Ich bin die Nacht / Francis Ackerman junior Bd.1
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Francis Ackerman fordert seine Opfer zu perfiden Spielchen heraus. Wer gewinnt, den lässt er am Leben. Doch bis jetzt hat noch keiner gewonnen. Der Serienkiller Ackerman sucht sich gezielt Familien als
Opfer aus und spielt Väter und Mütter...
Opfer aus und spielt Väter und Mütter...
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Produktinformationen zu „Ich bin die Nacht / Francis Ackerman junior Bd.1 “
Francis Ackerman fordert seine Opfer zu perfiden Spielchen heraus. Wer gewinnt, den lässt er am Leben. Doch bis jetzt hat noch keiner gewonnen. Der Serienkiller Ackerman sucht sich gezielt Familien als
Opfer aus und spielt Väter und Mütter auf Leben und Tod gegeneinander aus.
Erst mit dem Cop Marcus Williams findet er einen Gegner, der es mit ihm aufnehmen kann.
Opfer aus und spielt Väter und Mütter auf Leben und Tod gegeneinander aus.
Erst mit dem Cop Marcus Williams findet er einen Gegner, der es mit ihm aufnehmen kann.
Klappentext zu „Ich bin die Nacht / Francis Ackerman junior Bd.1 “
Mein Name ist Francis Ackerman junior. Ich bin das, was man gemeinhin einen Serienkiller nennt. Doch ich töte nicht wahllos, und jedes meiner Opfer bekommt eine faire Chance, denn ich fordere es zu einem Spiel heraus. Wer gewinnt, überlebt. Ich habe noch nie verloren. Die meisten Menschen werden mich verabscheuen. Einige, die mir ähnlich sind, werden mich verehren. Aber alle, alle werden sich an mich erinnern. Mein Name ist Francis Ackerman junior. Ich bin die Nacht, und ich möchte ein Spiel mit Ihnen spielen.
Lese-Probe zu „Ich bin die Nacht / Francis Ackerman junior Bd.1 “
Ich bin die Nacht von Ethan CrossAus dem amerikanischen Englisch von Dietmar Schmidt
Erster Teil Die Herde
1.
Das flackernde Blaulicht seines Streifenwagens tanzte über die Fensterscheiben der Tankstelle. Trooper Jim Morgan versuchte angestrengt, durch die zuckenden Reflexionen in das dunkle Innere des Gebäudes zu blicken. Die Zentrale hatte einen Raubüberfall gemeldet, aber aus einem unerfindlichen Grund regte sich am Rand von Jims Bewusstsein ein irrationales, aber überwältigend starkes Gefühl des Grauens. Erklären konnte Jim es nicht. Er wusste nur, das hier war viel schlimmer. Vielleicht war es der Instinkt des Polizisten, vielleicht Intuition. Er wusste jedenfalls, dass hier etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht.
Jim atmete tief ein und wieder aus. Als er aus dem Streifenwagen stieg, drängte er das Gefühl beiseite, dass irgendetwas Grauenhaftes ihn erwartete.
Jim fiel auf, dass der Mond nicht schien. Die Finsternis wirkte außerhalb der hellen Teiche, das die Lichter des Streifenwagens und der Tankstelle bildeten, trostlos, wie für die Ewigkeit. Es war, als säße Jim am Rand der Welt und blickte in ein erloschenes Universum, in dem nichts anderes mehr existierte als er selbst.
Wieder schaute er zur Tankstelle.
Wieder überfiel ihn das unerklärliche Grauen.
Nur konnte er nichts und niemanden als Quelle seiner Angst ausmachen, und das bereitete ihm noch größere Furcht. Er hatte sich immer schon am meisten vor dem gefürchtet, was man nicht benennen konnte. Er überlegte, zu Hause anzurufen und sich zu vergewissern, dass mit seiner Frau und seiner Tochter alles in Ordnung war, doch nach einem Blick auf die Uhr entschied er sich dagegen. Er wollte Emily nicht aus dem Schlaf reißen.
... mehr
»Alles okay?«, fragte Trooper Tom Delaine, Jims Partner bei der State Police. »Du ziehst ein Gesicht, als hätten sie dir in die Cornflakes gepinkelt.«
»Nein, alles bestens. Bringen wir's hinter uns. Ich gehöre längst schon ins Bett, und ich will nur noch nach Hause.«
Tom war anzumerken, dass er mit Jims Antwort nicht ganz zufrieden war, aber er nickte und ging auf die Eingangstür der Tankstelle zu. Beide Männer hatten ihre Waffen nicht gezogen, denn sie wussten von der Leitstelle, dass der Täter bereits geflohen war. Trotzdem musste ein Bericht geschrieben werden, und der Tankwart hatte darauf beharrt, dass sofort ein Gesetzeshüter vorbeikam.
Als sie das Tankstellenhäuschen mit dem üblichen Lebensmittelangebot betraten, bemerkte Jim einen seltsam vertrauten Geruch, ohne dass er hätte sagenkönnen, was es war. Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich.
Von der Tür aus ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Die Kassentheke stand parallel zur Tür vor der rückwärtigen Wand. Dahinter saß ein Mann mit dunklem Haar und durchdringenden grauen Augen. Ein schwarzes T-Shirt spannte sich über seiner Brust. Darunter zeichneten sich harte Muskeln ab. Der Mann sagte kein Wort, starrte die beiden Trooper nur ausdruckslos an.
Als ihre Blicke sich trafen, bewegte Jim instinktiv die Hand näher zur Waffe an seinem Gürtelholster.
»Schöne Nacht, was?«, sagte der Tankwart. »Die Dunkelheit ist ... wie soll ich sagen? Bedrückend, ja, das trifft's. Sie hat Gewicht.«
So ganz begriff Jim diesen Gedankengang nicht, der bedrückende Dunkelheit mit einer schönen Nacht in Beziehung setzte. Einem Menschen, in dessen Vorstellung beides zusammengehörte, sollte man mit Vorsicht begegnen. Jims Partner jedoch schien der innere Widerspruch zu entgehen. Tom zog nur die Brauen hoch und fragte: »Haben Sie den Raubüberfall gemeldet, Sir?«
»Nein«, erwiderte der Mann, »ich habe einen Mord gemeldet. «
Jim stockte der Atem. Er hielt die rechte Hand über das Pistolenholster, aber noch zog er die Waffe nicht.
»Wer wurde ermordet?«, fragte Tom.
Der Tankwart gab keine Antwort. Jim war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte zu sehen, wie ein mühsam unterdrücktes Grinsen über das Gesicht des Mannes huschte. Jim beugte sich vor und schaute zwischen zwei Regalzeilen.
Tom blickte in die gleiche Richtung.
Der entsetzliche Anblick traf sie beide wie ein Schlag ins Gesicht.
Der Tote am Ende des Gangs war nackt. Überall war Blut. Tiefe Schnittwunden entstellten den Körper, der auf schreckliche Weise verstümmelt war. Dem männlichen Opfer waren die Augen ausgestochen worden.
Blitzschnell zogen die Trooper ihre Waffen und richteten sie auf den seltsamen Mann an der Kasse. Tom trat einen Schritt vor. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann! Na los!«
Der Verdächtige machte keine Anstalten, seine Hände zu zeigen, die unter der Theke verborgen waren. Seine einzige Reaktion bestand in einem boshaften Grinsen, kalt, wie tot. Jim hatte das Gefühl, eine Fliege im Spinnennetz zu sein.
Tom ging noch einen Schritt vor, die Waffe im Anschlag, und wiederholte, was er gesagt hatte. Wieder ohne Ergebnis.
Er stand jetzt keine drei Schritte von der Theke entfernt. Jim hatte sich einen Schritt zurückgezogen. Er wollte Tom gerade zurufen, dass er dem Verdächtigen zu nahe sei, als der Mann hinter der Kasse mit ruhiger, ein wenig belustigter Stimme sagte: »Gefällt es euch? Das ist meine Version eines Mordes von Andrei Tschikatilo, dem Monster von Rostow. Schon mal von ihm gehört? Nein, eher nicht. Er war Ukrainer und hat über fünfzig Morde begangen. Nun ja, ihr beide habt von Washington und Lincoln gelernt, ich von Jack the Ripper, Albert Fish und Ed Gein, um einige meiner Gründerväter zu nennen.« Er kicherte, und sein Blick huschte zwischen den beiden Cops hin und her. »Ihr erkennt mich nicht, was?«
»Nein. Und es ist mir scheißegal, wer Sie sind«, fuhr Tom ihn an, doch seine Stimme war ein wenig zittrig. »Hände über den Kopf!«
Der Mann bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. »Ein bisschen mehr Respekt solltest du mir schon erweisen, Kumpel. Ich bin nicht ganz unbekannt. Mein Name ist Acker- man.«
Für einen Moment verschlug es Jim den Atem. Als er den Mann vorhin gesehen hatte, war er ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Jetzt wusste er, wen er vor sich hatte. Er kannte diesen Mann aus dem Fernsehen, aus einer zweistündigen Sondersendung auf einem Nachrichtenkanal. Der Name der Sendung fiel ihm nicht ein, aber es ging in Richtung Ein Experiment mit dem Wahnsinn. Woran er sich allerdings gut erinnerte, war die Beschreibung Ackermans und seiner abscheulichen Verbrechen - die Taten eines Monstrums, wie es allenfalls in der Fantasie von Horrorschriftstellern existierte, nicht aber als Person aus Fleisch und Blut.
Tom wiederholte seine Aufforderung. Diesmal sprach er leise, als wollte er den Mann zur Aufgabe bewegen und einen Kampf vermeiden. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann. Ich zähle bis drei, dann. . .«
»An deiner Stelle würde ich nichts Übereiltes tun. Wenn du nicht vorsichtig bist, reißt es meiner hübschen kleinen Geisel vielleicht das hübsche kleine Gesicht weg.«
»Geisel?«, fragte Tom verwirrt.
