Ich, Prinzessin Sultana, und meine Töchter
Nach ihrem ersten Bucherfolg berichtet Sultana erneut über das Leben im goldenen Käfig. Bewegend schildert sie die Sehnsüchte und Wünsche ihrer Töchter, die wie Sklavinnen in einer Welt leben, in der Männer das alleinige Sagen haben.
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Produktinformationen zu „Ich, Prinzessin Sultana, und meine Töchter “
Nach ihrem ersten Bucherfolg berichtet Sultana erneut über das Leben im goldenen Käfig. Bewegend schildert sie die Sehnsüchte und Wünsche ihrer Töchter, die wie Sklavinnen in einer Welt leben, in der Männer das alleinige Sagen haben.
Lese-Probe zu „Ich, Prinzessin Sultana, und meine Töchter “
ICH, Prinzessin Sultana, und meine Töchter von Jean SassonVorwort
Ich, Prinzessin Sultana, und meine Töchter ist eine wahre Geschichte und berichtet, wie Frauen in Saudi-Arabien leben. Das Buch schließt an das 1992 erschienene Werk Ich, Prinzessin aus dem Hause Al Saud an, in dem das Leben der Prinzessin Sultana von ihrer Kindheit bis zum Ausbruch des Golfkrieges 1991 beschrieben wurde.
Es setzt die Biografie der Prinzessin fort und bezieht die Lebensgeschichten ihrer beiden Töchter ein. Ich hoffe, dass möglichst viele Leser die Zeit finden werden, beide Bücher zu lesen. Doch Ich, Prinzessin Sultana, und meine Töchter ist eine abgeschlossene Geschichte und kann auch unabhängig vom ersten Werk gelesen werden.
In beiden Büchern erfährt der Leser viel Wissenswertes über ein Land, das in der westlichen Welt nur wenig bekannt ist. Jedoch werden weder die Geschichte Saudi-Arabiens noch das Leben aller saudischen Frauen repräsentativ dargestellt, sondern es wird die Geschichte einer saudischen Prinzessin und ihrer Familie erzählt.
Beide Bücher kommen zu derselben Schlussfolgerung: Die Unterdrückung und Erniedrigung der Frau ist eine überkommene Tradition, und es ist an der Zeit, dass der Herrschaft der Männer über die Frauen ein Ende bereitet wird. Die in dieser wahren Geschichte erzählten Erlebnisse einer saudischen Prinzessin sollen zeigen, dass die Unterdrückung der Frauen durch die Männer mit Wissen, Einsicht und Tatkraft beendet werden kann.
Jean P. Sasson
Prolog
Einen großen Stein kümmert der Wind nicht; eines weisen Menschen Geist kümmern weder Ehrbezeugungen noch Beleidigungen.
Buddha
Vor Jahren habe ich gelesen, dass eine spitze Feder jeden König töten kann. Ich betrachte die Fotografie meines Onkels, des saudischen Königs Fahd Ibn Abdul Asis, und merke, dass ich
... mehr
nicht das geringste Verlangen habe, ihn zu erstechen oder auch nur seinen Zorn zu erregen, denn ich kenne ihn als gütigen Menschen.
Ich fahre mit den Fingern über sein Gesicht und denke an den Mann Fahd, den ich noch aus Kindertagen kenne. Die Fotografie zeigt einen gereiften König, und nichts erinnert mehr an den jugendlichen Mann von damals. Seine strengen Augenbrauen und sein energisches Kinn wollen nicht so recht zu dem charmanten Mann passen, den ich mir wehmütig in Erinnerung rufe. Meine Gedanken schweifen in die Zeit zurück, als er noch nicht gekrönt war.
Hochaufgerichtet, mit breiten Schultern und ausgestreckter Hand hatte er einem verängstigten Kind eine süße Dattel angeboten. Dieses Kind war ich gewesen. Fahd, der von seinem Vater die kräftige Statur geerbt hatte, wirkte auf mich eher wie ein kriegerischer Beduine als wie ein künftiger Staatsmann. Von Natur aus nicht schüchtern, war ich doch verängstigt, nahm nur zögernd die Wüstenfrucht aus seinen Händen an und flüchtete mich dann in die Arme meiner Mutter. Ich kostete die süße Dattel und verschloss mich Fahds freundlichem Lachen.
Nach saudischer Sitte bin ich seit Beginn meiner Pubertät nicht mehr unverschleiert vor den König getreten. Inzwischen ist er ein alter Mann. Er wirkt jetzt sehr ernst, und ich bin der Ansicht, dass er in all den Jahren als Oberhaupt eines Staates entschiedener und durch die Verantwortung als Führer auch nachdenklicher geworden ist. Unser König ist eine eindrucksvolle Erscheinung, aber ein gutaussehender Mann ist er nicht.
Die Lider lasten schwer auf den hervorquellenden Augen, und die Nase überschattet die Oberlippe seines schmalen Mundes. Auf dem allen Saudis und Besuchern des Landes vertrauten Foto, das deutlich sichtbar überall hängt, sieht der König so aus, wie er meiner Meinung nach nicht ist: unnahbar, streng und unsensibel. Um seine Position ist er trotz der unbeschränkten Macht und des gewaltigen Reichtums nicht zu beneiden. König Fahd führt als unumschränkter Herrscher in einem der reichsten Länder der Erde einen ständigen Kampf zwischen alt und neu.
Die meisten Nationen lösen sich vom Althergebrachten und beschreiten vorsichtig neue Wege zur Entwicklung besserer Formen des sozialen Lebens. Unser König hat diese Möglichkeit nicht. Er muss vier vollkommen verschiedene Bevölkerungsgruppen unter einen Hut bringen:
1. Die religiösen Fundamentalisten, jene starrköpfigen und mächtigen Männer, die zu den alten Werten zurückkehren wollen.
2. Die gebildete Mittelklasse, die eben diese alten und für sie hinderlichen Traditionen abschaffen will.
3. Die Beduinenstämme, die es gelüstet, ihr Nomadenleben aufzugeben und in die Städte mit all ihren Verlockungen zu ziehen.
4. Die Mitglieder der großen königlichen Familie, die alle nur immer noch mehr Reichtümer anhäufen wollen.
Neben diesen vier Fraktionen gibt es noch eine Gruppe, die vergessen wurde: die Frauen Saudi-Arabiens, die ebenso viele Wünsche und Ziele haben wie die Männer, die über unser Leben bestimmen. Seltsamerweise zürne ich trotz aller Enttäuschungen angesichts der Lage der Frauen dem König nicht.
Ich weiß, dass er die Unterstützung ganz normaler Ehemänner, Väter und Brüder braucht, bevor er gegen die religiösen Fanatiker vorgehen kann. Diese Fundamentalisten meinen, sie allein würden die islamischen Gesetze richtig interpretieren, und daher dürften die Männer unumschränkt über ihre Frauen herrschen. Es gibt einfach noch zu viele Männer in Saudi-Arabien, die mit den gegebenen Verhältnissen zufrieden sind. Sie ertragen lieber die Klagen ihrer Frauen, statt ihrem König zu folgen und Veränderung herbeizuführen.
Trotz aller Schwierigkeiten steht die Mehrzahl der saudischen Bürger hinter König Fahd, und nur die religiösen Fundamentalisten fordern seine Absetzung. Alle anderen Saudis halten ihn für einen großzügigen Mann, der das Land mit milderer Hand regiert als sein Vater und seine drei Brüder. Die Frauen meiner Familie wissen, dass der König bei seinen Frauen beliebt ist. Und wer kennt einen Mann besser als seine Frauen?
In diesem Buch erzähle ich aus meinem Leben. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Veröffentlichung von Ich, Prinzessin Sultana, und meine Töchter als Schlag ins Gesicht unseres Königs angesehen werden wird. Das, und nur das, bedaure ich. Ich selbst habe mich aus freien Stücken dazu entschlossen, mit den Ehrenkodizes früherer Generationen zu brechen und Familiengeheimnisse an die Öffentlichkeit zu tragen. Jetzt frage ich mich zum ersten Mal, ob ich mich mehr von meinen Gefühlen als von meinem Verstand habe leiten lassen. Um mein Gewissen zu beruhigen und meine Ängste zu beschwichtigen, rufe ich mir alle meine Nöte und Leiden noch einmal in Erinnerung: Soll unsere Gesellschaft bis in alle Zukunft von unseren Männern regiert werden, während wir Frauen weiterhin unterdrückt werden?
Es war die Wut über die Gleichgültigkeit der Männer, die mich zur Rebellion anstachelte.
1
Der Schleier fällt
Verzweiflung trübt unser Auge und verschließt unser Ohr. Wir sehen dann nur noch die Geister des Verhängnis und hören nur noch das Schlagen unserer beklommenen Herzen.
Kahlil Gibran
Oktober 1992.
Niedergeschlagen und gleichzeitig in fieberhafter Aufregung warte ich, Sultana Al Saud, Autorin eines Enthüllungsbuches, was die kommenden Tage für mich bringen werden.
Das Buch über das Leben der Frauen in Saudi-Arabien ist in den Vereinigten Staaten im September 1992 erschienen. Seither plagen mich böse Vorahnungen. Ich fühle, dass ich in großer Gefahr schwebe, denn keine Tat, mag sie nun bedeutend oder unbedeutend, gut oder schlecht sein, bleibt ohne Folgen.
Während ich tief Luft hole, sage ich mir hoffnungsvoll, dass mich vielleicht die Anonymität der großen Al Saud-Familie schützt. Trotzdem fühle ich instinktiv, dass ich entlarvt worden bin. Gerade als ich meine Schuldgefühle abgelegt und meine Furcht überwunden zu haben glaube, stürmt mein Mann Karim in unser Haus und brüllt, mein Bruder Ali sei früher von seiner Europareise zurückgekehrt und mein Vater habe ein dringliches Familientreffen in seinem Palast anberaumt. Seine schwarzen Augen funkeln in dem blassen, mit feuerroten Flecken überzogenen Gesicht.
Mir kommt ein entsetzlicher Gedanke: Karim hat von dem Buch erfahren!
Bei der Vorstellung, getrennt von meinen geliebten Kindern in einem Kerker gefangengehalten zu werden, kann ich meine Nervosität nicht mehr länger unterdrücken, und ich frage mit dünner, hoher Stimme, die in meinen Ohren ganz fremd klingt: »Was ist denn passiert?«
Karim zuckt die Schultern und antwortet: »Woher soll ich das wissen?« Seine Nasenflügel beben.
