Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Sie ist ein kleines Mädchen, gerade mal zehn Jahre alt, als ihre Kindheit endet. Die kleine Nojoud aus dem Jemen wird von ihrem Vater an einen 22 Jahre älteren Mann verheiratet. Sie hat keine andere Wahl, als mit ihm zu gehen. Damit beginnen...
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Produktinformationen zu „Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden “
Sie ist ein kleines Mädchen, gerade mal zehn Jahre alt, als ihre Kindheit endet. Die kleine Nojoud aus dem Jemen wird von ihrem Vater an einen 22 Jahre älteren Mann verheiratet. Sie hat keine andere Wahl, als mit ihm zu gehen. Damit beginnen für sie Wochen der Unterdrückung, in denen sie geschlagen und missbraucht wird. Doch nach zweieinhalb Monaten macht sie einen unglaublichen Schritt: sie geht allein vor Gericht und erwirkt die Scheidung von ihrem Mann. Sie bricht damit ein Tabu und macht gleichzeitig anderen Mädchen Mut.
Lese-Probe zu „Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden “
Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden von Ali Nojoud
1. Im Gericht
2. April 2008
Mir dreht sich alles im Kopf. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele Menschen gesehen. In dem Hof, der zum Hauptgebäude des Gerichts führt, hetzt eine Menschenmenge hin und her. Männer in Anzug und Krawatte, vergilbte Aktenstapel unter den Arm geklemmt. Andere, mit einer zanna bekleidet, der traditionellen Tunika, die man in den Dörfern des Nordjemen trägt. Und zudem all diese Frauen, die in unverständlichem Stimmengewirr schreien und weinen. Ich würde gerne von ihren Lippen ablesen, was sie zu sagen versuchen, doch die Ton in Ton auf die langen schwarzen Schleier abgestimmten niqabs lassen von ihren Gesichtern nur ihre runden Augen durchscheinen.
Man könnte meinen, es seien Handgranaten kurz vor der Explosion. Wütend sehen sie aus, als hätte ein Wirbelsturm gerade ihr Haus zertrümmert. Ich spitze die Ohren.
... mehr
Von ihren Gesprächen erhasche ich nur ein paar Wörter: »Sorgerecht für das Kind«, »Justiz«, »Menschenrechte « … Ich weiß nicht so recht, was das bedeutet. Nicht weit von mir erzählt ein Riese mit kantigen Schultern, den Turban auf die Schläfen gepfropft und eine Plastiktüte voller Schriftstücke unterm Arm, jedem, der es hören will, dass er hergekommen ist, um sich das Land, das man ihm genommen hat, zurückzuholen. Autsch! Der Kerl hätte mich fast gerammt, der springt ja hin und her wie ein verschreckter Hase.
So ein Durcheinander! Ich muss an den Al-Qa- Platz denken, den Platz der Arbeitslosen im Herzen von Sanaa, von dem Aba oft spricht. Jeder will der Erste ein, um eine Anstellung für den Tag zu ergattern, beim ersten Sonnenstrahl, gleich nach dem azan, dem Aufruf zum Morgengebet. Diese Männer haben solchen Hunger, dass sie da, wo bei anderen das Herz ist, einen Stein in der Brust haben. Keine Zeit, mir über das Schicksal anderer Gedanken zu machen. Trotzdem würde ich mir so sehr wünschen, dass mich jemand an der Hand nimmt, mich mitfühlend ansieht.
Dass man mir zuhört, nur das eine Mal! Aber es ist, als sei ich unsichtbar. Keiner sieht mich. Ich bin zu klein für sie. Ich reiche ihnen gerade bis zur Hüfte. Ich bin erst zehn Jahre alt, vielleicht noch nicht mal, wer weiß? Das Gericht hatte ich mir anders vorgestellt, eher als einen ruhigen, sauberen Ort. Ein großes Haus, wo das Gute gegen das Böse siegt, wo alle Probleme der Welt gelöst werden. Im Fernsehen, bei den Nachbarn, hatte ich schon Gerichtssäle gesehen, mit Richtern in langer Tracht. Es heißt, sie könnten den Menschen in Not helfen. Ich muss einen finden und ihm meine Geschichte erzählen. Ich bin erschöpft. Mir ist warm unter meinem Schleier. Ich schäme mich, und mein Kopf tut mir weh. Habe ich die Kraft, weiterzumachen? Nein. Ja. Vielleicht.
Zu spät, jetzt einen Rückzieher zu machen, sage ich mir. Das Schlimmste ist vorbei. Jetzt muss es vorwärtsgehen.