Ackerman lenkte seinen Blick von Tom zu Jim. »Die Tussi unter der Theke. Sie hat die Mündung einer abgesägten Schrotflinte an der Schläfe. Ein Schuss, und die Kleine sieht gar nicht mehr gut aus. Ich hab so was schon mal gesehen. Schön ist es nicht. Ah, ich weiß genau, was ihr jetzt denkt. Ihr glaubt, ich bluffe.« Er wandte sich wieder Tom zu. »Und du denkst, dass du mir eine Kugel zwischen die Augen jagen kannst, ehe ich abdrücken kann. Wenn du dich da mal nicht irrst, Kumpel. Mein Finger liegt am Abzug. Sobald deine Kugel trifft, verkrampfen sich meine Muskeln, und dann spritzt das Hirn von der Süßen unter der Theke hervor. Tja, Leute, wie's aussieht, haben wir hier eine klassische Pattsituation.«
Ackerman lachte auf und fuhr in überheblichem Tonfall fort: »Ist das nicht komisch? Ihr habt diesen Tag begonnen wie jeden anderen. Ihr habt eine Tasse Kaffee getrunken, ein bisschen in der Zeitung gelesen und euren Lieben ein Küsschen zum Abschied gegeben. Aber ihr hattet keinen Schimmer, dass heute der wichtigste Tag eures Lebens sein wird. Ja, dies ist der Tag, an dem alles auf dem Spiel steht, was ihr je gesagt oder getan habt. Alles, woran ihr glaubt und wofür ihr eingetreten seid. Irgendwann geraten wir alle an einen Punkt, an dem wir uns entscheiden müssen, ob wir der Held sein wollen oder ein Schaf bleiben. Dieser Augenblick ist jetzt für euch gekommen, Freunde.
Ich stelle euch vor die Wahl. Ihr könnt verschwinden und lebt weiter. Vielleicht habe ich eine Geisel unter der Theke, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bringe ich sie um, sobald ihr zur Tür raus seid, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht könnt ihr mich fassen und werdet berühmt. Vielleicht müsst ihr bei dem Versuch dran glauben. Sicher wissen könnt ihr es nicht. Aber was können wir schon sicher wissen? Das ist ja das Schöne, oder? Hinter dem ganzen Scheiß steckt keine Bedeutung. Das Gute muss nicht unbedingt über das Böse triumphieren. Es gibt nur Zufall und Tod. Ihr seid die Pechvögel, die heute im Einsatz sind. Der blutige Klumpen, der da hinten am Ende vom Gang liegt, war der Pechvogel, der heute in dieser Tankstelle gearbeitet hat. Wir Menschen halten uns für die Krone der Schöpfung, für besser und klüger als alle anderen Kreaturen, aber soll ich euch mal was sagen?«
Ackerman blickte die beiden Cops an, als wäre er ein hungriges Raubtier und sie seine Mahlzeit. Er senkte die Stimme. »Am Ende ist es egal, mit wie viel Größenwahn wir uns blenden. Wir sind Jäger oder Gejagte, Raubtier oder Beute. Der Sieger überlebt, der Verlierer verwest. Unser Schicksal wird allein von unseren Entscheidungen bestimmt. Also, entschließt euch.«
Jim stand regungslos da, wie gebannt von dem Verrückten hinter der Kasse. Ackerman hatte seine wirre Ansprache voller Leidenschaft gehalten, wie ein Politiker, der ein hehres Ziel vertritt und mit seiner Rede die Menge aufrütteln will. Noch nie hatte Jim erlebt, wie ein Mann, auf den zwei Pistolen gerichtet waren, so ruhig blieb. Ackerman zeigte nicht die geringste Angst. Angst schien ihm so fremd zu sein wie einem Neandertaler ein Flugzeug. Vor allem schien er überzeugt zu sein, die Lage fest im Griff zu haben.
Jim fühlte sich mit einem Mal wehrlos, obwohl er eine Waffe in der Hand hielt.
»Sie bluffen doch nur! Sie haben keine Geisel!« Toms Stimme klang schrill und zittrig. »Sonst würde draußen ein Wagen stehen. Und jetzt heben Sie die Hände, Mann, damit ich sie sehen kann, oder ich jage Ihnen eine Kugel zwischen die Augen!«
Jim fand Toms Worte nicht überzeugend. Der Irre schien es ähnlich zu sehen. Ackerman hatte seinen Wagen vermutlich hinter dem Gebäude abgestellt, damit es so aussah, als wäre er der Tankwart. Wenn er hier wirklich eine Frau als Geisel hielt, hätte er auch ihren Wagen hinter die Tankstelle gefahren.
Jim wusste nicht, ob Tom diese Möglichkeiten übersah oder ob er nur verzweifelt versuchte, die Pattsituation zu beenden. Aber was Tom auch plante, es konnte nicht gut gehen. Acker- man würde niemals zulassen, dass diese Sache unblutig zu Ende ging. Tom konnte es in den Augen des Killers lesen.
Ackerman seufzte und blickte zur Theke. »Tja, mein Schatz«, sagteermit erhobener Stimme, »offenbarglauben die beiden nicht an dich. Schrei doch mal, damit sie wissen, dass es dich gibt.«
Bei Ackermans letztem Wort zerbarst die Vorderseite der Theke. Holzsplitter flogen in alle Richtungen. Die Schrotladung traf Tom in die linke Seite. Blut spritzte Jim ins Gesicht, während Tom von dem Treffer zu Boden geschleudert wurde.
Jim warf sich in den nächsten Gang. Einen Sekundenbruchteil später schlug eine zweite Ladung Schrot in das Regal ein, vor dem er eben noch gestanden hatte. Brennende Dorito- Chips wirbelten durch die Luft.
Jim richtete sich auf und feuerte zwei Schüsse rasch hintereinander um die Ecke. Er sah, wie seine Kugeln in die Theke einschlugen, als auch schon die Schrotflinte antwortete. Wieder warf er sich in Deckung.
Tom schrie vor Schmerz. Er musste beim Sturz seine Waffe verloren haben und war offenbar halb besinnungslos, denn er machte keine Anstalten, in Deckung zu kriechen. Jim wusste, dass sein Partner keine Überlebenschance hatte, wenn er nicht sofort Hilfe herbeirief.
Mit raschen Bewegungen löste er sein Funkgerät vom Gürtel. »Trooper verletzt . . . benötigen Rettungswagen«, meldete er mit abgehackter Stimme. Seinen Namen und seine Position brauchte er nicht zu nennen. Das Funkgerät übertrug einen individuellen Code an die Zentrale, während das GPS im Streifenwagen anderen Einheiten seinen Standort mitteilte.
Wenn er jetzt nicht handelte, waren er und Tom tot, sobald die Verstärkung eintraf.
Jim versuchte sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder zu seiner Frau und seiner Tochter. Sehe ich sie wieder? Werde ich erleben, wie Ashley aufwächst? Er dachte daran, wie er ihr die goldenen Locken streichelte und sie auf die Stirn küsste, wie ihre Augen vor Bewunderung strahlten, wenn er sie auf seinen Schoß setzte und ihr vorlas, wie Emily, seine Frau, ihn jeden Morgen zum Abschied küsste und ihm sagte, er solle auf sich aufpassen. Er dachte an das wundervolle Gefühl, sie in den Armen zu halten und ihr mit den Fingern durch das schwarze Haar zu fahren. Er schwor sich, sie wiederzusehen, doch eine boshafte Stimme in seinem Kopf flüsterte: Du belügst dich selbst.
Das Gemisch aus Pulvergestank und dem Geruch der parfümierten Reinigungsmittel stieg Jim in die Nase, und ihm wurde schwindlig. Entweder lag es am Geruch oder an dem Aufruhr, der in seinem Innern tobte und kaum einen klaren Gedanken zuließ.
Was soll ich als Nächstes tun?
Jim wusste, dass er es nicht überleben würde, wenn er Acker- man frontal attackierte. Gegen die Schrotflinte kam er nicht an. Am besten, er schlich sich im Schutz der Regale an - dann konnte er den Irren vielleicht überraschen. Und je größer die Entfernung, desto größer der Vorteil, den ihm seine 9-mm-Pistole gegenüber der weniger zielgenauen Schrotflinte verschaffte.
So leise er konnte, bewegte er sich den Gang entlang in Richtung Tür. Als er das Ende des Gangs erreichte, spähte er um die Ecke.
Alles frei.
Er huschte zum nächsten Gangende.
So weit, so gut.
In der kleinen Tankstelle gab es nur vier Regalreihen mit Lebensmitteln. Wenn er es zum nächsten Ende des Gangs schaffte, ohne dass Ackerman ihn sah, hatte er freie Sicht auf das Versteck seines Gegners.
Jim warf einen raschen Blick in den Gang und wollte gerade zum nächsten Regalende huschen, als er ein merkwürdiges Geräusch aus dem vorderen Teil des Tankstellenhäuschens hörte. Erbrauchte einen Augenblick, bis er wusste, was es war: ein leises Plätschern. Jemand drückte irgendeine Flüssigkeit aus einer Quetschflasche. Als er dem Geräusch folgte, wurde Toms Gebrüll noch lauter, und Jim hörte einen erstickten Hilfeschrei.
»Dein Kumpel hat einen schlechten Tag, Officer. Er will bleiben und kämpfen, aber ich nehme an, dass ich ihm keine große Wahl gelassen habe. Deshalb mache ich dir ein Angebot. Dein Partner hatte recht, ich hatte keine Geisel. Aber jetzt habe ich eine. Ihn. Er wird hier nicht mehr lebend rauskommen. Aber dich lass ich laufen. Du darfst in deinen Wagen steigen und alles hinter dir lassen, als wäre es nur ein Albtraum gewesen. Klar, vielleicht könntest du mich stoppen und deinen Kumpel retten, aber seien wir doch ehrlich: Ich beherrsche dieses Spiel besser als du. Wenn du bleibst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihr beide ins Gras beißt. Du hast die Wahl.«
Jim biss die Zähne zusammen. Ackerman wusste vermutlich, wo er war. Er hatte wahrscheinlich keine Chance, dem Verrückten in den Rücken zu fallen. Ackerman hatte recht: In einer solchen Lage war er, Jim, noch nie gewesen. Eigentlich hatte er noch nie eine richtige Gefahrensituation erlebt, abgesehen von ein paar Verkehrskontrollen, bei denen es ein bisschen ruppiger zuging, und einer Geiselnahme in einem Imbiss. Aber ein Schusswechsel mit einem irren Killer war ein ganz anderes Kaliber. Sein Gegner hatte zahllose Opfer auf dem Gewissen, darunter etliche Polizisten. Außerdem war Acker- man besser bewaffnet und der Lage viel besser gewachsen.
Dennoch, Jim würde seinen Partner niemals im Stich lassen.
