsraum nutzen konnte, ohne dass die deutschen Sicherheitsapparate
davon etwas mitbekamen? Und noch wichtiger
war damals die Antwort auf die Frage: Gab es am Ende noch
weitere al-Qaida-Zellen in Deutschland, die hier als sogenannte
»Schläfer« auf ihre Aktivierung warteten? Man wird die spätere
Haltung der rot-grünen Bundesregierung und der deutschen
Sicherheitsbehörden in zahlreichen Fragen der Terrorbekämpfung
nicht verstehen können, wenn man diese überaus kritische
Ausgangslage in der Zeit unmittelbar nach dem 11. September
vergisst.
Die Krise des 11. September erforderte ein schnelles und abgestimmtes
Handeln innerhalb der Bundesregierung, nicht nur
auf der Ebene der hohen Beamten. Es galt täglich, ja bisweilen
sogar stündlich, auf neue Erkenntnisse und Lagen politisch auf
der höchsten Ebene zu reagieren. Das bis dahin in der Organisation
der Bundesregierung vorgesehene Instrument des Bundessicherheitsrates
erwies sich dabei als zu groß, zu unflexibel und
zu durchlässig. Aus diesem Grund entschied der Bundeskanzler,
informell ein sogenanntes »Sicherheitskabinett« einzurichten,
das sich aus dem Bundeskanzler, dem Außen-, Innen- und Verteidigungsminister
und dem Chef des Bundeskanzleramtes zusammensetzte.
Hinzu kamen noch - je nach Bedarf - weitere
Ressorts (etwa Finanzen) und die Präsidenten der Dienste, des
BKA und die Spitze der Bundeswehr. Das Sicherheitskabinett
hat sich in dieser Krise als entscheidendes politisches und operatives
Steuerungsinstrument bewährt.
Am Nachmittag des 14. September fanden sich ca. 200 000
Menschen vor dem Brandenburger Tor zu einer riesigen Solidaritätskundgebung
mit den Vereinigten Staaten von Amerika
ein. Sie standen schweigend dicht gedrängt auf dem Platz auf der
Westseite des Brandenburger Tores und bis weit in die Straße des
17. Juni hinein. Ich befand mich mit den Spitzen von Parlament,
Regierung und Parteien auf der Rednertribüne, ebenso war der
neue amerikanische Botschafter Daniel Coats anwesend. Er war
erst vor Kurzem in Berlin angekommen.
Bundespräsident Johannes Rau sprach auf dieser Solidaritätskundgebung
für die Bundesrepublik Deutschland und drückte
den USA und den betroffenen Familien die tief empfundene Anteilnahme
und Solidarität aller Deutschen aus. An diesem Tag,
so war mein Eindruck, trafen diese Sätze des Bundespräsidenten
die wirkliche Stimmungslage in unserem Land und waren alles
andere als leere Formeln. Allerdings schien der Bundespräsident
in seiner Definition der Solidarität mit den USA weniger klar
zu sein, als dies zuvor für den Bundeskanzler mit seiner Formel
von der »uneingeschränkten Solidarität« gegolten hatte, denn
der Bundespräsident äußerte sich verhalten kritisch zu einer
sehr wahrscheinlichen militärischen Reaktion der USA.
Dies führte bei Gerhard Schröder zu einigem Stirnrunzeln
und zu der öffentlichen Klarstellung in einem Interview, dass die
Richtlinien der Politik vom Bundeskanzler bestimmt würden.
Der Bundeskanzler befürchtete, dass in Washington der Eindruck
entstehen könnte, so ernst wäre die »uneingeschränkte
Solidarität« durch Deutschland nicht gemeint, und dass sich
daraus möglicherweise negative außenpolitische Konsequenzen
für unsere Allianz mit den USA ergeben würden. Zugleich
wäre aber in diesen Tagen ein offensichtlicher Dissens zwischen
Kanzler und Bundespräsident so ziemlich das Letzte gewesen,
was sich Deutschland hätte erlauben dürfen, und insofern war
ich erleichtert, dass sich dieser kurz aufflackernde Gegensatz in
der Folgezeit als belanglos erweisen sollte.
Eine der zentralen Fragen auf dieser Seite des Atlantiks lautete:
Wie würde Europa auf diesen Angriff auf seinen wichtigsten
Partner reagieren? Es sollte sich sehr schnell erweisen, dass
die EU auf eine solche Herausforderung weder politisch noch
institutionell vorbereitet war. Vor allem die Führer der beiden
»glorious nations« in der EU, Jacques Chirac und Tony Blair,
reagierten sofort auf der nationalen Ebene. Die Instinkte dieser
beiden europäischen Großmächte funktionierten in dieser fast
schon existenziellen Krise der transatlantischen Beziehungen
ausschließlich national.
Bundeskanzler Gerhard Schröder versuchte über den belgischen
Ratspräsidenten Guy Verhofstadt, eine sofortige Sondersitzung
des Europäischen Rates zustande zu bringen, aber diese
dringende und richtige Initiative von Gerhard Schröder scheiterte
zunächst am Unwillen Frankreichs und Großbritanniens -
für Blair und Chirac war die Reaktion auf den 11. September
zuerst und vor allem eine nationale und keine EU-Angelegenheit.
Es kam am 14. September lediglich zu einer gemeinsamen
Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union, der Präsidentin des Europäischen Parlaments und des
Präsidenten der Kommission sowie des Hohen Vertreters für
die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
Wenn man im Rückblick nach den Gründen der späteren Spaltung
Europas in der Irak-Krise sucht, so sehe ich eine der wichtigsten
Ursachen im damaligen Unvermögen des Europäischen
Rates, auf die historische Herausforderung des 11. September
2001 eine gemeinsame europäische Antwort zu finden. Denn
eine solche gemeinsame Antwort der Staats- und Regierungschefs
der EU hätte die Union in der Folgezeit zu einer strategischen
Diskussion und mit hoher Wahrscheinlichkeit dann auch
zu gemeinsamen Beschlüssen und einem gemeinsamen Vorgehen
gezwungen. Genau dazu sollte es aber in den folgenden
Monaten und Jahren nicht mehr kommen, stattdessen kam es
in der heißen Vorbereitungsphase des Irak-Krieges zu einer von
der Bush-Regierung betriebenen Spaltung Europas.
Ob eine einheitliche europäische Position im Jahr 2002 angesichts
der sich verschärfenden Krise um den Irak überhaupt
möglich gewesen wäre (etwa mehr Zeit für die VN-Inspektoren
im Irak und die Bindung der Entscheidung über ein militärisches
Vorgehen an die Ergebnisse dieser Inspektionen) und ob eine
solche EU-Position die Politik der Regierung Bush gegenüber
dem Irak positiv verändert hätte, werden wir niemals erfahren.
Was wir allerdings heute wissen, ist, dass der Einfluss eines gespaltenen
Europas in Washington gegen null ging.
