Ich folge deinem Schatten
Thriller. Taschenbucherstausgabe
Zwei Jahre ist es nun her, dass Zan Morelands kleiner Sohn entführt wurde. Noch immer ist er verschwunden. An seinem 5. Geburtstag tauchen Fotos auf, die am Entführungstag geschossen wurden und die zeigen Verblüffendes!
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Taschenbuch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ich folge deinem Schatten “
Zwei Jahre ist es nun her, dass Zan Morelands kleiner Sohn entführt wurde. Noch immer ist er verschwunden. An seinem 5. Geburtstag tauchen Fotos auf, die am Entführungstag geschossen wurden und die zeigen Verblüffendes!
Klappentext zu „Ich folge deinem Schatten “
Spurlos verschwand ihr KindZwei Jahre ist es her, dass für Zan Moreland ein Albtraum begann: Am helllichten Tag wurde ihr kleiner Sohn Matthew im Central Park entführt. Die polizeilichen Ermittlungen und ihre eigene verzweifelte Suche blieben ohne Ergebnis. Doch ausgerechnet an Matthews fünftem Geburtstag tauchen Fotos auf, die damals im Park geschossen wurden. Sie zeigen im Hintergrund die Frau, die Matthew aus dem Kinderwagen stiehlt. Es scheint Zan selbst zu sein. Oder treibt jemand ein unmenschliches Spiel mit ihr?
Lese-Probe zu „Ich folge deinem Schatten “
Ich folge deinem Schatten von Mary Higgins ClarkAus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet
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1
Pater Aiden O'Brien nahm in der Unterkirche des Gotteshauses des heiligen Franziskus von Assisi an der West Thirty-first Street in Manhattan die Beichte ab. Der achtundsiebzigjährige Franziskanermönch hatte nichts gegen die Neuregelung, derzufolge das Beichtkind nicht mehr, vom Priester durch ein Gitter getrennt, auf der harten Holzbank des Beichtstuhls knien musste, sondern ihm an einem Tisch im Versöhnungsraum von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß.
Zweifel beschlichen ihn nur dann, wenn er das Gefühl hatte, der Büßer könnte sich davon abhalten lassen, all das zu sagen, was er möglicherweise in der anonymen Dunkelheit des Beichtstuhls offenbart hätte.
Genau dieses Gefühl hatte er an diesem kühlen, windigen Märznachmittag.
In der ersten Stunde waren nur zwei Frauen erschienen, zwei treue Gemeindemitglieder, beide Mitte achtzig, deren Sünden, sollten sie jemals welche begangen haben, lange zurücklagen. Heute hatte eine von ihnen gebeichtet, im Alter von acht Jahren ihre Mutter angelogen zu haben. Sie hatte zwei Kuchenstücke gegessen und ihrem Bruder die Schuld an dem fehlenden zweiten Stück gegeben.
Pater Aiden betete den Rosenkranz. Es war bald an der Zeit, den Raum zu verlassen, doch plötzlich ging die Tür auf, und eine schlanke Frau Anfang dreißig trat ein. Langsam ging sie zum Stuhl ihm gegenüber und ließ sich zögernd darauf nieder. Ihr kastanienbraunes Haar fiel ihr offen über die Schultern, das mit einem Pelzkragen besetzte Kostüm dürfte sehr teuer gewesen sein, genau wie ihre hochhackigen Lederstiefel. An Schmuck trug sie lediglich silberne Ohrringe.
Mit ernster Miene wartete Pater Aiden. Da die junge Frau beharrlich schwieg, sagte er ermutigend: »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.« Sie sprach leise, in einem angenehmen Tonfall ohne jeglichen Dialekt.
»Es gibt nichts, was Sie mir sagen könnten, das ich nicht schon einmal gehört hätte«, sagte Pater Aiden mit sanfter Stimme.
»Ich ... « Die Frau hielt kurz inne, aber dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. »Ich weiß, dass jemand einen Mord plant, und ich kann nichts dagegen tun.«
Mit schreckgeweiteten Augen sah sie ihn an, schlug die Hand vor den Mund und erhob sich abrupt. »Ich hätte nie hierherkommen sollen«, flüsterte sie und fügte mit zitternder Stimme hinzu: »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich bekenne, an einem Verbrechen und an einem Mord mitzuwirken, der sehr bald geschehen wird. Wahrscheinlich werden Sie davon in der Zeitung lesen. Ich will das alles nicht, aber es ist zu spät, um daran noch etwas zu ändern.«
Sie drehte sich um, und nach fünf Schritten war sie an der Tür.
»Warten Sie«, rief Pater Aiden und mühte sich von seinem Stuhl hoch. »Reden Sie mit mir. Ich kann Ihnen helfen.«
Aber sie war fort.
War die Frau geisteskrank?, überlegte Pater Aiden. Hatte sie das wirklich ernst gemeint? Und wenn ja, was konnte er dann tun?
Wenn sie die Wahrheit gesagt hat, dachte er und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder, dann sind mir die Hände gebunden. Ich weiß nicht, wer sie ist oder wo sie wohnt. Ich kann nur beten, dass sie nicht ganz bei Verstand ist und sich alles nur eingebildet hat. Trifft das aber nicht zu, dann ist sie klug genug, um zu wissen, dass ich dem Beichtgeheimnis verpflichtet bin. Vielleicht war sie früher praktizierende Katholikin. ›Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt‹, das sind genau die Worte, mit denen die Beichte eingeleitet wird.
Lange saß er so da. Nach der überstürzten Flucht der Frau war das grüne Licht über der Tür zum Versöhnungsraum automatisch angegangen. Jeder, der draußen wartete, wusste somit, dass er nun eintreten konnte. Inständig betete er, die junge Frau möge zurückkehren. Aber sie kam nicht wieder.
Um achtzehn Uhr wäre seine Zeit im Versöhnungsraum eigentlich vorbei gewesen. Um zwanzig nach sechs gab er schließlich jegliche Hoffnung auf, dass sie noch einmal auftauchen würde. Er spürte das Gewicht seiner Jahre und die Bürde, die er als Beichtvater zu tragen hatte, als er sich mit beiden Händen an den Stuhllehnen aufstützte, sich langsam erhob und unter den stechenden Schmerzen in seinen arthritischen Knien zusammenzuckte. Kopfschüttelnd ging er zur Tür und blieb kurz vor dem Stuhl stehen, auf dem die junge Frau gesessen hatte.
Sie war nicht verrückt, dachte er betrübt. Falls sie wirklich von einem bald bevorstehenden Mord weiß, kann ich nur beten, dass sie tut, was das Gewissen ihr befiehlt. Sie muss versuchen, den Mord zu verhindern.
Er öffnete die Tür. In der Säulenvorhalle entzündeten zwei Gläubige Kerzen vor der Statue des heiligen Judas Thaddäus. Ein Mann, das Gesicht zwischen den Händen vergraben, kniete auf dem Betschemel vor dem Schrein des heiligen Antonius. Pater Aiden zögerte und erwog, den Besucher zu fragen, ob er ihm die Beichte abnehmen solle. Aber die Beichtstunde war längst vorüber und vielleicht erflehte der Besucher nur einen Gefallen oder sprach ein Dankgebet, weil ihm einer gewährt worden war. Der Schrein des heiligen Antonius zog viele Menschen an.
