Ich, mein Vater und die Frau seines Lebens
Roman
Manche Menschen sind mutig, andere sind ängstlich. Und dann gibt es noch Tom. Der alleinerziehende Vater traut sich nicht einmal, die Deckenlampe anzubringen oder den Videorecorder zu programmieren. Geschweige denn, eine Frau nach ihrer Handynummer zu...
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Produktinformationen zu „Ich, mein Vater und die Frau seines Lebens “
Klappentext zu „Ich, mein Vater und die Frau seines Lebens “
Manche Menschen sind mutig, andere sind ängstlich. Und dann gibt es noch Tom. Der alleinerziehende Vater traut sich nicht einmal, die Deckenlampe anzubringen oder den Videorecorder zu programmieren. Geschweige denn, eine Frau nach ihrer Handynummer zu fragen. Seine Nachbarin Maja dagegen ist alleine durch die Sahara getrampt und hält sich Leguane als Haustiere. Und sie hat sich eine TV-Show ausgedacht, in der der Mutigste eine Million Euro gewinnen kann. Tom verliebt sich in Maja. Toms Sohn Paul hat die Idee: Sein Vater wird die Show gewinnen. Und Maja gleich mit.
Lese-Probe zu „Ich, mein Vater und die Frau seines Lebens “
Ich, mein Vater und die Frau seines Lebens von Leo Königstein Kapitel 1
Also ja, ähm, das is so ...«
Der Mann zog den Schnodder in seiner Nase hoch und wischte sich gleichzeitig mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht. Für ihn ging es um alles, und in diesem Moment schien ihm langsam zu dämmern, wie schlecht er vorbereitet war. Sein Gesicht sah aus wie ein Ballon, auf den man kleine Augen und eine Knollnase gemalt hatte, alles drängte sich zur Mitte, die wässrig blauen Augen quollen hervor, und die Hautfarbe bestand aus fünfzig Schattierungen von Grau.
»Sie haben den Antrag ja abgelehnt und ich wollte ... ich bin hier, weil ...«
Er hatte sich für den Termin in ein hellblaues Hemd gezwängt, das er vermutlich zur Konfirmation gekauft und heute Morgen in seinem Kleiderschrank gefunden hatte. Sonst trug er nur T-Shirts mit Sprüchen wie Wer nüchtern ist, hat nur kein Geld zum Saufen oder Sag deinen Brüsten, sie sollen aufhören mich anzustarren, oder das Fan-Shirt von Lotto King Karl: Wer ist eigentlich dieser Köln? Die Sachen, über die sie sich schlapplachten auf den A7-Raststätten, bis die Sache passiert war, deretwegen er hier saß.
»... weil, ich wollte Ihnen das noch mal erklären, wieso ... ich das mit dem Job nich mehr pack ...«
... mehr
Tom saß hinter seinem Schreibtisch und sah auf den Mann herunter, weil die Versicherung den Tisch auf ein kleines Podest gestellt hatte. Ein Trick, den schon Johannes B. Kerner in seiner Sendung immer verwendet hatte. Tom war es einfach nur peinlich. Das Ballongesicht war dreimal so kräftig wie er, in einer Schlägerei hätte er ihn umstandslos niedergewalzt, aber jetzt musste er auf einem niedrigen Stuhl ohne Armlehnen sitzen, und die Angst, nach dreißig Jahren Nachtfahrten in einem Hartz-IV-Dasein zu enden, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn, die langsam über die Nase nach unten liefen.
»... weil, da war eben dieser Unfall. Und ich mein, für so was ist die Versicherung doch da. Und wie lange zahl ich da jetzt ein - dreißig Jahre?«
Das war das Geschäftsmodell von Berufsunfähigkeitsversicherungen. Die Leute wurden mit vierundzwanzig von einem Vertreter zu einem Abschluss überredet, zahlten ihr Leben lang ein und kriegten, wenn sie Mitte fünfzig berufsunfähig wurden, nichts. Außer sie gerieten an Tom, dann hatten sie eine kleine Chance. Tom hatte hier angefangen, als Instant Insurances noch Eutiner Versicherungen hießen und er Ethnologie studierte. Warum er nach siebzehn Jahren immer noch hier saß, hatte er selbst nie richtig begriffen. Es hatte etwas damit zu tun, dass er seine Doktorarbeit nie zu Ende gebracht hatte. Aber warum hatte er seine Doktorarbeit nicht zu Ende gebracht?