Es bedarf dazu jedoch einer Präzisierung, um einem nahe
liegenden Missverständnis vorzubeugen: Wären Schröder und
Chirac in der Irak-Krise der Haltung Blairs, Aznars, Berlusconis
und Barrosos gefolgt, nämlich den Weg der USA in diesen mutwillig
vom Zaun gebrochenen Krieg politisch und militärisch zu
unterstützen, so wäre der europäische Einfluss in Washington
ebenfalls fast gleich null geblieben, wie die spätere Tragödie von
Tony Blair demonstriert. Nur wenn Blair und die anderen europäischen
Kriegsbefürworter sich Richtung Schröder und Chirac
bewegt hätten, hätte sich vielleicht eine Möglichkeit jenseits des
Krieges eröffnet. Realistischerweise muss man allerdings davon
ausgehen, dass auch eine solche Entwicklung die Regierung Bush
von ihrer Entschlossenheit zum Krieg gegen Saddam Hussein
nicht abgebracht hätte, da sie auf Europa militärisch definitiv
nicht und politisch fast nicht angewiesen war.
Nachdem die Initiative des Kanzleramts zu einem europäi-
schen Sonderrat vorerst kein Ergebnis gebracht hatte, entschied
der Bundeskanzler, dass ich für die Bundesregierung nach Washington
und New York reisen und so unsere Verbundenheit
mit den Vereinigten Staaten zeigen sollte. Der Kanzler selbst
beabsichtigte, erst etwas später zu reisen. Und so flog ich am
18. September abends mit einer Regierungsmaschine von Berlin
nach Washington, nachdem ich zuvor noch an einer Sitzung des
Sicherheitskabinetts teilgenommen hatte. Im Reisegepäck hatte
ich einen Brief des Kanzlers an den amerikanischen Präsidenten,
den ich ihm bei einem Treffen im Weißen Haus persönlich überreichen
würde.
Den ganzen Tag über hatte ich neben den Terminen in Berlin
immer wieder Telefonate zu führen, um sowohl die innenpolitischen
Entwicklungen zu beeinflussen als auch die internationale
Abstimmung in dieser Krise voranzutreiben. Die Liste meiner
Telefonate vom 18. September wird hier aufgeführt, weil sie beispielhaft
ist für die Anspannung und Hektik der damaligen Tage
und Wochen:
11.45 Uhr - Kardinalstaatssekretär Sodano (der »Regierungschef
« des Vatikan)
12.20 Uhr - Javier Solana (außenpolitischer Beauftragter
der EU)
12.30 Uhr - Hubert Védrine (französischer Außenminister)
12.40 Uhr - Jossi Sarid (Vorsitzender der israelischen Meretz-
Partei)
12.55 Uhr - Bundeskanzler
13.00 Uhr - Michael Steiner (Leiter der außenpolitischen
Abteilung im Kanzleramt)
13.15 Uhr - Nabil Schaath (palästinensischer Minister für
internationale Zusammenarbeit)
13.25 Uhr - Jossi Beilin (ehemaliger israelischer Chefunterhändler
für die Regierung Rabin in Oslo)
14.00 Uhr - Rudolf Scharping (Verteidigungsminister)
14.05 Uhr - Kerstin Müller (Fraktionsvorsitzende der
Grünen im Deutschen Bundestag)
14.10 Uhr - Louis Michel (belgischer Außenminister)
14.15 Uhr - Achmed Maher (ägyptischer Außenminister)
14.17 Uhr - Ariel Scharon (israelischer Premierminister)
14.40 Uhr - Saeb Erekat (palästinensischer Chefunterhändler
für den Friedensprozess und Vertrauter Arafats)
14.45 Uhr - Miguel Moratinos (Nahostbeauftragter der EU)
15.00 Uhr - Terje Rød-Larsen (Sondergesandter der VN
für die palästinensischen Autonomiegebiete)
15.05 Uhr - Javier Solana (außenpolitischer Beauftragter
der EU)
15.15 Uhr - Colin Powell (amerikanischer Außenminister)
16.20 Uhr - Jassir Arafat (Präsident der Palästinensischen
Autonomiebehörde)
18.50 Uhr - Colin Powell (amerikanischer Außenminister)
Gegen 22.00 Uhr Ostküstenzeit landete ich auf dem militärischen
Teil des Dulles International Airport in der Nähe der
amerikanischen Hauptstadt, den die deutsche Luftwaffe regelmäßig
benutzt.
Am Mittwoch, den 19. September 2001, begann für mich der
Tag mit einem Zusammentreffen mit meinem Kollegen Colin
Powell im State Department. Mittlerweile wusste man ja, dass
der Terrorangriff von Osama bin Laden und seiner Gruppe ausgeführt
worden war und dass der amerikanische Gegenschlag
demnach in Afghanistan erfolgen würde. Im Zentrum des Delegationsgesprächs
standen keineswegs die sich abzeichnenden
militärischen Konsequenzen des 11. September, sondern vielmehr
dessen politische Auswirkungen auf den Nahen und Mittleren
Osten.
Daher konzentrierte sich das Gespräch erstens darauf, wie
man Palästinenser und Israelis zu einem wirklichen Waffenstillstand
bewegen könnte. Beide Delegationen waren der Meinung,
dass die tragischen Ereignisse des 11. September neue Gestaltungschancen
im Nahen Osten eröffnet hätten, die es unbedingt
zu nutzen galt. Ob man dabei erfolgreich sein würde oder nicht,
würde die Zukunft zeigen. Wichtig wäre es jetzt, so bald wie
möglich ein Treffen zwischen Jassir Arafat und Außenminister
Schimon Peres zustande zu bringen. Dazu bedurfte es aber der
Zustimmung von Premierminister Scharon, die ohne Verbesserung
der Sicherheitslage Israels nicht zu erreichen war.
1. Auflage 2011
© 2011, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder
unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt
oder verbreitet werden.
Übersetzungen: Ingo Herzke
Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln
Umschlagmotiv: © picture-alliance/dpa
Gesetzt aus der Stempel Garamond
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-462-04081-4
Wissenschaftliche Mitarbeit: Lars Nebelung
Der Terroranschlag vom 11. September 2001 veränderte binnen
weniger Minuten die Politik in den Hauptstädten der Welt. Dieser
weltweit live im Fernsehen übertragene Angriff auf die politischen
und wirtschaftlichen Zentren der Vereinigten Staaten
von Amerika war zu schockierend und dessen absehbare Konsequenzen
waren zu gravierend, als dass man mit dem üblichen
Tagesgeschäft hätte einfach fortfahren können. Selbstverständlich
galt dies auch für Berlin.
Die innen- und außenpolitischen Tagespläne von Regierung
und Parlament wurden binnen Minuten vom Tisch gefegt, bereits
feststehende Termine und Reiseplanungen wurden zu Makulatur,
und die gesamte politische Agenda der Bundeshauptstadt
richtete sich auf die neue terroristische Bedrohung aus.
