Ich kann nicht anders, Mama
Eine Mutter kämpft um ihre magersüchtigen Töchter. Originalausgabe
Carolines Töchter erkranken beide an Magersucht. Damit beginnt ein harter Weg für Caroline. Sie muss mit der Krankheit fertig werden und sich auch noch von Ärzten anhören, sie sei schuld daran.
Ein Erfahrungsbericht, der Betroffenen Mut machen kann.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ich kann nicht anders, Mama “
Carolines Töchter erkranken beide an Magersucht. Damit beginnt ein harter Weg für Caroline. Sie muss mit der Krankheit fertig werden und sich auch noch von Ärzten anhören, sie sei schuld daran.
Ein Erfahrungsbericht, der Betroffenen Mut machen kann.
Klappentext zu „Ich kann nicht anders, Mama “
Als ihre Töchter an Magersucht erkranken, beginnt auch für Caroline Wendt ein langer Leidensweg: Hilflos steht sie der Krankheit gegenüber und muss sich obendrein gegen Vorwürfe der Ärzte wehren, daran schuld zu sein. So wie ihr geht es vielen betroffenen Eltern. Sie finden in diesem wichtigen Buch Trost, Rat und Unterstützung. Mit einem Beitrag von Professor Dr. Manfred Fichter, einem der führenden deutschen Ernährungstherapeuten.
Lese-Probe zu „Ich kann nicht anders, Mama “
Ich kann nicht anders, Mama von Caroline Wendt»Eine Frau kann nicht dünn genug sein.«
Erste Anzeichen und Alarmsignale
Ich weiß noch genau, wie ich bei meiner Freundin Marion in der Küche saß und erzählte, dass meine Tochter Marie abgenommen hätte. Sie esse keine Süßigkeiten mehr, ich fände toll, dass sie diese Disziplin aufbringe. Ich hätte das als junges Mädchen nie hingekriegt! Das Wort abnehmen, meinte Marion gleich etwas streng, dürfe in einer Familie mit pubertierenden Mädchen überhaupt nicht vorkommen. Ob mir denn nicht klar sei, wie irrsinnig gefährlich das sei. Unsinn, dachte ich, die Marie isst doch sehr ordentlich zu Mittag, schließlich sitzen wir jeden Tag zusammen am Tisch, da würde ich schon mitbekommen, wenn irgendwas fehlte. - Das war, glaube ich, noch vor Weihnachten.
Was ich richtig schön fand in dieser Zeit: Anna und Marie begannen sich fürs Kochen und Backen zu interessieren. Mir war schon klar, dass ihre plötzliche Häuslichkeit damit zusammenhing, dass sie beide noch nicht ihre Peergroup gefunden hatten. Dafür standen sie bei mir in der Küche und fragten mir Löcher in den Bauch. Wie viel Salz kommt ins Nudelwasser? Muss man die Büchsentomaten abgießen, oder kommt die Flüssigkeit mit in die Sauce? Wie lange sollen die Zwiebeln schmoren? Klasse, dachte ich, jetzt nutzen sie diese Lücke und lernen gleich mal anständig kochen. Ihr Interesse an Kochbüchern war allerdings auffällig. Ständig blätterten sie sich durch die schönsten Rezepte und riefen: LECKER. Das müssen wir dringend mal machen, Mama. Gegessen wurde aber immer weniger. Ich kann gar nicht sagen, wie viel Nahrungsmittel bei uns in dieser Anfangsphase weggeworfen wurden. Ich musste mein Einkaufsverhalten radikal umstellen.
Beim Skifahren über die Faschingstage
... mehr
fi el es dann allen erstmals deutlich auf, wie wenig Marie »plötzlich« aß. Abends nur noch eineinhalb Brote, und das nach einem anstrengenden Tag am Berg. Sie führte immer die »irre fette Brotzeit auf der Hütte « ins Feld. Nach dem Abendessen, wenn wir spielten oder fernsahen, wurde nichts mehr geknabbert. Uns verging dann auch schnell die Lust am Naschen, und die Abende waren nicht ganz so lustig wie sonst. Zumal für Anna, ihre Zwillingsschwester, die eigentlich ganz gern noch ein wenig zugelangt hätte. Allein Annas Freundin, die wir mitgenommen hatten, vertiefte sich in Berge von Chips und Keksen und genoss das Leben offensichtlich mehr als unsere beiden Mädchen. Haben wir da schon mit Marie gesprochen? Wahrscheinlich nicht. Eine Schlankheitsdiät war in unserer Familie bisher nicht vorgekommen. Wir lieben gutes Essen, und keiner war je dick. Andererseits: Machten nicht alle jungen Mädchen irgendwann einmal eine Diät? Wir sollten vielleicht einfach akzeptieren, dass sie es einmal versuchte. Auch wenn dieses plötzliche »Aufs-Essen-Achten« bei Marie schon irritierte. (Ihre Mutter, also ich, hatte keine einzige Diät im Leben durchgehalten, das ließ doch hoffen, nicht wahr?)