Tom Delaine war ein Hitzkopf, aber er war seit neun Jahren Jims bester Freund. Er war an dem Tag dabei gewesen, als Jims Tochter geboren wurde, hatte Zigarren herumgereicht und gegrinst wie ein stolzer Onkel. Und an dem Tag, als Jims Vater beerdigt wurde, war Tom der Einzige gewesen, der ihm Trost hatte spenden können. In jedem schwierigen Moment seines Lebens war Tom für ihn da gewesen und hatte nie eine Gegenleistung verlangt.
»Kommen Sie hierher, wo ich Sie sehen kann«, rief Jim, »dann gebe ich Ihnen meine Antwort.« Dieses Mal zitterte seine Stimme nicht.
»Na gut. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. «
Jim gab keine Antwort. Er war bereits in Bewegung und huschte den mittleren Gang entlang, hielt sich geduckt und versuchte, Ackermans Position anhand der Stimme auszumachen. Wenn seine Instinkte nicht trogen, erwartete der Killer ihn am Ende des dritten Regals.
Als er das Gangende erreichte, blickte er vorsichtig um die Ecke, sah den Killer aber nicht. Tom lag nur ein paar Fuß entfernt.
Jim schob sich behutsam weiter aus dem Gang. Immer noch keine Spur von Ackerman. Er wollte gerade nach Tom greifen, als er hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde. In diesem Sekundenbruchteil fiel sein Blick auf die Spur aus Flüssigkeit, die von der Theke aus bis zu Tom verlief.
Feuerzeugbenzin.
Das Geräusch von vorhin! Ackerman hatte Feuerzeugbenzin auf den Boden gespritzt.
Ehe Jim reagieren konnte, griff eine Hand um die Theke herum und ließ ein brennendes Streichholz in die Lache fallen.
Das Benzin entzündete sich mit einem blauen Blitz, der sich ausbreitete und zu Rot und Gelb umschlug. Binnen eines Sekundenbruchteils schoss das Feuer zu Tom und hüllte ihn in Flammen.
Toms schrille Schreie gellten durch das Tankhäuschen, hallten von den Wänden und Glasscheiben wider. Die Echos überlagerten einander und klangen wie ein Chor der Verdammten.
In diesem Moment verlor Jim die Kontrolle und handelte aus reinem Instinkt. Er ließ die Pistole fallen, riss sich die Uniformjacke herunter und schlug auf die Flammen ein in dem verzweifelten Versuch, seinen Freund zu retten. Doch nach ein paar Schlägen züngelten auch an der Jacke rote und gelbe Flämmchen. Hilflos ließ Jim sie neben seinem sterbenden Partner auf das Linoleum fallen.
Nach einer Ewigkeit, wie es schien, verstummten Toms Schreie, und er hörte auf, um sich zu schlagen. Nur die Flammen blieben. Der Gestank nach verbranntem Fleisch hing in der Luft, während Jim in einen Strudel aus Entsetzen, Trauer und Wut gezogen wurde. Er kniete vor Tom, weinte um seinen Freund ...
. . . und wusste, dass er als Nächster an die Reihe kam. Denn mit einem Mal spürte er, dass der Mann mit der Schrotflinte hinter ihm im Gang stand. Ackerman hatte Toms schreckliches Ende als Ablenkung benutzt, und sein Plan war aufgegangen.
Jims Stimme zitterte, und Tränen liefen ihm über die Wangen, als er über die Schulter fragte: »Warum haben Sie das getan? Sie haben uns gerufen, bloß damit Sie uns umbringen können? Warum?«
»Warum?«, erwiderte Ackerman.»Das ist die ewige Frage, nicht wahr? Vom Anbeginn menschlicher Existenz haben wir wie besessen nach der Antwort auf eine einzige Frage gesucht: Warum? Nun, ich fürchte, dass ich keine richtige Antwort habe - außer der, dass ich nun mal so bin, wie ich bin. Es gibt Menschen, die großartige Kunstwerke schaffen. Andere sind Ärzte oder Anwälte, Lehrer oder Handwerker. Ich bin ein Raubtier, ein Mörder. Das Leben ist ein Spiel, und ich spiele gern. Aber mein Spiel mit dir, Kumpel, ist noch nicht zu Ende. Gib mir deine Brieftasche.«
»Meine Brieftasche?«
Ein Tritt gegen den Hinterkopf beantwortete Jims Frage.
»Deine Brieftasche. Sofort. Bitte.«
Jim reichte sie ihm. Der Killer ging den Inhalt durch und verweilte beim Führerschein und bei einem abgegriffenen Foto. »Du hast 'ne nette Familie, Jim Morgan. Ich würde sie gerne näher kennenlernen.«
»Sie verdammter Mistkerl!«, brüllte Jim und stürzte sich auf den Mörder seines besten Freundes.
Ackerman schlug ihn mit der Schrotflinte zu Boden. Dann prügelte er auf ihn ein, bis Jim das Blut übers Gesicht lief. Jim spürte, wie bei jedem Hieb die Haut aufriss, konnte sich aber nicht schützen.
Endlich hörten die Schläge auf. Ackerman zielte wieder mit der Schrotflinte auf ihn. »Eigentlich wollte ich noch ein bisschen mit dir spielen, ehe ich dich zur Hölle schicke, aber ich glaube, ich habe eine bessere Idee.«
Er ging hinter die Theke und holte eine Flasche und ein Tuch hervor, ohne den Blick von seinem Opfer zu nehmen.
Jim wand sich in Schmerzen am Boden und beobachtete, wie Ackerman aus der Flasche etwas auf den Lappen goss. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und seine Sicht verschwamm. Er schmeckte Blut und roch den beißenden Qualm von Toms verbrannter Leiche. Sein Gehirn konnte den Ansturm der Informationen nicht verarbeiten, den seine Sinne wie im Fieberrausch lieferten, und sein Verstand drohte zu ersticken.
Ackerman kniete sich hin und drückte ihm das Tuch auf den Mund. Jim versuchte sich zu wehren, jedoch vergebens. Nach nur einem Augenblick wirkte das Betäubungsmittel, und Dunkelheit umfing ihn.
***
Jim erwachte. Aus brennenden Augen betrachtete er seine Umgebung. Allmählich schwand seine Benommenheit.
Er konnte es nicht fassen.
Er war zu Hause, im Wohnzimmer.
Im ersten Moment glaubte er mit einem Anflug unendlicher Erleichterung, das Martyrium in der Tankstelle sei nur ein Albtraum gewesen.
Doch als er seine Frau und seine Tochter sah, verflüchtigte sich jede Hoffnung wie warmer Atem an einem Wintertag.
Emily und Ashley saßen am anderen Ende des Wohnzimmers auf zwei Esszimmerstühlen und schauten ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Die Stühle standen wie bei einem Gesprächskreis nebeneinander. Beide waren gefesselt, ihre Münder mit Klebeband geschlossen. Ihr zerzaustes Haar war verfilzt und klebte auf Stirn und Wangen, die nass waren von Tränen und Schweiß.
»Ashley . . .« Jim wollte zu ihr, doch er war selbst gefesselt, wie er erst jetzt bemerkte. Verzweifelt bäumte er sich in den Stricken auf.
Er schaute seine Frau an. Das rabenschwarze Haar hing ihr ins Gesicht. Angst verzerrte ihre Züge. Ihr heller Teint, ein Erbe aus der seltenen Kombination einer irisch-amerikanischen Großmutter und einem japanischen Großvater, war rot angelaufen. Jim liebte ihren milchigen Teint, der ihn an feines Porzellan erinnerte. Und auch wenn er nie die richtigen Worte gefunden hatte, es Emily zu sagen, war er der glücklichste Mann auf Erden, weil er sie zur Frau hatte.
Jim rannen Tränen über die Wangen. Es brach ihm schier das Herz, seine Frau und seine kleine Tochter so hilflos und verängstigt zu sehen. Während er vor Wut zitterte, suchte Emily seine Aufmerksamkeit und bedeutete ihm mit einer Bewegung ihrer Augen, nach rechts zu schauen.
Jim folgte ihrem Blick.
Und schaute in die kalten grauen Augen eines Monstrums.
Die abgesägte Schrotflinte in der Hand, stand Ackerman auf und kam zu ihm. »Wurde auch Zeit, dass du aufwachst«, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir hatten hier schon eine irre Pyjama-Party, Dad, aber jetzt kann der Spaß richtig losgehen.«
Ackerman trat hinter ihn und beugte sich nahe an sein Ohr. »Du hast eine richtig nette Familie, Jim. Du hast dir ein schönes Leben aufgebaut. Hübsches Haus, das süßeste kleine Mädchen, das ich je gesehen habe, und deine Frau . . . geil, absolut geil. Das meine ich nicht vulgär oder geschmacklos, Jim. Ich will damit nur sagen, dass sie umwerfend ist . . . das dunkle Haar und die helle Haut. Sie erinnert mich an die Filmstars aus den Dreißigern und Vierzigern, weißt du. Als die Welt noch schwarz-weiß war. Jedenfalls . . . ich will damit sagen, dass du ein sehr glückliches kleines Arschloch sein musst. Das bist du doch, oder?«
Jim biss die Zähne aufeinander und schüttelte sich vor Wut, gab aber keinen Laut von sich. Er wollte den Irren nicht reizen und in seinen perversen Fantasien befeuern. Deshalb saß er nur da und betete, dass seine Frau und seine Tochter lebend davonkamen. Was aus ihm selbst wurde, war ihm egal. Wenn er sterben musste, um sie zu retten, würde er diesen Weg gehen, aber er flehte Gott an, Emily und Ashley zu verschonen.
»Wie denkst du über den Tod, Jim? Glaubst du, dass unser Leben vor unseren Augen vorbeizieht, wenn wir sterben? Dass wir im letzten Moment unserer irdischen Existenz alles noch einmal erleben? Glaubst du an diese Geschichte mit dem Licht am Ende des Tunnels? Nein? Und was ist mit den spirituellen Aspekten? Glaubst, dass deine kleine Familie in den Himmel kommt, nachdem ich sie getötet habe?«
Jim konnte seine Wut nicht mehr bezwingen. Keinen Augenblick länger wollte er sich die Gedanken dieses wahnsinnigen Schlächters anhören. Er stemmte sich gegen die Fesseln und brüllte aus vollem Halse, schrie seinen Hass und seine Qual heraus. Er konnte die Empfindungen, die in ihm brannten wie das Feuer der Hölle, nicht in Worte fassen. Sein Schrei war älter als alle Wörter, primitiver, urtümlicher.