Innerhalb der Bundesregierung lief nach dem ersten Schock
der Krisenreaktionsmechanismus in den Ministerien an. An
erster Stelle war der für die innere Sicherheit zuständige Innenminister
gefordert, aber auch im Auswärtigen Amt galt es, Maßnahmen
zum verstärkten Schutz der deutschen Auslandsvertretungen
und anderer deutscher Einrichtungen außerhalb unserer
Grenzen einzuleiten sowie unverzüglich telefonisch mit der
internationalen Abstimmung im Rahmen von EU und NATO
und mit unseren wichtigsten Partnern außerhalb von Europa zu
beginnen.
Meinen amerikanischen Kollegen Colin Powell konnte ich
an diesem schicksalhaften Tag allerdings telefonisch nicht erreichen,
da er sich zu einem Besuch in Lima, der Hauptstadt
von Peru, aufhielt und sofort nach Erhalt der schrecklichen
Nachricht zurück nach Washington aufgebrochen war. Erst am
nächsten Abend war es mir möglich, mit ihm zu sprechen und
ihm meine Erschütterung und tiefe Anteilnahme angesichts des
schrecklichen Verbrechens und der großen Zahl unschuldiger
Opfer zu übermitteln. Colin Powell sprach dabei von sich aus
den Nahostkonflikt an, da er an diesem Tag kurz vor unserem
Gespräch mit Arafat telefoniert hatte. Die Konfrontation zwischen
den Palästinensern und Israel verschärfte sich seit einiger
Zeit erneut und forderte immer mehr Opfer auf beiden Seiten.
Der amerikanische Außenminister versicherte mir, dass die USA
weiterhin im Nahen Osten engagiert bleiben würden, und teilte
mir mit, dass er Arafat gesagt habe, dass jetzt der Moment gekommen
wäre, an dem sich die Palästinenser bewegen müssten.
Ich konnte ihm nur zustimmen.
Während dieses Telefonats erläuterte mir Colin Powell
auch zum ersten Mal und in wenigen Worten die ersten Konsequenzen,
welche die US-Regierung aus dem Terroranschlag
vom 11. September zu ziehen gedächte: Die Vereinigten Staaten
würden keineswegs nur gegen die Attentäter dieses Anschlags,
sondern gezielt gegen den Terrorismus insgesamt vorgehen. An
jenem Abend waren mir die Folgen dieser neuen amerikanischen
Strategie noch nicht völlig klar, aber dies sollte sich wenige Tage
danach während meines Besuches in Washington und nach einem
Gespräch mit Paul Wolfowitz, dem stellvertretenden USVerteidigungsminister,
im Pentagon sehr schnell ändern.
Der Bundeskanzler hatte für den späten Nachmittag des
11. September eine Krisensitzung des Bundessicherheitsrates
(der BSR ist ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung, in
dem alle sicherheitsrelevanten Fragen erörtert und die deutschen
Rüstungsexporte beschlossen werden) ins Kanzleramt einberufen,
in der die ersten Maßnahmen und auch die weitergehenden
Schritte beraten und beschlossen werden sollten.
In der Sitzung des BSR wurden von allen betroffenen Ressorts
die Sofortmaßnahmen vorgetragen und auch formell gebilligt.
Diese bezogen sich vor allem auf die Flugsicherheit und den
Schutz der Flughäfen in Deutschland. Zudem wurde aufgrund
des Berichts des Innenministers und der Dienste die Gefährdungslage
für Deutschland erörtert - es konnte nur eine allgemeine
oder »abstrakte« Gefährdung festgestellt werden - und
die nächsten politischen Schritte beraten und beschlossen.
Eigentlich sollte an diesem Abend auch das seit Längerem ge-
plante Sommerfest der Grünen stattfinden, bei dem ich vorbeischauen
wollte. Aber diese Festivität war nach dem Eintreffen der
Schreckensnachrichten aus den USA sofort abgesagt worden. Es
war an diesem Tag niemandem mehr zum Feiern zumute. Stattdessen
hatte der Bundeskanzler für den Abend die Partei- und
Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestages zur Unterrichtung
und Abstimmung ins Bundeskanzleramt eingeladen,
denn angesichts der Tatsache, dass Deutschlands wichtigster
Bündnispartner außerhalb Europas faktisch durch eine kriegsähnliche
Handlung in seinen Entscheidungszentren angegriffen
worden war und sehr viele Opfer zu befürchten waren, bedurfte
es einer gemeinsamen Haltung der demokratischen Parteien im
Deutschen Bundestag.
Zudem war bereits zu diesem frühen Zeitpunkt abzusehen,
dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf Deutschland schwere
Entscheidungen bis hin zur militärischen Solidarität mit den
USA zukommen würden, selbst wenn in diesem Moment noch
völlig unklar war, ob es sich bei den Terrorattacken in New York
und Washington um einen Angriff von außen gehandelt hatte
und, wenn ja, von wem.
Das gesamte Muster dieser Terroranschläge sprach mit hoher
Wahrscheinlichkeit für die Urheberschaft Osama bin Ladens
und seiner islamistischen Terrorgruppe al-Qaida, aber es sollte
noch einige Zeit dauern, bis die Täter und ihr Hintergrund
zweifelsfrei festgestellt werden konnten. Auch unter diesem Gesichtspunkt
war daher eine im Parlament möglichst breit getragene
Antwort der Bundesregierung auf diese neue terroristische
Bedrohung von erheblicher Bedeutung.
Das Treffen mit dem Bundestagspräsidenten und den Spitzen
der im Bundestag vertretenen Fraktionen und Parteien fand um
20.00 Uhr im Kanzleramt statt. Zuvor war um 19.00 Uhr noch
die grüne Bundestagsfraktion im Reichstagsgebäude zu einer
Sondersitzung zusammengetreten.
Allen Teilnehmern der interfraktionellen Runde, wie auch
zuvor den Mitgliedern der grünen Bundestagsfraktion, standen
der Schock und die Erschütterung über die Terroranschläge in
den USA ins Gesicht geschrieben. Jedem und jeder war bewusst,
dass etwas Ungeheuerliches geschehen war und dass dieser Tag
den Gang der Geschichte verändern würde. Die Live-Bilder im
Fernsehen vom Einschlag der Flugzeuge, von den Menschen, die
in den Tod sprangen, um nicht ein Opfer der sich ausbreitenden
Flammenhölle in den Hochhäusern des World Trade Centers zu
werden, und schließlich vom Einsturz der Zwillingstürme und
dem brennenden Gebäude des Pentagons hatten allen eine unmittelbare
Nähe zu den Ereignissen vermittelt, die emotional
tief berührte.
Hier saßen nicht nur gewählte Funktionsträger, die politischen
Spitzen der Republik, zusammen, um erste politische
Konsequenzen dieses Angriffs auf unseren Verbündeten zu beraten,
sondern es waren alles Menschen aus Fleisch und Blut, die
das Grauen dieses Tages auch emotional und jeder für sich zu
verarbeiten hatten. Entsprechend gedrückt war die Stimmung
im Saal.
Vor Beginn des Treffens im Kanzleramt zeigte mir Gerhard
Schröder seinen Sprechzettel. Darin stand die Formulierung von
der »uneingeschränkten Solidarität« mit den Vereinigten Staaten,
und ich verstand sofort, was der Kanzler damit auszudrücken
beabsichtigte: Es war ein Ja Deutschlands zu einer möglichen
militärischen Beteiligung an einem Krieg in Afghanistan, wenn
dieser absehbare Fall nach der Feststellung der Fakten tatsächlich
eintreten würde.