Pater Aiden durchquerte die Säulenvorhalle zu der Tür, die in den Gang zum Mönchskloster führte. Er spürte nicht den durchdringenden Blick des Mannes, der nun nicht mehr in sein Gebet versunken war, sondern sich umgedreht und die Sonnenbrille hochgeschoben hatte, ihn eindringlich ansah und sich den weißen Haarkranz und den schlurfenden Gang des Mönchs einprägte.
Kaum eine Minute war sie bei ihm gewesen, dachte der Beobachter. Was hat sie dem Alten alles erzählt? Kann ich darauf vertrauen, dass sie ihm nicht ihr Herz ausgeschüttet hat? Er hörte, wie die Eingangstür der Kirche geöffnet wurde und sich Schritte näherten. Schnell setzte er die Sonnenbrille auf und zog sich den Kragen seines Trenchcoats hoch. Er hatte sich bereits den an der Tür angebrachten Namen des Paters notiert.
Was soll ich mit dir bloß machen, Pater O'Brien?, fragte er sich wütend, während er sich an den gut zehn Besuchern vorbeischob, die die Kirche betraten.
Im Moment hatte er darauf keine Antwort.
Was er nicht wusste, war, dass er, der Beobachter, selbst beobachtet wurde. Die sechsundsechzigjährige Alvirah Meehan, die früher als Putzfrau gearbeitet hatte, mittlerweile als Kolumnistin und Gesellschaftsautorin erfolgreich war und außerdem vierzig Millionen Dollar in der New Yorker Lotterie gewonnen hatte, war ebenfalls anwesend. Sie war am Herald Square beim Einkaufen gewesen, und auf ihrem Heimweg zur Central Park South war sie die wenigen Straßenzüge hierhergekommen, um vor dem Schrein des heiligen Antonius eine Kerze anzuzünden und eine Spende für die Unterstützung Bedürftiger abzugeben, nachdem sie vor kurzem einen unerwarteten Honorarscheck für ihre Memoiren Vom Putzeimer zur Prominenz erhalten hatte.
Sie hatte gelobt, zur Grotte der Heiligen Jungfrau Maria von Lourdes zu pilgern, als ihr der scheinbar tief im Gebet versunkene Mann vor dem Schrein auffiel. Kurz darauf erblickte sie Pater Aiden, ihren alten Freund, der den Versöhnungsraum verließ. Sie wollte schon zu ihm und ihn begrüßen, zu ihrem Erstaunen aber richtete sich in diesem Augenblick der Mann plötzlich auf und schob sich die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Kein Zweifel, er beobachtete Pater Aiden, der zur Tür des Klosters ging.
Nein, dieser Mann wollte Pater Aiden nicht fragen, ob er bei ihm beichten könne. Er wollte den Pater in Augenschein nehmen, dachte sie sich und sah, wie der Fremde die Sonnenbrille wieder aufsetzte und den Kragen seines Mantels hochstellte. Sie hatte ihre Brille abgenommen, weshalb sie ihn nicht genau erkennen konnte, aber sie schätzte ihn auf ungefähr einen Meter achtzig. Das im Schatten liegende Gesicht war eher hager als feist, und als sie vor der Statue an ihm vorbeigegangen war, hatte sie bemerkt, dass er volles schwarzes Haar hatte ohne graue Strähnen. Das Gesicht hatte er in den Händen vergraben.
Wer weiß schon, was in den Leuten so vorgeht?, fragte sich Alvirah und sah dem Fremden hinterher, der nun in Richtung der nächstgelegenen Tür davoneilte. Eines jedenfalls kann ich mit Bestimmtheit sagen, dachte sie. Dieser Mann hatte dem heiligen Antonius nicht mehr viel zu sagen, nachdem Pater Aiden den Versöhnungsraum verlassen hat.
2
Es war der 22. März. Wenn er noch am Leben ist, dann wird Matthew heute fünf Jahre alt, ging es Zan Moreland durch den Kopf, als sie die Augen aufschlug, minutenlang reglos dalag und sich die Tränen wegwischte, die im Schlaf oft ihre Wangen und das Kopfkissen benetzten. Sie sah zur Uhr auf der Ankleide. Es war 7.15 Uhr. Sie hatte fast acht Stunden geschlafen. Was daran lag, dass sie vor dem Zubettgehen eine Schlaftablette genommen hatte. Das gestattete sie sich nur selten. Aber wegen des anstehenden Geburtstags hatte sie fast die ganze zurückliegende Woche keinen Schlaf finden können.
Langsam erinnerte sie sich an Bruchstücke ihres stets wiederkehrenden Traums, in dem sie nach Matthew suchte. Diesmal hatte sie sich wieder im Central Park aufgehalten, hatte unermüdlich seinen Namen gerufen und ihn angefleht, er möge ihr antworten. Am liebsten hatte er immer Verstecken gespielt. In ihrem Traum hatte sie sich eingeredet, dass er gar nicht vermisst würde. Er würde sich bloß verstecken.
Aber er wurde vermisst.
Hätte ich an jenem Tag doch nur den Termin abgesagt, dachte Zan zum millionsten Mal. Tiffany Shields, die Babysitterin, hatte ausgesagt, den Buggy mit dem schlafenden Matthew so hingestellt zu haben, dass das Sonnenlicht nicht auf sein Gesicht fiel, dann hatte sie die Decke auf den Rasen gebreitet und war selbst eingeschlafen. Erst als sie aufwachte, hatte sie bemerkt, dass er nicht mehr im Buggy saß.
Eine ältere Zeugin hatte sich bei der Polizei gemeldet, nachdem sie die Schlagzeilen über das vermisste Kind gelesen hatte. Sie berichtete, sie und ihr Mann hätten im Park den Hund ausgeführt und dabei sei ihnen aufgefallen, dass der Buggy leer gewesen sei - und das eine halbe Stunde vor dem Zeitpunkt, an dem die Babysitterin laut eigener Aussage einen Blick auf den Buggy geworfen habe. »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, sagte die Zeugin, die ihren Zorn kaum verbergen konnte. »Ich dachte mir, jemand, möglicherweise die Mutter, ist mit dem Kind zum Spielplatz gegangen. Mir ist noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass die junge Frau auf ein Kind aufpassen sollte. Sie hat ja wie eine Tote geschlafen.«
Und schließlich hatte Tiffany zugegeben, dass sie sich zudem nicht einmal die Mühe gemacht habe, Matthew festzuschnallen, da er tief und fest geschlafen habe, als sie die Wohnung verlassen hatten.
War er von allein herausgeklettert, hatte ihn jemand an der Hand genommen und war mit ihm weggegangen?, fragte sich Zan zum wiederholten Mal. Es gab Leute, die auf so etwas nur warteten. Bitte, Gott, lass nicht zu, dass so etwas geschehen ist.
Matthews Bild war in allen Zeitungen des Landes und im Internet veröffentlicht worden. Ich habe gebetet, jemand, der einsam war, habe ihn vielleicht nur mitgenommen und dann nicht den Mut gefunden, sich zu seiner Tat zu bekennen. Ich habe gehofft, der Entführer würde sich irgendwann stellen oder Matthew irgendwo absetzen, wo er gefunden werden konnte, dachte Zan. Aber auch nach fast zwei Jahren gibt es nicht den geringsten Hinweis auf meinen Sohn. Wahrscheinlich hat er mich mittlerweile längst vergessen.
Langsam setzte sie sich auf und strich sich die langen kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht. Trotz ihrer regelmäßigen Fitnessübungen fühlte sie sich steif und verkrampft. Das komme von der Anspannung, hatte ihr der Arzt gesagt. Sie lebe damit Tag und Nacht. Sie schwang die Füße aus dem Bett, streckte sich und stand auf, ging zum Fenster und nahm den frühmorgendlichen Anblick der Freiheitsstatue und des New Yorker Hafens in sich auf.
