Ich schreib dir morgen wieder
Stell Dir vor, Du hättest ein Tagebuch, in dem alle Erlebnisse Deines morgigen Tages stehen. Würde das nicht alles verändern? Ein wunderbarer und wie immer zauberhafter Roman.
Die junge Tamara führt in Dublin ein...
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Produktinformationen zu „Ich schreib dir morgen wieder “
Stell Dir vor, Du hättest ein Tagebuch, in dem alle Erlebnisse Deines morgigen Tages stehen. Würde das nicht alles verändern? Ein wunderbarer und wie immer zauberhafter Roman.
Die junge Tamara führt in Dublin ein Leben in Saus und Braus. Doch als ihr Vater Selbstmord begeht, muss sie zu einfachen Verwandten aufs Land ziehen. Ihre Mutter ist so in ihre Trauer vergraben, dass sie kaum ansprechbar ist. Daher fühlt sich Tamara ziemlich einsam. Doch alles ändert sich, als sie durch Zufall ein geheimnisvolles Tagebuch findet. Es scheint, als wäre Tamaras eigenes Leben dort aufgeschrieben. Und immer schon der nächste Tag! Das Buch führt Tamara bald zu ungeahnten Geheimnissen ihrer Familie - aber auch zu Liebe und neuem Leben.
Lese-Probe zu „Ich schreib dir morgen wieder “
Ich schreib dir morgen wieder von Cecilia AhernKAPITEL 1
Knospenfeld
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Von einer Geschichte geht bei jedem Erzählen etwas verloren, sagt man. Wenn das stimmt, ist meine Geschichte noch vollständig, denn ich erzähle sie zum ersten Mal.
Bestimmt werden manche Leute skeptisch reagieren, und wenn ich nicht alles selbst erlebt hätte, würde es mir vermutlich genauso gehen.
Viele jedoch werden kein Problem damit haben, meine Geschichte zu glauben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sich ihr Bewusstsein irgendwann geöffnet hat, weil sie im wahrsten Sinn des Wortes aufgeschlossen sind, so, als hätte ein Schlüssel etwas in ihnen aufgesperrt - wobei der Schlüssel alles sein kann, was den Betreffenden dazu bringt, an etwas zu glauben. Entweder sind diese Menschen schon so geboren, oder sie wurden als Babys, solange das Bewusstsein noch einer Knospe ähnelt, so umsorgt, dass die Blüte sich langsam öffnen und Schritt für Schritt darauf vorbereiten konnte, sich irgendwann an der Essenz des Lebens selbst zu nähren. Solche Menschen wachsen, ganz gleich, ob das Schicksal ihnen Sonnenschein oder Regen beschert, sie wachsen und gedeihen, sie entwickeln sich, und ihr Bewusstsein ist so weit und frei, dass sie achtsam und aufnahmebereit durchs Leben gehen, das Licht im Dunkeln sehen, die verborgenen Chancen in jeder Sackgasse erkennen, den Erfolg schmecken in dem, was andere für Versagen halten, und hinterfragen, was andere als unabänderlich hinnehmen. Sie sind weniger abgestumpft, weniger zynisch als die Mehrheit. Nicht so leicht bereit, die Flinte ins Korn zu werfen.
Bei manchen Menschen öffnet sich das Bewusstsein auch erst später im Leben, durch eine Tragödie oder ein großes Glück, denn beides kann als Schlüssel wirken, der die bis dahin fest verschlossene Alleswisser-Kiste aufschließt. Dann springt der Deckel auf, das Unbekannte wird akzeptiert, sture Logik und Scheuklappendenken werden über Bord geworfen.
Doch dann gibt es auch diejenigen, deren Bewusstsein wie ein Büschel von Halmen ist, die zwar Knospen treiben, wenn der Mensch etwas Neues lernt - eine Knospe für jede neue Information -, aber diese Knospen öffnen sich nicht, sie blühen niemals auf. Solche Menschen kennen Großbuchstaben und Punkte, aber keine Fragezeichen und keine Leerstellen ...