Ich unterstützte die Haltung des Bundeskanzlers vorbehaltlos,
denn sollten die USA tatsächlich von außen angegriffen worden
sein (was bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit
zu vermuten war), dann würde zumindest politisch
der Bündnisfall in der Nato eintreten, und darauf war
durch die Bundesregierung nur mit »uneingeschränkter Solidarität
« zu antworten, wenn man unsere Beziehungen zu den USA
nicht ernsthaft gefährden wollte. Jedes Zaudern, jedes Wackeln,
ja auch nur eine Undeutlichkeit bei der Beantwortung der sich
stellenden Bündnisfrage hätte für Deutschland fatale Folgen haben
können. Gerade für uns Deutsche zählte aber auch noch ein
sich aus unserer jüngeren Geschichte ergebender emotionaler
Faktor, nämlich Dankbarkeit gegenüber den USA, auch wenn
es sich dabei nicht gerade um einen politischen Begriff handelt.
In diesem Fall und an diesem Tag verband sich aber zu Recht
ein vitales außenpolitisches Interesse unseres Landes mit dem
Begriff der historischen Dankbarkeit.
Die Vereinigten Staaten hatten, gemeinsam mit der Sowjetunion
und Großbritannien, den Nationalsozialismus niedergekämpft
und dadurch Europa und auch Deutschland von dem
Grauen der Nazidiktatur befreit. Sie hatten im Kalten Krieg Stalin
Einhalt geboten und über vier Jahrzehnte lang die Freiheit
Westberlins und Westdeutschlands garantiert und verteidigt. Sie
hatten auch ganz wesentlich zum Aufbau der deutschen Nachkriegsdemokratie
beigetragen. Und sie hatten die deutsche Einheit,
anders als etwa Frankreich und Großbritannien, sofort und
nachdrücklich unterstützt, als sich im Jahr 1989 diese nicht für
möglich gehaltene Chance völlig unverhofft auftat.
Nach dem 11. September ging es für uns also nicht nur allein
um realpolitische Bündnisfragen und deren Konsequenzen, sondern
gerade wir Deutsche hatten gegenüber den angegriffenen
Vereinigten Staaten eine historische Dankesschuld abzutragen.
Der Augenblick dafür war jetzt gekommen.
Gerhard Schröder benutzte diese in den folgenden Monaten
noch sehr oft von ihm wiederholte Formulierung von der »uneingeschränkten
Solidarität« öffentlich zum ersten Mal während
des Treffens im Kanzleramt mit den Spitzen von Parlament, Parteien
und Fraktionen. Auch die Tagesordnung des Plenums für
den nächsten Tag wurde dort umgeworfen, und man vereinbarte
in dieser Sitzung, am nächsten Tag die Plenarsitzung des Parlaments
mit einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers und
einer sich daran anschließenden kurzen Aussprache des Hauses
zu den Terrorattacken vom 11. September zu beginnen.
Spätnachts telefonierte ich noch mit dem israelischen Außenminister
Schimon Peres und mit dem palästinensischen Präsidenten
Jassir Arafat, denn dieser Tag würde ohne jeden Zweifel
auch massive Auswirkungen auf die gesamte Region des Nahen
Ostens haben, sollten die Terroranschläge auf die USA tatsächlich
von al-Qaida oder einer anderen islamistischen Terrororganisation
ausgeführt worden sein.
Für mich bestand vom ersten Augenblick an ein enger politischer
Zusammenhang zwischen dem Nahostkonflikt und den
absehbaren Auswirkungen des 11. September. Ich unterstellte
in meiner Analyse zwar keinen direkten Zusammenhang in
der Sache oder durch die möglichen Akteure, da uns keinerlei
Informationen darüber vorlagen, dass der palästinensische Terror
(israelische Sicht) oder der legitime bewaffnete Widerstand
gegen die Okkupation durch Israel (palästinensische Sicht) über
Kontakte zu Bin Laden verfügte. Umgekehrt hatte sich dieser
bis dato auch nicht sonderlich für die Palästinenser interessiert.
Die politischen Auswirkungen auf den israelisch-palästinensischen
Konflikt würden dennoch ganz erheblich sein, denn jegliche
Form von Terrorismus würde fortan von der mit weitem
Abstand größten und mächtigsten Militärmacht der Gegenwart
als eine existenzielle Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit begriffen
werden. Und dieser durch den 11. September völlig veränderte
Blick der USA auf den Terrorismus würde die Grundparameter
des Nahostkonflikts, in dem die Vereinigten Staaten
einer der ganz entscheidenden Spieler waren und sind, radikal
verändern.
Die Palästinenser hatten in ihrem Krieg gegen Israel und die
anhaltende israelische Besetzung des Westjordanlands und des
Gazastreifens vor allem auf die Waffe des Terrors gegen die israelische
Zivilbevölkerung gesetzt, da sie militärisch gegen die
israelische Armee nicht die geringste Chance hatten. Was immer
auch die Ursachenforschung der nächsten Stunden und Tage an
Tätern und Verantwortlichkeiten für den 11. September zutage
fördern würde, so war zumindest völlig klar, dass der Einsatz
von Terror gegen die Zivilbevölkerung von den USA und ihren
internationalen Partnern fortan politisch und moralisch geächtet
und mit allen Mitteln bekämpft werden würde.
Und »alle Mittel« würde im Fall der USA tatsächlich alle militärischen
Mittel meinen. Allerdings konnte ich mir zum damaligen
Zeitpunkt Folter und andere Menschenrechtsverletzungen
- Guantanamo, Abu Ghraib - nicht vorstellen, auch nicht
das Ausmaß der Bürgerrechtseinschränkungen in den USA und
jene »Politik der Angst« der Regierung Bush, die das Land über
Jahre hinweg im Griff halten sollte. Dazu reichte meine Fantasie
an jenem 11. September 2001 schlicht nicht aus.
Für die Palästinenser hieß die Botschaft jenes Tages, dass sie
sich würden entscheiden müssen, auf welcher Seite sie in der
sich abzeichnenden globalen Konfrontation stehen wollten.
Schon einmal hatte Jassir Arafat in einer vergleichbaren historischen
Situation eine fatal falsche Entscheidung für sein Volk
getroffen - als er sich nach dem Überfall des Irak auf Kuwait
für Saddam Hussein entschied. Eine solche historische Fehlentscheidung
durfte sich aber jetzt nicht wiederholen, wenn der
bereits vor dem 11. September stark gefährdete Friedensprozess
zwischen Israelis und Palästinensern nicht endgültig kollabieren
sollte. Und wer weiß, so waren an jenem Abend dieses historischen
Tages meine Überlegungen, vielleicht könnte die Tragödie
von New York und Washington - die Einsicht beider Konfliktparteien
und vor allem Jassir Arafats vorausgesetzt - sogar die
Chance für einen Ausgleich im Nahostkonflikt eröffnen. Es
wäre ja nicht das erste Mal, dass im Nahen Osten aus einer großen
Tragödie ein neuer Schritt nach vorn in Richtung Ausgleich
und Frieden unternommen worden wäre.