Die Aussicht war der Grund gewesen, warum sie ein halbes Jahr nach Matthews Verschwinden diese Wohnung gemietet hatte. Sie musste weg aus dem Apartmentgebäude in der East Eighty-sixth Street, wo ihr das leere Zimmer mit seinem kleinen Bett und den Spielsachen Tag für Tag aufs Neue fast das Herz gebrochen hatte.
Zu diesem Zeitpunkt war ihr auch bewusst geworden, dass sie zumindest versuchen musste, so etwas wie Normalität in ihr Leben zu bringen. Daher hatte sie sich mit ganzer Kraft auf ihr kleines Innendesign-Büro gestürzt, das sie nach ihrer Trennung von Ted gegründet hatte. Sie waren nur so kurz verheiratet gewesen, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Trennung noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie schwanger war.
Vor ihrer Ehe mit Ted Carpenter hatte sie als Assistentin beim berühmten Designer Bartley Longe gearbeitet. Schon damals hatte sie als aufstrebender Star in der Branche gegolten.
Ein Kritiker, der wusste, dass Longe ihr während eines ausgedehnten Urlaubs ein ganzes Projekt anvertraut hatte, war ausführlich auf ihre erstaunliche Fähigkeit eingegangen, Stoffe, Farben und Einrichtungsgegenstände so aufeinander abzustimmen, dass sie exakt den Geschmack und den Lebensstil des Hauseigentümers widerspiegelten.
Zan schloss das Fenster und eilte zum Schrank. Sie schlief gern im Kühlen, ihr langes T-Shirt aber schützte nicht vor dem Durchzug. Sie hatte sich absichtlich für heute einen engen Terminplan verordnet. So griff sie sich ihren alten Morgenmantel, den Ted so sehr gehasst und über den sie lachend gesagt hatte, in ihm fühle sie sich sicher. Er war für sie zu einem Symbol geworden. Wenn sie aufstand und in ihrem Schlafzimmer war es fröstelnd kalt, musste sie nur den Morgenmantel anlegen, und ihr wurde warm. Von der Kälte zur Wärme, von der Leere zur Überfülle; der vermisste Matthew, der wiedergefundene Matthew; der Matthew, der wieder bei ihr zu Hause und in ihren Armen war. Matthew hatte sich immer sehr gern mit ihr in den weichen Stoff gekuschelt.
Keine Versteckspiele mehr, dachte sie sich, blinzelte die Tränen weg, knotete den Gürtel fest und schlüpfte in ihre Flip-Flops. Hatte Matthew nur spielen wollen, als er aus dem Buggy geklettert war? Aber ein unbeaufsichtigtes Kleinkind hätte anderen doch auffallen müssen. Wie lang hatte es gedauert, bis jemand ihn an der Hand nahm und mit ihm verschwand?
Es war ein außergewöhnlich heißer Junitag gewesen, im Park hatte es von Kindern nur so gewimmelt.
Steigere dich nicht wieder hinein, ermahnte sich Zan, als sie durch den Flur in die Küche ging und sofort die Kaffeemaschine ansteuerte, deren Timer auf sieben Uhr eingestellt war. Die Kanne war bereits voll. Sie schenkte sich eine Tasse ein und holte aus dem Kühlschrank entrahmte Milch und den Obstsalat, den sie in einem nahe gelegenen Lebensmittelladen gekauft hatte. Dann stellte sie den Obstsalat wieder zurück. Nur Kaffee, dachte sie. Mehr will ich nicht. Ich weiß, ich sollte mehr essen, aber heute werde ich nicht damit anfangen.
Beim Kaffee ging sie ihre Termine durch. Gleich nach der Ankunft im Büro stand das Treffen mit dem Architekten eines neuen tollen Apartmenthochhauses am Hudson River an, wo sie drei Musterwohnungen gestalten sollte; es wäre der entscheidende Durchbruch, sollte sie den Auftrag bekommen. Ihr wichtigster Konkurrent war ihr alter Arbeitgeber, Bartley Longe, der es ihr äußerst übel nahm, dass sie ihr eigenes Büro aufgemacht hatte.
Du hast mir eine Menge beigebracht, dachte Zan, auf deinen Jähzorn aber kann ich gut und gern verzichten. Ganz zu schweigen von deiner üblen Anmache. Sie wollte jetzt nicht an den schrecklich peinlichen Tag denken, als sie in Longes Büro einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.
Sie nahm die Kaffeetasse mit ins Badezimmer, stellte sie auf den Toilettentisch und drehte die Dusche an. Das dampfende Wasser lockerte ein wenig ihre verspannten Muskeln, und nachdem sie sich Shampoo aufs Haar gegeben hatte, massierte sie es kräftig ein. Auch eine Möglichkeit, den Stress zu lindern, dachte sie verstimmt. Aber im Grunde gibt es für mich nur eine Möglichkeit, den Stress zu lindern.
Denk nicht daran, ermahnte sie sich erneut.
Als sie sich abrubbelte, fühlte sie sich schon etwas frischer. Energisch trocknete sie sich die Haare, dann, wieder im Morgenmantel, trug sie Mascara und Lipgloss auf, woraus ihr gesamtes Make-up bestand. Matthew hat Teds Augen, dachte sie, in diesem wunderbaren dunklen Braunton. Ich habe ihm immer dieses Lied vorgesungen, »Beautiful Brown Eyes«. Seine Haare waren damals noch blond gewesen, trotzdem hatte man schon ein paar Rottöne erkennen können. Vielleicht wird er auch so knallrot wie ich als Kind. Damals habe ich es gehasst. Ich würde aussehen wie Anne auf Green Gables, habe ich Mom gesagt, dürr wie eine Bohnenstange und geschlagen mit schrecklich karottenroten Haaren. Aber an ihm würde es entzückend aussehen.
Ihre Mutter hatte ihr damals gesagt, keine Sorge, Anne hätte mit zunehmendem Alter ihren Körper schon ausgefüllt, und auch ihre Haare wären zu einem warmen, tiefen Kastanienbraun nachgedunkelt.
Mom hat mich immer geneckt und mich Green Gables Annie genannt, dachte Zan. Auch daran wollte sie an diesem Tag nicht denken.
Ted hatte darauf bestanden, dass sie am Abend mit ihm zum Essen ging, nur sie beide. »Melissa wird es sicherlich verstehen«, hatte er ihr am Telefon gesagt. »Ich möchte unseres Jungen gedenken, zusammen mit dir, dem einzigen Menschen, der weiß, wie ich mich an seinem Geburtstag fühle. Bitte, Zan.«
Sie waren also um 19.30 Uhr im Four Seasons verabredet. Das einzige Problem, wenn man in der Battery Park City wohnte, waren die Staus von und zur Innenstadt, dachte Zan. Ich habe keine Lust, noch mal zurückzukommen, um mich umzuziehen, aber ich habe auch keine Lust, ein zweites Outfit mit ins Büro zu nehmen. Ich werde das schwarze Kostüm mit dem Pelzkragen anziehen. Das muss elegant genug für den Abend sein.
Eine Viertelstunde später war sie unten auf der Straße; eine große, schlanke junge Frau von zweiunddreißig Jahren in einem schwarzen Kostüm mit Pelzkragen und hochhackigen Stiefeln, im Gesicht eine dunkle Sonnenbrille, in der Hand eine Designer-Tasche. Das kastanienbraune Haar fiel ihr offen über die Schultern, als sie vom Bürgersteig trat, um ein Taxi zu rufen.