»Ich habe deinem Vater gesagt, dass ich morgen einen wichtigen Termin in Zürich habe und dass wir ihn nach meiner Rückkehr treffen könnten«, berichtet er irritiert, »aber er bestand darauf, dass ich meine Pläne ändere und dich heute Abend zu ihm begleite.«
Aufgeregt stürmt Karim in sein Büro: »Drei Termine muss ich deshalb absagen!« Mit weichen Knien sinke ich auf das Sofa, erleichtert, dass all meine Schlussfolgerungen wohl verfrüht gewesen waren. Karims Zorn gilt nicht mir! Ich fasse neuen Mut.
Doch noch immer besteht die Gefahr, entlarvt zu werden, und mir bleiben noch viele bange Stunden bis zu dem überraschenden Familientreffen. Obwohl mir gar nicht danach zumute ist, lächle und plaudere ich, während ich zusammen mit Karim über dicke persische Teppiche durch die große Eingangshalle des neu erbauten Palasts meines Vaters gehe.
Wir betreten ein großes, prächtiges Wohnzimmer. Mein Vater ist noch nicht da, aber ich stelle fest, dass Karim und ich als letzte eintreffen. Die anderen zehn lebenden Kinder meiner Mutter, ohne Gatten und Gattinnen, sind in das Haus meines Vaters zitiert worden.
Drei meiner Schwestern sind von Dschidda hierher nach Riad geflogen, und zwei weitere Schwestern sind aus Taif gekommen. Als ich mich im Zimmer umsehe, stelle ich fest, dass Karim der einzige Anwesende ist, der nicht unmittelbar zur Familie gehört. Selbst Vaters Hauptfrau und ihre Kinder sind nirgendwo zu sehen; vermutlich sind sie weggeschickt worden.
Die Dringlichkeit des Treffens ruft mir wieder das Buch ins Gedächtnis, und Angst schnürt mir die Kehle zu. Meine Schwester Sara und ich tauschen besorgte Blicke.
Sie weiß als Einzige aus der Familie von dem Buch, und ihr gehen offenbar die gleichen Gedanken wie mir durch den Kopf. Alle meine Geschwister begrüßen mich freundlich, mit Ausnahme meines Bruders Ali. Ich bemerke, wie seine Blicke mir folgen. Kurz nach unserem Eintreffen betritt mein Vater den Raum.
Wir, seine zehn Töchter, stehen respektvoll auf und begrüßen den Mann, der uns zwar das Leben geschenkt hat, aber niemals Liebe. Ich habe meinen Vater seit einigen Monaten nicht gesehen, und er wirkt erschöpft und vorzeitig gealtert. Als ich ihm einen Kuss auf die Wange geben möchte, wendet er sich ungeduldig ab und erwidert meinen Gruß nicht. Nun wird mir richtig bange.
Plötzlich erkenne ich, wie naiv der Glaube war, die Al Sauds seien viel zu sehr mit der Anhäufung von Reichtümern beschäftigt, um sich um Bücher zu kümmern. Mit ernster Stimme fordert Vater uns auf, uns zu setzen. Er habe uns einige beunruhigende Neuigkeiten mitzuteilen.
Ich bemerke, dass Ali, der eine krankhafte Freude am Leiden anderer hat, mich hämisch und schadenfroh anstarrt. Zweifellos weiß er, was heute Abend besprochen werden soll. Mein Vater greift in seine große schwarze Aktentasche und holt ein Buch heraus, das in einer fremden Sprache verfasst ist und das niemand von uns lesen kann. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Was hat dieses spezielle Buch mit unserer Familie zu tun? Mit wutverzerrter Stimme berichtet Vater, dass Ali dieses Buch kürzlich in Deutschland gekauft habe.
Es handle vom Leben einer Prinzessin, einer dummen und törichten Frau, die sich der mit den königlichen Privilegien verbundenen Pflichten nicht bewusst sei. Während er im Raum auf und ab schreitet, hält er das Buch in den Händen. Auf dem Umschlagfoto ist eindeutig eine Muslimin zu sehen, denn sie ist verschleiert und steht vor türkischen Minaretten.
Mich durchzuckt der Gedanke, dass eine alternde ägyptische oder türkische Prinzessin im Exil ein Enthüllungsbuch geschrieben hat, aber sofort erkenne ich, dass eine solche Geschichte in unserem Land keinerlei Interesse wecken würde.
Als Vater näher tritt, lese ich den Titel: Ich, Prinzessin aus dem Hause Al Saud. Es ist meine Geschichte! Da ich mit der Autorin des Buches keinen Kontakt mehr habe, seit ich vom Verkauf des Buches an einen renommierten amerikanischen Verlag erfahren habe, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass mein Buch ein großer Erfolg ist und die Übersetzungsrechte in viele Länder verkauft worden sind.
Bei diesem Exemplar handelt es sich ganz offensichtlich um die deutsche Ausgabe. Einen kurzen Augenblick lang bin ich stolz, doch dann packt mich die nackte Angst. Ich fühle, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Ich bin wie gelähmt und höre die Stimme meines Vaters wie aus weiter Ferne.
Er erklärt, Ali sei neugierig geworden, als er das Buch auf dem Flughafen in Frankfurt entdeckt habe. Als er bemerkte, dass der Familienname auf dem Umschlag stand, habe er weder Mühen noch Kosten gescheut und eine Übersetzung des Buches machen lassen.
Zu der Zeit glaubte Ali noch, dass eine unbedeutende, verärgerte Prinzessin aus dem Hause Al Saud Geheimnisse aus ihrem Leben ausgeplaudert habe. Beim Lesen des Buches habe er sich jedoch bei den Schilderungen unserer kindlichen Streitigkeiten selbst erkannt. Daraufhin habe er seinen Urlaub abgebrochen und sei wutentbrannt nach Riad zurückgekehrt. Für das Familientreffen hat Vater Kopien von der Übersetzung anfertigen lassen. Nun nickt er Ali zu und gibt ihm ein kurzes Zeichen.
Mein Bruder greift nach einem großen Packen Papier neben ihm und übergibt jedem einen Stapel, der von einem großen Gummi zusammengehalten wird.
Verwirrt stößt Karim mich in die Seite, zieht die Augenbrauen hoch und verdreht die Augen. Ich tue so, als ob ich nicht wüsste, worum es geht, zucke die Schultern und starre mit unbewegter Miene auf die Blätter in meiner Hand.
Mit lauter Stimme brüllt Vater meinen Namen: »Sultana!«
Sofort springe ich auf. Vater stößt schnell und abgehackt Worte hervor. »Sultana, erinnerst du dich noch an die Heirat und die Scheidung deiner Schwester Sara? An die Schlechtigkeit deiner früheren Freundinnen? An den Tod deiner Mutter? An deine Reise nach Ägypten? An deine Heirat mit Karim und die Geburt deines Sohnes? Sultana?«
Mir stockt der Atem. Unbarmherzig fährt mein Vater mit seiner Anklage fort.
»Sultana, wenn du dich nicht recht an diese bedeutsamen Ereignisse erinnern kannst, dann empfehle ich dir, dieses Buch zu lesen!«
Vater wirft mir das Buch vor die Füße. Unfähig mich zu bewegen, starre ich auf das Buch vor mir auf dem Boden. Dann befiehlt mein Vater: »Heb es auf!«
Karim ergreift das Buch und starrt auf den Schutzumschlag. Er keucht, dann atmet er tief durch und wendet sich mir zu.
»Was hat das zu bedeuten, Sultana?« Vor Schreck bin ich wie gelähmt. Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus, und ich möchte am liebsten im Erdboden versinken. Karim verliert die Beherrschung und lässt das Buch auf den Boden fallen. Dann packt er mich an den Schultern und schüttelt mich heftig.
Mein Vater brüllt: »Sultana! Antworte deinem Ehemann!« Die Jahre verflüchtigen sich. Ich bin wieder ein Kind, auf Gedeih und Verderb meinem Vater ausgeliefert. Plötzlich sehne ich mich nach meiner toten Mutter, denn nichts außer Mutterliebe kann mir in dieser heiklen Angelegenheit helfen.
Meiner Kehle entringt sich ein Seufzer.
In der Vergangenheit hatte ich mir viele Male gesagt, dass es ohne Mut keine Freiheit geben kann, und doch verlässt mich mein Mut gerade in dem Moment, als ich ihn am meisten benötige. Ich hatte gewusst, dass mein Geheimnis entdeckt werden würde, falls enge Familienangehörige das Buch in die Hände bekommen sollten; schließlich sind sie Schlüsselfiguren in meinem Leben und in dem Buch.
Törichterweise hatte ich mich dadurch geschützt gefühlt, dass Sara als Einzige in der Familie Bücher liest. Ich hatte gehofft, dass meine Angehörigen nur wenig Notiz von dem Buch nehmen würden, selbst wenn hier in der Stadt darüber gesprochen werden sollte. Vorausgesetzt es wäre nicht gerade von einem Ereignis die Rede, an das sie sich von früher her erinnerten.
Nun hatte aber gerade mein Bruder, der schon bei der bloßen Erwähnung der Frauenrechte in Hohngelächter ausbricht, das Buch über die Misshandlungen von Frauen in meinem Land gelesen. Mein teuflischer Bruder Ali hatte mich meiner kostbaren Anonymität beraubt.
Ängstlich blicke ich auf meinen Vater, meine Schwestern und meinen Bruder, sehe, wie ihr anfänglich erstaunter und ärgerlicher Blick langsam hart wird. Nach nur einem Monat sind sie mir auf die Schliche gekommen!
Schließlich finde ich meine Sprache wieder, gebe die Schuld an meiner Tat der höchsten Autorität und sage das, was alle guten Muslime sagen, wenn sie bei etwas erwischt werden, was Bestrafung nach sich zieht.
»Gott hat es so gewollt. Er hat dieses Buch gewollt!«
Ali entgegnet höhnisch: »Gott? Unsinn! Der Teufel hat es gewollt!«
Er wendet sich an meinen Vater und sagt ernst: »Seit ihrer Geburt lebt ein kleiner Teufel in Sultana. Der Teufel hat dieses Buch gewollt!«
Meine Schwestern beginnen schnell in ihren Stapeln in ihren Händen zu blättern, um mit eigenen Augen zu sehen, ob unsere Familiengeheimnisse preisgegeben worden sind.