Die Formel von der »uneingeschränkten Solidarität« wiederholte
der Bundeskanzler auch am nächsten Morgen in seiner
Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag. Die entscheidenden
Sätze des Kanzlers lauteten:
»Meine Damen und Herren, ich habe dem amerikanischen
Präsidenten das tief empfundene Beileid des gesamten deutschen
Volkes ausgesprochen. Ich habe ihm auch die uneingeschränkte
- ich betone: die uneingeschränkte - Solidarität Deutschlands
zugesichert. Ich bin sicher, unser aller Gedanken sind bei den
Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gilt unser Mitgefühl,
unsere ganze Anteilnahme. Ich möchte hier in Anwesenheit des
neuen amerikanischen Botschafters Dan Coats noch einmal ausdrücklich
versichern: Die Menschen in Deutschland stehen in
dieser schweren Stunde fest an der Seite der Vereinigten Staaten
von Amerika. (Beifall im ganzen Hause).«
Mit diesen Worten hatte der Bundeskanzler die Bundesregierung
und die Koalition für den wahrscheinlichen Fall der Fälle
politisch definitiv festgelegt, wenn es zu einem Militäreinsatz
der USA und ihrer Verbündeten als Antwort auf die Terrorattacke
vom 11. September kommen sollte: Deutschland würde mit
dabei sein. Und alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages
verstanden diese Festlegung nur zu gut.
Am Mittag machte ich mich dann auf den Weg nach Brüssel,
um an der von der belgischen EU-Präsidentschaft einberufenen
Sondersitzung der Außenminister der Europäischen Union teilzunehmen.
Auch der Generalsekretär der Nato, George Robertson,
war eingeladen worden und nahm an der Sitzung teil.
George Robertson war ein knorriger Schotte, ein ehemaliger
Gewerkschaftsführer, zudem ein überzeugter Transatlantiker,
der im ersten Kabinett von Tony Blair Verteidigungsminister
gewesen war. Bei seinem Ausscheiden aus der britischen Regierung
war er von der Königin zum Lord Robertson of Port
Ellen geadelt worden. Robin Cook, der britische Außenminister,
pflegte in feinsinniger Ironie George Robertson als »Eure
Lordschaft« (your lordship) anzusprechen, was angesichts dessen
harten schottischen Akzents und seiner eher handfesten Erscheinung
stets zu einiger Heiterkeit im Nato-Rat führte. Ich
übernahm die Anrede »your lordship« nur allzu gerne, was der
Nato-Generalsekretär, wissend um meine linksradikale Vergangenheit,
mit einem »comrade Fischer« (Genosse Fischer) zu
kontern pflegte. George Robertson war selten um einen Scherz
oder um ein heiteres Wort verlegen, wir beide hatten im Laufe
der Zeit ein politisch enges Verhältnis zueinander aufgebaut.
Aber an diesem 12. September 2001 war kein Platz für Ironie
oder gar heitere Worte.
Während der Sitzung erreichte mich ein Anruf meines Büroleiters
Martin Kobler, der mir mitteilte, dass die Gebäude
des Auswärtigen Amtes im Augenblick wegen einer anonymen
Bombendrohung vollständig geräumt würden. Falls ich jemanden
erreichen wolle, müsse ich mich in der nächsten Stunde über
ihn und sein Mobiltelefon vermitteln lassen. Im Hintergrund
hörte ich die Alarmsirene heulen. In anderen Zeiten hätte ich
ein solches Ereignis als einen mutmaßlichen Fehlalarm abgetan,
aber jetzt, einen Tag nach dem 11. September 2001, beschlich
mich doch ein sorgenvolles Gefühl. Gott sei Dank erwies sich
diese Bombendrohung als falscher Alarm.
Zurück in der Sitzung unterrichtete der Nato-Generalsekretär
die versammelte EU-Ministerrunde, dass er daran dächte,
am Abend dem Nato-Rat vorzuschlagen, förmlich den Bündnisfall
nach Artikel 5 des Nato-Vertrags zu erklären. Dadurch
sollte die Solidarität des Bündnisses mit den angegriffenen
Vereinigten Staaten zum Ausdruck gebracht und die uneingeschränkte
Solidarität der Europäer mit den USA demonstriert
werden. Robertson bat die anwesenden EU-Außenminister um
Unterstützung, und dies galt ganz besonders für jene Staaten,
die zugleich auch Mitglied der Nato waren.
Robertsons Vorschlag war zwar grundsätzlich richtig, allein
zur Stunde stand noch nicht einmal fest, von wo dieser Terroranschlag
gekommen war und wer für ihn die Verantwortung
trug. Ich sagte mir, dass es vielleicht besser wäre, die Klärung
dieser beiden Fragen abzuwarten, aber andererseits musste der
Vorschlag, nachdem ihn der Nato-Generalsekretär jetzt gemacht
hatte, voll unterstützt und im Nato-Rat angenommen
werden. Alles andere wäre als eine Verweigerung der Solidarität
mit den USA angesehen worden.
Allerdings konnte ich unmöglich allein über den Eintritt des
Bündnisfalles entscheiden - zum ersten Mal überhaupt in der
Geschichte der Nato! -, ohne nicht zumindest versucht zu
haben, den Bundeskanzler zu unterrichten und mich mit ihm
abzustimmen. Zwar hatten die EU-Außenminister in dieser
Frage formal nichts zu sagen, aber wenn ich hier und jetzt für
die Bundesregierung unsere Zustimmung signalisierte, dann
wäre die Sache entschieden.
Und ausgerechnet jetzt, angesichts einer solch herausragend
wichtigen Entscheidung, war das Amt in Berlin geräumt worden
und nur eingeschränkt handlungsfähig! Ich nutzte daher
die noch anhaltende Debatte im Rat, um Martin Kobler zurückzurufen,
der dann sehr schnell eine Verbindung mit dem
Bundeskanzler herstellte. Der Kanzler war mit der Sache bereits
vertraut, denn er war zuvor schon von Präsident Bush angerufen
worden. Nachdem ich ihn über die Lage im Rat unterrichtet
hatte, waren wir uns einig, dass es nur ein klares Ja der Bundesregierung
zu dem Vorschlag des Nato-Generalsekretärs geben
konnte.