Zu diesen Menschen gehörten auch meine Eltern. Zu denen, die immer alles wissen. Zu der Art, die gern Sprüche von sich geben wie: »Das hab ich ja noch nie gehört, wie kommst du denn darauf? Dafür gibt's keinerlei Beweise, also mach dich nicht lächerlich.« Auch mal um die Ecke zu denken, kam für sie nicht infrage, und sie hatten den Kopf zwar voller bunter, hübsch gepflegter und auch wohlriechender Knospen, aber sie gingen nicht auf, sodass sie leicht und anmutig im Wind tanzen konnten, sondern verharrten aufrecht, stocksteif und nüchtern - und blieben Knospen bis zum Tag ihres Todes.
Na ja, meine Mutter ist ja eigentlich gar nicht tot.
Noch nicht. Nicht im medizinischen Sinn zumindest, aber obwohl sie nicht tot ist - lebendig ist sie ganz sicher auch nicht. Sie ähnelt eher einer wandelnden Leiche, die hin und wieder einen Laut von sich gibt, als wollte sie überprüfen, ob sie noch lebt. Aus der Ferne denkt man, alles ist in Ordnung mit ihr. Aber von Nahem sieht man, dass ihr grellrosa Lippenstift verwischt ist und ihre Augen müde und seelenlos in die Gegend starren - ein bisschen wie diese TV-Kulissenhäuser auf dem Studiogelände, nur Fassade, nichts dahinter. So wandert sie im Haus herum, von einem Zimmer zum anderen, in einem Bademantel mit flappenden Glockenärmeln, wie eine nachdenkliche Südstaatenschönheit in einer Kolonialvilla aus Vom Winde verweht. Ihr Geschlender wirkt von außen graziös und schwanengleich, doch unter der Oberfläche sieht es ganz anders aus, denn dort brodelt es, dort ringt sie verzweifelt um Fassung und strengt sich an, den Kopf nicht sinken zu lassen. Aber das panische Lächeln, mit dem sie uns gelegentlich anblitzt, damit wir wissen, dass sie noch da ist, überzeugt keinen von uns.
Oh, ich mache ihr keine Vorwürfe. Sie nimmt sich ja nicht aus Bosheit den Luxus heraus, sich einfach so in sich selbst zurückzuziehen und es den anderen zu überlassen, die Sauerei auszubaden und zu retten, was aus dem Scherbenhaufen unseres Lebens noch zu retten ist.
Aber jetzt seid ihr wahrscheinlich alle etwas verwirrt, weil ich noch gar nicht richtig angefangen habe zu erzählen.
Also: Mein Name ist Tamara Goodwin. Goodwin. Eine dieser grässlichen Wortkombinationen, die ich zutiefst verachte. Entweder man gewinnt oder man verliert. Aber ein »good win« - ein guter Gewinn? Das ist wie »schmerzlicher Verlust«, »warme Sonne« oder »endgültig tot«. Zwei Wörter, die völlig unnütz zusammengepackt werden, um etwas auszudrücken, was man genauso gut mit einem einzigen Wort hätte sagen können. Manchmal lasse ich einfach eine Silbe weg, wenn mich jemand nach meinem Namen fragt, und nenne mich Tamara Good. Was ein bisschen ironisch ist, weil ich nie ein sonderlich guter Mensch gewesen bin. Oder ich behaupte, ich heiße Tamara Win, eine ironische Anspielung darauf, dass das Glück mir zurzeit gar nicht hold ist.
Ich bin angeblich sechzehn, aber ich fühle mich mindestens doppelt so alt. Mit vierzehn habe ich mich gefühlt wie vierzehn, habe mich benommen wie elf und mich danach gesehnt, endlich achtzehn zu sein. Aber in den letzten Monaten bin ich um Jahre gealtert. Ist das möglich? Menschen mit den geschlossenen Bewusstseinsknospen schütteln jetzt den Kopf und antworten mit einem klaren Nein, während die aufgeblühten ein Kann sein signalisieren. Alles ist möglich, meinen sie. Aber das stimmt nicht. Es ist nicht alles möglich.