Nur Sara unterstützt mich, steht stumm auf, stellt sich hinter mich und legt die Hände auf meine Schultern. Ihre sanfte Berührung wirkt beruhigend auf mich. Nach seinem anfänglichen Gefühlsausbruch ist Karim still.
Ich sehe, dass er in der Übersetzung des Buches liest, stelle fest, dass er das Kapitel entdeckt hat, das von unserer ersten Begegnung und der Hochzeit berichtet. Reglos liest mein Ehemann zum ersten Mal diese Bekenntnisse.
Vater schreit mich verärgert an, und hasserfüllt stimmt Ali ein. Beide beschimpfen mich wegen meiner Dummheit. In der allgemeinen Verwirrung höre ich, wie Ali mich des Verrats bezichtigt. Verrat? Ich liebe meinen Gott, mein Land und den König in dieser Reihenfolge.
Ich brülle zurück: »Nein! Ich bin keine Verräterin! Nur Kleingeister können zu einem so ungerechten Urteil gelangen!«
Je größer mein Zorn wird, desto mehr verschwindet meine Angst. Sind nicht die Männer in meiner Familie der beste Beweis dafür, dass Männer und Frauen nur dann in Frieden und Eintracht miteinander leben können, wenn das eine Geschlecht stark genug ist, um das andere vollkommen zu beherrschen?
Nun, da wir saudischen Frauen über bessere Bildungsmöglichkeiten verfügen und das Denken nicht mehr anderen überlassen, wird es zusätzliche Auseinandersetzungen in unserem Leben geben. Dennoch trete ich für den Kampf um mehr Rechte für die Frau ein, denn ein fauler Friede setzt nur die Unterdrückung der Frau fort.
Erbittert streiten wir weiter, und ich verliere mich in Details. Meine anfängliche Furcht hat meine Erinnerung daran getrübt, weshalb ich Jean Sasson ursprünglich bat, meine Geschichte aufzuschreiben. Nun verschließe ich meine Ohren gegenüber den Anklagen und zwinge mich, an Nada zu denken, die ertränkt wurde, und an die Einkerkerung Samiras.
Ob ihre tragischen Lebensgeschichten wohl die Herzen der Leser gerührt haben? Noch vor Veröffentlichung des Buches war mir bewusst, dass diese Geschichten unglaubwürdig wirken mussten, wenn die Leser des Buches sich nicht all die Grausamkeiten vor Augen führten, die Männer Frauen zufügen können.
Trotzdem war ich überzeugt, dass alle Menschen, die mein Land wirklich kannten seine Sitten und seine Tradition wissen mussten, dass ich die Wahrheit sagte. Die Erinnerung an meine unglücklichen Freundinnen und ihr trauriges Schicksal gibt mir neue Kraft, und mein Mut kehrt zurück.
Ich stehe auf und stelle mich meinen Widersachern. Ich fühle das Kämpferblut meines Großvaters Abdul Asis in meinen Adern. Schon in meiner Kindheit war ich am gefährlichsten, wenn ich in wirklicher Gefahr war.
Plötzlich erinnere ich mich an das Gesicht eines gütigen Mannes, der einem kleinen Mädchen saftige Datteln angeboten hat. Mir kommt eine verrückte Idee. Entschlossen übertöne ich das aufgebrachte Stimmengewirr: »Bringt mich zum König!«
Die anderen sind augenblicklich ruhig. Ungläubig wiederholt mein Vater meine Worte: »Zum König?« Ali schnalzt ungeduldig mit der Zunge und sagt: »Der König wird dich nicht empfangen wollen!« »Doch! Bringt mich zu ihm. Ich will dem König die Gründe mitteilen, die mich zu diesem Buch bewogen haben. Ich will ihm die tragische Lebensgeschichte der von ihm regierten Frauen erzählen. Ich werde ein Geständnis ablegen, aber nur vor dem König.«
Misstrauisch schaut Vater Ali an. Die Miene der beiden Männer verrät, wie schockiert sie sind. Es ist, als könne ich ihre Gedanken lesen. »Man muss ehrenhaft sein, aber nicht zu ehrenhaft!«
»Ich bestehe darauf, alles dem König zu gestehen«, wiederhole ich. Ich kenne diesen König gut. Er hasst zwar Auseinandersetzungen, aber er wird mich trotzdem für das, was ich getan habe, bestrafen. Im Stillen sage ich mir, dass ich um nicht in Vergessenheit zu geraten mit einem Nicht-Saudi sprechen muss. Mein Entschluss steht fest.
»Aber bevor ich zum König gehe, muss ich mit einem ausländischen Journalisten sprechen und meine Identität enthüllen. Die Welt soll ruhig erfahren, wie in unserem Land Menschen behandelt werden, die die Wahrheit sagen.«
Ich gehe zum Telefon, das auf einem kleinen Tisch neben der Tür zur Eingangshalle steht. Verzweifelt versuche ich mich an die Telefonnummer einer internationalen Zeitung zu erinnern, die ich mir für einen solchen Notfall eingeprägt habe. Meine Schwestern jammern laut und flehen meinen Vater an, mich aufzuhalten.
Karim springt auf und versperrt mir gewaltsam den Weg. Mit ernstem Gesicht streckt er den Arm aus und zeigt auf meinen Sessel, ganz so, als handele es sich um einen Richtblock. Trotz der Gefahr, in der ich schwebe, belustigt mich Karims Gesichtsausdruck. Ich lache laut los.
Mein Gatte ist ein törichter Mann, denn er hat immer noch nicht begriffen, dass er mich erst töten muss, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich weiß aber, dass er dies niemals tun würde. Schon immer habe ich Kraft aus dem Wissen geschöpft, dass Karim niemals gewalttätig werden könnte. Drohend schreie ich ihm zu: »Wenn das Tier in die Enge getrieben ist, wird es für den Jäger gefährlich.«
Dann kommt mir der Gedanke, Karim meinen Kopf in den Magen zu rammen. Doch bevor ich den Gedanken in die Tat umsetzen kann, verschafft sich meine älteste Schwester Nura Gehör und ruft uns alle mit ruhiger Stimme zur Vernunft.
»Genug! Auf diese Weise kann man kein Problem lösen.« Sie hält inne und blickt meinen Vater und Ali an.
»Was soll dieses Geschrei! Die Bediensteten können jedes Wort verstehen. Wenn sie von der Sache erfahren, sitzen wir wirklich in der Tinte.«
Nura ist die einzige Tochter meines Vaters, die seine Liebe gewonnen hat. Vater bedeutet uns allen, dass wir uns beruhigen und wieder setzen sollen. Karim ergreift meinen Arm und führt mich zu meinem Sessel zurück.
Seit der Publikation des Buches war ich vor Angst wie gelähmt. Nun, zum ersten Mal seit Wochen, bin ich wütend, denn ich muss erstaunt feststellen, dass die Männer meiner Familie gar nicht daran denken, mich den Behörden zu übergeben.
Der Familienrat wird ruhiger fortgesetzt, und wir sprechen darüber, wie meine Identität geheimgehalten werden könnte. Uns ist bewusst, dass im ganzen Königreich darüber spekuliert werden wird, wer die Prinzessin in dem Buch wohl sein könnte. Mein Vater vertritt die Ansicht, dass es für einen einfachen Saudi, der nicht zur Familie gehört, unmöglich sei, die Wahrheit herauszufinden. Keine wirkliche Gefahr drohe auch von den Männern der Al Saud-Großfamilie, da wir stets peinlich darauf achten, dass sie wenig über die Frauen und ihre Aktivitäten erfahren.
Wirkliche Gefahr gehe nur von nahen weiblichen Verwandten aus, weil diese zuweilen an unseren intimen Zusammenkünften teilnehmen. Panik kommt auf, als Tahani eine alte Tante einfällt, die genau über die Umstände von Saras unglückseliger Vermählung und Scheidung Bescheid weiß.
Nura beschwichtigt Tahanis Ängste und teilt den Versammelten mit, dass diese Tante an einer altersbedingten schweren Gehirnerkrankung leide und nur sehr selten bei klarem Verstand sei. Wenn sie was sehr unwahrscheinlich sei von dem Buch höre, würde nichts, was sie sagen oder tun könnte, von ihrer Familie ernst genommen werden. Alle atmen erleichtert auf.
Ich selbst fürchte mich nicht vor der alten Frau. Sie war schon in jungen Jahren ein wenig wunderlich gewesen, und ich kenne sie besser als die anderen. Früher hatte sie mir öfters ins Ohr geflüstert, sie würde mich bei der Durchsetzung kleiner Freiheiten für die Frauen unterstützen, und damit geprahlt, sie sei die erste Feministin der Welt gewesen, lange bevor die Europäerinnen überhaupt an diese Dinge gedacht hätten.
Gerne erzählte sie, wie sie in der Hochzeitsnacht ihren verdatterten Ehemann dazu gebracht hatte, ihr die Verfügungsgewalt über das Geld aus dem Verkauf der Schafe zu überlassen, denn sie sei gut im Kopfrechnen gewesen, während er zum Rechnen die Zahlen mit einem Stock in den Sand habe schreiben müssen.
Ihr Ehemann habe aber nie daran gedacht, eine andere Frau zu nehmen; meine Tante habe ihm vollauf genügt. Mit einem zahnlosen Lachen hatte meine Tante mir das Geheimnis verraten, wie eine Frau ihren Mann unter ihrer Fuchtel halten könne: Sie müsse den »Lederstab« ihres Gatten steif und allzeit bereit halten.
Ich war damals noch ein junges Mädchen und wusste nicht, was sie mit »Lederstab« meinte, aber als erwachsene Frau musste ich oft lächeln, wenn ich an die leidenschaftlichen Aktivitäten dachte, die einst ihr Zelt haben erbeben lassen. Nach dem frühen Tod ihres Ehemannes gestand meine Tante mir, sie vermisse die sanften Zärtlichkeiten ihres Mannes und die Erinnerung an ihn halte sie von einer neuen Heirat ab.