Irgendwann verstummte er und lag keuchend da, voll brodelndem Hass und hilfloser Wut. Bei jedem Atemzug blähten sich seine Nasenflügel.
Ackerman klopfte ihm auf die Schulter. »Schon okay, Jim. Ich verstehe deinen Schmerz. Ich verstehe ihn gut, glaub mir.«
Jim fühlte sich geschlagen und hilflos, aber er musste stark sein, musste nachdenken. Doch er sah keinen Fluchtweg, keine Aussicht auf Rettung. Sie wohnten im Wald, niemand würde seine Schreie hören. Seine einzige Hoffnung war, dass man ihn vermisste. Ja, mittlerweile muss die Verstärkung an der Tankstelle sein. Sie werden Tom finden, und dann werden sie wissen, dass mir irgendwas passiert ist . . . Sie werden nach mir suchen, und früher oder später werden sie hier auftauchen.
Aber wie lange würde das dauern? Wie viel Zeit war bereits vergangen?
Er musste den Killer hinhalten, musste ihn dazu bringen, dass er weiterredete.
»Warum . . . warum tun Sie das?«, fragte er.
Ackerman kniff die Augen zusammen. »Warum? Das haben wir doch längst besprochen. Schon vergessen? Das Warum spielt keine Rolle. Hast du schon mal von der Zehn-zu-Neunzig- Regel gehört? Sie besagt, dass das Leben zu zehn Prozent aus dem besteht, was uns widerfährt, und zu neunzig Prozent aus unserer Reaktion darauf. Das ist das Entscheidende. Die Frage, wieso dir und deiner Familie dies und das passiert, ist unerheblich. Alle jammern ständig: ›Warum ich, warum passiert das gerade mir?‹ Die Leute glauben, es wäre das Ende der Welt, wenn ihr Vierzigtausenddollarauto nicht mehr anspringt und sie nicht zu ihrem gemütlichen Schreibtischjob kommen, der ihrer Familie den Jahresurlaub auf Hawaii sichert. Aber sie kennen die Bedeutung des Wortes ›Schmerz‹ nicht. Hör auf zu jammern, Jim. Konzentriere dich auf das, was du jetzt tun willst. Wie willst du deine Familie retten? Wie willst du mich aufhalten?«
Ackerman beugte sich näher. Jim spürte den warmen Atem des Mörders am Hals. »Ich will dich in ein kleines Geheimnis einweihen, Jim. Ich habe jemanden gesucht, mit dem sich das Spiel lohnt . . . einen würdigen Gegner. Ich möchte, dass du mich schlägst.«
Ackerman zog Jims Pistole aus dem Hosenbund und legte sie ihm auf den Schoß. »Also, das Spiel. Nennen wir es ›Zwei für einen‹. Zwei von euch sterben heute Nacht. Wer, ist mir egal. Wenn du dich zuerst umbringst, muss deine Tochter dran glauben. Wenn du gegen die Regeln verstößt oder das Spiel verweigerst, wirst du zusehen, wie ich zuerst deine Frau und dann dein Töchterchen kalt mache. Und ich werde mir Zeit dabei lassen. Sie werden um den Tod betteln. Du wirst dir wünschen, du hättest sie selbst umgebracht, um ihnen die Qualen zu ersparen.
Aber du kannst dich vielleicht selbst retten, indem du die beiden erschießt. Dann gebe ich dir die Chance auf ein Weiterleben. Na, wie wär's? Nein? Okay, dann mache ich dir einen anderen Vorschlag: Du erschießt deine Frau und anschließend dich selbst, dann überlebt deine Tochter. Ich werde hinterher die Polizei anrufen und die Kleine abholen lassen. Sie hat dann vielleicht ein paar emotionale Probleme, aber sonst wird ihr nichts geschehen. Wie wär's damit?
Doch bevor wir anfangen, musst du dir klarmachen, dass zwei Mitglieder deiner kleinen Familie hier nicht lebend rauskommen, ganz gleich, wie du dich entscheidest. Und du solltest es nicht darauf anlegen, dass ich die Sache für dich beende. Wahrscheinlich denkst du jetzt, der Schlamassel an der Tankstelle würde bald entdeckt werden und deine Kumpels von der State Police dann nach dir suchen. Tja, auch daran habe ich gedacht. Wir haben genügend Zeit, um unser kleines Spiel zu beenden. Also, fangen wir an.«
Ackerman schnitt Jims Hände los.
Jim sah seine Chance gekommen, riss die Pistole von seinem Schoß und wollte sie auf den Killer richten.
Doch Ackerman hatte nur darauf gewartet. Seine Hand zuckte vor. Er entwand Jim die Pistole und rammte ihm die Schrotflinte gegen den Nasenrücken. Dann schwenkte er die Flinte herum und zielte auf die kleine Ashley.
Jim blieb gerade noch Zeit, »Nein!« zu brüllen, als auch schon der Schuss durch das Haus donnerte.
Er wollte nicht hinsehen und kniff die Augen festzusammen, aber er wusste, dass er damit nicht das Monster fern halten konnte, das aus seinen Albträumen in die wirkliche Welt getreten war.
Als er die Augen aufschlug, wurde ihm schwindlig vor Erleichterung, denn er sah, dass der Schuss in den Boden gegangen war. Seine Tochter lebte noch.
»Spielst du jetzt richtig?«, fragte Ackerman.
Jim rannen die Tränen aus den Augen. »Ja, ja, was immer Sie wollen. Ich mache Ihr Spiel mit . . . aber tun Sie ihnen nichts.«
»Gut. Ich gebe dir noch eine Chance. Aber wenn du so was noch mal versuchst, wird mir das Spiel langweilig, und ich fange ein neues an. Und das Spiel wird dir noch viel weniger gefallen. Okay, machen wir weiter.«
Ackerman knallte ihm die Pistole wieder auf den Schoß.
Diesmal rührte Jim die Waffe nicht an. Seine Gedanken rasten. Es muss einen Ausweg geben ... Ich bin ein guter Polizist .. . Ich muss meine Familie retten . . . Mir muss etwas einfallen . . . Aber was kann ich tun? Der Irre richtet eine Schrotflinte auf meinen Kopf, und wenn ich wieder versage, sind wir alle tot . . .
In einem Winkel seines Verstandes nahm die einzige Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam, Gestalt an, doch er schob die Idee beiseite. Es war zu entsetzlich. Er konnte sich nicht überwinden, es auch nur in Betracht zu ziehen.
Dennoch tat er es.
Als er seiner Frau in die Augen blickte, wusste er, dass sie demselben Gedankengang gefolgt und zum selben Ergebnis gekommen war. Wenn nur einer von ihnen überleben durfte, musste es Ashley sein.
Emilys Augen verrieten, was sie dachte. Ich liebe dich, ich verstehe dich, und es ist okay. Seine Frau, die Liebe seines Lebens, neigte den Kopf und schloss die Augen.
Jim nahm die Pistole, hob sie mit zitternder Hand, legte den Finger auf den Abzug. Doch er konnte sich nicht überwinden, abzudrücken, und senkte die Waffe.
Wie kann ich die Frau töten, die ich liebe?
Wieder zermarterte er sich das Hirn nach einem Ausweg. Konnte er seine Tochter nur retten, indem er ihre Mutter erschoss?
Eine Idee nahm Gestalt an, doch sie war aberwitzig.
Oder doch nicht?
»Was ist denn jetzt?«, drängte Ackerman. »Ich kann nicht ewig warten.«
Jim blieb keine Wahl.
Wieder hob er die Pistole. Emily hatte deutlich gemacht, was sie empfand. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit schenkten ihm die Kraft, das zu tun, was getan werden musste.
Er zielte.
Und drückte ab.
***
Jim schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Die Pistole fiel ihm aus der Hand und polterte auf die Bodenbretter.
Ackerman bückte sich und zerschnitt das Seil um Jims Fußgelenke. »Gut gemacht. Gehen wir jetzt zu einem anderen Spiel über. Nennen wir es, ›Mach's dir leicht oder mach's dir schwer‹. Du darfst entscheiden, wie du sterben willst. Möglichkeit eins: ein Schuss aus der Schrotflinte in den Hinterkopf. Das ist schnell und schmerzlos, aber du wärst augenblicklich tot. Möglichkeit zwei ist, dass ich dich zur Hintertür fliehen lasse. Natürlich müsstest du dabei deine Tochter zurücklassen, aber das braucht dich nicht zu belasten. Wenn du bleibst, puste ich dir den Schädel weg, und deine Kleine ist trotzdem mit mir allein. Außerdem ist deine Tochter mir egal. Mit dir kann man viel schöner spielen.
Ich gebe dir einen Vorsprung, und dann komme ich und suche dich. Ich benutze nicht die Schrotflinte, sondern das Messer. Dein Tod wird weder schnell noch leicht sein, sondern so schmerzhaft, wie du es dir in deinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen kannst. Du wirst um Gnade winseln, Kumpel. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass ich dich nicht finde, oder dass du mich besiegst. Das ist die Wahl, die du jetzt treffen musst. Gib auf und mach deinem Leid ein Ende, oder klammere dich an der Hoffnung auf Rettung fest und nimm dafür die Möglichkeit eines schrecklichen Todes in Kauf. Du hast dreißig Sekunden.«
Mit einem letzten langen Blick auf sein kleines Mädchen stand Jim auf und eilte zur Hintertür. Er wollte sie nicht zurücklassen, aber er wollte auch nicht, dass sie zusah, wie er starb.
Der Irre hatte recht. Ihm blieb keine andere Wahl.
In seinem Kopf gab es nur einen Gedanken: Rache. Sein eigenes Leben war ihm egal, aber der Killer hatte ihm eine Chance gegeben, den Tod seiner Frau zu rächen, und diese Chance wollte er nutzen.
Aber dann musste er weiterleben.
Jim verließ sein Haus durch die Hintertür und rannte in die ausgebreiteten Arme des dunklen Waldes, so schnell er konnte.
***
In der Küche des einstmals so friedlichen Hauses nahm Francis Ackerman junior den Telefonhörer ab und wählte. Beim fünften Klingeln nahm am anderen Ende jemand ab.