Der Vorschlag von George Robertson, formell den Eintritt
des NATO-Bündnisfalles zu erklären, wurde von den Außenministern,
die in Brüssel versammelt waren, einhellig unterstützt,
und am Abend beschloss dann der Nato-Rat, in dem
die Mitgliedsstaaten durch ihre Botschafter vertreten sind, auf
einer außerordentlichen Sitzung einstimmig die Erklärung des
Bündnisfalles nach Artikel 5 des Nato-Vertrags für den Fall
eines Angriffs von außen:
»Der Rat stimmte überein, dass - falls festgestellt wird, dass
dieser Angriff aus dem Ausland gegen die Vereinigten Staaten
gerichtet wurde - er als eine Aktion angesehen wird, die unter
Artikel 5 des Washingtoner Vertrages fällt, welcher festlegt, dass
ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere der Bündnispartner
in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen alle
angesehen wird [...] Artikel 5 des Washingtoner Vertrags legt
fest, dass im Falle eines solchen Angriffs jeder Bündnispartner
der Partei Beistand leistet, die angegriffen wurde, indem er die
Maßnahmen ergreift, die für erforderlich erachtet werden. Dementsprechend
stehen die Nato-Verbündeten der Vereinigten
Staaten bereit, die Unterstützung zur Verfügung zu stellen,
die als Konsequenz dieser barbarischen Akte erforderlich sein
wird.«
Am nächsten Tag fand nachmittags im Reichstagsgebäude
eine Fraktionssitzung der Grünen statt, in der ich über diesen
Beschluss der Nato berichtete und seine möglichen Konsequenzen
erläuterte. Die Fraktion stimmte der Erklärung
des Bündnisfalles bei drei Gegenstimmen zu, unsere Vizepräsidentin
Antje Vollmer enthielt sich der Stimme. Sie argumentierte
vehement und massiv gegen eine militärische Teilnahme
Deutschlands an einem möglichen Gegenschlag der USA in
Afghanistan.
Der grün-protestantische Nationalpazifismus erhob also auch
diesmal wieder sein Haupt, und damit wurde zu einem recht
frühen Zeitpunkt in diesem sich abzeichnenden Konflikt um Afghanistan
erneut jene Bruchlinie in Fraktion und Partei sichtbar,
die bereits in der Kosovo-Krise nur mit allergrößten Anstrengungen
überbrückt werden konnte. Mir war allerdings seit dem
11. September bewusst, dass jetzt ein weltpolitischer Orkan zu
toben begonnen hatte und wir dadurch in Entscheidungszwänge
hineingeraten würden, gegenüber denen der Kosovo-Krieg
lediglich eine kleinere Herausforderung gewesen war.
Sofort nach dem ersten Schock hatte in den USA die fieberhaf-
te Suche nach den Tätern und deren Auftraggebern begonnen,
und anhand der Passagierlisten der entführten Flugzeuge wurden
die amerikanischen Ermittlungsbehörden auch sehr schnell
fündig. Binnen weniger Tage gelang es, den Hintergrund der Täter
festzustellen, die Erkenntnisse führten eindeutig zu Osama
bin Laden. Einen vernünftigen Zweifel, dass die Terrorattacke
des 11. September von al-Qaida verübt worden war, konnte es
danach nicht mehr geben.
Bei den Attentätern handelte es sich um junge Männer, die
fast alle aus Saudi-Arabien, Ägypten und den Golf-Staaten
stammten. Als ihr Anführer kristallisierte sich ein ägyptischer
Staatsangehöriger namens Mohammed Atta heraus. Im Zuge der
Ermittlungen stießen die amerikanischen Sicherheitsbehörden
ebenfalls sehr schnell darauf, dass sich Atta und einige der anderen
Terroristen des 11. September zuvor jahrelang in Deutschland
aufgehalten hatten. Schlimmer noch, ganz offensichtlich
hatten wesentliche Teile der Planung der Terroroffensive gegen
die USA in Hamburg-Harburg stattgefunden, ohne dass die
deutschen Sicherheitsbehörden davon irgendetwas mitbekommen
hatten.
Es drängten sich für die Bundesregierung hochnotpeinliche
Fragen auf, deren Beantwortung unsere Beziehungen zu den
USA tief gehend erschüttern konnten. Hätte Deutschland die
Terroranschläge vom 11. September verhindern können, ja verhindern
müssen? Traf am Ende gar die deutschen Sicherheitsbehörden
die Schuld oder wenigstens Mitschuld daran, dass
der Angriff auf die Vereinigten Staaten nicht rechtzeitig unterbunden
werden konnte? Diese Fragen stellten sich leider und
zu Recht ganz unmittelbar an die Adresse der Bundesregierung.
Und auch die US-Regierung, die angesichts der schrecklichen
Ereignisse und des Versagens der amerikanischen Sicherheitsnetze
unter einem erheblichen öffentlichen Druck stand, stellte
diese Fragen in unsere Richtung sehr aggressiv.
Der Bundesregierung war die außenpolitische Dimension der
Enttarnung der sogenannten »Hamburger Zelle« sofort bewusst,
und auch gerade angesichts dieser schockierenden Erkenntnisse
erwies sich die Position der »uneingeschränkten Solidarität« mit
den USA, wie sie Gerhard Schröder für die Bundesregierung
festgelegt hatte, bereits zu diesem sehr frühen Zeitpunkt als
überaus weitsichtig.
Denn die Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit, in
Parlament und Regierung war nach dem Schock und dem Grauen
des 11. September nicht gerade auf eine differenzierte Analyse
der Ereignisse ausgerichtet, sondern die Reaktionen würden
dominiert von Entsetzen, Schmerz und Wut. Wenn Deutschland
in den USA als Schuldiger oder auch nur Mitschuldiger für den
11. September angesehen werden würde, dann würden wir ein
sehr großes außenpolitisches Problem bekommen. Eine tiefe
Krise bis hin zu einem emotionalen Bruch in den deutsch-amerikanischen
Beziehungen mit kaum absehbaren Folgen wäre
dann nicht mehr auszuschließen.
Colin Powell hatte mir gegenüber zwar niemals irgendwelche
Vorhaltungen gemacht, aber Innenminister Otto Schily hatte
einige sehr unangenehme Gespräche hinter sich zu bringen.
Allein die Tatsache, dass die Terroristen ihre Flugausbildung in
den USA erhalten hatten, die für die Durchführung der Terrorattacke
von entscheidender Bedeutung gewesen war, nahm etwas
den Druck von Deutschland weg. Dennoch sollte der mehr
oder weniger offen formulierte Vorwurf der amerikanischen
Seite, dass Deutschland den 11. September hätte verhindern
können, noch für lange Zeit in zahlreichen internen Gesprächen
zwischen den Regierungen und auf den verschiedensten Ebenen
eine Rolle spielen. Umso wichtiger war es daher, dass es an der
»uneingeschränkten Solidarität« Deutschlands mit den USA
nicht den geringsten Zweifel geben durfte.
Aber auch für die Bundesregierung und die deutschen Sicherheitsbehörden
waren die Erkenntnisse über die »Hamburger
Zelle« ein gewaltiger Schock. Wie hatte es passieren
können, dass eine Gruppe der gefährlichsten internationalen
Terrororganisation über längere Zeit hinweg Deutschland als
Rückzugsraum nutzen konnte, ohne dass die deutschen Sicherheitsapparate
davon etwas mitbekamen? Und noch wichtiger
war damals die Antwort auf die Frage: Gab es am Ende noch
weitere al-Qaida-Zellen in Deutschland, die hier als sogenannte
»Schläfer« auf ihre Aktivierung warteten? Man wird die spätere
Haltung der rot-grünen Bundesregierung und der deutschen
Sicherheitsbehörden in zahlreichen Fragen der Terrorbekämpfung
nicht verstehen können, wenn man diese überaus kritische
Ausgangslage in der Zeit unmittelbar nach dem 11. September
vergisst.