Nach dem Skiurlaub ging das Diätleben zu Hause weiter. Keine Süßigkeiten am Abend, keine Butter mehr aufs Brot, die Salatsauce blieb unaufgetunkt im Teller zurück. Marie nahm deutlich ab, und mein Mann und ich verstanden unser Kind nicht mehr. Weil wir keine Waage haben, wog sie sich bei gemeinsamen Freunden. 49 Kilo. Sie hatte in wenigen Wochen fünf Kilo abgenommen. Wir schluckten, aber sie war stolz auf ihre neue Linie. »Jetzt muss es aber gut sein, Marie«, riefen wir abwechselnd aus. Natürlich sei es jetzt gut, beruhigte sie uns, sie sei zufrieden mit sich und diesem Gewicht, habe sich im letzten Sommer dick und unglücklich gefühlt und wolle jetzt so bleiben. Zu dem Zeitpunkt hatten beide Zwillinge ihre Tage nicht mehr, wie ich erst später erfuhr. Denn auch Anna hatte zwei Kilo verloren. Ist das Abnehmen denn so ansteckend wie ein Schnupfen, fragte ich mich manchmal in dieser Zeit.
Später erfuhr ich aus der Fachliteratur (Mütter lesen alles zum Thema Magersucht), dass eine Übertragung durch Ansteckung tatsächlich in der Wissenschaft diskutiert wurde - doch nicht durch irgendwelche rätselhafte Bakterien! Jeder mit offenen Augen kann sehen, dass die »Ansteckung« mentaler Art ist. In dieser Beziehung fi ndet sie tatsächlich täglich auf dem Schulhof statt. Dünnsein ist schön. Nur Dünne haben Erfolg im Leben und in der Liebe. Essen wird da automatisch zum Gesprächsthema. Ja, wir hatten manchmal den Eindruck, unsere Mädchen hatten kaum noch ein anderes Thema als das Essen. Wenn die beiden abends mit Freundinnen telefonierten, wurden minutenlang die Lebensmittel aufgezählt, die man im Laufe des Tages zu sich genommen hatte. Meist verbunden mit einem »Oh Gott! Ich werde fett!« - woraufhin die Freundin am anderen Ende der Strippe sekundierte, was sie alles gegessen hätte, viel mehr, weshalb sie noch dicker werden würde.
Mein Mann meinte einmal im Scherz: »Wie wäre es, wenn ihr euch erzählen würdet, was ihr alles nicht gegessen habt heute? « - War das noch harmlos? Bei uns vielleicht nicht. Bei anderen sicherlich schon. Schließlich werden die wenigsten Mädchen magersüchtig. Als essgestört kann nach Studien jedes dritte bezeichnet werden, und jedes zweite fühlt sich diffus »zu dick« - auch wenn der BMI (der Body Mass Index) vollkommen in Ordnung ist. Schlankheitsfi mmel und Schönheitswahn sind nicht die Ursachen für Magersucht, aber der Äußerlichkeitskult in unserer Gesellschaft bestellt ihr sozusagen ein fruchtbares Feld.
Die Neckereien des Vaters und die Telefontiraden der Töchter verebbten allerdings in der Zeit zwischen Fasching und Ostern. Wie auch die gute Laune. Es ist erschreckend, wie schnell das Familienleben kippt, wenn ein Kind die Nahrung verweigert. Bei uns waren plötzlich alle - bis auf den 5-jährigen Jakob, der sowieso nicht mehr verstand, in welcher Welt er eigentlich lebte - aufs Essen fi xiert. Anna kontrollierte Marie. Ich schaute auf beide. Mein Mann fragte abends nach der Lage. Die war angespannt. Ich schlief wenig.
Ostern war der große Fixpunkt: Dann würde Marie nämlich endlich wieder normal essen. Dann wäre ihre Fastenzeit endgültig vorbei. Das hatte sie ihrem Vater hoch und heilig versprochen. Ostern würde unser Familienleben wieder ins Lot kommen. Alle würden um den Tisch herumsitzen und lachen und reden und essen. Alles wäre wieder wie früher. - Wobei die fröhlichen Tafelrunden en famille schon vorbei gewesen waren, bevor das Diätleben begann, das muss ich ehrlich zugeben. Die Familienmahlzeiten sind, seit unser Jüngster drei ist und glaubt, zu allem etwas sagen zu müssen, alles andere als entspannend. Es ist schwierig, mit drei Kindern, von denen einer fast ein Jahrzehnt jünger ist, friedlich am Tisch zu sitzen. Die Großen wollen erzählen, die Eltern in Ruhe essen. Der Kleine turnt. Die Eltern ermahnen oder versuchen, die Ruhe durch Ignorieren des Gezappels wiederherzustellen. Klappt aber leider nicht, weil sich die Großen lautstark einschalten: Ihr erzieht den Kleinen nicht (oder falsch). Das führte manchmal dazu, dass vier Leute auf den Kleinen einredeten, und also: zu nichts. Womit ich nur sagen möchte: Seit der Geburt von Jakob hatten sich in der Familie die Gewichte verschoben. Dieser Satz gilt aber ebenso für die Mädchen, deren Pubertät das Familienleben auch gehörig durcheinandergewirbelt hat.