»Hier Father Joseph. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Vergeben Sie mir, Father, denn ich habe gesündigt.«
Schweigen antwortete ihm.
»Sind Sie noch dran, Father?«
Der Mann am anderen Ende atmete langsam aus. »Ich bin hier, Francis.«
»Ich habe heute Nacht drei Menschen getötet, Father, und gleich töte ich noch einen. Einen Mann von der State Police.«
»Warum rufst du mich an? Ist das wieder eines deiner Spielchen? «
»Nein. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann. Und Sie sind der Einzige, den ich habe.« Ackerman kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen die Tränen an. »Ich bin so müde, Father.«
»In Gott dem Herrn kannst du Frieden finden, aber du musst es wollen.«
»Ich glaube nicht an Ihren Gott. Ich will weder in Ihren Himmel noch in Ihre Hölle. Ich möchte nur noch schlafen. Ich möchte Dunkelheit . . . Vergessen. Ich möchte, dass es so ist, als hätte es mich nie gegeben.«
»So geht es aber nicht. Eines Tages wirst du dich dem Urteil stellen müssen, egal ob du an Gott glaubst oder nicht. Aber noch ist es nicht zu spät, Francis. Stell dich. Ich kann dir helfen. Ich kann ...«
»Niemand kann mir helfen, Father. Für Ihre Erlösung ist es bei mir längst zu spät.«
»Für niemanden ist es je zu spät.« Nach kurzem Zögern fügte Father Joseph hinzu: »Du kannst nicht deinen Vater für das verantwortlich machen, was aus dir geworden ist.«
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»Alles okay?«, fragte Trooper Tom Delaine, Jims Partner bei der State Police. »Du ziehst ein Gesicht, als hätten sie dir in die Cornflakes gepinkelt.«
»Nein, alles bestens. Bringen wir's hinter uns. Ich gehöre längst schon ins Bett, und ich will nur noch nach Hause.«
Tom war anzumerken, dass er mit Jims Antwort nicht ganz zufrieden war, aber er nickte und ging auf die Eingangstür der Tankstelle zu. Beide Männer hatten ihre Waffen nicht gezogen, denn sie wussten von der Leitstelle, dass der Täter bereits geflohen war. Trotzdem musste ein Bericht geschrieben werden, und der Tankwart hatte darauf beharrt, dass sofort ein Gesetzeshüter vorbeikam.
Als sie das Tankstellenhäuschen mit dem üblichen Lebensmittelangebot betraten, bemerkte Jim einen seltsam vertrauten Geruch, ohne dass er hätte sagenkönnen, was es war. Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich.
Von der Tür aus ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Die Kassentheke stand parallel zur Tür vor der rückwärtigen Wand. Dahinter saß ein Mann mit dunklem Haar und durchdringenden grauen Augen. Ein schwarzes T-Shirt spannte sich über seiner Brust. Darunter zeichneten sich harte Muskeln ab. Der Mann sagte kein Wort, starrte die beiden Trooper nur ausdruckslos an.
Als ihre Blicke sich trafen, bewegte Jim instinktiv die Hand näher zur Waffe an seinem Gürtelholster.
»Schöne Nacht, was?«, sagte der Tankwart. »Die Dunkelheit ist ... wie soll ich sagen? Bedrückend, ja, das trifft's. Sie hat Gewicht.«
So ganz begriff Jim diesen Gedankengang nicht, der bedrückende Dunkelheit mit einer schönen Nacht in Beziehung setzte. Einem Menschen, in dessen Vorstellung beides zusammengehörte, sollte man mit Vorsicht begegnen. Jims Partner jedoch schien der innere Widerspruch zu entgehen. Tom zog nur die Brauen hoch und fragte: »Haben Sie den Raubüberfall gemeldet, Sir?«
»Nein«, erwiderte der Mann, »ich habe einen Mord gemeldet. «
Jim stockte der Atem. Er hielt die rechte Hand über das Pistolenholster, aber noch zog er die Waffe nicht.
»Wer wurde ermordet?«, fragte Tom.
Der Tankwart gab keine Antwort. Jim war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte zu sehen, wie ein mühsam unterdrücktes Grinsen über das Gesicht des Mannes huschte. Jim beugte sich vor und schaute zwischen zwei Regalzeilen.
Tom blickte in die gleiche Richtung.
Der entsetzliche Anblick traf sie beide wie ein Schlag ins Gesicht.
Der Tote am Ende des Gangs war nackt. Überall war Blut. Tiefe Schnittwunden entstellten den Körper, der auf schreckliche Weise verstümmelt war. Dem männlichen Opfer waren die Augen ausgestochen worden.
Blitzschnell zogen die Trooper ihre Waffen und richteten sie auf den seltsamen Mann an der Kasse. Tom trat einen Schritt vor. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann! Na los!«
Der Verdächtige machte keine Anstalten, seine Hände zu zeigen, die unter der Theke verborgen waren. Seine einzige Reaktion bestand in einem boshaften Grinsen, kalt, wie tot. Jim hatte das Gefühl, eine Fliege im Spinnennetz zu sein.
Tom ging noch einen Schritt vor, die Waffe im Anschlag, und wiederholte, was er gesagt hatte. Wieder ohne Ergebnis.
Er stand jetzt keine drei Schritte von der Theke entfernt. Jim hatte sich einen Schritt zurückgezogen. Er wollte Tom gerade zurufen, dass er dem Verdächtigen zu nahe sei, als der Mann hinter der Kasse mit ruhiger, ein wenig belustigter Stimme sagte: »Gefällt es euch? Das ist meine Version eines Mordes von Andrei Tschikatilo, dem Monster von Rostow. Schon mal von ihm gehört? Nein, eher nicht. Er war Ukrainer und hat über fünfzig Morde begangen. Nun ja, ihr beide habt von Washington und Lincoln gelernt, ich von Jack the Ripper, Albert Fish und Ed Gein, um einige meiner Gründerväter zu nennen.« Er kicherte, und sein Blick huschte zwischen den beiden Cops hin und her. »Ihr erkennt mich nicht, was?«
»Nein. Und es ist mir scheißegal, wer Sie sind«, fuhr Tom ihn an, doch seine Stimme war ein wenig zittrig. »Hände über den Kopf!«
Der Mann bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. »Ein bisschen mehr Respekt solltest du mir schon erweisen, Kumpel. Ich bin nicht ganz unbekannt. Mein Name ist Acker- man.«
Für einen Moment verschlug es Jim den Atem. Als er den Mann vorhin gesehen hatte, war er ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Jetzt wusste er, wen er vor sich hatte. Er kannte diesen Mann aus dem Fernsehen, aus einer zweistündigen Sondersendung auf einem Nachrichtenkanal. Der Name der Sendung fiel ihm nicht ein, aber es ging in Richtung Ein Experiment mit dem Wahnsinn. Woran er sich allerdings gut erinnerte, war die Beschreibung Ackermans und seiner abscheulichen Verbrechen - die Taten eines Monstrums, wie es allenfalls in der Fantasie von Horrorschriftstellern existierte, nicht aber als Person aus Fleisch und Blut.
Tom wiederholte seine Aufforderung. Diesmal sprach er leise, als wollte er den Mann zur Aufgabe bewegen und einen Kampf vermeiden. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann. Ich zähle bis drei, dann. . .«
»An deiner Stelle würde ich nichts Übereiltes tun. Wenn du nicht vorsichtig bist, reißt es meiner hübschen kleinen Geisel vielleicht das hübsche kleine Gesicht weg.«
»Geisel?«, fragte Tom verwirrt.
Ackerman lenkte seinen Blick von Tom zu Jim. »Die Tussi unter der Theke. Sie hat die Mündung einer abgesägten Schrotflinte an der Schläfe. Ein Schuss, und die Kleine sieht gar nicht mehr gut aus. Ich hab so was schon mal gesehen. Schön ist es nicht. Ah, ich weiß genau, was ihr jetzt denkt. Ihr glaubt, ich bluffe.« Er wandte sich wieder Tom zu. »Und du denkst, dass du mir eine Kugel zwischen die Augen jagen kannst, ehe ich abdrücken kann. Wenn du dich da mal nicht irrst, Kumpel. Mein Finger liegt am Abzug. Sobald deine Kugel trifft, verkrampfen sich meine Muskeln, und dann spritzt das Hirn von der Süßen unter der Theke hervor. Tja, Leute, wie's aussieht, haben wir hier eine klassische Pattsituation.«
Ackerman lachte auf und fuhr in überheblichem Tonfall fort: »Ist das nicht komisch? Ihr habt diesen Tag begonnen wie jeden anderen. Ihr habt eine Tasse Kaffee getrunken, ein bisschen in der Zeitung gelesen und euren Lieben ein Küsschen zum Abschied gegeben. Aber ihr hattet keinen Schimmer, dass heute der wichtigste Tag eures Lebens sein wird. Ja, dies ist der Tag, an dem alles auf dem Spiel steht, was ihr je gesagt oder getan habt. Alles, woran ihr glaubt und wofür ihr eingetreten seid. Irgendwann geraten wir alle an einen Punkt, an dem wir uns entscheiden müssen, ob wir der Held sein wollen oder ein Schaf bleiben. Dieser Augenblick ist jetzt für euch gekommen, Freunde.
Ich stelle euch vor die Wahl. Ihr könnt verschwinden und lebt weiter. Vielleicht habe ich eine Geisel unter der Theke, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bringe ich sie um, sobald ihr zur Tür raus seid, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht könnt ihr mich fassen und werdet berühmt. Vielleicht müsst ihr bei dem Versuch dran glauben. Sicher wissen könnt ihr es nicht. Aber was können wir schon sicher wissen? Das ist ja das Schöne, oder? Hinter dem ganzen Scheiß steckt keine Bedeutung. Das Gute muss nicht unbedingt über das Böse triumphieren. Es gibt nur Zufall und Tod. Ihr seid die Pechvögel, die heute im Einsatz sind. Der blutige Klumpen, der da hinten am Ende vom Gang liegt, war der Pechvogel, der heute in dieser Tankstelle gearbeitet hat. Wir Menschen halten uns für die Krone der Schöpfung, für besser und klüger als alle anderen Kreaturen, aber soll ich euch mal was sagen?«
Ackerman blickte die beiden Cops an, als wäre er ein hungriges Raubtier und sie seine Mahlzeit. Er senkte die Stimme. »Am Ende ist es egal, mit wie viel Größenwahn wir uns blenden. Wir sind Jäger oder Gejagte, Raubtier oder Beute. Der Sieger überlebt, der Verlierer verwest. Unser Schicksal wird allein von unseren Entscheidungen bestimmt. Also, entschließt euch.«
Jim stand regungslos da, wie gebannt von dem Verrückten hinter der Kasse. Ackerman hatte seine wirre Ansprache voller Leidenschaft gehalten, wie ein Politiker, der ein hehres Ziel vertritt und mit seiner Rede die Menge aufrütteln will. Noch nie hatte Jim erlebt, wie ein Mann, auf den zwei Pistolen gerichtet waren, so ruhig blieb. Ackerman zeigte nicht die geringste Angst. Angst schien ihm so fremd zu sein wie einem Neandertaler ein Flugzeug. Vor allem schien er überzeugt zu sein, die Lage fest im Griff zu haben.