Als ich heute Morgen das Haus meiner Eltern verließ, habe ich mir geschworen, es erst wieder zu betreten, wenn ich mein Ziel erreicht habe. Es war genau zehn Uhr. »Geh Brot kaufen für das Frühstück«, hatte meine Mutter gesagt und mir 150 Rial gegeben. Automatisch knotete ich meine langen dunkelbraunen Haare unter meinem schwarzen Kopftuch zusammen und hüllte meinen Körper in einen gleichfarbigen Mantel – die Kleidung der jemenitischen Frauen, wenn sie auf die Straße gehen. Zitternd ging ich ein paar Meter, dann nahm ich den ersten Minibus, der auf dem breiten Boulevard Richtung Stadtzentrum fuhr. An der Endstation stieg ich aus. Und zum ersten Mal in meinem Leben bezwang ich meine Angst und stieg ganz alleine in ein gelbes Taxi.
Im Hof zieht sich das Warten in die Länge. An wen soll ich mich wenden? Unverhofft bemerke ich in der Menge verständnisvolle Blicke. Drüben bei der Treppe, die zum Eingang des großen Gebäudes aus sandfarbenem Zement führt, stehen drei Jungen in Plastiksandalen und mustern mich von Kopf bis Fuß. Ihre Gesichter sind ganz schwarz vor Staub. Sie erinnern mich an meine Brüder.
»Dein Gewicht für zehn Rial!«, ruft der eine mir zu und schwenkt eine alte verbeulte Waage. »Ein Tee für deinen Durst!«, bietet mir ein anderer an und schaukelt einen kleinen Korb voll dampfender Gläser hin und her. »Einen frischen Möhrensaft?«, fragt der dritte, wobei er sein schönstes Lächeln aufsetzt und gleichzeitig die Hand ausstreckt in der Hoffnung, ein Geldstück zu bekommen. Nein, danke. Ich habe keinen Durst. Und ehrlich gesagt, ist es mir völlig egal, wie viel ich wiege!
Wenn die wüssten, was mich hierhergeführt hat.
Hilflos hebe ich den Kopf und schaue wieder in die Gesichter der vielen Erwachsenen, die um mich herumwirbeln. Mit ihren langen Schleiern sehen alle Frauen gleich aus. Wie schwarze Schatten, eher furchterregend als verführerisch. Auf was habe ich mich da nur eingelassen? Na so was, da drüben, der Mann im weißen Hemd und schwarzen Anzug, der kommt jetzt auf mich zu. Vielleicht ein Richter … oder ein Rechtsanwalt? Los, jetzt muss ich mich nur trauen, ihn anzusprechen. »Entschuldigung, ich möchte zum Richter!«
»Zum Richter? Da lang, die Treppe hoch«, antwortet er, ohne mich richtig anzusehen, und verschwindet danach sofort wieder in der Menge. Ich habe keine andere Wahl mehr. Ich muss ihr die Stirn bieten, dieser Treppe, die sich nun direkt vor mir befindet. Das ist meine einzige und letzte Chance, aus alldem herauszukommen. Ich fühle mich schmutzig. Ich muss diese Stufen emporsteigen, eine nach der anderen, um meine Geschichte zu erzählen, muss diese Woge von Menschen durchqueren, die sich immer mehr auftürmt, je näher ich der großen Eingangshalle komme. Fast wäre ich hingefallen. Ich richte mich wieder auf. Meine Augen sind trocken vom vielen Weinen. Ich kann nicht mehr. Meine Füße sind schwer wie Blei, als ich sie endlich auf dem Marmorboden der großen Eingangshalle aufsetze. Ich darf nicht die Fassung verlieren. Nicht jetzt.
Auf den Wänden, die weiß glänzen wie in einem Krankenhaus, erkenne ich Hinweise in arabischer Schrift. Sosehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht, sie zu lesen. Man hat mich dazu gezwungen, die Schule im zweiten Schuljahr abzubrechen, kurz bevor sich mein Leben in einen Albtraum verwandelte, und außer meinem Vornamen Nojoud kann ich kaum etwas schreiben. Mein Blick fällt schließlich auf eine Gruppe Männer in olivgrüner Uniform und mit tief in die Stirn gezogenen Schirmmützen. Das sind sicher Polizisten. Oder vielleicht Soldaten? Einer von ihnen hat eine Kalaschnikow quer umgehängt.