»Und das war einfach so ein Schock mit diesem Türkenmädchen, wie sie geschrien hat, und ihre Mutter und die beiden kleinen Geschwister ...«
Das Ballongesicht redete noch wirrer als die meisten Kunden, was aber auch mit dem Typen zu tun haben konnte, der heute neben Tom saß. Ein Mittzwanziger mit weitem türkisblauen Hemd, italienischen Schuhen und der blonden Gelfrisur, die Jörg Pilawa und später Guido Cantz in der gesamten Republik durchgesetzt hatten. Zwei Minuten vor Beginn des Termins hatte Kahlschläger, Toms Chef, ihn in seinem Büro abgeliefert. Vermutlich ein verspäteter Versicherungskaufmann- Azubi aus Blankenese, der in seinem BWL-Studium schon am Bachelor gescheitert war. Der Mittzwanziger hatte ihm sehr fest die Hand gedrückt und sehr smart gelächelt und sich leicht nuschelnd als Henner oder Renner vorgestellt. Und dann hatte auch schon das Ballongesicht an die Tür geklopft, der Mittzwanziger hatte ein MacBook Air aus seinem schwarzen Aktenkoffer geholt und angefangen zu tippen.
»Erzählen Sie doch ruhig noch mal von Anfang an«, ermutigte ihn Tom. Oft lagen Welten zwischen dem Antrag und der Wirklichkeit. Da stand was von Bandscheibenvorfällen und Migräne, und in Wirklichkeit ging es um Whisky und rückabgewickelte Ehen. Der Mann, der zu seinem Unglück auch noch Peter Meier hieß, sah Tom kurz an und gleich wieder zu Boden. Nicht nur sein Gesicht, nein, sein ganzer Körper schien aus aufgepusteten Ballons zu bestehen: Bauch, Arme, Hände, Beine und Füße. Wie eine Figur aus einem Pixar- Film. Tom hatte sie alle gesehen, mit Paul im Cinemaxx hinterm Dammtorbahnhof: Oben, Cars, Toy Story, Monster AG, Ratatouille. Paul liebte die 3D-Spektakel, die drolligen Figuren, den Popcorngeruch, die großen leeren, dunklen Säle und die Happy Ends.
»Na ja, ich bin jetzt dreißig Jahre unterwegs. Immer von zu Hause wech, das is ja schon der Wahnsinn ...«
Die Gelfrisur tippte in ihr MacBook Air, zweihundert Zeichen pro Minute, während Peter Meier in dieser Zeitspanne gerade mal zehn Worte zustande brachte. Das war überhaupt kein Azubi, dafür waren seine Schuhe viel zu teuer. Das war ein Controller. Gab es so junge Controller?
»Und dann die Touren: Spanien, Lettland, Sizilien, an ein Wochenende. Ich mein, wer plant so was?«
Es gab nur zwei Kategorien von Antragstellern: schlaue Füchse und arme Schweine. Die schlauen Füchse spulten genau die Sätze ab, die ihr Anwalt ihnen aufgeschrieben hatte. Die armen Schweine hatten sich nie beraten lassen und laberten nur Unsinn. Ihnen zu helfen war die Kunst, die Tom im Laufe der Jahre verfeinert hatte. Und das größte Problem dabei waren in der Regel die Antragsteller selbst.
»Sie haben in Ihrem Antrag ein Trauma erwähnt?«, unterbrach er ihn. Psychogründe gehörten zu den wasserdichtesten Begründungen überhaupt. Am besten Suizidphantasien.
»Na ja, ich war eben ... wie ich geschrieben hab ... war ich mit mein Rennrad unterwegs die Osterstraße runter. Und vor dieser Eisdiele, plötzlich rennt da ein Türkenkind auf die Fahrbahn und ich geh voll in die Eisen und bin so ... so übern Lenker und mir alles so aufgeschlagen ... alles blutig ... ich mein, das Kind war okay ...«
»Das Kind blieb unverletzt?«, fragte die Gelfrisur. Tatsächlich war es kaum vorstellbar, dass ein Kind unversehrt geblieben war, auf das dieser Koloss auf einem Rennrad die abschüssige Osterstraße hinab zugerast war.