Die Krise des 11. September erforderte ein schnelles und abgestimmtes
Handeln innerhalb der Bundesregierung, nicht nur
auf der Ebene der hohen Beamten. Es galt täglich, ja bisweilen
sogar stündlich, auf neue Erkenntnisse und Lagen politisch auf
der höchsten Ebene zu reagieren. Das bis dahin in der Organisation
der Bundesregierung vorgesehene Instrument des Bundessicherheitsrates
erwies sich dabei als zu groß, zu unflexibel und
zu durchlässig. Aus diesem Grund entschied der Bundeskanzler,
informell ein sogenanntes »Sicherheitskabinett« einzurichten,
das sich aus dem Bundeskanzler, dem Außen-, Innen- und Verteidigungsminister
und dem Chef des Bundeskanzleramtes zusammensetzte.
Hinzu kamen noch - je nach Bedarf - weitere
Ressorts (etwa Finanzen) und die Präsidenten der Dienste, des
BKA und die Spitze der Bundeswehr. Das Sicherheitskabinett
hat sich in dieser Krise als entscheidendes politisches und operatives
Steuerungsinstrument bewährt.
Am Nachmittag des 14. September fanden sich ca. 200 000
Menschen vor dem Brandenburger Tor zu einer riesigen Solidaritätskundgebung
mit den Vereinigten Staaten von Amerika
ein. Sie standen schweigend dicht gedrängt auf dem Platz auf der
Westseite des Brandenburger Tores und bis weit in die Straße des
17. Juni hinein. Ich befand mich mit den Spitzen von Parlament,
Regierung und Parteien auf der Rednertribüne, ebenso war der
neue amerikanische Botschafter Daniel Coats anwesend. Er war
erst vor Kurzem in Berlin angekommen.
Bundespräsident Johannes Rau sprach auf dieser Solidaritätskundgebung
für die Bundesrepublik Deutschland und drückte
den USA und den betroffenen Familien die tief empfundene Anteilnahme
und Solidarität aller Deutschen aus. An diesem Tag,
so war mein Eindruck, trafen diese Sätze des Bundespräsidenten
die wirkliche Stimmungslage in unserem Land und waren alles
andere als leere Formeln. Allerdings schien der Bundespräsident
in seiner Definition der Solidarität mit den USA weniger klar
zu sein, als dies zuvor für den Bundeskanzler mit seiner Formel
von der »uneingeschränkten Solidarität« gegolten hatte, denn
der Bundespräsident äußerte sich verhalten kritisch zu einer
sehr wahrscheinlichen militärischen Reaktion der USA.
Dies führte bei Gerhard Schröder zu einigem Stirnrunzeln
und zu der öffentlichen Klarstellung in einem Interview, dass die
Richtlinien der Politik vom Bundeskanzler bestimmt würden.
Der Bundeskanzler befürchtete, dass in Washington der Eindruck
entstehen könnte, so ernst wäre die »uneingeschränkte
Solidarität« durch Deutschland nicht gemeint, und dass sich
daraus möglicherweise negative außenpolitische Konsequenzen
für unsere Allianz mit den USA ergeben würden. Zugleich
wäre aber in diesen Tagen ein offensichtlicher Dissens zwischen
Kanzler und Bundespräsident so ziemlich das Letzte gewesen,
was sich Deutschland hätte erlauben dürfen, und insofern war
ich erleichtert, dass sich dieser kurz aufflackernde Gegensatz in
der Folgezeit als belanglos erweisen sollte.
Eine der zentralen Fragen auf dieser Seite des Atlantiks lautete:
Wie würde Europa auf diesen Angriff auf seinen wichtigsten
Partner reagieren? Es sollte sich sehr schnell erweisen, dass
die EU auf eine solche Herausforderung weder politisch noch
institutionell vorbereitet war. Vor allem die Führer der beiden
»glorious nations« in der EU, Jacques Chirac und Tony Blair,
reagierten sofort auf der nationalen Ebene. Die Instinkte dieser
beiden europäischen Großmächte funktionierten in dieser fast
schon existenziellen Krise der transatlantischen Beziehungen
ausschließlich national.
Bundeskanzler Gerhard Schröder versuchte über den belgischen
Ratspräsidenten Guy Verhofstadt, eine sofortige Sondersitzung
des Europäischen Rates zustande zu bringen, aber diese
dringende und richtige Initiative von Gerhard Schröder scheiterte
zunächst am Unwillen Frankreichs und Großbritanniens -
für Blair und Chirac war die Reaktion auf den 11. September
zuerst und vor allem eine nationale und keine EU-Angelegenheit.
Es kam am 14. September lediglich zu einer gemeinsamen
Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union, der Präsidentin des Europäischen Parlaments und des
Präsidenten der Kommission sowie des Hohen Vertreters für
die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
Wenn man im Rückblick nach den Gründen der späteren Spaltung
Europas in der Irak-Krise sucht, so sehe ich eine der wichtigsten
Ursachen im damaligen Unvermögen des Europäischen
Rates, auf die historische Herausforderung des 11. September
2001 eine gemeinsame europäische Antwort zu finden. Denn
eine solche gemeinsame Antwort der Staats- und Regierungschefs
der EU hätte die Union in der Folgezeit zu einer strategischen
Diskussion und mit hoher Wahrscheinlichkeit dann auch
zu gemeinsamen Beschlüssen und einem gemeinsamen Vorgehen
gezwungen. Genau dazu sollte es aber in den folgenden
Monaten und Jahren nicht mehr kommen, stattdessen kam es
in der heißen Vorbereitungsphase des Irak-Krieges zu einer von
der Bush-Regierung betriebenen Spaltung Europas.
Ob eine einheitliche europäische Position im Jahr 2002 angesichts
der sich verschärfenden Krise um den Irak überhaupt
möglich gewesen wäre (etwa mehr Zeit für die VN-Inspektoren
im Irak und die Bindung der Entscheidung über ein militärisches
Vorgehen an die Ergebnisse dieser Inspektionen) und ob eine
solche EU-Position die Politik der Regierung Bush gegenüber
dem Irak positiv verändert hätte, werden wir niemals erfahren.
Was wir allerdings heute wissen, ist, dass der Einfluss eines gespaltenen
Europas in Washington gegen null ging.
Es bedarf dazu jedoch einer Präzisierung, um einem nahe
liegenden Missverständnis vorzubeugen: Wären Schröder und
Chirac in der Irak-Krise der Haltung Blairs, Aznars, Berlusconis
und Barrosos gefolgt, nämlich den Weg der USA in diesen mutwillig
vom Zaun gebrochenen Krieg politisch und militärisch zu
unterstützen, so wäre der europäische Einfluss in Washington
ebenfalls fast gleich null geblieben, wie die spätere Tragödie von
Tony Blair demonstriert. Nur wenn Blair und die anderen europäischen
Kriegsbefürworter sich Richtung Schröder und Chirac
bewegt hätten, hätte sich vielleicht eine Möglichkeit jenseits des
Krieges eröffnet. Realistischerweise muss man allerdings davon
ausgehen, dass auch eine solche Entwicklung die Regierung Bush
von ihrer Entschlossenheit zum Krieg gegen Saddam Hussein
nicht abgebracht hätte, da sie auf Europa militärisch definitiv
nicht und politisch fast nicht angewiesen war.