Mir läuft es eiskalt über den Rücken. Wenn sie mich sehen, verhaften sie mich womöglich. Ein kleines Mädchen, das von zu Hause wegläuft, das gehört sich nicht. In meiner Angst hänge ich mich unauffällig an den ersten Schleier, der an mir vorbeikommt, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Unbekannten, die sich dahinter versteckt, auf mich zu lenken. »Los! Nojoud!«, befiehlt mir meine zaghafte innere Stimme. »Du bist zwar ein Mädchen. Aber du bist auch eine Frau! Eine echte, auch wenn es dir noch schwerfällt, das zu akzeptieren!« »Ich möchte mit dem Richter sprechen!« Zwei große, schwarz eingerahmte Augen mustern mich erstaunt. Die Dame, die mir gegenübersteht, hat mich erst jetzt bemerkt.
»Wie bitte?« »Ich möchte mit dem Richter sprechen!« Will sie mich absichtlich nicht verstehen, damit sie mich schneller loswird, so wie die anderen? »Welchen Richter suchst du denn?« »Ich möchte einfach nur mit einem Richter sprechen! «
»Aber es gibt viele Richter an diesem Gericht …«
»Nehmen Sie mich zu einem Richter mit, egal, zu welchem!«
Sie schweigt, erstaunt über meine Entschlossenheit. Vielleicht hat sie auch mein kleiner durchdringender Schrei sprachlos gemacht. Ich bin ein Mädchen vom Land, das in der Hauptstadt lebt. Ich habe mich immer den Befehlen der Männer aus der Familie gebeugt. Seit jeher habe ich gelernt, zu allem »ja« zu sagen. Heute habe ich beschlossen, »nein« zu sagen. Ich fühle mich innerlich beschmutzt. Es ist, als hätte man einen Teil von mir geraubt. Niemand hat das Recht, mich davon abzuhalten, bei der Justiz vorzusprechen. Es ist meine letzte Chance, aus alldem herauszukommen. Ich werde nicht einfach aufgeben. Und dieser erstaunte Blick, so kalt wie der Marmor in der großen Halle, in der das Echo meines Schreis seltsam widerhallte, wird mich nicht zum Schweigen bringen. Mittag ist nun längst vorbei. Seit über drei Stunden irre ich jetzt schon verzweifelt durch das Labyrinth dieses Gerichts. Ich will mit dem Richter sprechen!
»Komm mit!«, sagt sie und gibt mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass ich ihr folgen soll. Die Tür öffnet sich zu einem mit braunem Teppichboden ausgelegten Raum, der die Geräusche dämpft. An einem Schreibtisch im Hintergrund gibt sich ein Schnauzbärtiger mit feinen Gesichtszügen redliche Mühe, die Flut der Fragen zu beantworten, die von allen Seiten auf ihn hereinbricht. Das ist der Richter. Endlich! Obwohl es ziemlich laut zugeht, ist die Atmosphäre doch beruhigend. Ich fühle mich sicher hier. An der mittleren Wand erkenne ich das eingerahmte Foto von »Amma Ali«, Onkel Ali. In der Schule hat man mir beigebracht, den Präsidenten unseres Landes, Ali Abdallah al-Salih, vor über dreißig Jahren gewählt, so zu nennen. Manche sagen von ihm, er sei ein Diktator, andere bezichtigen ihn der Korruption. Für mich ist das unwichtig.
Ich bin hier, um mit dem Richter zu sprechen. Das ist alles. Wie die anderen setze ich mich auf einen der braunen Sessel, die an der Wand aufgereiht sind.
Draußen ruft der Muezzin zum Mittagsgebet. Rings um mich bemerke ich Gesichter, die ich zuvor im Hof gesehen habe, blicke in vertraute Augen. Manche von ihnen beugen sich zu mir herunter und sehen mich merkwürdig an. © Droemer/Knaur Verlag
So ein Durcheinander! Ich muss an den Al-Qa- Platz denken, den Platz der Arbeitslosen im Herzen von Sanaa, von dem Aba oft spricht. Jeder will der Erste ein, um eine Anstellung für den Tag zu ergattern, beim ersten Sonnenstrahl, gleich nach dem azan, dem Aufruf zum Morgengebet. Diese Männer haben solchen Hunger, dass sie da, wo bei anderen das Herz ist, einen Stein in der Brust haben. Keine Zeit, mir über das Schicksal anderer Gedanken zu machen. Trotzdem würde ich mir so sehr wünschen, dass mich jemand an der Hand nimmt, mich mitfühlend ansieht.