»Das Kind brüllte wie wild, aber ihm ist nix passiert, Scheibenbremse eben, mein Rad stand sofort ... Ich bin natürlich übern Lenker wie 'n Hammer beim Hammerwurf. Und mein Arm, alles kaputt, die Schulter, die Uhr ... hatte ich grad erst gekauft ...«
Tom lehnte sich zurück in seinem hohen schwarzen Lederdrehstuhl. Das Ballongesicht roch nach altem Schweiß und sein Hamburger Akzent verunstaltete alle Vokale zu Quäklauten. Aber er hatte ein Kind gerettet. Er war kein armes Schwein, er war ein Held. Er musste die Rente kriegen.
»Und seitdem geht es Ihnen schlecht?«
»Joo.«
»Sie können schlecht schlafen?«
»Manchmal. Na ja, nich immer natürlich. Im Grunde schlaf ich ja gut. Wie 'n Stein, sacht Marga immer.«
Nun halt doch die Klappe, dachte Tom.
»Aber seitdem denken Sie manchmal daran - sich umzubringen? «
Das Ballongesicht erstarrte. Und löste sich dann in ein ungläubiges Grinsen auf.
»Äh ... wer sacht das denn? Ich bin doch kein Psycho! Nee ...«
Tom presste seine sehr schmalen Lippen zusammen. Und das Ballongesicht hielt inne. Hatte er den Hinweis verstanden?
»... aber wissen Sie, das is so: Immer wenn ich hinterm Steuer sitze, seh ich plötzlich dieses Türkenkind vor mir. Die Hölle. Weil, mein Fahrrad hat 'n Bremsweg von 'nem Meter. Aber mein Truck?«
»Nur zum Verständnis«, sagte die Gelfrisur mit schnarrender Stimme, »Sie hatten einen Fahrradunfall. Es ist nichts passiert. Und jetzt können Sie den Rest Ihres Lebens nicht mehr Lkw fahren?«
Nein, das war kein normaler Controller, das war ein hochbezahlter Consultant. Einer, der mit zweiundzwanzig die London School of Economics abgeschlossen hatte und Kahlschläger nachher vorschreiben würde, Peter-Meier-Gespräche kostensparend per Chat im Netz zu lösen.
»Ich hab mir ja selber immer gesacht: Jetzt spinn nich rum, Peder. Aber das sitzt irgendwie in mein Kopf. Das war so knapp ... Erst hab ich mich krankschreiben lassen, 'n paar Wochen, aber dann meinte meine Frau: du hast doch da diese Versicherung, wo du schon dreißig Jahre einzahlst ...«
Ja, das hätte eine gute Idee sein können. Wenn er nicht in Gegenwart eines McKinsey-Zeugen, der jedes Wort mitschrieb, von ›krankschreiben lassen‹ gesprochen hätte.
»Deshalb meinte Marga, ich soll's einfach mal versuchen. Wo ich doch sowieso bald operiert werde ...«
Das Ballongesicht hustete sehr laut und lange und ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, als ob er gleich Asthma als weiteren Grund angeben würde.
»Operiert?«, fragte Tom. Davon hatte nichts in den Akten gestanden.
»Ja, wegen meinem Diabetes. Sieht man mir ja nich an, weil ich hab Typ 2. Aber das is auch nich ohne ... und deswegen soll mir da so 'n Bypass gelegt werden ...«
Diabetes. Ein Himmelsgeschenk. Da konnte der Jung-Consultant noch so viel tippen. Bei Diabetes konnte der Blutzuckerwert locker unter 50 fallen. Bei 25 war man tot. Und der Lkw unkontrolliert auf der Autobahn unterwegs. Mit Diabetes waren Fernfahrer automatisch berufsunfähig. In neueren Verträgen schob man solche Leute auf Pförtnerposten ab, aber in Meiers Altvertrag von 1982 gab es solche Tricks noch nicht. Meier würde nicht als Pförtner arbeiten müssen. Es sei denn, er böte es ausdrücklich an. Freiwillig. Und so blöd würde selbst er nicht sein.