Mehrere Stunden lang vertieft sich meine Familie in die Übersetzung und vergewissert sich, dass kein Außenstehender die in dem Buch beschriebenen Familiendramen und -streitigkeiten kennen kann. Ich spüre förmlich, wie erleichtert meine Angehörigen schließlich sind.
Außerdem bemerke ich so etwas wie Bewunderung, weil ich die entscheidenden Informationen, die die Behörden direkt an meine Tür geführt hätten, so geschickt verschleiert habe. Am Ende des Abends warnen mein Vater und Ali meine Schwestern noch davor, ihre Ehemänner über die Angelegenheit in Kenntnis zu setzen.
Wer kann schon vorhersehen, ob nicht ein Ehemann meint, sich einer Schwester oder seiner Mutter anvertrauen zu müssen? Meine Schwestern werden instruiert, ihren Ehemännern zu sagen, dass bei dem Familientreffen ausschließlich weibliche Belange besprochen worden seien.
Vater verbietet mir strikt, mein »Verbrechen« publik zu machen. Dass es sich bei dem Buch um meine Lebensgeschichte handelt, muss ein wohlgehütetes Familiengeheimnis bleiben.
Mein Vater ermahnt mich, dass nicht nur ich die schlimmen Folgen zu tragen hätte Hausarrest, vielleicht auch Gefangenschaft , sondern auch die Männer der Familie, darunter auch mein eigener Sohn Abdullah. Sie müssten mit der Verachtung und dem Ausschluss aus der patriarchalischen Gesellschaft Saudi-Arabiens rechnen, in der nichts höher geschätzt wird als ein Mann, der imstande ist, mit seinen Frauen fertig zu werden.
Als Zeichen der Unterwerfung senke ich die Augen und gelobe Gehorsam. Innerlich aber triumphiere ich, denn an diesem Abend habe ich eine großartige Entdeckung gemacht: Die Männer in meiner Familie sind ebenso abhängig von mir wie ich von ihnen, und ihre Herrschaft hält sie ebenso gefangen wie mich.
Ali, der heute nicht auf seine Kosten gekommen ist, verabschiedet sich unwirsch und verärgert von mir. Ihm hätte es sehr gut gefallen, wenn ich Hausarrest bekommen hätte, aber er kann nicht riskieren, dass sein männlicher Stolz durch die Blutsverwandtschaft mit mir gekränkt wird. Ich nehme überfreundlich Abschied von ihm und flüstere ihm dabei ins Ohr: »Ali, du musst wissen, dass nicht jeder, dem Ketten angelegt wurden, unterjocht ist.«
Ich habe einen großen Sieg errungen! Auf dem Heimweg ist Karim ernst und schweigsam. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und verflucht bei drei Gelegenheiten den Fahrstil des philippinischen Chauffeurs. Ich lehne mit dem Gesicht gegen das Autofenster, während wir durch die Straßen Riads fahren, nehme aber nichts von dem wahr, was um mich herum vorgeht.
Ich rüste mich für einen zweiten Kampf, denn ich weiß, dass ich Karims großem Zorn nicht entgehen kann.
Als wir uns in unserem Schlafzimmer befinden, greift Karim nach dem Buch. Er beginnt mir die Passagen vorzulesen, die ihn am meisten verletzen: »Zum ersten Mal empfand ich Abscheu vor meinem Mann. Seine Besonnenheit und Freundlichkeit waren nur Fassade. Im Innersten war er ein berechnender Egoist.«
Insgeheim habe ich Mitleid mit ihm, denn wer wäre nicht verletzt oder zornig, wenn seine größten Schwächen der Öffentlichkeit preisgegeben würden. Ich kämpfe gegen das Gefühl an und zwinge mich, an das zu denken, was er mir angetan hat sowie an den großen Kummer und den Schmerz, der so lebhaft in dem Buch geschildert wird.
Meine Gefühle sind zwiespältig, und ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll, aber Karims übertriebene Reaktion löst das Problem für mich. Mein Ehemann fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und stampft mit den Füßen. Ich muss an das ägyptische Marionettenspiel denken, das ich in der vorangegangenen Woche im Palast meiner Schwester Sara gesehen habe, ein vergnügliches Stück mit Puppen in saudischer Kleidung.
Je genauer ich hinsehe, desto mehr gleicht Karim der Puppe Goha, einer liebenswerten, aber exzentrischen Fantasiegestalt der arabischen Welt. In dem Spiel legte die Marionette Goha wie üblich ein närrisches Verhalten an den Tag, tänzelte über die Bühne und musste mit den unterschiedlichsten Missgeschicken fertig werden. Meine Lippen beben, und ich verbeiße mir das Lachen.
Ich erwarte jeden Moment, dass sich mein Ehemann auf den Boden wirft und einen kindischen Wutanfall bekommt.
»Karim wurde rot. Er beteuerte, er schäme sich; ich dachte, er sei wütend, weil er mit seiner Frau nicht fertig wurde.«
Karim starrt mich hasserfüllt an. »Sultana, wage es ja nicht zu lachen! Ich bin wirklich zornig.« Ich kämpfe immer noch gegen die widersprüchlichen Gefühle an, aber dann zucke ich die Schultern. »Leugnest du etwa, dass das, was du da liest, der Wahrheit entspricht?«
Karim ignoriert meine Worte und fährt fort, Passagen zu suchen, in denen sein Charakter schlecht wegkommt. Dabei führt er mir noch einmal genau die Eigenschaften vor Augen, die mich vor Jahren dazu bewogen haben, ihn zu verlassen.
Mit kreischender Stimme liest er vor: »Wie sehnte ich mich nach einem Kämpfer als Mann! Nach einem Mann, der beseelt war vom glühenden Wunsch nach Gerechtigkeit.«
Karims Wut wächst mit jedem Wort. Er hält mir das Buch unter die Nase und zeigt mit dem Finger auf die Worte, die ihn am meisten verletzen: »Vor sechs Jahren litt Sultana an einer Geschlechtskrankheit. Nach bohrenden Fragen gab Karim schließlich zu, dass er jede Woche einmal an einer Orgie mit Frauen teilnahm ... Auf den Schrecken der Krankheit hin versprach Karim, sich von der wöchentlichen Orgie fernzuhalten, aber Sultana bezweifelt, dass er der großen Versuchung wirklich widerstehen kann. Die große Liebe ist nur noch Erinnerung, aber wenigstens sind ihr noch die Kinder geblieben. Sie möchte trotz allem bei ihrem Mann bleiben und den Kampf für ihre Töchter fortsetzen.«
Karim ist über diese Enthüllung so zornig, dass er fast in Tränen ausbricht. Er klagt mich an, ich hätte unser »Paradies vergiftet«, und behauptet, unser Zusammenleben sei »absolut harmonisch« gewesen.
Tatsächlich ist bei mir in den letzten Jahren ein Teil meines Vertrauens und meiner Liebe zurückgekehrt, aber in Momenten wie diesen ist mein Entsetzen über die Feigheit der Männer in unserer Familie groß. Ich erkenne an Karims Verhalten, dass er nicht einen einzigen Gedanken an die Gründe verschwendet, weshalb ich meine Sicherheit und unser Glück aufs Spiel gesetzt habe und weshalb ich die Ereignisse meines Lebens sowie die wahren und tragischen Ereignisse, die unschuldige junge Frauen in unserem Land das Leben gekostet haben, hatte schildern wollen.
Karims einzige Sorge gilt seiner Rolle in dem Buch und seinem schlechten Abschneiden in vielen Passagen. Ich erkläre meinem Mann, dass er und die anderen Männer aus dem Hause Al Saud über die Macht verfügen, unser Land zu verändern.
Langsam, still und unauffällig könnten sie Veränderungen herbeiführen. Als er nicht auf meinen Einwand reagiert, verstehe ich mit einem Mal, dass die Männer aus dem Hause Al Saud ihre Macht nicht für ihre Frauen aufs Spiel setzen können. Sie wissen ihre Privilegien zu schätzen.
Karim beruhigt sich wieder, als ich ihn daran erinnere, dass kein Außenstehender mit Ausnahme der Autorin weiß, wer er ist. Alle anderen Personen würden ihn sowieso so gut kennen, dass sie auch ohne das Buch mit seinen guten und schlechten Charaktereigenschaften vertraut wären.
Karim setzt sich neben mich und hebt mit dem Finger mein Kinn an. Er schaut mich beinahe flehentlich an und fragt: »Du hast Jean Sasson von der ansteckenden Krankheit erzählt, die ich mir zugezogen habe?«
Ich winde mich vor Scham, als Karim langsam den Kopf schüttelt, sichtbar enttäuscht von seiner Frau. »Ist dir denn gar nichts heilig, Sultana?« Viele Schlachten enden damit, dass sich die Gegner gegenseitig ihren guten Willen bekunden.
Der Abend endet mit unerwarteten Zärtlichkeitsbekundungen. Eigenartigerweise sagt Karim, dass er mich niemals mehr geliebt habe als heute. Mein Ehemann umwirbt mich, und meine Liebe zu ihm wächst. Er vermag das Verlangen, das ich einmal für immer verloren zu haben glaubte, wieder zu erwecken. Ich wundere mich darüber, dass ich denselben Mann gleichzeitig lieben und hassen kann. Später, als Karim bereits schläft, liege ich wach neben ihm und gehe noch einmal im Kopf jedes einzelne Ereignis des Tages durch.
Ich weiß, dass meine Familie mir nur deshalb ihren Schutz gewährt hat, weil sie sich vor einem königlichen Bann und einer möglichen Bestrafung fürchtet. Trotz des harmonischen Ausklangs, den der Abend für Karim und mich genommen hat, kann ich erst zufrieden sein, wenn die Frauen in meinem geliebten Land, deren Last ich teile, wirklich gleichberechtigt sind.
Muss ich nicht meine Bemühungen um mehr persönliche Freiheiten für die Frauen in Saudi-Arabien fortsetzen? Bin ich nicht selbst die Mutter zweier Töchter? Bin ich es nicht meinen Töchtern und ihren Töchtern nach ihnen schuldig, dass ich mich für Veränderungen einsetze?
Ich lächle, als ich wieder an das Marionettenspiel denke, das ich zusammen mit Saras jüngsten Kindern gesehen habe, und erinnere mich an die Worte der lustigen, aber dennoch weisen Marionette Goha.