Zum Beispiel ist es nicht möglich, meinen Dad wieder lebendig zu machen. Ich hab es versucht, als ich ihn tot auf dem Boden in seinem Büro gefunden habe - »endgültig tot«, könnte man sagen, blau im Gesicht, neben sich eine leere Tablettenpackung, auf dem Schreibtisch eine ebenfalls leere Flasche Whiskey. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich habe trotzdem meine Lippen auf seine gepresst, um ihn zu beatmen, und dann mit den Händen rhythmisch auf seine Brust gedrückt, um es mit einer Herzmassage zu versuchen. Aber nichts davon hat funktioniert.
Es hat auch nichts gebracht, dass meine Mutter sich bei der Beerdigung auf den Sarg geworfen und den Lack zerkratzt hat, als sie meinen Vater ins Grab hinunterlassen wollten - das, nebenbei bemerkt, mit grünem Kunstrasen ausgelegt war, was ich ziemlich albern fand. Wollte man uns weismachen, dass es etwas anderes war als die madendurchsetzte Erde, in die man Dad für den Rest der Ewigkeit einbuddelte? Obwohl ich Mum dafür bewundere, dass sie es wenigstens versucht hat, war auch ihr Zusammenbruch auf dem Friedhof erfolglos.
Und auch die endlosen Geschichten, die man sich bei der Feier nach der Beerdigung im Zuge einer Art Wettbewerb zum Thema »Wer kannte George am besten?« über meinen Vater erzählte, haben es nicht geschafft, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ständig wurden neue Anekdoten aufgetischt, eingeleitet mit Phrasen wie »Echt lustig, deine Geschichte, aber wartet, bis ihr meine gehört habt ... « oder »Als George und ich mal ...« oder »Ich weiß noch genau, wie George gesagt hat ...« Und so weiter. Alle waren so eifrig bei der Sache, dass sie sich ständig gegenseitig ins Wort fielen und nicht nur Tränen, sondern auch Rotwein auf Mums neuem Perserteppich vergossen. Jeder gab sein Bestes, und man hätte fast denken können, Dad wäre bei uns im Zimmer, aber im Endeffekt haben ihn auch die ganzen Erinnerungen nicht zurückgeholt.
Es half auch nichts, dass Mum kurz darauf die Wahrheit über Dads Finanzen herausfand, die ungefähr so zerrüttet waren wie er selbst. Dad war bankrott, die Bank hatte bereits die Pfändung unseres Hauses und des ganzen übrigen Besitzes angeordnet, sodass Mum alles - wirklich alles! - verkaufen musste, um die Schulden zu bezahlen. Nicht mal da ist Dad zurückgekommen, um uns zu helfen, und irgendwann habe ich dann begriffen, dass er weg war. Endgültig. Ich dachte mir, wenn er uns das alles alleine durchziehen lässt, wenn er mich Luft in seinen Körper pumpen und Mum vor all diesen Leuten seinen Sarg zerkratzen lässt und dann auch noch dabei zuschaut, wie wir alles verlieren, was wir jemals besessen haben, dann kann ich ziemlich sicher sein, dass er ein für alle Mal aus unserem Leben verschwunden ist.
Ganz schön schlau von ihm, sich rechtzeitig zu verabschieden und den ganzen Zirkus nicht mitmachen zu müssen. Der war nämlich garantiert genauso grässlich und demütigend, wie er es befürchtet hat.