Jim fühlte sich mit einem Mal wehrlos, obwohl er eine Waffe in der Hand hielt.
»Sie bluffen doch nur! Sie haben keine Geisel!« Toms Stimme klang schrill und zittrig. »Sonst würde draußen ein Wagen stehen. Und jetzt heben Sie die Hände, Mann, damit ich sie sehen kann, oder ich jage Ihnen eine Kugel zwischen die Augen!«
Jim fand Toms Worte nicht überzeugend. Der Irre schien es ähnlich zu sehen. Ackerman hatte seinen Wagen vermutlich hinter dem Gebäude abgestellt, damit es so aussah, als wäre er der Tankwart. Wenn er hier wirklich eine Frau als Geisel hielt, hätte er auch ihren Wagen hinter die Tankstelle gefahren.
Jim wusste nicht, ob Tom diese Möglichkeiten übersah oder ob er nur verzweifelt versuchte, die Pattsituation zu beenden. Aber was Tom auch plante, es konnte nicht gut gehen. Acker- man würde niemals zulassen, dass diese Sache unblutig zu Ende ging. Tom konnte es in den Augen des Killers lesen.
Ackerman seufzte und blickte zur Theke. »Tja, mein Schatz«, sagteermit erhobener Stimme, »offenbarglauben die beiden nicht an dich. Schrei doch mal, damit sie wissen, dass es dich gibt.«
Bei Ackermans letztem Wort zerbarst die Vorderseite der Theke. Holzsplitter flogen in alle Richtungen. Die Schrotladung traf Tom in die linke Seite. Blut spritzte Jim ins Gesicht, während Tom von dem Treffer zu Boden geschleudert wurde.
Jim warf sich in den nächsten Gang. Einen Sekundenbruchteil später schlug eine zweite Ladung Schrot in das Regal ein, vor dem er eben noch gestanden hatte. Brennende Dorito- Chips wirbelten durch die Luft.
Jim richtete sich auf und feuerte zwei Schüsse rasch hintereinander um die Ecke. Er sah, wie seine Kugeln in die Theke einschlugen, als auch schon die Schrotflinte antwortete. Wieder warf er sich in Deckung.
Tom schrie vor Schmerz. Er musste beim Sturz seine Waffe verloren haben und war offenbar halb besinnungslos, denn er machte keine Anstalten, in Deckung zu kriechen. Jim wusste, dass sein Partner keine Überlebenschance hatte, wenn er nicht sofort Hilfe herbeirief.
Mit raschen Bewegungen löste er sein Funkgerät vom Gürtel. »Trooper verletzt . . . benötigen Rettungswagen«, meldete er mit abgehackter Stimme. Seinen Namen und seine Position brauchte er nicht zu nennen. Das Funkgerät übertrug einen individuellen Code an die Zentrale, während das GPS im Streifenwagen anderen Einheiten seinen Standort mitteilte.
Wenn er jetzt nicht handelte, waren er und Tom tot, sobald die Verstärkung eintraf.
Jim versuchte sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder zu seiner Frau und seiner Tochter. Sehe ich sie wieder? Werde ich erleben, wie Ashley aufwächst? Er dachte daran, wie er ihr die goldenen Locken streichelte und sie auf die Stirn küsste, wie ihre Augen vor Bewunderung strahlten, wenn er sie auf seinen Schoß setzte und ihr vorlas, wie Emily, seine Frau, ihn jeden Morgen zum Abschied küsste und ihm sagte, er solle auf sich aufpassen. Er dachte an das wundervolle Gefühl, sie in den Armen zu halten und ihr mit den Fingern durch das schwarze Haar zu fahren. Er schwor sich, sie wiederzusehen, doch eine boshafte Stimme in seinem Kopf flüsterte: Du belügst dich selbst.
Das Gemisch aus Pulvergestank und dem Geruch der parfümierten Reinigungsmittel stieg Jim in die Nase, und ihm wurde schwindlig. Entweder lag es am Geruch oder an dem Aufruhr, der in seinem Innern tobte und kaum einen klaren Gedanken zuließ.
Was soll ich als Nächstes tun?
Jim wusste, dass er es nicht überleben würde, wenn er Acker- man frontal attackierte. Gegen die Schrotflinte kam er nicht an. Am besten, er schlich sich im Schutz der Regale an - dann konnte er den Irren vielleicht überraschen. Und je größer die Entfernung, desto größer der Vorteil, den ihm seine 9-mm-Pistole gegenüber der weniger zielgenauen Schrotflinte verschaffte.
So leise er konnte, bewegte er sich den Gang entlang in Richtung Tür. Als er das Ende des Gangs erreichte, spähte er um die Ecke.
Alles frei.
Er huschte zum nächsten Gangende.
So weit, so gut.
In der kleinen Tankstelle gab es nur vier Regalreihen mit Lebensmitteln. Wenn er es zum nächsten Ende des Gangs schaffte, ohne dass Ackerman ihn sah, hatte er freie Sicht auf das Versteck seines Gegners.
Jim warf einen raschen Blick in den Gang und wollte gerade zum nächsten Regalende huschen, als er ein merkwürdiges Geräusch aus dem vorderen Teil des Tankstellenhäuschens hörte. Erbrauchte einen Augenblick, bis er wusste, was es war: ein leises Plätschern. Jemand drückte irgendeine Flüssigkeit aus einer Quetschflasche. Als er dem Geräusch folgte, wurde Toms Gebrüll noch lauter, und Jim hörte einen erstickten Hilfeschrei.
»Dein Kumpel hat einen schlechten Tag, Officer. Er will bleiben und kämpfen, aber ich nehme an, dass ich ihm keine große Wahl gelassen habe. Deshalb mache ich dir ein Angebot. Dein Partner hatte recht, ich hatte keine Geisel. Aber jetzt habe ich eine. Ihn. Er wird hier nicht mehr lebend rauskommen. Aber dich lass ich laufen. Du darfst in deinen Wagen steigen und alles hinter dir lassen, als wäre es nur ein Albtraum gewesen. Klar, vielleicht könntest du mich stoppen und deinen Kumpel retten, aber seien wir doch ehrlich: Ich beherrsche dieses Spiel besser als du. Wenn du bleibst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihr beide ins Gras beißt. Du hast die Wahl.«
Jim biss die Zähne zusammen. Ackerman wusste vermutlich, wo er war. Er hatte wahrscheinlich keine Chance, dem Verrückten in den Rücken zu fallen. Ackerman hatte recht: In einer solchen Lage war er, Jim, noch nie gewesen. Eigentlich hatte er noch nie eine richtige Gefahrensituation erlebt, abgesehen von ein paar Verkehrskontrollen, bei denen es ein bisschen ruppiger zuging, und einer Geiselnahme in einem Imbiss. Aber ein Schusswechsel mit einem irren Killer war ein ganz anderes Kaliber. Sein Gegner hatte zahllose Opfer auf dem Gewissen, darunter etliche Polizisten. Außerdem war Acker- man besser bewaffnet und der Lage viel besser gewachsen.
Dennoch, Jim würde seinen Partner niemals im Stich lassen.
Tom Delaine war ein Hitzkopf, aber er war seit neun Jahren Jims bester Freund. Er war an dem Tag dabei gewesen, als Jims Tochter geboren wurde, hatte Zigarren herumgereicht und gegrinst wie ein stolzer Onkel. Und an dem Tag, als Jims Vater beerdigt wurde, war Tom der Einzige gewesen, der ihm Trost hatte spenden können. In jedem schwierigen Moment seines Lebens war Tom für ihn da gewesen und hatte nie eine Gegenleistung verlangt.
»Kommen Sie hierher, wo ich Sie sehen kann«, rief Jim, »dann gebe ich Ihnen meine Antwort.« Dieses Mal zitterte seine Stimme nicht.
»Na gut. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. «
Jim gab keine Antwort. Er war bereits in Bewegung und huschte den mittleren Gang entlang, hielt sich geduckt und versuchte, Ackermans Position anhand der Stimme auszumachen. Wenn seine Instinkte nicht trogen, erwartete der Killer ihn am Ende des dritten Regals.
Als er das Gangende erreichte, blickte er vorsichtig um die Ecke, sah den Killer aber nicht. Tom lag nur ein paar Fuß entfernt.
Jim schob sich behutsam weiter aus dem Gang. Immer noch keine Spur von Ackerman. Er wollte gerade nach Tom greifen, als er hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde. In diesem Sekundenbruchteil fiel sein Blick auf die Spur aus Flüssigkeit, die von der Theke aus bis zu Tom verlief.
Feuerzeugbenzin.
Das Geräusch von vorhin! Ackerman hatte Feuerzeugbenzin auf den Boden gespritzt.
Ehe Jim reagieren konnte, griff eine Hand um die Theke herum und ließ ein brennendes Streichholz in die Lache fallen.
Das Benzin entzündete sich mit einem blauen Blitz, der sich ausbreitete und zu Rot und Gelb umschlug. Binnen eines Sekundenbruchteils schoss das Feuer zu Tom und hüllte ihn in Flammen.
Toms schrille Schreie gellten durch das Tankhäuschen, hallten von den Wänden und Glasscheiben wider. Die Echos überlagerten einander und klangen wie ein Chor der Verdammten.
In diesem Moment verlor Jim die Kontrolle und handelte aus reinem Instinkt. Er ließ die Pistole fallen, riss sich die Uniformjacke herunter und schlug auf die Flammen ein in dem verzweifelten Versuch, seinen Freund zu retten. Doch nach ein paar Schlägen züngelten auch an der Jacke rote und gelbe Flämmchen. Hilflos ließ Jim sie neben seinem sterbenden Partner auf das Linoleum fallen.