3
Beim Abendessen hatte Alvirah Willy von dem Mann erzählt, der Pater Aiden so seltsam angesehen hatte, als dieser den Versöhnungsraum verließ, und beim Frühstück kam sie erneut darauf zu sprechen. »Willy, ich habe letzte Nacht von diesem Kerl geträumt«, sagte sie. »Und das ist kein gutes Zeichen. Wenn ich von jemandem träume, hat das meistens nichts Gutes zu bedeuten.«
Sie saßen noch in ihren Morgenmänteln am runden Tisch im Essbereich ihrer Wohnung an der Central Park South. Draußen, wie sie Willy gegenüber bereits kundgetan hatte, herrschte typisches Märzwetter. Es war kalt und stürmisch. Der Wind zerrte an den Möbeln auf dem Balkon, und der Central Park, den sie auf der anderen Straßenseite sehen konnten, war so gut wie menschenleer.
Liebevoll sah Willy zu der Frau ihm gegenüber am Tisch, mit der er nunmehr seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war. Willy, angeblich dem verstorbenen, legendären Sprecher des Repräsentantenhauses Tip O'Neill wie aus dem Gesicht geschnitten, war ein großer Mann mit vollem schlohweißem Haar und, wie Alvirah sagte, den blauesten Augen unter der Sonne.
In seinen liebenden Augen war Alvirah wunderschön. Er bemerkte nicht, dass sie sich trotz aller Bemühungen immer mit zehn bis fünfzehn Pfund zu viel herumschlug. Ebenso wenig bemerkte er, dass schon eine Woche nach dem Färben die Haare, die sie nun dank einer edlen Tönung dezent rostbraun trug, an den Wurzeln wieder grau wurden. Früher, in ihrer Wohnung in Queens, bevor sie in der Lotterie gewonnen hatten und sie sich die Haare über dem Waschbecken im Bad noch selbst gefärbt hatte, waren sie flammend orangerot gewesen.
»Liebes, das hört sich doch so an, als hätte dieser Typ allen Mut zusammennehmen müssen, um zur Beichte zu gehen, und als er dann sah, wie Pater Aiden ging, schien er plötzlich unschlüssig geworden zu sein.«
Alvirah schüttelte den Kopf. »Da steckte mehr dahinter.« Sie griff nach der Teekanne und schenkte sich eine zweite Tasse ein. Ihre Miene änderte sich. »Du weißt, dass der kleine Matthew heute Geburtstag hat. Er würde heute fünf Jahre alt werden.«
»Oder wird fünf Jahre alt«, verbesserte Willy sie. »Alvirah, ich verfüge auch über Intuition. Und die sagt mir, dass er noch am Leben ist.«
»Wir reden über Matthew, als würden wir ihn kennen«, seufzte Alvirah, während sie Süßstoff in ihre Tasse gab.
»Meinem Gefühl nach kennen wir ihn wirklich«, sagte Willy.
Sie schwiegen beide und dachten daran, wie vor knapp zwei Jahren, nachdem Alvirahs New York Globe-Kolumne über das vermisste Kind im Internet veröffentlicht wurde, Alexandra Moreland angerufen hatte. »Mrs. Meehan«, hatte sie gesagt, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar Ted und ich Ihnen für Ihren Artikel sind. Wenn er von jemandem entführt wurde, der sich verzweifelt nach einem Kind sehnt, dann haben Sie wunderbar zum Ausdruck gebracht, wie verzweifelt wir uns danach sehnen, ihn wieder zurückzuhaben. Und Ihr Vorschlag, ihn an einem sicheren Ort zurückzulassen, ohne von Überwachungskameras aufgenommen zu werden, ist möglicherweise der entscheidende Anstoß, den der Entführer benötigt.«
Alvirah hatte von ganzem Herzen mit ihr mitgelitten: »Die arme Frau ist ein Einzelkind, sie hat beide Eltern bei einem Autounfall verloren. Dann trennt sie sich von ihrem Ehemann, bevor sie überhaupt weiß, dass sie schwanger ist, und jetzt verschwindet auch noch ihr kleiner Sohn. Ich weiß, sie ist an einem Punkt, wo sie morgens nicht mehr aus dem Bett kommt. Ich habe ihr gesagt, wenn sie mit jemandem reden möchte, kann sie mich jederzeit anrufen. Aber ich weiß, sie wird es nicht tun.«
Doch kurz danach las Alvirah auf Seite sechs der Post, dass die vom Unglück verfolgte Zan Moreland die Arbeit in ihrem Innendesign-Büro, Moreland Interiors in der East Fiftyeighth Street, wieder aufgenommen hatte. Sofort verkündete Alvirah, dass ihre Wohnung unbedingt renoviert gehöre.
»Meiner Meinung nach sieht sie nicht so übel aus«, hatte Willy dazu nur bemerkt.
»Sie sieht nicht übel aus, Willy, aber wir haben sie vor sechs Jahren möbliert gekauft, und, um die Wahrheit zu sagen, manchmal komme ich mir in diesen weißen Räumen mit den weißen Vorhängen, Läufern und Möbeln vor, als würde ich in einem Marshmallow leben. Es ist eine Sünde, Geld zu verschwenden, aber in diesem Fall glaube ich, dass es richtig ist.«
Das Ergebnis war nicht nur eine neu gestaltete Wohnung, sondern auch eine enge Freundschaft zu Alexandra »Zan« Moreland. Zan betrachtete sie mittlerweile als ihre Ersatzfamilie und kam oft zu Besuch.
»Hast du Zan gefragt, ob sie heute zum Abendessen zu uns kommt?«, fragte Willy gerade. »Ich meine, der Tag muss doch ganz schrecklich für sie sein.«
»Ich habe sie gefragt«, erwiderte Alvirah. »Sie hatte schon zugesagt, dann aber noch einmal angerufen. Ihr Ex-Mann möchte den Abend mit ihr verbringen, sie meint, sie kann ihm nicht absagen.«
»Verstehe. Möglicherweise können sie sich ja gegenseitig Trost spenden.«
»Andererseits fällt es Zan oft schwer, Gefühle zuzulassen, besonders in der Öffentlichkeit. Manchmal wünschte ich mir, sie würde einfach drauflosweinen, wenn sie von Matthew spricht, aber das macht sie ja noch nicht einmal bei uns.«
»Ich fürchte, es gibt viele Nächte, in denen sie sich in den Schlaf weint«, sagte Willy. »Und ich bezweifle, dass es ihr guttut, den Abend mit ihrem Ex-Mann zu verbringen. Sie hat einmal gesagt, Carpenter habe ihr nie verziehen, dass sie Matthew in die Obhut einer so jungen Babysitterin gegeben hat. Ich hoffe nur, dass er an Matthews Geburtstag nicht wieder darauf herumreitet.«
»Er ist ... oder war ... Matthews Vater«, sagte Alvirah und fügte, mehr zu sich als zu Willy, hinzu: »Nach allem, was ich gelesen habe, übernimmt in so einem Fall einer der beiden Elternteile immer die Schuld, auch wenn er gar nichts dafür kann und eigentlich eine nachlässige Babysitterin dafür verantwortlich war. Aber die Schuldgefühle, Willy, die sind immer da, erst recht, wenn ein Kind verschwindet. Ich bete zu Gott, dass Ted Carpenter nicht zu viel trinkt und wieder auf Zan losgeht.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand«, beschwichtigte Willy sie.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Alvirah nachdenklich und griff zur zweiten Hälfte ihres getoasteten Bagels. »Aber, Willy, das kannst du nicht leugnen: Wenn ich spüre, dass Unheil ansteht, dann lässt es nie lange auf sich warten. Es mag sich unwahrscheinlich anhören, aber ich weiß, dass Zan in nächster Zeit etwas ganz Schreckliches zustoßen wird.«
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Pater Aiden O'Brien nahm in der Unterkirche des Gotteshauses des heiligen Franziskus von Assisi an der West Thirty-first Street in Manhattan die Beichte ab. Der achtundsiebzigjährige Franziskanermönch hatte nichts gegen die Neuregelung, derzufolge das Beichtkind nicht mehr, vom Priester durch ein Gitter getrennt, auf der harten Holzbank des Beichtstuhls knien musste, sondern ihm an einem Tisch im Versöhnungsraum von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß.