Das Verrückte in der Zeit mit der Magersucht ist: Du machst etwas mit der Tochter aus - etwa dass die Diät bis höchstens Ostern dauern darf - und lässt dann doch nicht locker innerlich. Ich habe wahrscheinlich geahnt, dass sie das Versprechen nicht würde halten können. Heute weiß ich: Das Abrücken von der Magersucht ist kein reiner Willensakt, dafür muss mehr geschehen. - Wann wurde mir klar, dass Marie ernsthaft erkrankt ist? Als sich der Abwärtstrend im Gewicht nicht aufhalten ließ? Als ich vom Ausbleiben der Regel erfuhr? Oder als ich begriff, dass tiefere Konfl ikte den Ausbruch der Krankheit begünstigt hatten?
Damals habe ich mich oft gefragt - und ich frage es mich noch heute -, ob ich vielleicht überreagiert und zu sehr meinen Befürchtungen nachgegeben habe. Andererseits: Es gibt ein intui tives Wissen um manche Dinge des Lebens - und das hatte ich in diesem Fall. Ich wusste, dass Marie in Gefahr ist, so wie ich wenig später auch wusste, dass Anna gefährdet ist. Natürlich sind Wissen und das Handeln aus dem Wissen heraus zwei Paar Schuhe. Sicherlich hätte ich mit weniger Geschrei und mehr Gefasstheit und innerer Ruhe mehr erreicht. Mit Bestimmtheit hätte mir und auch meinem Mann professionelle Unterstützung geholfen. (Die Familientherapie war für uns Eltern eine zusätzliche Belastung, die meiste Literatur zum Thema leider auch, doch dazu später mehr.) Dennoch bleibt die Frage: Warum war ich so rasch in höchster Alarmbereitschaft? Weil ich mein Kind so gut kannte oder weil ich die Essstörung so gut kannte? Beides davon ist wahr, wobei sich der zweite Teil erst langsam, in der Auseinandersetzung mit meiner Ursprungsfamilie, herausstellen sollte.
Trotz all dieser Überlegungen steht für mich fest: Die Besorgnis der Mutter ist ein sicheres Indiz für die Störung. Wenn Mütter sich plötzlich ernsthaft Sorgen um ihr Kind machen, ist Gefahr in Verzug. Mediziner und Psychologen werden die Verlässlichkeit der Mutter-Diagnose vielleicht kritisch sehen, aber sie ernst zu nehmen kann nicht schaden. Zumal die Tochter selbst zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nichts von einer Störung weiß bzw. wissen will. Daher tun aufmerksame Mütter gut daran, ihrem Gefühl zu trauen, gerade wenn es ungut ist. Es gibt viele Möglichkeiten, sich helfen zu lassen, wenn die Tochter dabei ist, in eine veritable Essstörung abzugleiten. Auch wenn sie schon drinsteckt in der Störung, gibt es Wege hinaus. Man kann sein Kind nicht in die Therapie zwingen, aber auf die Wahrheit aufmerksam machen kann man es.
Bei Marie - und bei vielen Magersüchtigen - war es nicht so, dass sie überhaupt nichts mehr gegessen hätte. Es ist eines von vielen Vorurteilen über die Magersucht, dass man meint, die Betroffenen würden nichts oder quasi nur einen Joghurt pro Tag essen. »Aber sie isst doch«, wurde mir manches Mal von Freundinnen zugeraunt, die mich beruhigen wollten. »Ja, aber viel zu wenig«, fl üsterte ich zurück und kam mir jedes Mal idiotisch vor, wie die Mutter einer Dreijährigen. Es ist ein großer Mist, wenn man sich in dem Alter Sorgen um die Ernährung des Kindes machen muss. Ein Rückfall in die Zeit der Glucke, die ich nie recht sein wollte. Ich wollte selbstbewusste, eigenständige Kinder heranziehen - und für mich den entsprechenden Freiraum, den ebensolche Kinder bieten.
»Versuch es doch mal mit ihren Lieblingsgerichten!« Das war ein oft (und nicht sehr gern) gehörter Ratschlag von Freunden. Als ob ich das nicht schon längst versucht hätte! Wobei die Vergeblichkeit dieser Versuche mich nicht wenig frustriert hatte. Marie aß morgens zwei Löffel Cornfl akes mit ein wenig Milch, mittags ein von mir zurechtgemachtes Tellergericht und abends eine Scheibe trockenes Brot, auf das sie, weil wir irgendetwas Aufstrichartiges forderten, eine hauchdünne Schicht ihrer selbstgemachten Marmelade schmierte. Man kann sich vorstellen, dass das Mittagessen immer vom Feinsten war. Aber schon beim Thema Nachtisch war der Ofen aus. Manchmal hatten wir groteske Auseinandersetzungen um einen Löffel mehr (meine Meinung) oder weniger (ihre Haltung) Nudeln. - Ostern kam und ging, und - natürlich, möchte ich fast sagen - Marie rührte ihre Schokoeier nicht an. Ich hatte es ja geahnt! Und auch nicht versäumt, ihr vor Ostern ein wenig Druck zu machen nach dem Motto: »Für dich brauche ich wohl keine Schokoladeneier zu besorgen?« Was hätte sie da antworten sollen, außer unter Tränen: »Ich hab doch schon gesagt, Mama, dass ich Ostern wieder normal esse!« Solche Wortwechsel sind passiert, obwohl »offiziell« Waffenstillstand herrschte, weil ja die Frist bis Ostern ging.