Wären meine Eltern mit blühenden Bewusstseinsblumen und nicht nur mit Knospen ausgestattet gewesen, hätten sie den ganzen Schlamassel vielleicht - ganz vielleicht! - vermeiden können. Aber so war es eben nicht. Es gab für sie kein Licht am Ende dieses Tunnels, und wenn doch mal eines auftauchte, war es ein heranbrausender Zug. Sie sahen keine andere Möglichkeit, keine andere Art, mit der Lage umzugehen. Meine Eltern waren vernünftige, praktische Menschen, und eine vernünftige, praktische Lösung war nicht im Angebot. Wenn mein Vater Vertrauen gehabt hätte, Zuversicht, irgendeine Art von Glauben, dann hätte er möglicherweise die Kraft gefunden, durch die Talsohle zu kommen. Aber davon besaß er nichts, und als er getan hat, was er getan hat, hat er uns letzten Endes mit sich in dieses Grab hinuntergezogen.
Es fasziniert mich, dass der Tod, so dunkel und endgültig er ist, dennoch häufig so ein helles Licht auf den Charakter eines Menschen wirft. In den Wochen nach Dads Tod hörte ich endlose, rührende Geschichten über ihn. Doch so tröstlich sie waren, so gern ich mich in ihnen verlor, in mir gab es immer Zweifel, ob sie wahr waren. Dad war kein netter Mensch. Natürlich habe ich ihn geliebt, aber ich weiß, dass er kein wirklich guter Mensch war. Wenn wir miteinander geredet haben - was nicht sehr oft vorkam -, geschah das meist in der Form einer Auseinandersetzung. Oder er gab mir Geld, um mich abzuwimmeln. Dad war reizbar und aufbrausend, hat seine Mitmenschen eingeschüchtert und ihnen nur allzu gerne seine Meinung aufgedrückt. Er war ziemlich arrogant, und wenn er einen anderen Menschen dazu brachte, sich unbehaglich und minderwertig zu fühlen, genoss er das in vollen Zügen. Manchmal ließ er sein Steak im Restaurant drei- oder viermal zurückgehen, nur um zuzusehen, wie der Kellner ins Schwitzen geriet. Oder er bestellte eine Flasche vom teuersten Wein und ließ ihn dann unter dem Vorwand zurückgehen, er hätte Kork. Wenn es in unserer Straße eine Party gab, beschwerte er sich bei der Polizei wegen des Lärms und sorgte dafür, dass sie dem Treiben ein Ende machte - nur weil er nicht eingeladen worden war.
Selbstverständlich erwähnte ich nichts davon auf seiner Beerdigung und auch nicht bei der kleinen Feier, die danach in unserem Haus stattfand. Genau genommen sagte ich überhaupt nichts. Ich trank ganz allein eine Flasche Rotwein und kotzte dann auf den Boden neben Dads Schreibtisch, genau auf die Stelle, wo er gestorben war. Dort fand Mum mich irgendwann und gab mir eine schallende Ohrfeige, weil sie meinte, ich hätte alles kaputt gemacht. Keine Ahnung, ob sie damit den Teppich oder die Erinnerung an Dad meinte, aber egal - ich war sicher, dass er beides ganz allein vermasselt hatte.
Aber ich will nicht meinen ganzen Hass auf Dad abladen, ich war selber ein schrecklicher Mensch. Die schlimmste Tochter, die man sich vorstellen kann. Meine Eltern haben mir alles gegeben, und ich habe mich nie bedankt. Oder wenn ich es doch getan habe, dann kam es nicht von Herzen, denn ich wusste nicht wirklich, was Dankbarkeit bedeutet. »Danke« ist ein Zeichen der Wertschätzung. Mum und Dad haben mir ständig von den hungernden Babys in Afrika erzählt, weil sie glaubten, so könnten sie mich dazu bringen, für das, was ich besaß, Dankbarkeit zu empfinden. Rückblickend ist mir aber klar geworden, dass ich es wahrscheinlich am ehesten gelernt hätte, wenn sie mir nicht ständig alles gegeben hätten.