Zweifel beschlichen ihn nur dann, wenn er das Gefühl hatte, der Büßer könnte sich davon abhalten lassen, all das zu sagen, was er möglicherweise in der anonymen Dunkelheit des Beichtstuhls offenbart hätte.
Genau dieses Gefühl hatte er an diesem kühlen, windigen Märznachmittag.
In der ersten Stunde waren nur zwei Frauen erschienen, zwei treue Gemeindemitglieder, beide Mitte achtzig, deren Sünden, sollten sie jemals welche begangen haben, lange zurücklagen. Heute hatte eine von ihnen gebeichtet, im Alter von acht Jahren ihre Mutter angelogen zu haben. Sie hatte zwei Kuchenstücke gegessen und ihrem Bruder die Schuld an dem fehlenden zweiten Stück gegeben.
Pater Aiden betete den Rosenkranz. Es war bald an der Zeit, den Raum zu verlassen, doch plötzlich ging die Tür auf, und eine schlanke Frau Anfang dreißig trat ein. Langsam ging sie zum Stuhl ihm gegenüber und ließ sich zögernd darauf nieder. Ihr kastanienbraunes Haar fiel ihr offen über die Schultern, das mit einem Pelzkragen besetzte Kostüm dürfte sehr teuer gewesen sein, genau wie ihre hochhackigen Lederstiefel. An Schmuck trug sie lediglich silberne Ohrringe.
Mit ernster Miene wartete Pater Aiden. Da die junge Frau beharrlich schwieg, sagte er ermutigend: »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.« Sie sprach leise, in einem angenehmen Tonfall ohne jeglichen Dialekt.
»Es gibt nichts, was Sie mir sagen könnten, das ich nicht schon einmal gehört hätte«, sagte Pater Aiden mit sanfter Stimme.
»Ich ... « Die Frau hielt kurz inne, aber dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. »Ich weiß, dass jemand einen Mord plant, und ich kann nichts dagegen tun.«
Mit schreckgeweiteten Augen sah sie ihn an, schlug die Hand vor den Mund und erhob sich abrupt. »Ich hätte nie hierherkommen sollen«, flüsterte sie und fügte mit zitternder Stimme hinzu: »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich bekenne, an einem Verbrechen und an einem Mord mitzuwirken, der sehr bald geschehen wird. Wahrscheinlich werden Sie davon in der Zeitung lesen. Ich will das alles nicht, aber es ist zu spät, um daran noch etwas zu ändern.«
Sie drehte sich um, und nach fünf Schritten war sie an der Tür.
»Warten Sie«, rief Pater Aiden und mühte sich von seinem Stuhl hoch. »Reden Sie mit mir. Ich kann Ihnen helfen.«
Aber sie war fort.
War die Frau geisteskrank?, überlegte Pater Aiden. Hatte sie das wirklich ernst gemeint? Und wenn ja, was konnte er dann tun?
Wenn sie die Wahrheit gesagt hat, dachte er und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder, dann sind mir die Hände gebunden. Ich weiß nicht, wer sie ist oder wo sie wohnt. Ich kann nur beten, dass sie nicht ganz bei Verstand ist und sich alles nur eingebildet hat. Trifft das aber nicht zu, dann ist sie klug genug, um zu wissen, dass ich dem Beichtgeheimnis verpflichtet bin. Vielleicht war sie früher praktizierende Katholikin. ›Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt‹, das sind genau die Worte, mit denen die Beichte eingeleitet wird.
Lange saß er so da. Nach der überstürzten Flucht der Frau war das grüne Licht über der Tür zum Versöhnungsraum automatisch angegangen. Jeder, der draußen wartete, wusste somit, dass er nun eintreten konnte. Inständig betete er, die junge Frau möge zurückkehren. Aber sie kam nicht wieder.
Um achtzehn Uhr wäre seine Zeit im Versöhnungsraum eigentlich vorbei gewesen. Um zwanzig nach sechs gab er schließlich jegliche Hoffnung auf, dass sie noch einmal auftauchen würde. Er spürte das Gewicht seiner Jahre und die Bürde, die er als Beichtvater zu tragen hatte, als er sich mit beiden Händen an den Stuhllehnen aufstützte, sich langsam erhob und unter den stechenden Schmerzen in seinen arthritischen Knien zusammenzuckte. Kopfschüttelnd ging er zur Tür und blieb kurz vor dem Stuhl stehen, auf dem die junge Frau gesessen hatte.
Sie war nicht verrückt, dachte er betrübt. Falls sie wirklich von einem bald bevorstehenden Mord weiß, kann ich nur beten, dass sie tut, was das Gewissen ihr befiehlt. Sie muss versuchen, den Mord zu verhindern.
Er öffnete die Tür. In der Säulenvorhalle entzündeten zwei Gläubige Kerzen vor der Statue des heiligen Judas Thaddäus. Ein Mann, das Gesicht zwischen den Händen vergraben, kniete auf dem Betschemel vor dem Schrein des heiligen Antonius. Pater Aiden zögerte und erwog, den Besucher zu fragen, ob er ihm die Beichte abnehmen solle. Aber die Beichtstunde war längst vorüber und vielleicht erflehte der Besucher nur einen Gefallen oder sprach ein Dankgebet, weil ihm einer gewährt worden war. Der Schrein des heiligen Antonius zog viele Menschen an.
Pater Aiden durchquerte die Säulenvorhalle zu der Tür, die in den Gang zum Mönchskloster führte. Er spürte nicht den durchdringenden Blick des Mannes, der nun nicht mehr in sein Gebet versunken war, sondern sich umgedreht und die Sonnenbrille hochgeschoben hatte, ihn eindringlich ansah und sich den weißen Haarkranz und den schlurfenden Gang des Mönchs einprägte.
Kaum eine Minute war sie bei ihm gewesen, dachte der Beobachter. Was hat sie dem Alten alles erzählt? Kann ich darauf vertrauen, dass sie ihm nicht ihr Herz ausgeschüttet hat? Er hörte, wie die Eingangstür der Kirche geöffnet wurde und sich Schritte näherten. Schnell setzte er die Sonnenbrille auf und zog sich den Kragen seines Trenchcoats hoch. Er hatte sich bereits den an der Tür angebrachten Namen des Paters notiert.
Was soll ich mit dir bloß machen, Pater O'Brien?, fragte er sich wütend, während er sich an den gut zehn Besuchern vorbeischob, die die Kirche betraten.
Im Moment hatte er darauf keine Antwort.