Überhaupt habe ich mich oft falsch verhalten. Mich provozieren lassen durch das Essverhalten des Kindes, das gar nicht mich und meine Küche meinte, sondern Ausdruck großer Not und eines inneren Zwangs war. (Doch das begriff ich erst später - auch wie tückisch das familiäre Gefecht ums Essen war.) »Das hast du doch früher immer so geliebt, Schatz!« Wie oft habe ich diesen Satz gesagt, fassungslos und vorwurfsvoll zugleich? Ich konnte und wollte nicht begreifen, wie man so dauerhaft und stur die schönsten Leckereien ausschlagen konnte - und sich selbst dabei zugrunde richtete. Unsere Mädchen waren immer wunderbare Esser gewesen, der Stolz ihrer Großmütter vom Land. Ja, die kleinen Zwillinge abzufüttern kam einer schweißtreibenden Arbeit gleich. »Hungi« war ihr Schlachtruf und ihr größter Ärger der Verdacht, die Schwester hätte das größere oder bessere Stück bekommen. Später dann hatten wir unzählig viele schöne Abende am Tisch. Ich hatte das für selbstverständlich genommen. Sogar ein wenig den Kopf geschüttelt über die Kostverächter unter anderen Kindern. Wie kann es einem Kind nicht schmecken? Das gibt es doch gar nicht! Jetzt weiß ich, welches Glück es bedeutet, wenn ein Kind gut isst.
»Die wissen wirklich alles«, habe ich damals in meinem Tagebuch notiert, »wie viele Kalorien ein Duplo hat im Vergleich zum Apfel, wie lange man für einen Latte macchiato joggen muss, was Paris Hilton täglich isst.« Ich fand das sehr befremdlich. Und Marie? Wollte vor allem in Ruhe gelassen werden von ihrer nervigen Mutter, die sich plötzlich in ihre Ernährung und in ihr Leben einmischte. Sie wollte einfach nur dünn sein, wo war hier eigentlich das Problem? Andere Mütter würden gar nichts sagen. »Ich werde nicht zulassen, dass du magersüchtig wirst«, sagte ich. Ein frommes Verlangen! Bei den Auseinandersetzungen mit Marie stand Anna auf meiner Seite. »Mensch, Marie, was ist so schlimm daran, ein kleines Stück Käse zu essen?«, sekundierte sie die mütterlichen Erwartungen. (Natürlich aß Marie das Stück Käse dann nicht, das sei dazu gesagt.) Anna hatte kein Verständnis für das neue Essverhalten ihrer Schwester, ob sie die Bedrohung für sich selbst da schon spürte? Einmal, als ich in Tränen aufgelöst war, nahm sie mich spontan in den Arm. Eine erwachsene Geste, über die ich mich sehr freute.
Wie immer, wenn mich etwas bedrückt, habe ich meinen Freundinnen die Lage mit den diätwütigen Töchtern geschildert. Einige erinnerten sich daran, dass sie selbst in ihrer Jugend »gesponnen« hätten mit dem Essen. Eine erzählte, dass ihre Mutter stillschweigend überall im Haus wunderschöne Schalen mit Gebäck, Nüssen und Schokolade verteilt hätte. Der Duft sei verführerisch gewesen - und sie hätte als junges Mädchen dem bald nachgegeben. Einfach wieder gegessen, und das ohne Aufregung und Streit wie bei uns. Eine andere schlug einen Aufenthalt in Afrika vor. Es hätte sich schon manches Mal als heilsam erwiesen, die Kinder in ein Hungergebiet zu schicken. Echtes Leid heilt eingebildete Krankheit. Daran glaubte ich allerdings nicht. An Aufklärung aber schon. Die befreundete Ökotrophologin, die den Zwillingen etwas über gesunde Ernährung und Wachstum erzählen sollte, kam dann nicht zum vereinbarten Termin. Ihr war nicht klar, wie bedrohlich die Lage bereits war. Vielleicht fühlte sie sich auch überfordert: Was erzählt man einem jungen Mädchen, das nicht mehr gescheit essen will? Dass Möhren ohne Käse nicht so gesund sind wie Möhren mit Käse? Magersucht ist kein Ernährungsproblem.