Wir wohnten in einer modernen Villa mit sechshundertfünfzig Quadratmetern, sechs Schlafzimmern, einem Swimmingpool, einem Tennisplatz und einem Privatstrand in Killiney, in der Nähe von Dublin. Mein Zimmer lag auf der rückwärtigen Seite des Hauses und hatte einen Balkon mit Blick zum Strand, den ich mir, soweit ich mich erinnere, aber nie anschaute. Zum Zimmer gehörte eine eigene Dusche und ein Jacuzzi mit einem Plasmafernseher - TileVision, um genau zu sein - über der Wanne. Ich hatte einen Schrank voller Designerhandtaschen, einen Computer, eine Playstation und ein Himmelbett. Kurz gesagt, ich war ein Glückspilz.
Aber als Tochter war ich der absolute Albtraum. Unhöflich, frech, verwöhnt ohne Ende. Und um alles noch schlimmer zu machen, nahm ich den ganzen Luxus für selbstverständlich. Ich ging blind davon aus, dass ich ihn verdiente, denn alle, die ich kannte, waren genauso reich. Keine Sekunde wäre mir in den Sinn gekommen, dass meine Bekannten das ganze Zeug vielleicht auch nicht wirklich verdient hatten.
Um mich auch abends und nachts jederzeit mit meinen Freunden treffen zu können, hatte ich eine Methode entwickelt, mich unbemerkt aus meinem Zimmer zu schleichen. Ich kletterte von meinem Balkon an der Regenrinne aufs Dach des Swimmingpools hinunter, und von dort war es nur ein kurzer Sprung auf den Boden. Dann versammelten wir uns an einer bestimmten Stelle unseres Privatstrands und konsumierten ziemlich große Mengen Alkohol. Die Mädchen tranken meistens sogenannte Dolly Mixtures, das heißt, wir mischten in einer Plastikflasche alles zusammen, was wir in den Alkoholvitrinen unserer Eltern vorfanden. Auf diese Art sank der Pegel der einzelnen Flaschen immer nur um ein paar Zentimeter, und niemand schöpfte Verdacht. Die Jungs tranken jede Sorte Cider, die sie in die Finger bekamen, und sie knutschten mit jedem Mädchen, das dazu bereit war. Dieses Mädchen war meistens ich. Meiner besten Freundin Zoey spannte ich einen Jungen namens Fiachrá aus, dessen Vater ein berühmter Schauspieler war, und um ehrlich zu sein, ließ ich mir von ihm nur aus diesem Grund jeden Abend ungefähr eine halbe Stunde unter den Rock fassen. Ich dachte, wenn ich nett zu ihm war, würde ich bestimmt eines Tages seinen Vater kennenlernen. Aber dazu kam es nie.
Meine Eltern fanden es wichtig, dass ich die Welt kennenlernte und erfuhr, wie andere Menschen lebten. Immer wieder erklärten sie mir, was für ein Glück ich hatte, dass ich in diesem schönen großen Haus am Meer wohnte, und zur Erweiterung meines Horizonts verbrachten wir den Sommer in unserer Villa in Marbella, die Weihnachtsferien in unserem Chalet in Verbier und Ostern im New Yorker Ritz, natürlich nicht ohne ausführliche Einkaufstouren. Für meinen siebzehnten Geburtstag stand ein rosa Mini Cooper Cabrio auf meinen Namen bereit und ein Termin im Aufnahmestudio eines Freunds meines Vaters, der mich singen hören und mir eventuell einen Plattenvertrag geben wollte. Allerdings hätte ich keinen Moment mehr mit ihm irgendwo allein verbracht, nachdem er mir einmal den Hintern betatscht hatte. Dieser Preis war mir für das Berühmtwerden zu hoch.