»Herr Meier«, Tom modulierte seine Stimme auf Beerdigungstemperatur hinunter, »entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Aber mit Diabetes mellitus dürfen Sie nie wieder in Ihrem Leben einen Lkw besteigen. Sie sind berufsunfähig. «
Die Jörg-Pilawa-Frisur sah hoch. Das Ballongesicht sah hoch. Selbst das Tippen hatte aufgehört. Draußen blühten die Ringelblumen. Es war ein wunderschöner Tag. Und er würde nachher vor dem Gutenachtlied Paul davon erzählen. »Ja, also äh ... meinen Sie? Bloß wegen dem Diabetes?«
Tom nickte. Für diese Momente war er bei Instant Insurances geblieben.
»Aber mal ehrlich«, das Ballongesicht kratzte sich am Kopf.
»Sooo schlimm ist das doch gar nicht.« Eine Furche grub sich zwischen seine Augenbrauen, man konnte fast sehen, wie angestrengt er nachdachte. Sag jetzt nichts, dachte Tom. Aber die Telepathie funktionierte nicht.
»Damit kann ich doch noch als Pförtner arbeiten, oder?«
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013.
Tom saß hinter seinem Schreibtisch und sah auf den Mann herunter, weil die Versicherung den Tisch auf ein kleines Podest gestellt hatte. Ein Trick, den schon Johannes B. Kerner in seiner Sendung immer verwendet hatte. Tom war es einfach nur peinlich. Das Ballongesicht war dreimal so kräftig wie er, in einer Schlägerei hätte er ihn umstandslos niedergewalzt, aber jetzt musste er auf einem niedrigen Stuhl ohne Armlehnen sitzen, und die Angst, nach dreißig Jahren Nachtfahrten in einem Hartz-IV-Dasein zu enden, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn, die langsam über die Nase nach unten liefen.
»... weil, da war eben dieser Unfall. Und ich mein, für so was ist die Versicherung doch da. Und wie lange zahl ich da jetzt ein - dreißig Jahre?«
Das war das Geschäftsmodell von Berufsunfähigkeitsversicherungen. Die Leute wurden mit vierundzwanzig von einem Vertreter zu einem Abschluss überredet, zahlten ihr Leben lang ein und kriegten, wenn sie Mitte fünfzig berufsunfähig wurden, nichts. Außer sie gerieten an Tom, dann hatten sie eine kleine Chance. Tom hatte hier angefangen, als Instant Insurances noch Eutiner Versicherungen hießen und er Ethnologie studierte. Warum er nach siebzehn Jahren immer noch hier saß, hatte er selbst nie richtig begriffen. Es hatte etwas damit zu tun, dass er seine Doktorarbeit nie zu Ende gebracht hatte. Aber warum hatte er seine Doktorarbeit nicht zu Ende gebracht?
»Und das war einfach so ein Schock mit diesem Türkenmädchen, wie sie geschrien hat, und ihre Mutter und die beiden kleinen Geschwister ...«
Das Ballongesicht redete noch wirrer als die meisten Kunden, was aber auch mit dem Typen zu tun haben konnte, der heute neben Tom saß. Ein Mittzwanziger mit weitem türkisblauen Hemd, italienischen Schuhen und der blonden Gelfrisur, die Jörg Pilawa und später Guido Cantz in der gesamten Republik durchgesetzt hatten. Zwei Minuten vor Beginn des Termins hatte Kahlschläger, Toms Chef, ihn in seinem Büro abgeliefert. Vermutlich ein verspäteter Versicherungskaufmann- Azubi aus Blankenese, der in seinem BWL-Studium schon am Bachelor gescheitert war. Der Mittzwanziger hatte ihm sehr fest die Hand gedrückt und sehr smart gelächelt und sich leicht nuschelnd als Henner oder Renner vorgestellt. Und dann hatte auch schon das Ballongesicht an die Tür geklopft, der Mittzwanziger hatte ein MacBook Air aus seinem schwarzen Aktenkoffer geholt und angefangen zu tippen.