Sie habe sich im vergangenen Sommer dick und unglücklich gefühlt, hatte Marie geäußert. Im August des Vorjahres waren die Kinder und ich bei meiner Freundin eingeladen, die ein Ferienhaus auf Sardinien besitzt - perfekte Bedingungen für einen Urlaub, zumal auch neben den beiden kleineren Kindern ihr ältester Sohn mit von der Partie war. Unsere Mädchen und er kennen sich seit frühester Kindheit. Nun war es aber so, dass Tommy sich eindeutig mehr für Anna interessierte als für Marie. Blöd für Marie, aber doch kein Drama, sollte man meinen - wenn man keine Zwillingsschwester hat. Das Zwillingsdasein ist ganz wunderbar herrlich, aber manchmal eben auch eine echte Last. Diese Last scheint in der Pubertät zu überwiegen, kein Wunder, schließlich geht es hier um Identitätsfi ndung, die wiederum besonders schwierig ist, wenn man immer einen Spiegel seiner selbst vor der Nase hat. Jedenfalls war Marie geknickt. Als sie dann auch noch in einen Seeigel trat und ihr der Arzt, nachdem wir mit Pinzetten und Nadeln nichts hatten ausrichten können, die widerborstigen Stacheln einzeln aus dem Fuß herausoperieren musste, war ihre Moral vollkommen am Boden. Ich habe ihr dann zum Trost ein Armband gekauft. Etwas hilfl os, der Lage entsprechend. - Ich wusste sofort, was sie meinte, als sie vom vergangenen Sommer
sprach. Sie meinte ihr persönliches Unglücklichsein.
Nicht, dass sie mal schlecht drauf war, sondern dass es ihr über einen längeren Zeitraum hinweg schlechtging. Es gibt einen wunderbaren Roman von Anna Gavalda, der auch verfi lmt wurde: »Zusammen ist man weniger allein«. Die Protagonistin, eine begabte junge Frau, die in einem Putzjob verkümmert, ist magersüchtig. Das wird aber nicht explizit ausgesprochen, weder im Film noch im Roman. Wer sich allerdings ein bisschen auskennt mit Essstörungen, weiß gleich, was Sache ist. Denn zu Beginn der Geschichte wird Camille gefragt, ob sie jemanden lieben würde. »Nein«, antwortet sie, »niemanden. Ich habe nichts zu geben.« Das ist die Magersucht. Es ist nicht nur der Mangel an Appetit oder an Gewicht. Es ist das Gefühl von innerer Leere. Der Zusammenbruch des Selbst.
Originalausgabe März 2011
Copyright © 2011 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
ISBN 978-3-426-78387-0
Nach dem Skiurlaub ging das Diätleben zu Hause weiter. Keine Süßigkeiten am Abend, keine Butter mehr aufs Brot, die Salatsauce blieb unaufgetunkt im Teller zurück. Marie nahm deutlich ab, und mein Mann und ich verstanden unser Kind nicht mehr. Weil wir keine Waage haben, wog sie sich bei gemeinsamen Freunden. 49 Kilo. Sie hatte in wenigen Wochen fünf Kilo abgenommen. Wir schluckten, aber sie war stolz auf ihre neue Linie. »Jetzt muss es aber gut sein, Marie«, riefen wir abwechselnd aus. Natürlich sei es jetzt gut, beruhigte sie uns, sie sei zufrieden mit sich und diesem Gewicht, habe sich im letzten Sommer dick und unglücklich gefühlt und wolle jetzt so bleiben. Zu dem Zeitpunkt hatten beide Zwillinge ihre Tage nicht mehr, wie ich erst später erfuhr. Denn auch Anna hatte zwei Kilo verloren. Ist das Abnehmen denn so ansteckend wie ein Schnupfen, fragte ich mich manchmal in dieser Zeit.
Später erfuhr ich aus der Fachliteratur (Mütter lesen alles zum Thema Magersucht), dass eine Übertragung durch Ansteckung tatsächlich in der Wissenschaft diskutiert wurde - doch nicht durch irgendwelche rätselhafte Bakterien! Jeder mit offenen Augen kann sehen, dass die »Ansteckung« mentaler Art ist. In dieser Beziehung fi ndet sie tatsächlich täglich auf dem Schulhof statt. Dünnsein ist schön. Nur Dünne haben Erfolg im Leben und in der Liebe. Essen wird da automatisch zum Gesprächsthema. Ja, wir hatten manchmal den Eindruck, unsere Mädchen hatten kaum noch ein anderes Thema als das Essen. Wenn die beiden abends mit Freundinnen telefonierten, wurden minutenlang die Lebensmittel aufgezählt, die man im Laufe des Tages zu sich genommen hatte. Meist verbunden mit einem »Oh Gott! Ich werde fett!« - woraufhin die Freundin am anderen Ende der Strippe sekundierte, was sie alles gegessen hätte, viel mehr, weshalb sie noch dicker werden würde.
Mein Mann meinte einmal im Scherz: »Wie wäre es, wenn ihr euch erzählen würdet, was ihr alles nicht gegessen habt heute? « - War das noch harmlos? Bei uns vielleicht nicht. Bei anderen sicherlich schon. Schließlich werden die wenigsten Mädchen magersüchtig. Als essgestört kann nach Studien jedes dritte bezeichnet werden, und jedes zweite fühlt sich diffus »zu dick« - auch wenn der BMI (der Body Mass Index) vollkommen in Ordnung ist. Schlankheitsfi mmel und Schönheitswahn sind nicht die Ursachen für Magersucht, aber der Äußerlichkeitskult in unserer Gesellschaft bestellt ihr sozusagen ein fruchtbares Feld.