Nach einer Ewigkeit, wie es schien, verstummten Toms Schreie, und er hörte auf, um sich zu schlagen. Nur die Flammen blieben. Der Gestank nach verbranntem Fleisch hing in der Luft, während Jim in einen Strudel aus Entsetzen, Trauer und Wut gezogen wurde. Er kniete vor Tom, weinte um seinen Freund ...
. . . und wusste, dass er als Nächster an die Reihe kam. Denn mit einem Mal spürte er, dass der Mann mit der Schrotflinte hinter ihm im Gang stand. Ackerman hatte Toms schreckliches Ende als Ablenkung benutzt, und sein Plan war aufgegangen.
Jims Stimme zitterte, und Tränen liefen ihm über die Wangen, als er über die Schulter fragte: »Warum haben Sie das getan? Sie haben uns gerufen, bloß damit Sie uns umbringen können? Warum?«
»Warum?«, erwiderte Ackerman.»Das ist die ewige Frage, nicht wahr? Vom Anbeginn menschlicher Existenz haben wir wie besessen nach der Antwort auf eine einzige Frage gesucht: Warum? Nun, ich fürchte, dass ich keine richtige Antwort habe - außer der, dass ich nun mal so bin, wie ich bin. Es gibt Menschen, die großartige Kunstwerke schaffen. Andere sind Ärzte oder Anwälte, Lehrer oder Handwerker. Ich bin ein Raubtier, ein Mörder. Das Leben ist ein Spiel, und ich spiele gern. Aber mein Spiel mit dir, Kumpel, ist noch nicht zu Ende. Gib mir deine Brieftasche.«
»Meine Brieftasche?«
Ein Tritt gegen den Hinterkopf beantwortete Jims Frage.
»Deine Brieftasche. Sofort. Bitte.«
Jim reichte sie ihm. Der Killer ging den Inhalt durch und verweilte beim Führerschein und bei einem abgegriffenen Foto. »Du hast 'ne nette Familie, Jim Morgan. Ich würde sie gerne näher kennenlernen.«
»Sie verdammter Mistkerl!«, brüllte Jim und stürzte sich auf den Mörder seines besten Freundes.
Ackerman schlug ihn mit der Schrotflinte zu Boden. Dann prügelte er auf ihn ein, bis Jim das Blut übers Gesicht lief. Jim spürte, wie bei jedem Hieb die Haut aufriss, konnte sich aber nicht schützen.
Endlich hörten die Schläge auf. Ackerman zielte wieder mit der Schrotflinte auf ihn. »Eigentlich wollte ich noch ein bisschen mit dir spielen, ehe ich dich zur Hölle schicke, aber ich glaube, ich habe eine bessere Idee.«
Er ging hinter die Theke und holte eine Flasche und ein Tuch hervor, ohne den Blick von seinem Opfer zu nehmen.
Jim wand sich in Schmerzen am Boden und beobachtete, wie Ackerman aus der Flasche etwas auf den Lappen goss. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und seine Sicht verschwamm. Er schmeckte Blut und roch den beißenden Qualm von Toms verbrannter Leiche. Sein Gehirn konnte den Ansturm der Informationen nicht verarbeiten, den seine Sinne wie im Fieberrausch lieferten, und sein Verstand drohte zu ersticken.
Ackerman kniete sich hin und drückte ihm das Tuch auf den Mund. Jim versuchte sich zu wehren, jedoch vergebens. Nach nur einem Augenblick wirkte das Betäubungsmittel, und Dunkelheit umfing ihn.
***
Jim erwachte. Aus brennenden Augen betrachtete er seine Umgebung. Allmählich schwand seine Benommenheit.
Er konnte es nicht fassen.
Er war zu Hause, im Wohnzimmer.
Im ersten Moment glaubte er mit einem Anflug unendlicher Erleichterung, das Martyrium in der Tankstelle sei nur ein Albtraum gewesen.
Doch als er seine Frau und seine Tochter sah, verflüchtigte sich jede Hoffnung wie warmer Atem an einem Wintertag.
Emily und Ashley saßen am anderen Ende des Wohnzimmers auf zwei Esszimmerstühlen und schauten ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Die Stühle standen wie bei einem Gesprächskreis nebeneinander. Beide waren gefesselt, ihre Münder mit Klebeband geschlossen. Ihr zerzaustes Haar war verfilzt und klebte auf Stirn und Wangen, die nass waren von Tränen und Schweiß.
»Ashley . . .« Jim wollte zu ihr, doch er war selbst gefesselt, wie er erst jetzt bemerkte. Verzweifelt bäumte er sich in den Stricken auf.
Er schaute seine Frau an. Das rabenschwarze Haar hing ihr ins Gesicht. Angst verzerrte ihre Züge. Ihr heller Teint, ein Erbe aus der seltenen Kombination einer irisch-amerikanischen Großmutter und einem japanischen Großvater, war rot angelaufen. Jim liebte ihren milchigen Teint, der ihn an feines Porzellan erinnerte. Und auch wenn er nie die richtigen Worte gefunden hatte, es Emily zu sagen, war er der glücklichste Mann auf Erden, weil er sie zur Frau hatte.
Jim rannen Tränen über die Wangen. Es brach ihm schier das Herz, seine Frau und seine kleine Tochter so hilflos und verängstigt zu sehen. Während er vor Wut zitterte, suchte Emily seine Aufmerksamkeit und bedeutete ihm mit einer Bewegung ihrer Augen, nach rechts zu schauen.
Jim folgte ihrem Blick.
Und schaute in die kalten grauen Augen eines Monstrums.
Die abgesägte Schrotflinte in der Hand, stand Ackerman auf und kam zu ihm. »Wurde auch Zeit, dass du aufwachst«, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir hatten hier schon eine irre Pyjama-Party, Dad, aber jetzt kann der Spaß richtig losgehen.«
Ackerman trat hinter ihn und beugte sich nahe an sein Ohr. »Du hast eine richtig nette Familie, Jim. Du hast dir ein schönes Leben aufgebaut. Hübsches Haus, das süßeste kleine Mädchen, das ich je gesehen habe, und deine Frau . . . geil, absolut geil. Das meine ich nicht vulgär oder geschmacklos, Jim. Ich will damit nur sagen, dass sie umwerfend ist . . . das dunkle Haar und die helle Haut. Sie erinnert mich an die Filmstars aus den Dreißigern und Vierzigern, weißt du. Als die Welt noch schwarz-weiß war. Jedenfalls . . . ich will damit sagen, dass du ein sehr glückliches kleines Arschloch sein musst. Das bist du doch, oder?«
Jim biss die Zähne aufeinander und schüttelte sich vor Wut, gab aber keinen Laut von sich. Er wollte den Irren nicht reizen und in seinen perversen Fantasien befeuern. Deshalb saß er nur da und betete, dass seine Frau und seine Tochter lebend davonkamen. Was aus ihm selbst wurde, war ihm egal. Wenn er sterben musste, um sie zu retten, würde er diesen Weg gehen, aber er flehte Gott an, Emily und Ashley zu verschonen.
»Wie denkst du über den Tod, Jim? Glaubst du, dass unser Leben vor unseren Augen vorbeizieht, wenn wir sterben? Dass wir im letzten Moment unserer irdischen Existenz alles noch einmal erleben? Glaubst du an diese Geschichte mit dem Licht am Ende des Tunnels? Nein? Und was ist mit den spirituellen Aspekten? Glaubst, dass deine kleine Familie in den Himmel kommt, nachdem ich sie getötet habe?«
Jim konnte seine Wut nicht mehr bezwingen. Keinen Augenblick länger wollte er sich die Gedanken dieses wahnsinnigen Schlächters anhören. Er stemmte sich gegen die Fesseln und brüllte aus vollem Halse, schrie seinen Hass und seine Qual heraus. Er konnte die Empfindungen, die in ihm brannten wie das Feuer der Hölle, nicht in Worte fassen. Sein Schrei war älter als alle Wörter, primitiver, urtümlicher.
Irgendwann verstummte er und lag keuchend da, voll brodelndem Hass und hilfloser Wut. Bei jedem Atemzug blähten sich seine Nasenflügel.
Ackerman klopfte ihm auf die Schulter. »Schon okay, Jim. Ich verstehe deinen Schmerz. Ich verstehe ihn gut, glaub mir.«
Jim fühlte sich geschlagen und hilflos, aber er musste stark sein, musste nachdenken. Doch er sah keinen Fluchtweg, keine Aussicht auf Rettung. Sie wohnten im Wald, niemand würde seine Schreie hören. Seine einzige Hoffnung war, dass man ihn vermisste. Ja, mittlerweile muss die Verstärkung an der Tankstelle sein. Sie werden Tom finden, und dann werden sie wissen, dass mir irgendwas passiert ist . . . Sie werden nach mir suchen, und früher oder später werden sie hier auftauchen.
Aber wie lange würde das dauern? Wie viel Zeit war bereits vergangen?
Er musste den Killer hinhalten, musste ihn dazu bringen, dass er weiterredete.
»Warum . . . warum tun Sie das?«, fragte er.
Ackerman kniff die Augen zusammen. »Warum? Das haben wir doch längst besprochen. Schon vergessen? Das Warum spielt keine Rolle. Hast du schon mal von der Zehn-zu-Neunzig- Regel gehört? Sie besagt, dass das Leben zu zehn Prozent aus dem besteht, was uns widerfährt, und zu neunzig Prozent aus unserer Reaktion darauf. Das ist das Entscheidende. Die Frage, wieso dir und deiner Familie dies und das passiert, ist unerheblich. Alle jammern ständig: ›Warum ich, warum passiert das gerade mir?‹ Die Leute glauben, es wäre das Ende der Welt, wenn ihr Vierzigtausenddollarauto nicht mehr anspringt und sie nicht zu ihrem gemütlichen Schreibtischjob kommen, der ihrer Familie den Jahresurlaub auf Hawaii sichert. Aber sie kennen die Bedeutung des Wortes ›Schmerz‹ nicht. Hör auf zu jammern, Jim. Konzentriere dich auf das, was du jetzt tun willst. Wie willst du deine Familie retten? Wie willst du mich aufhalten?«
Ackerman beugte sich näher. Jim spürte den warmen Atem des Mörders am Hals. »Ich will dich in ein kleines Geheimnis einweihen, Jim. Ich habe jemanden gesucht, mit dem sich das Spiel lohnt . . . einen würdigen Gegner. Ich möchte, dass du mich schlägst.«
Ackerman zog Jims Pistole aus dem Hosenbund und legte sie ihm auf den Schoß. »Also, das Spiel. Nennen wir es ›Zwei für einen‹. Zwei von euch sterben heute Nacht. Wer, ist mir egal. Wenn du dich zuerst umbringst, muss deine Tochter dran glauben. Wenn du gegen die Regeln verstößt oder das Spiel verweigerst, wirst du zusehen, wie ich zuerst deine Frau und dann dein Töchterchen kalt mache. Und ich werde mir Zeit dabei lassen. Sie werden um den Tod betteln. Du wirst dir wünschen, du hättest sie selbst umgebracht, um ihnen die Qualen zu ersparen.