Dass man mir zuhört, nur das eine Mal! Aber es ist, als sei ich unsichtbar. Keiner sieht mich. Ich bin zu klein für sie. Ich reiche ihnen gerade bis zur Hüfte. Ich bin erst zehn Jahre alt, vielleicht noch nicht mal, wer weiß? Das Gericht hatte ich mir anders vorgestellt, eher als einen ruhigen, sauberen Ort. Ein großes Haus, wo das Gute gegen das Böse siegt, wo alle Probleme der Welt gelöst werden. Im Fernsehen, bei den Nachbarn, hatte ich schon Gerichtssäle gesehen, mit Richtern in langer Tracht. Es heißt, sie könnten den Menschen in Not helfen. Ich muss einen finden und ihm meine Geschichte erzählen. Ich bin erschöpft. Mir ist warm unter meinem Schleier. Ich schäme mich, und mein Kopf tut mir weh. Habe ich die Kraft, weiterzumachen? Nein. Ja. Vielleicht.
Zu spät, jetzt einen Rückzieher zu machen, sage ich mir. Das Schlimmste ist vorbei. Jetzt muss es vorwärtsgehen.
Als ich heute Morgen das Haus meiner Eltern verließ, habe ich mir geschworen, es erst wieder zu betreten, wenn ich mein Ziel erreicht habe. Es war genau zehn Uhr. »Geh Brot kaufen für das Frühstück«, hatte meine Mutter gesagt und mir 150 Rial gegeben. Automatisch knotete ich meine langen dunkelbraunen Haare unter meinem schwarzen Kopftuch zusammen und hüllte meinen Körper in einen gleichfarbigen Mantel – die Kleidung der jemenitischen Frauen, wenn sie auf die Straße gehen. Zitternd ging ich ein paar Meter, dann nahm ich den ersten Minibus, der auf dem breiten Boulevard Richtung Stadtzentrum fuhr. An der Endstation stieg ich aus. Und zum ersten Mal in meinem Leben bezwang ich meine Angst und stieg ganz alleine in ein gelbes Taxi.
Im Hof zieht sich das Warten in die Länge. An wen soll ich mich wenden? Unverhofft bemerke ich in der Menge verständnisvolle Blicke. Drüben bei der Treppe, die zum Eingang des großen Gebäudes aus sandfarbenem Zement führt, stehen drei Jungen in Plastiksandalen und mustern mich von Kopf bis Fuß. Ihre Gesichter sind ganz schwarz vor Staub. Sie erinnern mich an meine Brüder.
»Dein Gewicht für zehn Rial!«, ruft der eine mir zu und schwenkt eine alte verbeulte Waage. »Ein Tee für deinen Durst!«, bietet mir ein anderer an und schaukelt einen kleinen Korb voll dampfender Gläser hin und her. »Einen frischen Möhrensaft?«, fragt der dritte, wobei er sein schönstes Lächeln aufsetzt und gleichzeitig die Hand ausstreckt in der Hoffnung, ein Geldstück zu bekommen. Nein, danke. Ich habe keinen Durst. Und ehrlich gesagt, ist es mir völlig egal, wie viel ich wiege!
Wenn die wüssten, was mich hierhergeführt hat.
Hilflos hebe ich den Kopf und schaue wieder in die Gesichter der vielen Erwachsenen, die um mich herumwirbeln. Mit ihren langen Schleiern sehen alle Frauen gleich aus. Wie schwarze Schatten, eher furchterregend als verführerisch. Auf was habe ich mich da nur eingelassen? Na so was, da drüben, der Mann im weißen Hemd und schwarzen Anzug, der kommt jetzt auf mich zu. Vielleicht ein Richter … oder ein Rechtsanwalt? Los, jetzt muss ich mich nur trauen, ihn anzusprechen. »Entschuldigung, ich möchte zum Richter!«
»Zum Richter? Da lang, die Treppe hoch«, antwortet er, ohne mich richtig anzusehen, und verschwindet danach sofort wieder in der Menge. Ich habe keine andere Wahl mehr. Ich muss ihr die Stirn bieten, dieser Treppe, die sich nun direkt vor mir befindet. Das ist meine einzige und letzte Chance, aus alldem herauszukommen. Ich fühle mich schmutzig. Ich muss diese Stufen emporsteigen, eine nach der anderen, um meine Geschichte zu erzählen, muss diese Woge von Menschen durchqueren, die sich immer mehr auftürmt, je näher ich der großen Eingangshalle komme. Fast wäre ich hingefallen. Ich richte mich wieder auf. Meine Augen sind trocken vom vielen Weinen. Ich kann nicht mehr. Meine Füße sind schwer wie Blei, als ich sie endlich auf dem Marmorboden der großen Eingangshalle aufsetze. Ich darf nicht die Fassung verlieren. Nicht jetzt.