»Hört ein treuer Saluki (Wüstenhund) zu bellen auf, wenn er sein Herrchen verteidigt, nur weil ihm ein einzelner Knochen hingeworfen wird?«
Ich schreie: »Nein!« Karim bewegt sich, und ich streiche über seinen Kopf und murmle süße Worte, um ihn wieder in den Schlaf zu lullen.
Ich weiß in dem Moment, dass ich ein unter Zwang gegebenes Versprechen nicht halten werde. Ich werde die Welt entscheiden lassen, wann ich schweigen soll. Solange es die Menschen vorziehen, die Augen angesichts der Not von Frauen zu verschließen, werde ich weiterhin enthüllen, was in Wahrheit hinter dem schwarzen Schleier vorgeht. Das ist meine Bestimmung. Ich treffe eine Entscheidung. Trotz der Versprechen gegenüber meinem Vater werde ich bei meiner nächsten Reise außerhalb des Königreichs versuchen, Kontakt mit meiner Freundin Jean Sasson aufzunehmen.
Noch gibt es viel zu tun. Dann schließe ich die Augen. Ich bin nun eine entschlossenere, aber auch eine sehr viel traurigere Frau als noch am Morgen dieses Tages, denn ich weiß, dass ich mich wieder in Gefahr begeben werde.
Selbst wenn meine Bestrafung und vielleicht auch mein Tod grausam sein sollten, wäre Resignation noch bitterer, denn sie lastet für immer auf uns.
Übersetzung: Birgit Kaiser, Doris Kornau und Martina Reitz
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1993 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich fahre mit den Fingern über sein Gesicht und denke an den Mann Fahd, den ich noch aus Kindertagen kenne. Die Fotografie zeigt einen gereiften König, und nichts erinnert mehr an den jugendlichen Mann von damals. Seine strengen Augenbrauen und sein energisches Kinn wollen nicht so recht zu dem charmanten Mann passen, den ich mir wehmütig in Erinnerung rufe. Meine Gedanken schweifen in die Zeit zurück, als er noch nicht gekrönt war.
Hochaufgerichtet, mit breiten Schultern und ausgestreckter Hand hatte er einem verängstigten Kind eine süße Dattel angeboten. Dieses Kind war ich gewesen. Fahd, der von seinem Vater die kräftige Statur geerbt hatte, wirkte auf mich eher wie ein kriegerischer Beduine als wie ein künftiger Staatsmann. Von Natur aus nicht schüchtern, war ich doch verängstigt, nahm nur zögernd die Wüstenfrucht aus seinen Händen an und flüchtete mich dann in die Arme meiner Mutter. Ich kostete die süße Dattel und verschloss mich Fahds freundlichem Lachen.
Nach saudischer Sitte bin ich seit Beginn meiner Pubertät nicht mehr unverschleiert vor den König getreten. Inzwischen ist er ein alter Mann. Er wirkt jetzt sehr ernst, und ich bin der Ansicht, dass er in all den Jahren als Oberhaupt eines Staates entschiedener und durch die Verantwortung als Führer auch nachdenklicher geworden ist. Unser König ist eine eindrucksvolle Erscheinung, aber ein gutaussehender Mann ist er nicht.
Die Lider lasten schwer auf den hervorquellenden Augen, und die Nase überschattet die Oberlippe seines schmalen Mundes. Auf dem allen Saudis und Besuchern des Landes vertrauten Foto, das deutlich sichtbar überall hängt, sieht der König so aus, wie er meiner Meinung nach nicht ist: unnahbar, streng und unsensibel. Um seine Position ist er trotz der unbeschränkten Macht und des gewaltigen Reichtums nicht zu beneiden. König Fahd führt als unumschränkter Herrscher in einem der reichsten Länder der Erde einen ständigen Kampf zwischen alt und neu.
Die meisten Nationen lösen sich vom Althergebrachten und beschreiten vorsichtig neue Wege zur Entwicklung besserer Formen des sozialen Lebens. Unser König hat diese Möglichkeit nicht. Er muss vier vollkommen verschiedene Bevölkerungsgruppen unter einen Hut bringen:
1. Die religiösen Fundamentalisten, jene starrköpfigen und mächtigen Männer, die zu den alten Werten zurückkehren wollen.
2. Die gebildete Mittelklasse, die eben diese alten und für sie hinderlichen Traditionen abschaffen will.
3. Die Beduinenstämme, die es gelüstet, ihr Nomadenleben aufzugeben und in die Städte mit all ihren Verlockungen zu ziehen.
4. Die Mitglieder der großen königlichen Familie, die alle nur immer noch mehr Reichtümer anhäufen wollen.
Neben diesen vier Fraktionen gibt es noch eine Gruppe, die vergessen wurde: die Frauen Saudi-Arabiens, die ebenso viele Wünsche und Ziele haben wie die Männer, die über unser Leben bestimmen. Seltsamerweise zürne ich trotz aller Enttäuschungen angesichts der Lage der Frauen dem König nicht.
Ich weiß, dass er die Unterstützung ganz normaler Ehemänner, Väter und Brüder braucht, bevor er gegen die religiösen Fanatiker vorgehen kann. Diese Fundamentalisten meinen, sie allein würden die islamischen Gesetze richtig interpretieren, und daher dürften die Männer unumschränkt über ihre Frauen herrschen. Es gibt einfach noch zu viele Männer in Saudi-Arabien, die mit den gegebenen Verhältnissen zufrieden sind. Sie ertragen lieber die Klagen ihrer Frauen, statt ihrem König zu folgen und Veränderung herbeizuführen.
Trotz aller Schwierigkeiten steht die Mehrzahl der saudischen Bürger hinter König Fahd, und nur die religiösen Fundamentalisten fordern seine Absetzung. Alle anderen Saudis halten ihn für einen großzügigen Mann, der das Land mit milderer Hand regiert als sein Vater und seine drei Brüder. Die Frauen meiner Familie wissen, dass der König bei seinen Frauen beliebt ist. Und wer kennt einen Mann besser als seine Frauen?
In diesem Buch erzähle ich aus meinem Leben. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Veröffentlichung von Ich, Prinzessin Sultana, und meine Töchter als Schlag ins Gesicht unseres Königs angesehen werden wird. Das, und nur das, bedaure ich. Ich selbst habe mich aus freien Stücken dazu entschlossen, mit den Ehrenkodizes früherer Generationen zu brechen und Familiengeheimnisse an die Öffentlichkeit zu tragen. Jetzt frage ich mich zum ersten Mal, ob ich mich mehr von meinen Gefühlen als von meinem Verstand habe leiten lassen. Um mein Gewissen zu beruhigen und meine Ängste zu beschwichtigen, rufe ich mir alle meine Nöte und Leiden noch einmal in Erinnerung: Soll unsere Gesellschaft bis in alle Zukunft von unseren Männern regiert werden, während wir Frauen weiterhin unterdrückt werden?
Es war die Wut über die Gleichgültigkeit der Männer, die mich zur Rebellion anstachelte.
1
Der Schleier fällt
Verzweiflung trübt unser Auge und verschließt unser Ohr. Wir sehen dann nur noch die Geister des Verhängnis und hören nur noch das Schlagen unserer beklommenen Herzen.
Kahlil Gibran
Oktober 1992.
Niedergeschlagen und gleichzeitig in fieberhafter Aufregung warte ich, Sultana Al Saud, Autorin eines Enthüllungsbuches, was die kommenden Tage für mich bringen werden.
Das Buch über das Leben der Frauen in Saudi-Arabien ist in den Vereinigten Staaten im September 1992 erschienen. Seither plagen mich böse Vorahnungen. Ich fühle, dass ich in großer Gefahr schwebe, denn keine Tat, mag sie nun bedeutend oder unbedeutend, gut oder schlecht sein, bleibt ohne Folgen.
Während ich tief Luft hole, sage ich mir hoffnungsvoll, dass mich vielleicht die Anonymität der großen Al Saud-Familie schützt. Trotzdem fühle ich instinktiv, dass ich entlarvt worden bin. Gerade als ich meine Schuldgefühle abgelegt und meine Furcht überwunden zu haben glaube, stürmt mein Mann Karim in unser Haus und brüllt, mein Bruder Ali sei früher von seiner Europareise zurückgekehrt und mein Vater habe ein dringliches Familientreffen in seinem Palast anberaumt. Seine schwarzen Augen funkeln in dem blassen, mit feuerroten Flecken überzogenen Gesicht.
Mir kommt ein entsetzlicher Gedanke: Karim hat von dem Buch erfahren!
Bei der Vorstellung, getrennt von meinen geliebten Kindern in einem Kerker gefangengehalten zu werden, kann ich meine Nervosität nicht mehr länger unterdrücken, und ich frage mit dünner, hoher Stimme, die in meinen Ohren ganz fremd klingt: »Was ist denn passiert?«
Karim zuckt die Schultern und antwortet: »Woher soll ich das wissen?« Seine Nasenflügel beben.
»Ich habe deinem Vater gesagt, dass ich morgen einen wichtigen Termin in Zürich habe und dass wir ihn nach meiner Rückkehr treffen könnten«, berichtet er irritiert, »aber er bestand darauf, dass ich meine Pläne ändere und dich heute Abend zu ihm begleite.«
Aufgeregt stürmt Karim in sein Büro: »Drei Termine muss ich deshalb absagen!« Mit weichen Knien sinke ich auf das Sofa, erleichtert, dass all meine Schlussfolgerungen wohl verfrüht gewesen waren. Karims Zorn gilt nicht mir! Ich fasse neuen Mut.
Doch noch immer besteht die Gefahr, entlarvt zu werden, und mir bleiben noch viele bange Stunden bis zu dem überraschenden Familientreffen. Obwohl mir gar nicht danach zumute ist, lächle und plaudere ich, während ich zusammen mit Karim über dicke persische Teppiche durch die große Eingangshalle des neu erbauten Palasts meines Vaters gehe.
Wir betreten ein großes, prächtiges Wohnzimmer. Mein Vater ist noch nicht da, aber ich stelle fest, dass Karim und ich als letzte eintreffen. Die anderen zehn lebenden Kinder meiner Mutter, ohne Gatten und Gattinnen, sind in das Haus meines Vaters zitiert worden.