Nachdem die Initiative des Kanzleramts zu einem europäi-
schen Sonderrat vorerst kein Ergebnis gebracht hatte, entschied
der Bundeskanzler, dass ich für die Bundesregierung nach Washington
und New York reisen und so unsere Verbundenheit
mit den Vereinigten Staaten zeigen sollte. Der Kanzler selbst
beabsichtigte, erst etwas später zu reisen. Und so flog ich am
18. September abends mit einer Regierungsmaschine von Berlin
nach Washington, nachdem ich zuvor noch an einer Sitzung des
Sicherheitskabinetts teilgenommen hatte. Im Reisegepäck hatte
ich einen Brief des Kanzlers an den amerikanischen Präsidenten,
den ich ihm bei einem Treffen im Weißen Haus persönlich überreichen
würde.
Den ganzen Tag über hatte ich neben den Terminen in Berlin
immer wieder Telefonate zu führen, um sowohl die innenpolitischen
Entwicklungen zu beeinflussen als auch die internationale
Abstimmung in dieser Krise voranzutreiben. Die Liste meiner
Telefonate vom 18. September wird hier aufgeführt, weil sie beispielhaft
ist für die Anspannung und Hektik der damaligen Tage
und Wochen:
11.45 Uhr - Kardinalstaatssekretär Sodano (der »Regierungschef
« des Vatikan)
12.20 Uhr - Javier Solana (außenpolitischer Beauftragter
der EU)
12.30 Uhr - Hubert Védrine (französischer Außenminister)
12.40 Uhr - Jossi Sarid (Vorsitzender der israelischen Meretz-
Partei)
12.55 Uhr - Bundeskanzler
13.00 Uhr - Michael Steiner (Leiter der außenpolitischen
Abteilung im Kanzleramt)
13.15 Uhr - Nabil Schaath (palästinensischer Minister für
internationale Zusammenarbeit)
13.25 Uhr - Jossi Beilin (ehemaliger israelischer Chefunterhändler
für die Regierung Rabin in Oslo)
14.00 Uhr - Rudolf Scharping (Verteidigungsminister)
14.05 Uhr - Kerstin Müller (Fraktionsvorsitzende der
Grünen im Deutschen Bundestag)
14.10 Uhr - Louis Michel (belgischer Außenminister)
14.15 Uhr - Achmed Maher (ägyptischer Außenminister)
14.17 Uhr - Ariel Scharon (israelischer Premierminister)
14.40 Uhr - Saeb Erekat (palästinensischer Chefunterhändler
für den Friedensprozess und Vertrauter Arafats)
14.45 Uhr - Miguel Moratinos (Nahostbeauftragter der EU)
15.00 Uhr - Terje Rød-Larsen (Sondergesandter der VN
für die palästinensischen Autonomiegebiete)
15.05 Uhr - Javier Solana (außenpolitischer Beauftragter
der EU)
15.15 Uhr - Colin Powell (amerikanischer Außenminister)
16.20 Uhr - Jassir Arafat (Präsident der Palästinensischen
Autonomiebehörde)
18.50 Uhr - Colin Powell (amerikanischer Außenminister)
Gegen 22.00 Uhr Ostküstenzeit landete ich auf dem militärischen
Teil des Dulles International Airport in der Nähe der
amerikanischen Hauptstadt, den die deutsche Luftwaffe regelmäßig
benutzt.
Am Mittwoch, den 19. September 2001, begann für mich der
Tag mit einem Zusammentreffen mit meinem Kollegen Colin
Powell im State Department. Mittlerweile wusste man ja, dass
der Terrorangriff von Osama bin Laden und seiner Gruppe ausgeführt
worden war und dass der amerikanische Gegenschlag
demnach in Afghanistan erfolgen würde. Im Zentrum des Delegationsgesprächs
standen keineswegs die sich abzeichnenden
militärischen Konsequenzen des 11. September, sondern vielmehr
dessen politische Auswirkungen auf den Nahen und Mittleren
Osten.
Daher konzentrierte sich das Gespräch erstens darauf, wie
man Palästinenser und Israelis zu einem wirklichen Waffenstillstand
bewegen könnte. Beide Delegationen waren der Meinung,
dass die tragischen Ereignisse des 11. September neue Gestaltungschancen
im Nahen Osten eröffnet hätten, die es unbedingt
zu nutzen galt. Ob man dabei erfolgreich sein würde oder nicht,
würde die Zukunft zeigen. Wichtig wäre es jetzt, so bald wie
möglich ein Treffen zwischen Jassir Arafat und Außenminister
Schimon Peres zustande zu bringen. Dazu bedurfte es aber der
Zustimmung von Premierminister Scharon, die ohne Verbesserung
der Sicherheitslage Israels nicht zu erreichen war.
1. Auflage 2011
© 2011, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder
unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt
oder verbreitet werden.
Übersetzungen: Ingo Herzke
Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln
Umschlagmotiv: © picture-alliance/dpa
Gesetzt aus der Stempel Garamond
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-462-04081-4
Wissenschaftliche Mitarbeit: Lars Nebelung
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Autoren-Porträt von Joschka Fischer
Joschka Fischer, geboren 1948 in Gerabronn. Von 1994 bis 2006 Mitglied des Bundestages, von 1998 bis 2005 Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. 2006/07 Gastprofessor an der Universität Princeton, USA. Joschka Fischer lebt in Berlin. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch sind bisher erschienen: »Risiko Deutschland« (1994), »Für einen neuen Gesellschaftsvertrag« (1998), »Die Rückkehr der Geschichte. USA, Europa und die Welt nach dem 11. September« (2005), »Die rot-grünen Jahre. Deutsche Außenpolitik - vom Kosovo bis zum 11. September« (2009), »I am not convinced« (2011), »Scheitert Europa?« (2014), »Der Abstieg des Westens« (2018), »Willkommen im 21. Jahrhundert« (2020).
Bibliographische Angaben
- Autor: Joschka Fischer
- 2018, 3. Aufl., 384 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2100000163052
- Erscheinungsdatum: 14.02.2011
Rezension zu „"I am not convinced" “
»Es sind diese schlaglichtartigen Blicke auf Fraktionssitzungen, Verhandlungen, Gesprächsrunden und politische Einschätzungen, die den Reiz des Buches von Joschka Fischer ausmachen.« Mannheimer Morgen
Pressezitat
»Es sind diese schlaglichtartigen Blicke auf Fraktionssitzungen, Verhandlungen, Gesprächsrunden und politische Einschätzungen, die den Reiz des Buches von Joschka Fischer ausmachen.« Mannheimer Morgen
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