Die Neckereien des Vaters und die Telefontiraden der Töchter verebbten allerdings in der Zeit zwischen Fasching und Ostern. Wie auch die gute Laune. Es ist erschreckend, wie schnell das Familienleben kippt, wenn ein Kind die Nahrung verweigert. Bei uns waren plötzlich alle - bis auf den 5-jährigen Jakob, der sowieso nicht mehr verstand, in welcher Welt er eigentlich lebte - aufs Essen fi xiert. Anna kontrollierte Marie. Ich schaute auf beide. Mein Mann fragte abends nach der Lage. Die war angespannt. Ich schlief wenig.
Ostern war der große Fixpunkt: Dann würde Marie nämlich endlich wieder normal essen. Dann wäre ihre Fastenzeit endgültig vorbei. Das hatte sie ihrem Vater hoch und heilig versprochen. Ostern würde unser Familienleben wieder ins Lot kommen. Alle würden um den Tisch herumsitzen und lachen und reden und essen. Alles wäre wieder wie früher. - Wobei die fröhlichen Tafelrunden en famille schon vorbei gewesen waren, bevor das Diätleben begann, das muss ich ehrlich zugeben. Die Familienmahlzeiten sind, seit unser Jüngster drei ist und glaubt, zu allem etwas sagen zu müssen, alles andere als entspannend. Es ist schwierig, mit drei Kindern, von denen einer fast ein Jahrzehnt jünger ist, friedlich am Tisch zu sitzen. Die Großen wollen erzählen, die Eltern in Ruhe essen. Der Kleine turnt. Die Eltern ermahnen oder versuchen, die Ruhe durch Ignorieren des Gezappels wiederherzustellen. Klappt aber leider nicht, weil sich die Großen lautstark einschalten: Ihr erzieht den Kleinen nicht (oder falsch). Das führte manchmal dazu, dass vier Leute auf den Kleinen einredeten, und also: zu nichts. Womit ich nur sagen möchte: Seit der Geburt von Jakob hatten sich in der Familie die Gewichte verschoben. Dieser Satz gilt aber ebenso für die Mädchen, deren Pubertät das Familienleben auch gehörig durcheinandergewirbelt hat.
Das Verrückte in der Zeit mit der Magersucht ist: Du machst etwas mit der Tochter aus - etwa dass die Diät bis höchstens Ostern dauern darf - und lässt dann doch nicht locker innerlich. Ich habe wahrscheinlich geahnt, dass sie das Versprechen nicht würde halten können. Heute weiß ich: Das Abrücken von der Magersucht ist kein reiner Willensakt, dafür muss mehr geschehen. - Wann wurde mir klar, dass Marie ernsthaft erkrankt ist? Als sich der Abwärtstrend im Gewicht nicht aufhalten ließ? Als ich vom Ausbleiben der Regel erfuhr? Oder als ich begriff, dass tiefere Konfl ikte den Ausbruch der Krankheit begünstigt hatten?
Damals habe ich mich oft gefragt - und ich frage es mich noch heute -, ob ich vielleicht überreagiert und zu sehr meinen Befürchtungen nachgegeben habe. Andererseits: Es gibt ein intui tives Wissen um manche Dinge des Lebens - und das hatte ich in diesem Fall. Ich wusste, dass Marie in Gefahr ist, so wie ich wenig später auch wusste, dass Anna gefährdet ist. Natürlich sind Wissen und das Handeln aus dem Wissen heraus zwei Paar Schuhe. Sicherlich hätte ich mit weniger Geschrei und mehr Gefasstheit und innerer Ruhe mehr erreicht. Mit Bestimmtheit hätte mir und auch meinem Mann professionelle Unterstützung geholfen. (Die Familientherapie war für uns Eltern eine zusätzliche Belastung, die meiste Literatur zum Thema leider auch, doch dazu später mehr.) Dennoch bleibt die Frage: Warum war ich so rasch in höchster Alarmbereitschaft? Weil ich mein Kind so gut kannte oder weil ich die Essstörung so gut kannte? Beides davon ist wahr, wobei sich der zweite Teil erst langsam, in der Auseinandersetzung mit meiner Ursprungsfamilie, herausstellen sollte.
Trotz all dieser Überlegungen steht für mich fest: Die Besorgnis der Mutter ist ein sicheres Indiz für die Störung. Wenn Mütter sich plötzlich ernsthaft Sorgen um ihr Kind machen, ist Gefahr in Verzug. Mediziner und Psychologen werden die Verlässlichkeit der Mutter-Diagnose vielleicht kritisch sehen, aber sie ernst zu nehmen kann nicht schaden. Zumal die Tochter selbst zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nichts von einer Störung weiß bzw. wissen will. Daher tun aufmerksame Mütter gut daran, ihrem Gefühl zu trauen, gerade wenn es ungut ist. Es gibt viele Möglichkeiten, sich helfen zu lassen, wenn die Tochter dabei ist, in eine veritable Essstörung abzugleiten. Auch wenn sie schon drinsteckt in der Störung, gibt es Wege hinaus. Man kann sein Kind nicht in die Therapie zwingen, aber auf die Wahrheit aufmerksam machen kann man es.