Drei meiner Schwestern sind von Dschidda hierher nach Riad geflogen, und zwei weitere Schwestern sind aus Taif gekommen. Als ich mich im Zimmer umsehe, stelle ich fest, dass Karim der einzige Anwesende ist, der nicht unmittelbar zur Familie gehört. Selbst Vaters Hauptfrau und ihre Kinder sind nirgendwo zu sehen; vermutlich sind sie weggeschickt worden.
Die Dringlichkeit des Treffens ruft mir wieder das Buch ins Gedächtnis, und Angst schnürt mir die Kehle zu. Meine Schwester Sara und ich tauschen besorgte Blicke.
Sie weiß als Einzige aus der Familie von dem Buch, und ihr gehen offenbar die gleichen Gedanken wie mir durch den Kopf. Alle meine Geschwister begrüßen mich freundlich, mit Ausnahme meines Bruders Ali. Ich bemerke, wie seine Blicke mir folgen. Kurz nach unserem Eintreffen betritt mein Vater den Raum.
Wir, seine zehn Töchter, stehen respektvoll auf und begrüßen den Mann, der uns zwar das Leben geschenkt hat, aber niemals Liebe. Ich habe meinen Vater seit einigen Monaten nicht gesehen, und er wirkt erschöpft und vorzeitig gealtert. Als ich ihm einen Kuss auf die Wange geben möchte, wendet er sich ungeduldig ab und erwidert meinen Gruß nicht. Nun wird mir richtig bange.
Plötzlich erkenne ich, wie naiv der Glaube war, die Al Sauds seien viel zu sehr mit der Anhäufung von Reichtümern beschäftigt, um sich um Bücher zu kümmern. Mit ernster Stimme fordert Vater uns auf, uns zu setzen. Er habe uns einige beunruhigende Neuigkeiten mitzuteilen.
Ich bemerke, dass Ali, der eine krankhafte Freude am Leiden anderer hat, mich hämisch und schadenfroh anstarrt. Zweifellos weiß er, was heute Abend besprochen werden soll. Mein Vater greift in seine große schwarze Aktentasche und holt ein Buch heraus, das in einer fremden Sprache verfasst ist und das niemand von uns lesen kann. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Was hat dieses spezielle Buch mit unserer Familie zu tun? Mit wutverzerrter Stimme berichtet Vater, dass Ali dieses Buch kürzlich in Deutschland gekauft habe.
Es handle vom Leben einer Prinzessin, einer dummen und törichten Frau, die sich der mit den königlichen Privilegien verbundenen Pflichten nicht bewusst sei. Während er im Raum auf und ab schreitet, hält er das Buch in den Händen. Auf dem Umschlagfoto ist eindeutig eine Muslimin zu sehen, denn sie ist verschleiert und steht vor türkischen Minaretten.
Mich durchzuckt der Gedanke, dass eine alternde ägyptische oder türkische Prinzessin im Exil ein Enthüllungsbuch geschrieben hat, aber sofort erkenne ich, dass eine solche Geschichte in unserem Land keinerlei Interesse wecken würde.
Als Vater näher tritt, lese ich den Titel: Ich, Prinzessin aus dem Hause Al Saud. Es ist meine Geschichte! Da ich mit der Autorin des Buches keinen Kontakt mehr habe, seit ich vom Verkauf des Buches an einen renommierten amerikanischen Verlag erfahren habe, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass mein Buch ein großer Erfolg ist und die Übersetzungsrechte in viele Länder verkauft worden sind.
Bei diesem Exemplar handelt es sich ganz offensichtlich um die deutsche Ausgabe. Einen kurzen Augenblick lang bin ich stolz, doch dann packt mich die nackte Angst. Ich fühle, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Ich bin wie gelähmt und höre die Stimme meines Vaters wie aus weiter Ferne.
Er erklärt, Ali sei neugierig geworden, als er das Buch auf dem Flughafen in Frankfurt entdeckt habe. Als er bemerkte, dass der Familienname auf dem Umschlag stand, habe er weder Mühen noch Kosten gescheut und eine Übersetzung des Buches machen lassen.
Zu der Zeit glaubte Ali noch, dass eine unbedeutende, verärgerte Prinzessin aus dem Hause Al Saud Geheimnisse aus ihrem Leben ausgeplaudert habe. Beim Lesen des Buches habe er sich jedoch bei den Schilderungen unserer kindlichen Streitigkeiten selbst erkannt. Daraufhin habe er seinen Urlaub abgebrochen und sei wutentbrannt nach Riad zurückgekehrt. Für das Familientreffen hat Vater Kopien von der Übersetzung anfertigen lassen. Nun nickt er Ali zu und gibt ihm ein kurzes Zeichen.
Mein Bruder greift nach einem großen Packen Papier neben ihm und übergibt jedem einen Stapel, der von einem großen Gummi zusammengehalten wird.
Verwirrt stößt Karim mich in die Seite, zieht die Augenbrauen hoch und verdreht die Augen. Ich tue so, als ob ich nicht wüsste, worum es geht, zucke die Schultern und starre mit unbewegter Miene auf die Blätter in meiner Hand.
Mit lauter Stimme brüllt Vater meinen Namen: »Sultana!«
Sofort springe ich auf. Vater stößt schnell und abgehackt Worte hervor. »Sultana, erinnerst du dich noch an die Heirat und die Scheidung deiner Schwester Sara? An die Schlechtigkeit deiner früheren Freundinnen? An den Tod deiner Mutter? An deine Reise nach Ägypten? An deine Heirat mit Karim und die Geburt deines Sohnes? Sultana?«
Mir stockt der Atem. Unbarmherzig fährt mein Vater mit seiner Anklage fort.
»Sultana, wenn du dich nicht recht an diese bedeutsamen Ereignisse erinnern kannst, dann empfehle ich dir, dieses Buch zu lesen!«
Vater wirft mir das Buch vor die Füße. Unfähig mich zu bewegen, starre ich auf das Buch vor mir auf dem Boden. Dann befiehlt mein Vater: »Heb es auf!«
Karim ergreift das Buch und starrt auf den Schutzumschlag. Er keucht, dann atmet er tief durch und wendet sich mir zu.
»Was hat das zu bedeuten, Sultana?« Vor Schreck bin ich wie gelähmt. Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus, und ich möchte am liebsten im Erdboden versinken. Karim verliert die Beherrschung und lässt das Buch auf den Boden fallen. Dann packt er mich an den Schultern und schüttelt mich heftig.
Mein Vater brüllt: »Sultana! Antworte deinem Ehemann!« Die Jahre verflüchtigen sich. Ich bin wieder ein Kind, auf Gedeih und Verderb meinem Vater ausgeliefert. Plötzlich sehne ich mich nach meiner toten Mutter, denn nichts außer Mutterliebe kann mir in dieser heiklen Angelegenheit helfen.
Meiner Kehle entringt sich ein Seufzer.
In der Vergangenheit hatte ich mir viele Male gesagt, dass es ohne Mut keine Freiheit geben kann, und doch verlässt mich mein Mut gerade in dem Moment, als ich ihn am meisten benötige. Ich hatte gewusst, dass mein Geheimnis entdeckt werden würde, falls enge Familienangehörige das Buch in die Hände bekommen sollten; schließlich sind sie Schlüsselfiguren in meinem Leben und in dem Buch.
Törichterweise hatte ich mich dadurch geschützt gefühlt, dass Sara als Einzige in der Familie Bücher liest. Ich hatte gehofft, dass meine Angehörigen nur wenig Notiz von dem Buch nehmen würden, selbst wenn hier in der Stadt darüber gesprochen werden sollte. Vorausgesetzt es wäre nicht gerade von einem Ereignis die Rede, an das sie sich von früher her erinnerten.
Nun hatte aber gerade mein Bruder, der schon bei der bloßen Erwähnung der Frauenrechte in Hohngelächter ausbricht, das Buch über die Misshandlungen von Frauen in meinem Land gelesen. Mein teuflischer Bruder Ali hatte mich meiner kostbaren Anonymität beraubt.
Ängstlich blicke ich auf meinen Vater, meine Schwestern und meinen Bruder, sehe, wie ihr anfänglich erstaunter und ärgerlicher Blick langsam hart wird. Nach nur einem Monat sind sie mir auf die Schliche gekommen!
Schließlich finde ich meine Sprache wieder, gebe die Schuld an meiner Tat der höchsten Autorität und sage das, was alle guten Muslime sagen, wenn sie bei etwas erwischt werden, was Bestrafung nach sich zieht.
»Gott hat es so gewollt. Er hat dieses Buch gewollt!«
Ali entgegnet höhnisch: »Gott? Unsinn! Der Teufel hat es gewollt!«
Er wendet sich an meinen Vater und sagt ernst: »Seit ihrer Geburt lebt ein kleiner Teufel in Sultana. Der Teufel hat dieses Buch gewollt!«
Meine Schwestern beginnen schnell in ihren Stapeln in ihren Händen zu blättern, um mit eigenen Augen zu sehen, ob unsere Familiengeheimnisse preisgegeben worden sind.
Nur Sara unterstützt mich, steht stumm auf, stellt sich hinter mich und legt die Hände auf meine Schultern. Ihre sanfte Berührung wirkt beruhigend auf mich. Nach seinem anfänglichen Gefühlsausbruch ist Karim still.
Ich sehe, dass er in der Übersetzung des Buches liest, stelle fest, dass er das Kapitel entdeckt hat, das von unserer ersten Begegnung und der Hochzeit berichtet. Reglos liest mein Ehemann zum ersten Mal diese Bekenntnisse.
Vater schreit mich verärgert an, und hasserfüllt stimmt Ali ein. Beide beschimpfen mich wegen meiner Dummheit. In der allgemeinen Verwirrung höre ich, wie Ali mich des Verrats bezichtigt. Verrat? Ich liebe meinen Gott, mein Land und den König in dieser Reihenfolge.
Ich brülle zurück: »Nein! Ich bin keine Verräterin! Nur Kleingeister können zu einem so ungerechten Urteil gelangen!«
Je größer mein Zorn wird, desto mehr verschwindet meine Angst. Sind nicht die Männer in meiner Familie der beste Beweis dafür, dass Männer und Frauen nur dann in Frieden und Eintracht miteinander leben können, wenn das eine Geschlecht stark genug ist, um das andere vollkommen zu beherrschen?