»Erzählen Sie doch ruhig noch mal von Anfang an«, ermutigte ihn Tom. Oft lagen Welten zwischen dem Antrag und der Wirklichkeit. Da stand was von Bandscheibenvorfällen und Migräne, und in Wirklichkeit ging es um Whisky und rückabgewickelte Ehen. Der Mann, der zu seinem Unglück auch noch Peter Meier hieß, sah Tom kurz an und gleich wieder zu Boden. Nicht nur sein Gesicht, nein, sein ganzer Körper schien aus aufgepusteten Ballons zu bestehen: Bauch, Arme, Hände, Beine und Füße. Wie eine Figur aus einem Pixar- Film. Tom hatte sie alle gesehen, mit Paul im Cinemaxx hinterm Dammtorbahnhof: Oben, Cars, Toy Story, Monster AG, Ratatouille. Paul liebte die 3D-Spektakel, die drolligen Figuren, den Popcorngeruch, die großen leeren, dunklen Säle und die Happy Ends.
»Na ja, ich bin jetzt dreißig Jahre unterwegs. Immer von zu Hause wech, das is ja schon der Wahnsinn ...«
Die Gelfrisur tippte in ihr MacBook Air, zweihundert Zeichen pro Minute, während Peter Meier in dieser Zeitspanne gerade mal zehn Worte zustande brachte. Das war überhaupt kein Azubi, dafür waren seine Schuhe viel zu teuer. Das war ein Controller. Gab es so junge Controller?
»Und dann die Touren: Spanien, Lettland, Sizilien, an ein Wochenende. Ich mein, wer plant so was?«
Es gab nur zwei Kategorien von Antragstellern: schlaue Füchse und arme Schweine. Die schlauen Füchse spulten genau die Sätze ab, die ihr Anwalt ihnen aufgeschrieben hatte. Die armen Schweine hatten sich nie beraten lassen und laberten nur Unsinn. Ihnen zu helfen war die Kunst, die Tom im Laufe der Jahre verfeinert hatte. Und das größte Problem dabei waren in der Regel die Antragsteller selbst.
»Sie haben in Ihrem Antrag ein Trauma erwähnt?«, unterbrach er ihn. Psychogründe gehörten zu den wasserdichtesten Begründungen überhaupt. Am besten Suizidphantasien.
»Na ja, ich war eben ... wie ich geschrieben hab ... war ich mit mein Rennrad unterwegs die Osterstraße runter. Und vor dieser Eisdiele, plötzlich rennt da ein Türkenkind auf die Fahrbahn und ich geh voll in die Eisen und bin so ... so übern Lenker und mir alles so aufgeschlagen ... alles blutig ... ich mein, das Kind war okay ...«
»Das Kind blieb unverletzt?«, fragte die Gelfrisur. Tatsächlich war es kaum vorstellbar, dass ein Kind unversehrt geblieben war, auf das dieser Koloss auf einem Rennrad die abschüssige Osterstraße hinab zugerast war.
»Das Kind brüllte wie wild, aber ihm ist nix passiert, Scheibenbremse eben, mein Rad stand sofort ... Ich bin natürlich übern Lenker wie 'n Hammer beim Hammerwurf. Und mein Arm, alles kaputt, die Schulter, die Uhr ... hatte ich grad erst gekauft ...«
Tom lehnte sich zurück in seinem hohen schwarzen Lederdrehstuhl. Das Ballongesicht roch nach altem Schweiß und sein Hamburger Akzent verunstaltete alle Vokale zu Quäklauten. Aber er hatte ein Kind gerettet. Er war kein armes Schwein, er war ein Held. Er musste die Rente kriegen.
»Und seitdem geht es Ihnen schlecht?«
»Joo.«
»Sie können schlecht schlafen?«
»Manchmal. Na ja, nich immer natürlich. Im Grunde schlaf ich ja gut. Wie 'n Stein, sacht Marga immer.«
Nun halt doch die Klappe, dachte Tom.
»Aber seitdem denken Sie manchmal daran - sich umzubringen? «
Das Ballongesicht erstarrte. Und löste sich dann in ein ungläubiges Grinsen auf.
»Äh ... wer sacht das denn? Ich bin doch kein Psycho! Nee ...«
Tom presste seine sehr schmalen Lippen zusammen. Und das Ballongesicht hielt inne. Hatte er den Hinweis verstanden?