Bei Marie - und bei vielen Magersüchtigen - war es nicht so, dass sie überhaupt nichts mehr gegessen hätte. Es ist eines von vielen Vorurteilen über die Magersucht, dass man meint, die Betroffenen würden nichts oder quasi nur einen Joghurt pro Tag essen. »Aber sie isst doch«, wurde mir manches Mal von Freundinnen zugeraunt, die mich beruhigen wollten. »Ja, aber viel zu wenig«, fl üsterte ich zurück und kam mir jedes Mal idiotisch vor, wie die Mutter einer Dreijährigen. Es ist ein großer Mist, wenn man sich in dem Alter Sorgen um die Ernährung des Kindes machen muss. Ein Rückfall in die Zeit der Glucke, die ich nie recht sein wollte. Ich wollte selbstbewusste, eigenständige Kinder heranziehen - und für mich den entsprechenden Freiraum, den ebensolche Kinder bieten.
»Versuch es doch mal mit ihren Lieblingsgerichten!« Das war ein oft (und nicht sehr gern) gehörter Ratschlag von Freunden. Als ob ich das nicht schon längst versucht hätte! Wobei die Vergeblichkeit dieser Versuche mich nicht wenig frustriert hatte. Marie aß morgens zwei Löffel Cornfl akes mit ein wenig Milch, mittags ein von mir zurechtgemachtes Tellergericht und abends eine Scheibe trockenes Brot, auf das sie, weil wir irgendetwas Aufstrichartiges forderten, eine hauchdünne Schicht ihrer selbstgemachten Marmelade schmierte. Man kann sich vorstellen, dass das Mittagessen immer vom Feinsten war. Aber schon beim Thema Nachtisch war der Ofen aus. Manchmal hatten wir groteske Auseinandersetzungen um einen Löffel mehr (meine Meinung) oder weniger (ihre Haltung) Nudeln. - Ostern kam und ging, und - natürlich, möchte ich fast sagen - Marie rührte ihre Schokoeier nicht an. Ich hatte es ja geahnt! Und auch nicht versäumt, ihr vor Ostern ein wenig Druck zu machen nach dem Motto: »Für dich brauche ich wohl keine Schokoladeneier zu besorgen?« Was hätte sie da antworten sollen, außer unter Tränen: »Ich hab doch schon gesagt, Mama, dass ich Ostern wieder normal esse!« Solche Wortwechsel sind passiert, obwohl »offiziell« Waffenstillstand herrschte, weil ja die Frist bis Ostern ging.
Überhaupt habe ich mich oft falsch verhalten. Mich provozieren lassen durch das Essverhalten des Kindes, das gar nicht mich und meine Küche meinte, sondern Ausdruck großer Not und eines inneren Zwangs war. (Doch das begriff ich erst später - auch wie tückisch das familiäre Gefecht ums Essen war.) »Das hast du doch früher immer so geliebt, Schatz!« Wie oft habe ich diesen Satz gesagt, fassungslos und vorwurfsvoll zugleich? Ich konnte und wollte nicht begreifen, wie man so dauerhaft und stur die schönsten Leckereien ausschlagen konnte - und sich selbst dabei zugrunde richtete. Unsere Mädchen waren immer wunderbare Esser gewesen, der Stolz ihrer Großmütter vom Land. Ja, die kleinen Zwillinge abzufüttern kam einer schweißtreibenden Arbeit gleich. »Hungi« war ihr Schlachtruf und ihr größter Ärger der Verdacht, die Schwester hätte das größere oder bessere Stück bekommen. Später dann hatten wir unzählig viele schöne Abende am Tisch. Ich hatte das für selbstverständlich genommen. Sogar ein wenig den Kopf geschüttelt über die Kostverächter unter anderen Kindern. Wie kann es einem Kind nicht schmecken? Das gibt es doch gar nicht! Jetzt weiß ich, welches Glück es bedeutet, wenn ein Kind gut isst.
»Die wissen wirklich alles«, habe ich damals in meinem Tagebuch notiert, »wie viele Kalorien ein Duplo hat im Vergleich zum Apfel, wie lange man für einen Latte macchiato joggen muss, was Paris Hilton täglich isst.« Ich fand das sehr befremdlich. Und Marie? Wollte vor allem in Ruhe gelassen werden von ihrer nervigen Mutter, die sich plötzlich in ihre Ernährung und in ihr Leben einmischte. Sie wollte einfach nur dünn sein, wo war hier eigentlich das Problem? Andere Mütter würden gar nichts sagen. »Ich werde nicht zulassen, dass du magersüchtig wirst«, sagte ich. Ein frommes Verlangen! Bei den Auseinandersetzungen mit Marie stand Anna auf meiner Seite. »Mensch, Marie, was ist so schlimm daran, ein kleines Stück Käse zu essen?«, sekundierte sie die mütterlichen Erwartungen. (Natürlich aß Marie das Stück Käse dann nicht, das sei dazu gesagt.) Anna hatte kein Verständnis für das neue Essverhalten ihrer Schwester, ob sie die Bedrohung für sich selbst da schon spürte? Einmal, als ich in Tränen aufgelöst war, nahm sie mich spontan in den Arm. Eine erwachsene Geste, über die ich mich sehr freute.