Nun, da wir saudischen Frauen über bessere Bildungsmöglichkeiten verfügen und das Denken nicht mehr anderen überlassen, wird es zusätzliche Auseinandersetzungen in unserem Leben geben. Dennoch trete ich für den Kampf um mehr Rechte für die Frau ein, denn ein fauler Friede setzt nur die Unterdrückung der Frau fort.
Erbittert streiten wir weiter, und ich verliere mich in Details. Meine anfängliche Furcht hat meine Erinnerung daran getrübt, weshalb ich Jean Sasson ursprünglich bat, meine Geschichte aufzuschreiben. Nun verschließe ich meine Ohren gegenüber den Anklagen und zwinge mich, an Nada zu denken, die ertränkt wurde, und an die Einkerkerung Samiras.
Ob ihre tragischen Lebensgeschichten wohl die Herzen der Leser gerührt haben? Noch vor Veröffentlichung des Buches war mir bewusst, dass diese Geschichten unglaubwürdig wirken mussten, wenn die Leser des Buches sich nicht all die Grausamkeiten vor Augen führten, die Männer Frauen zufügen können.
Trotzdem war ich überzeugt, dass alle Menschen, die mein Land wirklich kannten seine Sitten und seine Tradition wissen mussten, dass ich die Wahrheit sagte. Die Erinnerung an meine unglücklichen Freundinnen und ihr trauriges Schicksal gibt mir neue Kraft, und mein Mut kehrt zurück.
Ich stehe auf und stelle mich meinen Widersachern. Ich fühle das Kämpferblut meines Großvaters Abdul Asis in meinen Adern. Schon in meiner Kindheit war ich am gefährlichsten, wenn ich in wirklicher Gefahr war.
Plötzlich erinnere ich mich an das Gesicht eines gütigen Mannes, der einem kleinen Mädchen saftige Datteln angeboten hat. Mir kommt eine verrückte Idee. Entschlossen übertöne ich das aufgebrachte Stimmengewirr: »Bringt mich zum König!«
Die anderen sind augenblicklich ruhig. Ungläubig wiederholt mein Vater meine Worte: »Zum König?« Ali schnalzt ungeduldig mit der Zunge und sagt: »Der König wird dich nicht empfangen wollen!« »Doch! Bringt mich zu ihm. Ich will dem König die Gründe mitteilen, die mich zu diesem Buch bewogen haben. Ich will ihm die tragische Lebensgeschichte der von ihm regierten Frauen erzählen. Ich werde ein Geständnis ablegen, aber nur vor dem König.«
Misstrauisch schaut Vater Ali an. Die Miene der beiden Männer verrät, wie schockiert sie sind. Es ist, als könne ich ihre Gedanken lesen. »Man muss ehrenhaft sein, aber nicht zu ehrenhaft!«
»Ich bestehe darauf, alles dem König zu gestehen«, wiederhole ich. Ich kenne diesen König gut. Er hasst zwar Auseinandersetzungen, aber er wird mich trotzdem für das, was ich getan habe, bestrafen. Im Stillen sage ich mir, dass ich um nicht in Vergessenheit zu geraten mit einem Nicht-Saudi sprechen muss. Mein Entschluss steht fest.
»Aber bevor ich zum König gehe, muss ich mit einem ausländischen Journalisten sprechen und meine Identität enthüllen. Die Welt soll ruhig erfahren, wie in unserem Land Menschen behandelt werden, die die Wahrheit sagen.«
Ich gehe zum Telefon, das auf einem kleinen Tisch neben der Tür zur Eingangshalle steht. Verzweifelt versuche ich mich an die Telefonnummer einer internationalen Zeitung zu erinnern, die ich mir für einen solchen Notfall eingeprägt habe. Meine Schwestern jammern laut und flehen meinen Vater an, mich aufzuhalten.
Karim springt auf und versperrt mir gewaltsam den Weg. Mit ernstem Gesicht streckt er den Arm aus und zeigt auf meinen Sessel, ganz so, als handele es sich um einen Richtblock. Trotz der Gefahr, in der ich schwebe, belustigt mich Karims Gesichtsausdruck. Ich lache laut los.
Mein Gatte ist ein törichter Mann, denn er hat immer noch nicht begriffen, dass er mich erst töten muss, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich weiß aber, dass er dies niemals tun würde. Schon immer habe ich Kraft aus dem Wissen geschöpft, dass Karim niemals gewalttätig werden könnte. Drohend schreie ich ihm zu: »Wenn das Tier in die Enge getrieben ist, wird es für den Jäger gefährlich.«
Dann kommt mir der Gedanke, Karim meinen Kopf in den Magen zu rammen. Doch bevor ich den Gedanken in die Tat umsetzen kann, verschafft sich meine älteste Schwester Nura Gehör und ruft uns alle mit ruhiger Stimme zur Vernunft.
»Genug! Auf diese Weise kann man kein Problem lösen.« Sie hält inne und blickt meinen Vater und Ali an.
»Was soll dieses Geschrei! Die Bediensteten können jedes Wort verstehen. Wenn sie von der Sache erfahren, sitzen wir wirklich in der Tinte.«
Nura ist die einzige Tochter meines Vaters, die seine Liebe gewonnen hat. Vater bedeutet uns allen, dass wir uns beruhigen und wieder setzen sollen. Karim ergreift meinen Arm und führt mich zu meinem Sessel zurück.
Seit der Publikation des Buches war ich vor Angst wie gelähmt. Nun, zum ersten Mal seit Wochen, bin ich wütend, denn ich muss erstaunt feststellen, dass die Männer meiner Familie gar nicht daran denken, mich den Behörden zu übergeben.
Der Familienrat wird ruhiger fortgesetzt, und wir sprechen darüber, wie meine Identität geheimgehalten werden könnte. Uns ist bewusst, dass im ganzen Königreich darüber spekuliert werden wird, wer die Prinzessin in dem Buch wohl sein könnte. Mein Vater vertritt die Ansicht, dass es für einen einfachen Saudi, der nicht zur Familie gehört, unmöglich sei, die Wahrheit herauszufinden. Keine wirkliche Gefahr drohe auch von den Männern der Al Saud-Großfamilie, da wir stets peinlich darauf achten, dass sie wenig über die Frauen und ihre Aktivitäten erfahren.
Wirkliche Gefahr gehe nur von nahen weiblichen Verwandten aus, weil diese zuweilen an unseren intimen Zusammenkünften teilnehmen. Panik kommt auf, als Tahani eine alte Tante einfällt, die genau über die Umstände von Saras unglückseliger Vermählung und Scheidung Bescheid weiß.
Nura beschwichtigt Tahanis Ängste und teilt den Versammelten mit, dass diese Tante an einer altersbedingten schweren Gehirnerkrankung leide und nur sehr selten bei klarem Verstand sei. Wenn sie was sehr unwahrscheinlich sei von dem Buch höre, würde nichts, was sie sagen oder tun könnte, von ihrer Familie ernst genommen werden. Alle atmen erleichtert auf.
Ich selbst fürchte mich nicht vor der alten Frau. Sie war schon in jungen Jahren ein wenig wunderlich gewesen, und ich kenne sie besser als die anderen. Früher hatte sie mir öfters ins Ohr geflüstert, sie würde mich bei der Durchsetzung kleiner Freiheiten für die Frauen unterstützen, und damit geprahlt, sie sei die erste Feministin der Welt gewesen, lange bevor die Europäerinnen überhaupt an diese Dinge gedacht hätten.
Gerne erzählte sie, wie sie in der Hochzeitsnacht ihren verdatterten Ehemann dazu gebracht hatte, ihr die Verfügungsgewalt über das Geld aus dem Verkauf der Schafe zu überlassen, denn sie sei gut im Kopfrechnen gewesen, während er zum Rechnen die Zahlen mit einem Stock in den Sand habe schreiben müssen.
Ihr Ehemann habe aber nie daran gedacht, eine andere Frau zu nehmen; meine Tante habe ihm vollauf genügt. Mit einem zahnlosen Lachen hatte meine Tante mir das Geheimnis verraten, wie eine Frau ihren Mann unter ihrer Fuchtel halten könne: Sie müsse den »Lederstab« ihres Gatten steif und allzeit bereit halten.
Ich war damals noch ein junges Mädchen und wusste nicht, was sie mit »Lederstab« meinte, aber als erwachsene Frau musste ich oft lächeln, wenn ich an die leidenschaftlichen Aktivitäten dachte, die einst ihr Zelt haben erbeben lassen. Nach dem frühen Tod ihres Ehemannes gestand meine Tante mir, sie vermisse die sanften Zärtlichkeiten ihres Mannes und die Erinnerung an ihn halte sie von einer neuen Heirat ab.
Mehrere Stunden lang vertieft sich meine Familie in die Übersetzung und vergewissert sich, dass kein Außenstehender die in dem Buch beschriebenen Familiendramen und -streitigkeiten kennen kann. Ich spüre förmlich, wie erleichtert meine Angehörigen schließlich sind.
Außerdem bemerke ich so etwas wie Bewunderung, weil ich die entscheidenden Informationen, die die Behörden direkt an meine Tür geführt hätten, so geschickt verschleiert habe. Am Ende des Abends warnen mein Vater und Ali meine Schwestern noch davor, ihre Ehemänner über die Angelegenheit in Kenntnis zu setzen.
Wer kann schon vorhersehen, ob nicht ein Ehemann meint, sich einer Schwester oder seiner Mutter anvertrauen zu müssen? Meine Schwestern werden instruiert, ihren Ehemännern zu sagen, dass bei dem Familientreffen ausschließlich weibliche Belange besprochen worden seien.
Vater verbietet mir strikt, mein »Verbrechen« publik zu machen. Dass es sich bei dem Buch um meine Lebensgeschichte handelt, muss ein wohlgehütetes Familiengeheimnis bleiben.
Mein Vater ermahnt mich, dass nicht nur ich die schlimmen Folgen zu tragen hätte Hausarrest, vielleicht auch Gefangenschaft , sondern auch die Männer der Familie, darunter auch mein eigener Sohn Abdullah. Sie müssten mit der Verachtung und dem Ausschluss aus der patriarchalischen Gesellschaft Saudi-Arabiens rechnen, in der nichts höher geschätzt wird als ein Mann, der imstande ist, mit seinen Frauen fertig zu werden.