Was er nicht wusste, war, dass er, der Beobachter, selbst beobachtet wurde. Die sechsundsechzigjährige Alvirah Meehan, die früher als Putzfrau gearbeitet hatte, mittlerweile als Kolumnistin und Gesellschaftsautorin erfolgreich war und außerdem vierzig Millionen Dollar in der New Yorker Lotterie gewonnen hatte, war ebenfalls anwesend. Sie war am Herald Square beim Einkaufen gewesen, und auf ihrem Heimweg zur Central Park South war sie die wenigen Straßenzüge hierhergekommen, um vor dem Schrein des heiligen Antonius eine Kerze anzuzünden und eine Spende für die Unterstützung Bedürftiger abzugeben, nachdem sie vor kurzem einen unerwarteten Honorarscheck für ihre Memoiren Vom Putzeimer zur Prominenz erhalten hatte.
Sie hatte gelobt, zur Grotte der Heiligen Jungfrau Maria von Lourdes zu pilgern, als ihr der scheinbar tief im Gebet versunkene Mann vor dem Schrein auffiel. Kurz darauf erblickte sie Pater Aiden, ihren alten Freund, der den Versöhnungsraum verließ. Sie wollte schon zu ihm und ihn begrüßen, zu ihrem Erstaunen aber richtete sich in diesem Augenblick der Mann plötzlich auf und schob sich die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Kein Zweifel, er beobachtete Pater Aiden, der zur Tür des Klosters ging.
Nein, dieser Mann wollte Pater Aiden nicht fragen, ob er bei ihm beichten könne. Er wollte den Pater in Augenschein nehmen, dachte sie sich und sah, wie der Fremde die Sonnenbrille wieder aufsetzte und den Kragen seines Mantels hochstellte. Sie hatte ihre Brille abgenommen, weshalb sie ihn nicht genau erkennen konnte, aber sie schätzte ihn auf ungefähr einen Meter achtzig. Das im Schatten liegende Gesicht war eher hager als feist, und als sie vor der Statue an ihm vorbeigegangen war, hatte sie bemerkt, dass er volles schwarzes Haar hatte ohne graue Strähnen. Das Gesicht hatte er in den Händen vergraben.
Wer weiß schon, was in den Leuten so vorgeht?, fragte sich Alvirah und sah dem Fremden hinterher, der nun in Richtung der nächstgelegenen Tür davoneilte. Eines jedenfalls kann ich mit Bestimmtheit sagen, dachte sie. Dieser Mann hatte dem heiligen Antonius nicht mehr viel zu sagen, nachdem Pater Aiden den Versöhnungsraum verlassen hat.
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Es war der 22. März. Wenn er noch am Leben ist, dann wird Matthew heute fünf Jahre alt, ging es Zan Moreland durch den Kopf, als sie die Augen aufschlug, minutenlang reglos dalag und sich die Tränen wegwischte, die im Schlaf oft ihre Wangen und das Kopfkissen benetzten. Sie sah zur Uhr auf der Ankleide. Es war 7.15 Uhr. Sie hatte fast acht Stunden geschlafen. Was daran lag, dass sie vor dem Zubettgehen eine Schlaftablette genommen hatte. Das gestattete sie sich nur selten. Aber wegen des anstehenden Geburtstags hatte sie fast die ganze zurückliegende Woche keinen Schlaf finden können.
Langsam erinnerte sie sich an Bruchstücke ihres stets wiederkehrenden Traums, in dem sie nach Matthew suchte. Diesmal hatte sie sich wieder im Central Park aufgehalten, hatte unermüdlich seinen Namen gerufen und ihn angefleht, er möge ihr antworten. Am liebsten hatte er immer Verstecken gespielt. In ihrem Traum hatte sie sich eingeredet, dass er gar nicht vermisst würde. Er würde sich bloß verstecken.
Aber er wurde vermisst.
Hätte ich an jenem Tag doch nur den Termin abgesagt, dachte Zan zum millionsten Mal. Tiffany Shields, die Babysitterin, hatte ausgesagt, den Buggy mit dem schlafenden Matthew so hingestellt zu haben, dass das Sonnenlicht nicht auf sein Gesicht fiel, dann hatte sie die Decke auf den Rasen gebreitet und war selbst eingeschlafen. Erst als sie aufwachte, hatte sie bemerkt, dass er nicht mehr im Buggy saß.
Eine ältere Zeugin hatte sich bei der Polizei gemeldet, nachdem sie die Schlagzeilen über das vermisste Kind gelesen hatte. Sie berichtete, sie und ihr Mann hätten im Park den Hund ausgeführt und dabei sei ihnen aufgefallen, dass der Buggy leer gewesen sei - und das eine halbe Stunde vor dem Zeitpunkt, an dem die Babysitterin laut eigener Aussage einen Blick auf den Buggy geworfen habe. »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, sagte die Zeugin, die ihren Zorn kaum verbergen konnte. »Ich dachte mir, jemand, möglicherweise die Mutter, ist mit dem Kind zum Spielplatz gegangen. Mir ist noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass die junge Frau auf ein Kind aufpassen sollte. Sie hat ja wie eine Tote geschlafen.«
Und schließlich hatte Tiffany zugegeben, dass sie sich zudem nicht einmal die Mühe gemacht habe, Matthew festzuschnallen, da er tief und fest geschlafen habe, als sie die Wohnung verlassen hatten.
War er von allein herausgeklettert, hatte ihn jemand an der Hand genommen und war mit ihm weggegangen?, fragte sich Zan zum wiederholten Mal. Es gab Leute, die auf so etwas nur warteten. Bitte, Gott, lass nicht zu, dass so etwas geschehen ist.
Matthews Bild war in allen Zeitungen des Landes und im Internet veröffentlicht worden. Ich habe gebetet, jemand, der einsam war, habe ihn vielleicht nur mitgenommen und dann nicht den Mut gefunden, sich zu seiner Tat zu bekennen. Ich habe gehofft, der Entführer würde sich irgendwann stellen oder Matthew irgendwo absetzen, wo er gefunden werden konnte, dachte Zan. Aber auch nach fast zwei Jahren gibt es nicht den geringsten Hinweis auf meinen Sohn. Wahrscheinlich hat er mich mittlerweile längst vergessen.
Langsam setzte sie sich auf und strich sich die langen kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht. Trotz ihrer regelmäßigen Fitnessübungen fühlte sie sich steif und verkrampft. Das komme von der Anspannung, hatte ihr der Arzt gesagt. Sie lebe damit Tag und Nacht. Sie schwang die Füße aus dem Bett, streckte sich und stand auf, ging zum Fenster und nahm den frühmorgendlichen Anblick der Freiheitsstatue und des New Yorker Hafens in sich auf.
Die Aussicht war der Grund gewesen, warum sie ein halbes Jahr nach Matthews Verschwinden diese Wohnung gemietet hatte. Sie musste weg aus dem Apartmentgebäude in der East Eighty-sixth Street, wo ihr das leere Zimmer mit seinem kleinen Bett und den Spielsachen Tag für Tag aufs Neue fast das Herz gebrochen hatte.
Zu diesem Zeitpunkt war ihr auch bewusst geworden, dass sie zumindest versuchen musste, so etwas wie Normalität in ihr Leben zu bringen. Daher hatte sie sich mit ganzer Kraft auf ihr kleines Innendesign-Büro gestürzt, das sie nach ihrer Trennung von Ted gegründet hatte. Sie waren nur so kurz verheiratet gewesen, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Trennung noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie schwanger war.