Wie immer, wenn mich etwas bedrückt, habe ich meinen Freundinnen die Lage mit den diätwütigen Töchtern geschildert. Einige erinnerten sich daran, dass sie selbst in ihrer Jugend »gesponnen« hätten mit dem Essen. Eine erzählte, dass ihre Mutter stillschweigend überall im Haus wunderschöne Schalen mit Gebäck, Nüssen und Schokolade verteilt hätte. Der Duft sei verführerisch gewesen - und sie hätte als junges Mädchen dem bald nachgegeben. Einfach wieder gegessen, und das ohne Aufregung und Streit wie bei uns. Eine andere schlug einen Aufenthalt in Afrika vor. Es hätte sich schon manches Mal als heilsam erwiesen, die Kinder in ein Hungergebiet zu schicken. Echtes Leid heilt eingebildete Krankheit. Daran glaubte ich allerdings nicht. An Aufklärung aber schon. Die befreundete Ökotrophologin, die den Zwillingen etwas über gesunde Ernährung und Wachstum erzählen sollte, kam dann nicht zum vereinbarten Termin. Ihr war nicht klar, wie bedrohlich die Lage bereits war. Vielleicht fühlte sie sich auch überfordert: Was erzählt man einem jungen Mädchen, das nicht mehr gescheit essen will? Dass Möhren ohne Käse nicht so gesund sind wie Möhren mit Käse? Magersucht ist kein Ernährungsproblem.
Sie habe sich im vergangenen Sommer dick und unglücklich gefühlt, hatte Marie geäußert. Im August des Vorjahres waren die Kinder und ich bei meiner Freundin eingeladen, die ein Ferienhaus auf Sardinien besitzt - perfekte Bedingungen für einen Urlaub, zumal auch neben den beiden kleineren Kindern ihr ältester Sohn mit von der Partie war. Unsere Mädchen und er kennen sich seit frühester Kindheit. Nun war es aber so, dass Tommy sich eindeutig mehr für Anna interessierte als für Marie. Blöd für Marie, aber doch kein Drama, sollte man meinen - wenn man keine Zwillingsschwester hat. Das Zwillingsdasein ist ganz wunderbar herrlich, aber manchmal eben auch eine echte Last. Diese Last scheint in der Pubertät zu überwiegen, kein Wunder, schließlich geht es hier um Identitätsfi ndung, die wiederum besonders schwierig ist, wenn man immer einen Spiegel seiner selbst vor der Nase hat. Jedenfalls war Marie geknickt. Als sie dann auch noch in einen Seeigel trat und ihr der Arzt, nachdem wir mit Pinzetten und Nadeln nichts hatten ausrichten können, die widerborstigen Stacheln einzeln aus dem Fuß herausoperieren musste, war ihre Moral vollkommen am Boden. Ich habe ihr dann zum Trost ein Armband gekauft. Etwas hilfl os, der Lage entsprechend. - Ich wusste sofort, was sie meinte, als sie vom vergangenen Sommer
sprach. Sie meinte ihr persönliches Unglücklichsein.
Nicht, dass sie mal schlecht drauf war, sondern dass es ihr über einen längeren Zeitraum hinweg schlechtging. Es gibt einen wunderbaren Roman von Anna Gavalda, der auch verfi lmt wurde: »Zusammen ist man weniger allein«. Die Protagonistin, eine begabte junge Frau, die in einem Putzjob verkümmert, ist magersüchtig. Das wird aber nicht explizit ausgesprochen, weder im Film noch im Roman. Wer sich allerdings ein bisschen auskennt mit Essstörungen, weiß gleich, was Sache ist. Denn zu Beginn der Geschichte wird Camille gefragt, ob sie jemanden lieben würde. »Nein«, antwortet sie, »niemanden. Ich habe nichts zu geben.« Das ist die Magersucht. Es ist nicht nur der Mangel an Appetit oder an Gewicht. Es ist das Gefühl von innerer Leere. Der Zusammenbruch des Selbst.
Originalausgabe März 2011
Copyright © 2011 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
ISBN 978-3-426-78387-0
... weniger
Autoren-Porträt von Caroline Wendt
Prof. Dr. Manfred Fichter ist langjähriger ärztlicher Direktor und Chefarzt der Medizinisch-psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Bis heute begleitet er täglich Betroffene und Angehörige bei der Überwindung ihrer Essstörung. Darüber hinaus hat er für seine wissenschaftliche und politische Arbeit auf diesem Gebiet zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Caroline Wendt
- 2011, 283 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426783878
- ISBN-13: 9783426783870
- Erscheinungsdatum: 04.02.2011
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