Aber du kannst dich vielleicht selbst retten, indem du die beiden erschießt. Dann gebe ich dir die Chance auf ein Weiterleben. Na, wie wär's? Nein? Okay, dann mache ich dir einen anderen Vorschlag: Du erschießt deine Frau und anschließend dich selbst, dann überlebt deine Tochter. Ich werde hinterher die Polizei anrufen und die Kleine abholen lassen. Sie hat dann vielleicht ein paar emotionale Probleme, aber sonst wird ihr nichts geschehen. Wie wär's damit?
Doch bevor wir anfangen, musst du dir klarmachen, dass zwei Mitglieder deiner kleinen Familie hier nicht lebend rauskommen, ganz gleich, wie du dich entscheidest. Und du solltest es nicht darauf anlegen, dass ich die Sache für dich beende. Wahrscheinlich denkst du jetzt, der Schlamassel an der Tankstelle würde bald entdeckt werden und deine Kumpels von der State Police dann nach dir suchen. Tja, auch daran habe ich gedacht. Wir haben genügend Zeit, um unser kleines Spiel zu beenden. Also, fangen wir an.«
Ackerman schnitt Jims Hände los.
Jim sah seine Chance gekommen, riss die Pistole von seinem Schoß und wollte sie auf den Killer richten.
Doch Ackerman hatte nur darauf gewartet. Seine Hand zuckte vor. Er entwand Jim die Pistole und rammte ihm die Schrotflinte gegen den Nasenrücken. Dann schwenkte er die Flinte herum und zielte auf die kleine Ashley.
Jim blieb gerade noch Zeit, »Nein!« zu brüllen, als auch schon der Schuss durch das Haus donnerte.
Er wollte nicht hinsehen und kniff die Augen festzusammen, aber er wusste, dass er damit nicht das Monster fern halten konnte, das aus seinen Albträumen in die wirkliche Welt getreten war.
Als er die Augen aufschlug, wurde ihm schwindlig vor Erleichterung, denn er sah, dass der Schuss in den Boden gegangen war. Seine Tochter lebte noch.
»Spielst du jetzt richtig?«, fragte Ackerman.
Jim rannen die Tränen aus den Augen. »Ja, ja, was immer Sie wollen. Ich mache Ihr Spiel mit . . . aber tun Sie ihnen nichts.«
»Gut. Ich gebe dir noch eine Chance. Aber wenn du so was noch mal versuchst, wird mir das Spiel langweilig, und ich fange ein neues an. Und das Spiel wird dir noch viel weniger gefallen. Okay, machen wir weiter.«
Ackerman knallte ihm die Pistole wieder auf den Schoß.
Diesmal rührte Jim die Waffe nicht an. Seine Gedanken rasten. Es muss einen Ausweg geben ... Ich bin ein guter Polizist .. . Ich muss meine Familie retten . . . Mir muss etwas einfallen . . . Aber was kann ich tun? Der Irre richtet eine Schrotflinte auf meinen Kopf, und wenn ich wieder versage, sind wir alle tot . . .
In einem Winkel seines Verstandes nahm die einzige Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam, Gestalt an, doch er schob die Idee beiseite. Es war zu entsetzlich. Er konnte sich nicht überwinden, es auch nur in Betracht zu ziehen.
Dennoch tat er es.
Als er seiner Frau in die Augen blickte, wusste er, dass sie demselben Gedankengang gefolgt und zum selben Ergebnis gekommen war. Wenn nur einer von ihnen überleben durfte, musste es Ashley sein.
Emilys Augen verrieten, was sie dachte. Ich liebe dich, ich verstehe dich, und es ist okay. Seine Frau, die Liebe seines Lebens, neigte den Kopf und schloss die Augen.
Jim nahm die Pistole, hob sie mit zitternder Hand, legte den Finger auf den Abzug. Doch er konnte sich nicht überwinden, abzudrücken, und senkte die Waffe.
Wie kann ich die Frau töten, die ich liebe?
Wieder zermarterte er sich das Hirn nach einem Ausweg. Konnte er seine Tochter nur retten, indem er ihre Mutter erschoss?
Eine Idee nahm Gestalt an, doch sie war aberwitzig.
Oder doch nicht?
»Was ist denn jetzt?«, drängte Ackerman. »Ich kann nicht ewig warten.«
Jim blieb keine Wahl.
Wieder hob er die Pistole. Emily hatte deutlich gemacht, was sie empfand. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit schenkten ihm die Kraft, das zu tun, was getan werden musste.
Er zielte.
Und drückte ab.
***
Jim schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Die Pistole fiel ihm aus der Hand und polterte auf die Bodenbretter.
Ackerman bückte sich und zerschnitt das Seil um Jims Fußgelenke. »Gut gemacht. Gehen wir jetzt zu einem anderen Spiel über. Nennen wir es, ›Mach's dir leicht oder mach's dir schwer‹. Du darfst entscheiden, wie du sterben willst. Möglichkeit eins: ein Schuss aus der Schrotflinte in den Hinterkopf. Das ist schnell und schmerzlos, aber du wärst augenblicklich tot. Möglichkeit zwei ist, dass ich dich zur Hintertür fliehen lasse. Natürlich müsstest du dabei deine Tochter zurücklassen, aber das braucht dich nicht zu belasten. Wenn du bleibst, puste ich dir den Schädel weg, und deine Kleine ist trotzdem mit mir allein. Außerdem ist deine Tochter mir egal. Mit dir kann man viel schöner spielen.
Ich gebe dir einen Vorsprung, und dann komme ich und suche dich. Ich benutze nicht die Schrotflinte, sondern das Messer. Dein Tod wird weder schnell noch leicht sein, sondern so schmerzhaft, wie du es dir in deinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen kannst. Du wirst um Gnade winseln, Kumpel. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass ich dich nicht finde, oder dass du mich besiegst. Das ist die Wahl, die du jetzt treffen musst. Gib auf und mach deinem Leid ein Ende, oder klammere dich an der Hoffnung auf Rettung fest und nimm dafür die Möglichkeit eines schrecklichen Todes in Kauf. Du hast dreißig Sekunden.«
Mit einem letzten langen Blick auf sein kleines Mädchen stand Jim auf und eilte zur Hintertür. Er wollte sie nicht zurücklassen, aber er wollte auch nicht, dass sie zusah, wie er starb.
Der Irre hatte recht. Ihm blieb keine andere Wahl.
In seinem Kopf gab es nur einen Gedanken: Rache. Sein eigenes Leben war ihm egal, aber der Killer hatte ihm eine Chance gegeben, den Tod seiner Frau zu rächen, und diese Chance wollte er nutzen.
Aber dann musste er weiterleben.
Jim verließ sein Haus durch die Hintertür und rannte in die ausgebreiteten Arme des dunklen Waldes, so schnell er konnte.
***
In der Küche des einstmals so friedlichen Hauses nahm Francis Ackerman junior den Telefonhörer ab und wählte. Beim fünften Klingeln nahm am anderen Ende jemand ab.
»Hier Father Joseph. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Vergeben Sie mir, Father, denn ich habe gesündigt.«
Schweigen antwortete ihm.
»Sind Sie noch dran, Father?«
Der Mann am anderen Ende atmete langsam aus. »Ich bin hier, Francis.«
»Ich habe heute Nacht drei Menschen getötet, Father, und gleich töte ich noch einen. Einen Mann von der State Police.«
»Warum rufst du mich an? Ist das wieder eines deiner Spielchen? «
»Nein. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann. Und Sie sind der Einzige, den ich habe.« Ackerman kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen die Tränen an. »Ich bin so müde, Father.«
»In Gott dem Herrn kannst du Frieden finden, aber du musst es wollen.«
»Ich glaube nicht an Ihren Gott. Ich will weder in Ihren Himmel noch in Ihre Hölle. Ich möchte nur noch schlafen. Ich möchte Dunkelheit . . . Vergessen. Ich möchte, dass es so ist, als hätte es mich nie gegeben.«
»So geht es aber nicht. Eines Tages wirst du dich dem Urteil stellen müssen, egal ob du an Gott glaubst oder nicht. Aber noch ist es nicht zu spät, Francis. Stell dich. Ich kann dir helfen. Ich kann ...«
»Niemand kann mir helfen, Father. Für Ihre Erlösung ist es bei mir längst zu spät.«
»Für niemanden ist es je zu spät.« Nach kurzem Zögern fügte Father Joseph hinzu: »Du kannst nicht deinen Vater für das verantwortlich machen, was aus dir geworden ist.«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ethan Cross
- 2013, 18. Aufl., Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. amerikan. Engl. v. Dietmar Schmidt
- Übersetzer: Dietmar Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404169239
- ISBN-13: 9783404169238
- Erscheinungsdatum: 20.12.2013
Rezension zu „Ich bin die Nacht / Francis Ackerman junior Bd.1 “
"Dieses Buch von Ethan Cross hat das, was ein gutes Buch braucht: Man will es nicht mehr aus der Hand legen. Es ist spannend, blutig und verpasst einem regelmäßig eine Gänsehaut." Lara Kühn, Heilbronner Stimme, 11.08.2016 "Ein schwarzer Thriller, der gekonnt mit dem Bösen spielt." Schweriner Volkszeitung "Spannend und subtil, ein typisch amerikanischer Thriller mit doppeltem Boden, der den Leser immer wieder auf die falsche Fährte lockt und am Ende in einem großen Showdown endet." Waldeckische Landeszeitung
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