Vor ihrer Ehe mit Ted Carpenter hatte sie als Assistentin beim berühmten Designer Bartley Longe gearbeitet. Schon damals hatte sie als aufstrebender Star in der Branche gegolten.
Ein Kritiker, der wusste, dass Longe ihr während eines ausgedehnten Urlaubs ein ganzes Projekt anvertraut hatte, war ausführlich auf ihre erstaunliche Fähigkeit eingegangen, Stoffe, Farben und Einrichtungsgegenstände so aufeinander abzustimmen, dass sie exakt den Geschmack und den Lebensstil des Hauseigentümers widerspiegelten.
Zan schloss das Fenster und eilte zum Schrank. Sie schlief gern im Kühlen, ihr langes T-Shirt aber schützte nicht vor dem Durchzug. Sie hatte sich absichtlich für heute einen engen Terminplan verordnet. So griff sie sich ihren alten Morgenmantel, den Ted so sehr gehasst und über den sie lachend gesagt hatte, in ihm fühle sie sich sicher. Er war für sie zu einem Symbol geworden. Wenn sie aufstand und in ihrem Schlafzimmer war es fröstelnd kalt, musste sie nur den Morgenmantel anlegen, und ihr wurde warm. Von der Kälte zur Wärme, von der Leere zur Überfülle; der vermisste Matthew, der wiedergefundene Matthew; der Matthew, der wieder bei ihr zu Hause und in ihren Armen war. Matthew hatte sich immer sehr gern mit ihr in den weichen Stoff gekuschelt.
Keine Versteckspiele mehr, dachte sie sich, blinzelte die Tränen weg, knotete den Gürtel fest und schlüpfte in ihre Flip-Flops. Hatte Matthew nur spielen wollen, als er aus dem Buggy geklettert war? Aber ein unbeaufsichtigtes Kleinkind hätte anderen doch auffallen müssen. Wie lang hatte es gedauert, bis jemand ihn an der Hand nahm und mit ihm verschwand?
Es war ein außergewöhnlich heißer Junitag gewesen, im Park hatte es von Kindern nur so gewimmelt.
Steigere dich nicht wieder hinein, ermahnte sich Zan, als sie durch den Flur in die Küche ging und sofort die Kaffeemaschine ansteuerte, deren Timer auf sieben Uhr eingestellt war. Die Kanne war bereits voll. Sie schenkte sich eine Tasse ein und holte aus dem Kühlschrank entrahmte Milch und den Obstsalat, den sie in einem nahe gelegenen Lebensmittelladen gekauft hatte. Dann stellte sie den Obstsalat wieder zurück. Nur Kaffee, dachte sie. Mehr will ich nicht. Ich weiß, ich sollte mehr essen, aber heute werde ich nicht damit anfangen.
Beim Kaffee ging sie ihre Termine durch. Gleich nach der Ankunft im Büro stand das Treffen mit dem Architekten eines neuen tollen Apartmenthochhauses am Hudson River an, wo sie drei Musterwohnungen gestalten sollte; es wäre der entscheidende Durchbruch, sollte sie den Auftrag bekommen. Ihr wichtigster Konkurrent war ihr alter Arbeitgeber, Bartley Longe, der es ihr äußerst übel nahm, dass sie ihr eigenes Büro aufgemacht hatte.
Du hast mir eine Menge beigebracht, dachte Zan, auf deinen Jähzorn aber kann ich gut und gern verzichten. Ganz zu schweigen von deiner üblen Anmache. Sie wollte jetzt nicht an den schrecklich peinlichen Tag denken, als sie in Longes Büro einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.
Sie nahm die Kaffeetasse mit ins Badezimmer, stellte sie auf den Toilettentisch und drehte die Dusche an. Das dampfende Wasser lockerte ein wenig ihre verspannten Muskeln, und nachdem sie sich Shampoo aufs Haar gegeben hatte, massierte sie es kräftig ein. Auch eine Möglichkeit, den Stress zu lindern, dachte sie verstimmt. Aber im Grunde gibt es für mich nur eine Möglichkeit, den Stress zu lindern.
Denk nicht daran, ermahnte sie sich erneut.
Als sie sich abrubbelte, fühlte sie sich schon etwas frischer. Energisch trocknete sie sich die Haare, dann, wieder im Morgenmantel, trug sie Mascara und Lipgloss auf, woraus ihr gesamtes Make-up bestand. Matthew hat Teds Augen, dachte sie, in diesem wunderbaren dunklen Braunton. Ich habe ihm immer dieses Lied vorgesungen, »Beautiful Brown Eyes«. Seine Haare waren damals noch blond gewesen, trotzdem hatte man schon ein paar Rottöne erkennen können. Vielleicht wird er auch so knallrot wie ich als Kind. Damals habe ich es gehasst. Ich würde aussehen wie Anne auf Green Gables, habe ich Mom gesagt, dürr wie eine Bohnenstange und geschlagen mit schrecklich karottenroten Haaren. Aber an ihm würde es entzückend aussehen.
Ihre Mutter hatte ihr damals gesagt, keine Sorge, Anne hätte mit zunehmendem Alter ihren Körper schon ausgefüllt, und auch ihre Haare wären zu einem warmen, tiefen Kastanienbraun nachgedunkelt.
Mom hat mich immer geneckt und mich Green Gables Annie genannt, dachte Zan. Auch daran wollte sie an diesem Tag nicht denken.
Ted hatte darauf bestanden, dass sie am Abend mit ihm zum Essen ging, nur sie beide. »Melissa wird es sicherlich verstehen«, hatte er ihr am Telefon gesagt. »Ich möchte unseres Jungen gedenken, zusammen mit dir, dem einzigen Menschen, der weiß, wie ich mich an seinem Geburtstag fühle. Bitte, Zan.«
Sie waren also um 19.30 Uhr im Four Seasons verabredet. Das einzige Problem, wenn man in der Battery Park City wohnte, waren die Staus von und zur Innenstadt, dachte Zan. Ich habe keine Lust, noch mal zurückzukommen, um mich umzuziehen, aber ich habe auch keine Lust, ein zweites Outfit mit ins Büro zu nehmen. Ich werde das schwarze Kostüm mit dem Pelzkragen anziehen. Das muss elegant genug für den Abend sein.
Eine Viertelstunde später war sie unten auf der Straße; eine große, schlanke junge Frau von zweiunddreißig Jahren in einem schwarzen Kostüm mit Pelzkragen und hochhackigen Stiefeln, im Gesicht eine dunkle Sonnenbrille, in der Hand eine Designer-Tasche. Das kastanienbraune Haar fiel ihr offen über die Schultern, als sie vom Bürgersteig trat, um ein Taxi zu rufen.
3
Beim Abendessen hatte Alvirah Willy von dem Mann erzählt, der Pater Aiden so seltsam angesehen hatte, als dieser den Versöhnungsraum verließ, und beim Frühstück kam sie erneut darauf zu sprechen. »Willy, ich habe letzte Nacht von diesem Kerl geträumt«, sagte sie. »Und das ist kein gutes Zeichen. Wenn ich von jemandem träume, hat das meistens nichts Gutes zu bedeuten.«
Sie saßen noch in ihren Morgenmänteln am runden Tisch im Essbereich ihrer Wohnung an der Central Park South. Draußen, wie sie Willy gegenüber bereits kundgetan hatte, herrschte typisches Märzwetter. Es war kalt und stürmisch. Der Wind zerrte an den Möbeln auf dem Balkon, und der Central Park, den sie auf der anderen Straßenseite sehen konnten, war so gut wie menschenleer.