Als Zeichen der Unterwerfung senke ich die Augen und gelobe Gehorsam. Innerlich aber triumphiere ich, denn an diesem Abend habe ich eine großartige Entdeckung gemacht: Die Männer in meiner Familie sind ebenso abhängig von mir wie ich von ihnen, und ihre Herrschaft hält sie ebenso gefangen wie mich.
Ali, der heute nicht auf seine Kosten gekommen ist, verabschiedet sich unwirsch und verärgert von mir. Ihm hätte es sehr gut gefallen, wenn ich Hausarrest bekommen hätte, aber er kann nicht riskieren, dass sein männlicher Stolz durch die Blutsverwandtschaft mit mir gekränkt wird. Ich nehme überfreundlich Abschied von ihm und flüstere ihm dabei ins Ohr: »Ali, du musst wissen, dass nicht jeder, dem Ketten angelegt wurden, unterjocht ist.«
Ich habe einen großen Sieg errungen! Auf dem Heimweg ist Karim ernst und schweigsam. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und verflucht bei drei Gelegenheiten den Fahrstil des philippinischen Chauffeurs. Ich lehne mit dem Gesicht gegen das Autofenster, während wir durch die Straßen Riads fahren, nehme aber nichts von dem wahr, was um mich herum vorgeht.
Ich rüste mich für einen zweiten Kampf, denn ich weiß, dass ich Karims großem Zorn nicht entgehen kann.
Als wir uns in unserem Schlafzimmer befinden, greift Karim nach dem Buch. Er beginnt mir die Passagen vorzulesen, die ihn am meisten verletzen: »Zum ersten Mal empfand ich Abscheu vor meinem Mann. Seine Besonnenheit und Freundlichkeit waren nur Fassade. Im Innersten war er ein berechnender Egoist.«
Insgeheim habe ich Mitleid mit ihm, denn wer wäre nicht verletzt oder zornig, wenn seine größten Schwächen der Öffentlichkeit preisgegeben würden. Ich kämpfe gegen das Gefühl an und zwinge mich, an das zu denken, was er mir angetan hat sowie an den großen Kummer und den Schmerz, der so lebhaft in dem Buch geschildert wird.
Meine Gefühle sind zwiespältig, und ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll, aber Karims übertriebene Reaktion löst das Problem für mich. Mein Ehemann fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und stampft mit den Füßen. Ich muss an das ägyptische Marionettenspiel denken, das ich in der vorangegangenen Woche im Palast meiner Schwester Sara gesehen habe, ein vergnügliches Stück mit Puppen in saudischer Kleidung.
Je genauer ich hinsehe, desto mehr gleicht Karim der Puppe Goha, einer liebenswerten, aber exzentrischen Fantasiegestalt der arabischen Welt. In dem Spiel legte die Marionette Goha wie üblich ein närrisches Verhalten an den Tag, tänzelte über die Bühne und musste mit den unterschiedlichsten Missgeschicken fertig werden. Meine Lippen beben, und ich verbeiße mir das Lachen.
Ich erwarte jeden Moment, dass sich mein Ehemann auf den Boden wirft und einen kindischen Wutanfall bekommt.
»Karim wurde rot. Er beteuerte, er schäme sich; ich dachte, er sei wütend, weil er mit seiner Frau nicht fertig wurde.«
Karim starrt mich hasserfüllt an. »Sultana, wage es ja nicht zu lachen! Ich bin wirklich zornig.« Ich kämpfe immer noch gegen die widersprüchlichen Gefühle an, aber dann zucke ich die Schultern. »Leugnest du etwa, dass das, was du da liest, der Wahrheit entspricht?«
Karim ignoriert meine Worte und fährt fort, Passagen zu suchen, in denen sein Charakter schlecht wegkommt. Dabei führt er mir noch einmal genau die Eigenschaften vor Augen, die mich vor Jahren dazu bewogen haben, ihn zu verlassen.
Mit kreischender Stimme liest er vor: »Wie sehnte ich mich nach einem Kämpfer als Mann! Nach einem Mann, der beseelt war vom glühenden Wunsch nach Gerechtigkeit.«
Karims Wut wächst mit jedem Wort. Er hält mir das Buch unter die Nase und zeigt mit dem Finger auf die Worte, die ihn am meisten verletzen: »Vor sechs Jahren litt Sultana an einer Geschlechtskrankheit. Nach bohrenden Fragen gab Karim schließlich zu, dass er jede Woche einmal an einer Orgie mit Frauen teilnahm ... Auf den Schrecken der Krankheit hin versprach Karim, sich von der wöchentlichen Orgie fernzuhalten, aber Sultana bezweifelt, dass er der großen Versuchung wirklich widerstehen kann. Die große Liebe ist nur noch Erinnerung, aber wenigstens sind ihr noch die Kinder geblieben. Sie möchte trotz allem bei ihrem Mann bleiben und den Kampf für ihre Töchter fortsetzen.«
Karim ist über diese Enthüllung so zornig, dass er fast in Tränen ausbricht. Er klagt mich an, ich hätte unser »Paradies vergiftet«, und behauptet, unser Zusammenleben sei »absolut harmonisch« gewesen.
Tatsächlich ist bei mir in den letzten Jahren ein Teil meines Vertrauens und meiner Liebe zurückgekehrt, aber in Momenten wie diesen ist mein Entsetzen über die Feigheit der Männer in unserer Familie groß. Ich erkenne an Karims Verhalten, dass er nicht einen einzigen Gedanken an die Gründe verschwendet, weshalb ich meine Sicherheit und unser Glück aufs Spiel gesetzt habe und weshalb ich die Ereignisse meines Lebens sowie die wahren und tragischen Ereignisse, die unschuldige junge Frauen in unserem Land das Leben gekostet haben, hatte schildern wollen.
Karims einzige Sorge gilt seiner Rolle in dem Buch und seinem schlechten Abschneiden in vielen Passagen. Ich erkläre meinem Mann, dass er und die anderen Männer aus dem Hause Al Saud über die Macht verfügen, unser Land zu verändern.
Langsam, still und unauffällig könnten sie Veränderungen herbeiführen. Als er nicht auf meinen Einwand reagiert, verstehe ich mit einem Mal, dass die Männer aus dem Hause Al Saud ihre Macht nicht für ihre Frauen aufs Spiel setzen können. Sie wissen ihre Privilegien zu schätzen.
Karim beruhigt sich wieder, als ich ihn daran erinnere, dass kein Außenstehender mit Ausnahme der Autorin weiß, wer er ist. Alle anderen Personen würden ihn sowieso so gut kennen, dass sie auch ohne das Buch mit seinen guten und schlechten Charaktereigenschaften vertraut wären.
Karim setzt sich neben mich und hebt mit dem Finger mein Kinn an. Er schaut mich beinahe flehentlich an und fragt: »Du hast Jean Sasson von der ansteckenden Krankheit erzählt, die ich mir zugezogen habe?«
Ich winde mich vor Scham, als Karim langsam den Kopf schüttelt, sichtbar enttäuscht von seiner Frau. »Ist dir denn gar nichts heilig, Sultana?« Viele Schlachten enden damit, dass sich die Gegner gegenseitig ihren guten Willen bekunden.
Der Abend endet mit unerwarteten Zärtlichkeitsbekundungen. Eigenartigerweise sagt Karim, dass er mich niemals mehr geliebt habe als heute. Mein Ehemann umwirbt mich, und meine Liebe zu ihm wächst. Er vermag das Verlangen, das ich einmal für immer verloren zu haben glaubte, wieder zu erwecken. Ich wundere mich darüber, dass ich denselben Mann gleichzeitig lieben und hassen kann. Später, als Karim bereits schläft, liege ich wach neben ihm und gehe noch einmal im Kopf jedes einzelne Ereignis des Tages durch.
Ich weiß, dass meine Familie mir nur deshalb ihren Schutz gewährt hat, weil sie sich vor einem königlichen Bann und einer möglichen Bestrafung fürchtet. Trotz des harmonischen Ausklangs, den der Abend für Karim und mich genommen hat, kann ich erst zufrieden sein, wenn die Frauen in meinem geliebten Land, deren Last ich teile, wirklich gleichberechtigt sind.
Muss ich nicht meine Bemühungen um mehr persönliche Freiheiten für die Frauen in Saudi-Arabien fortsetzen? Bin ich nicht selbst die Mutter zweier Töchter? Bin ich es nicht meinen Töchtern und ihren Töchtern nach ihnen schuldig, dass ich mich für Veränderungen einsetze?
Ich lächle, als ich wieder an das Marionettenspiel denke, das ich zusammen mit Saras jüngsten Kindern gesehen habe, und erinnere mich an die Worte der lustigen, aber dennoch weisen Marionette Goha.
»Hört ein treuer Saluki (Wüstenhund) zu bellen auf, wenn er sein Herrchen verteidigt, nur weil ihm ein einzelner Knochen hingeworfen wird?«
Ich schreie: »Nein!« Karim bewegt sich, und ich streiche über seinen Kopf und murmle süße Worte, um ihn wieder in den Schlaf zu lullen.
Ich weiß in dem Moment, dass ich ein unter Zwang gegebenes Versprechen nicht halten werde. Ich werde die Welt entscheiden lassen, wann ich schweigen soll. Solange es die Menschen vorziehen, die Augen angesichts der Not von Frauen zu verschließen, werde ich weiterhin enthüllen, was in Wahrheit hinter dem schwarzen Schleier vorgeht. Das ist meine Bestimmung. Ich treffe eine Entscheidung. Trotz der Versprechen gegenüber meinem Vater werde ich bei meiner nächsten Reise außerhalb des Königreichs versuchen, Kontakt mit meiner Freundin Jean Sasson aufzunehmen.
Noch gibt es viel zu tun. Dann schließe ich die Augen. Ich bin nun eine entschlossenere, aber auch eine sehr viel traurigere Frau als noch am Morgen dieses Tages, denn ich weiß, dass ich mich wieder in Gefahr begeben werde.
Selbst wenn meine Bestrafung und vielleicht auch mein Tod grausam sein sollten, wäre Resignation noch bitterer, denn sie lastet für immer auf uns.
Übersetzung: Birgit Kaiser, Doris Kornau und Martina Reitz
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1993 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Bibliographische Angaben
- Autor: JEAN P. SASSON
- 271 Seiten, Maße: 12,6 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003452
- ISBN-13: 9783868003451
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