»... aber wissen Sie, das is so: Immer wenn ich hinterm Steuer sitze, seh ich plötzlich dieses Türkenkind vor mir. Die Hölle. Weil, mein Fahrrad hat 'n Bremsweg von 'nem Meter. Aber mein Truck?«
»Nur zum Verständnis«, sagte die Gelfrisur mit schnarrender Stimme, »Sie hatten einen Fahrradunfall. Es ist nichts passiert. Und jetzt können Sie den Rest Ihres Lebens nicht mehr Lkw fahren?«
Nein, das war kein normaler Controller, das war ein hochbezahlter Consultant. Einer, der mit zweiundzwanzig die London School of Economics abgeschlossen hatte und Kahlschläger nachher vorschreiben würde, Peter-Meier-Gespräche kostensparend per Chat im Netz zu lösen.
»Ich hab mir ja selber immer gesacht: Jetzt spinn nich rum, Peder. Aber das sitzt irgendwie in mein Kopf. Das war so knapp ... Erst hab ich mich krankschreiben lassen, 'n paar Wochen, aber dann meinte meine Frau: du hast doch da diese Versicherung, wo du schon dreißig Jahre einzahlst ...«
Ja, das hätte eine gute Idee sein können. Wenn er nicht in Gegenwart eines McKinsey-Zeugen, der jedes Wort mitschrieb, von ›krankschreiben lassen‹ gesprochen hätte.
»Deshalb meinte Marga, ich soll's einfach mal versuchen. Wo ich doch sowieso bald operiert werde ...«
Das Ballongesicht hustete sehr laut und lange und ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, als ob er gleich Asthma als weiteren Grund angeben würde.
»Operiert?«, fragte Tom. Davon hatte nichts in den Akten gestanden.
»Ja, wegen meinem Diabetes. Sieht man mir ja nich an, weil ich hab Typ 2. Aber das is auch nich ohne ... und deswegen soll mir da so 'n Bypass gelegt werden ...«
Diabetes. Ein Himmelsgeschenk. Da konnte der Jung-Consultant noch so viel tippen. Bei Diabetes konnte der Blutzuckerwert locker unter 50 fallen. Bei 25 war man tot. Und der Lkw unkontrolliert auf der Autobahn unterwegs. Mit Diabetes waren Fernfahrer automatisch berufsunfähig. In neueren Verträgen schob man solche Leute auf Pförtnerposten ab, aber in Meiers Altvertrag von 1982 gab es solche Tricks noch nicht. Meier würde nicht als Pförtner arbeiten müssen. Es sei denn, er böte es ausdrücklich an. Freiwillig. Und so blöd würde selbst er nicht sein.
»Herr Meier«, Tom modulierte seine Stimme auf Beerdigungstemperatur hinunter, »entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Aber mit Diabetes mellitus dürfen Sie nie wieder in Ihrem Leben einen Lkw besteigen. Sie sind berufsunfähig. «
Die Jörg-Pilawa-Frisur sah hoch. Das Ballongesicht sah hoch. Selbst das Tippen hatte aufgehört. Draußen blühten die Ringelblumen. Es war ein wunderschöner Tag. Und er würde nachher vor dem Gutenachtlied Paul davon erzählen. »Ja, also äh ... meinen Sie? Bloß wegen dem Diabetes?«
Tom nickte. Für diese Momente war er bei Instant Insurances geblieben.
»Aber mal ehrlich«, das Ballongesicht kratzte sich am Kopf.
»Sooo schlimm ist das doch gar nicht.« Eine Furche grub sich zwischen seine Augenbrauen, man konnte fast sehen, wie angestrengt er nachdachte. Sag jetzt nichts, dachte Tom. Aber die Telepathie funktionierte nicht.
»Damit kann ich doch noch als Pförtner arbeiten, oder?«
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013.
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Autoren-Porträt von Leo Königstein
Leo Königstein, geboren 1971 in Neumünster, studierte Ethnologie in Hamburg, Rio de Janeiro und Addis Abeba und arbeitete als Kellner, Konzertgitarrist, Unidozent und Versicherungssachbearbeiter. Er lebt und schreibt in Hamburg und ist Vater von drei Kindern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leo Königstein
- 2013, 288 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: List
- ISBN-10: 3471350772
- ISBN-13: 9783471350775
- Erscheinungsdatum: 09.08.2013
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