Liebevoll sah Willy zu der Frau ihm gegenüber am Tisch, mit der er nunmehr seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war. Willy, angeblich dem verstorbenen, legendären Sprecher des Repräsentantenhauses Tip O'Neill wie aus dem Gesicht geschnitten, war ein großer Mann mit vollem schlohweißem Haar und, wie Alvirah sagte, den blauesten Augen unter der Sonne.
In seinen liebenden Augen war Alvirah wunderschön. Er bemerkte nicht, dass sie sich trotz aller Bemühungen immer mit zehn bis fünfzehn Pfund zu viel herumschlug. Ebenso wenig bemerkte er, dass schon eine Woche nach dem Färben die Haare, die sie nun dank einer edlen Tönung dezent rostbraun trug, an den Wurzeln wieder grau wurden. Früher, in ihrer Wohnung in Queens, bevor sie in der Lotterie gewonnen hatten und sie sich die Haare über dem Waschbecken im Bad noch selbst gefärbt hatte, waren sie flammend orangerot gewesen.
»Liebes, das hört sich doch so an, als hätte dieser Typ allen Mut zusammennehmen müssen, um zur Beichte zu gehen, und als er dann sah, wie Pater Aiden ging, schien er plötzlich unschlüssig geworden zu sein.«
Alvirah schüttelte den Kopf. »Da steckte mehr dahinter.« Sie griff nach der Teekanne und schenkte sich eine zweite Tasse ein. Ihre Miene änderte sich. »Du weißt, dass der kleine Matthew heute Geburtstag hat. Er würde heute fünf Jahre alt werden.«
»Oder wird fünf Jahre alt«, verbesserte Willy sie. »Alvirah, ich verfüge auch über Intuition. Und die sagt mir, dass er noch am Leben ist.«
»Wir reden über Matthew, als würden wir ihn kennen«, seufzte Alvirah, während sie Süßstoff in ihre Tasse gab.
»Meinem Gefühl nach kennen wir ihn wirklich«, sagte Willy.
Sie schwiegen beide und dachten daran, wie vor knapp zwei Jahren, nachdem Alvirahs New York Globe-Kolumne über das vermisste Kind im Internet veröffentlicht wurde, Alexandra Moreland angerufen hatte. »Mrs. Meehan«, hatte sie gesagt, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar Ted und ich Ihnen für Ihren Artikel sind. Wenn er von jemandem entführt wurde, der sich verzweifelt nach einem Kind sehnt, dann haben Sie wunderbar zum Ausdruck gebracht, wie verzweifelt wir uns danach sehnen, ihn wieder zurückzuhaben. Und Ihr Vorschlag, ihn an einem sicheren Ort zurückzulassen, ohne von Überwachungskameras aufgenommen zu werden, ist möglicherweise der entscheidende Anstoß, den der Entführer benötigt.«
Alvirah hatte von ganzem Herzen mit ihr mitgelitten: »Die arme Frau ist ein Einzelkind, sie hat beide Eltern bei einem Autounfall verloren. Dann trennt sie sich von ihrem Ehemann, bevor sie überhaupt weiß, dass sie schwanger ist, und jetzt verschwindet auch noch ihr kleiner Sohn. Ich weiß, sie ist an einem Punkt, wo sie morgens nicht mehr aus dem Bett kommt. Ich habe ihr gesagt, wenn sie mit jemandem reden möchte, kann sie mich jederzeit anrufen. Aber ich weiß, sie wird es nicht tun.«
Doch kurz danach las Alvirah auf Seite sechs der Post, dass die vom Unglück verfolgte Zan Moreland die Arbeit in ihrem Innendesign-Büro, Moreland Interiors in der East Fiftyeighth Street, wieder aufgenommen hatte. Sofort verkündete Alvirah, dass ihre Wohnung unbedingt renoviert gehöre.
»Meiner Meinung nach sieht sie nicht so übel aus«, hatte Willy dazu nur bemerkt.
»Sie sieht nicht übel aus, Willy, aber wir haben sie vor sechs Jahren möbliert gekauft, und, um die Wahrheit zu sagen, manchmal komme ich mir in diesen weißen Räumen mit den weißen Vorhängen, Läufern und Möbeln vor, als würde ich in einem Marshmallow leben. Es ist eine Sünde, Geld zu verschwenden, aber in diesem Fall glaube ich, dass es richtig ist.«
Das Ergebnis war nicht nur eine neu gestaltete Wohnung, sondern auch eine enge Freundschaft zu Alexandra »Zan« Moreland. Zan betrachtete sie mittlerweile als ihre Ersatzfamilie und kam oft zu Besuch.
»Hast du Zan gefragt, ob sie heute zum Abendessen zu uns kommt?«, fragte Willy gerade. »Ich meine, der Tag muss doch ganz schrecklich für sie sein.«
»Ich habe sie gefragt«, erwiderte Alvirah. »Sie hatte schon zugesagt, dann aber noch einmal angerufen. Ihr Ex-Mann möchte den Abend mit ihr verbringen, sie meint, sie kann ihm nicht absagen.«
»Verstehe. Möglicherweise können sie sich ja gegenseitig Trost spenden.«
»Andererseits fällt es Zan oft schwer, Gefühle zuzulassen, besonders in der Öffentlichkeit. Manchmal wünschte ich mir, sie würde einfach drauflosweinen, wenn sie von Matthew spricht, aber das macht sie ja noch nicht einmal bei uns.«
»Ich fürchte, es gibt viele Nächte, in denen sie sich in den Schlaf weint«, sagte Willy. »Und ich bezweifle, dass es ihr guttut, den Abend mit ihrem Ex-Mann zu verbringen. Sie hat einmal gesagt, Carpenter habe ihr nie verziehen, dass sie Matthew in die Obhut einer so jungen Babysitterin gegeben hat. Ich hoffe nur, dass er an Matthews Geburtstag nicht wieder darauf herumreitet.«
»Er ist ... oder war ... Matthews Vater«, sagte Alvirah und fügte, mehr zu sich als zu Willy, hinzu: »Nach allem, was ich gelesen habe, übernimmt in so einem Fall einer der beiden Elternteile immer die Schuld, auch wenn er gar nichts dafür kann und eigentlich eine nachlässige Babysitterin dafür verantwortlich war. Aber die Schuldgefühle, Willy, die sind immer da, erst recht, wenn ein Kind verschwindet. Ich bete zu Gott, dass Ted Carpenter nicht zu viel trinkt und wieder auf Zan losgeht.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand«, beschwichtigte Willy sie.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Alvirah nachdenklich und griff zur zweiten Hälfte ihres getoasteten Bagels. »Aber, Willy, das kannst du nicht leugnen: Wenn ich spüre, dass Unheil ansteht, dann lässt es nie lange auf sich warten. Es mag sich unwahrscheinlich anhören, aber ich weiß, dass Zan in nächster Zeit etwas ganz Schreckliches zustoßen wird.«
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Mary Higgins Clark
Mary Higgins Clark (1927-2020), geboren in New York, lebte und arbeitete in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautoren weltweit. Ihre große Stärke waren ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führte Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den begehrten Edgar Award. Zuletzt bei Heyne erschienen: »Denn du gehörst mir«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mary Higgins Clark
- 2013, Erstmals im TB, 448 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Karl-Heinz Ebnet
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453437020
- ISBN-13: 9783453437029
- Erscheinungsdatum: 09.01.2013
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