Auf den Wänden, die weiß glänzen wie in einem Krankenhaus, erkenne ich Hinweise in arabischer Schrift. Sosehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht, sie zu lesen. Man hat mich dazu gezwungen, die Schule im zweiten Schuljahr abzubrechen, kurz bevor sich mein Leben in einen Albtraum verwandelte, und außer meinem Vornamen Nojoud kann ich kaum etwas schreiben. Mein Blick fällt schließlich auf eine Gruppe Männer in olivgrüner Uniform und mit tief in die Stirn gezogenen Schirmmützen. Das sind sicher Polizisten. Oder vielleicht Soldaten? Einer von ihnen hat eine Kalaschnikow quer umgehängt.
Mir läuft es eiskalt über den Rücken. Wenn sie mich sehen, verhaften sie mich womöglich. Ein kleines Mädchen, das von zu Hause wegläuft, das gehört sich nicht. In meiner Angst hänge ich mich unauffällig an den ersten Schleier, der an mir vorbeikommt, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Unbekannten, die sich dahinter versteckt, auf mich zu lenken. »Los! Nojoud!«, befiehlt mir meine zaghafte innere Stimme. »Du bist zwar ein Mädchen. Aber du bist auch eine Frau! Eine echte, auch wenn es dir noch schwerfällt, das zu akzeptieren!« »Ich möchte mit dem Richter sprechen!« Zwei große, schwarz eingerahmte Augen mustern mich erstaunt. Die Dame, die mir gegenübersteht, hat mich erst jetzt bemerkt.
»Wie bitte?« »Ich möchte mit dem Richter sprechen!« Will sie mich absichtlich nicht verstehen, damit sie mich schneller loswird, so wie die anderen? »Welchen Richter suchst du denn?« »Ich möchte einfach nur mit einem Richter sprechen! «
»Aber es gibt viele Richter an diesem Gericht …«
»Nehmen Sie mich zu einem Richter mit, egal, zu welchem!«
Sie schweigt, erstaunt über meine Entschlossenheit. Vielleicht hat sie auch mein kleiner durchdringender Schrei sprachlos gemacht. Ich bin ein Mädchen vom Land, das in der Hauptstadt lebt. Ich habe mich immer den Befehlen der Männer aus der Familie gebeugt. Seit jeher habe ich gelernt, zu allem »ja« zu sagen. Heute habe ich beschlossen, »nein« zu sagen. Ich fühle mich innerlich beschmutzt. Es ist, als hätte man einen Teil von mir geraubt. Niemand hat das Recht, mich davon abzuhalten, bei der Justiz vorzusprechen. Es ist meine letzte Chance, aus alldem herauszukommen. Ich werde nicht einfach aufgeben. Und dieser erstaunte Blick, so kalt wie der Marmor in der großen Halle, in der das Echo meines Schreis seltsam widerhallte, wird mich nicht zum Schweigen bringen. Mittag ist nun längst vorbei. Seit über drei Stunden irre ich jetzt schon verzweifelt durch das Labyrinth dieses Gerichts. Ich will mit dem Richter sprechen!
»Komm mit!«, sagt sie und gibt mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass ich ihr folgen soll. Die Tür öffnet sich zu einem mit braunem Teppichboden ausgelegten Raum, der die Geräusche dämpft. An einem Schreibtisch im Hintergrund gibt sich ein Schnauzbärtiger mit feinen Gesichtszügen redliche Mühe, die Flut der Fragen zu beantworten, die von allen Seiten auf ihn hereinbricht. Das ist der Richter. Endlich! Obwohl es ziemlich laut zugeht, ist die Atmosphäre doch beruhigend. Ich fühle mich sicher hier. An der mittleren Wand erkenne ich das eingerahmte Foto von »Amma Ali«, Onkel Ali. In der Schule hat man mir beigebracht, den Präsidenten unseres Landes, Ali Abdallah al-Salih, vor über dreißig Jahren gewählt, so zu nennen. Manche sagen von ihm, er sei ein Diktator, andere bezichtigen ihn der Korruption. Für mich ist das unwichtig.
Ich bin hier, um mit dem Richter zu sprechen. Das ist alles. Wie die anderen setze ich mich auf einen der braunen Sessel, die an der Wand aufgereiht sind.
Draußen ruft der Muezzin zum Mittagsgebet. Rings um mich bemerke ich Gesichter, die ich zuvor im Hof gesehen habe, blicke in vertraute Augen. Manche von ihnen beugen sich zu mir herunter und sehen mich merkwürdig an. © Droemer/Knaur Verlag
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Bibliographische Angaben
- Autor: Nojoud Ali
- 192 Seiten, 8 farbige Abbildungen, Maße: 13 x 20,7 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996132
- ISBN-13: 9783828996137
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