Das ganze Jahr über nahmen Mum und Dad immer wieder an irgendwelchen Charity-Veranstaltungen teil, bei denen Mum meistens noch mehr Geld für ihr Kleid als für den Eintritt ausgab. Zweimal im Jahr packte sie all ihre Impulskäufe zusammen, Sachen, die sie nie anzog, stopfte sie in einen Plastiksack und schickte sie ihrer Schwägerin Rosaleen, die auf dem Land wohnte - für den Fall, dass Rosaleen Lust hatte, die Kühe in einem Sommerkleidchen von Pucci zu melken.
Jetzt, wo wir nicht mehr in der gleichen Welt wie früher leben, ist mir klar, dass wir keine sonderlich netten Menschen waren. Ich glaube, dass meine Mutter das irgendwo unter ihrer erstarrten Oberfläche auch weiß. Nicht dass wir böse gewesen wären, das nicht - wir waren einfach nur nicht nett. Wir gaben weit weniger, als wir nahmen.
Aber was dann passierte, haben wir trotzdem nicht verdient.
Früher habe ich nie an morgen gedacht. Ich habe ganz im Hier und Jetzt gelebt. Wenn mir der Sinn nach etwas stand, wollte ich es haben, und zwar sofort. Als ich meinen Vater zum letzten Mal im Leben sah, habe ich ihn angeschrien, habe ihm gesagt, ich würde ihn hassen, habe die Tür zugeknallt und bin einfach gegangen. Nie wäre ich früher auf die Idee gekommen, meine kleine Welt mal aus der Distanz zu betrachten und darüber nachzudenken, was ich tat oder sagte. Ob ich damit vielleicht einen anderen Menschen verletzte. Meinem Dad warf ich bei dieser letzten Gelegenheit an den Kopf, dass ich ihn nie wiedersehen wollte - und genau das passierte dann ja auch. Ich dachte nie an den nächsten Tag, und so kam mir natürlich auch nicht in den Sinn, dass das die letzten Worte sein könnten, die ich mit ihm wechseln würde, die letzten Momente, die ich mit ihm erlebte. Jetzt muss ich irgendwie damit zurechtkommen, und das fällt mir nicht leicht. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ich bereue und die ich mir irgendwann verzeihen muss. Aber das dauert.
Jetzt, wo mein Dad tot ist, und auch wegen der ganzen Geschichte, die ich euch ja noch erzählen muss, habe ich gar keine andere Wahl, als an morgen zu denken und an all die Menschen, die von diesem Morgen beeinflusst werden können. Jetzt bin ich, wenn ich morgens aufwache, froh, dass es diesen Morgen gibt.
Ich habe meinen Vater verloren. Er hat sein Morgen verloren und ich all die gemeinsamen Morgen mit ihm. Man könnte sagen, dass ich sie jetzt zu schätzen weiß. Jetzt möchte ich das Beste aus ihnen machen.
Übersetzung: Christine Strüh
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Von einer Geschichte geht bei jedem Erzählen etwas verloren, sagt man. Wenn das stimmt, ist meine Geschichte noch vollständig, denn ich erzähle sie zum ersten Mal.
Bestimmt werden manche Leute skeptisch reagieren, und wenn ich nicht alles selbst erlebt hätte, würde es mir vermutlich genauso gehen.
Viele jedoch werden kein Problem damit haben, meine Geschichte zu glauben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sich ihr Bewusstsein irgendwann geöffnet hat, weil sie im wahrsten Sinn des Wortes aufgeschlossen sind, so, als hätte ein Schlüssel etwas in ihnen aufgesperrt - wobei der Schlüssel alles sein kann, was den Betreffenden dazu bringt, an etwas zu glauben. Entweder sind diese Menschen schon so geboren, oder sie wurden als Babys, solange das Bewusstsein noch einer Knospe ähnelt, so umsorgt, dass die Blüte sich langsam öffnen und Schritt für Schritt darauf vorbereiten konnte, sich irgendwann an der Essenz des Lebens selbst zu nähren. Solche Menschen wachsen, ganz gleich, ob das Schicksal ihnen Sonnenschein oder Regen beschert, sie wachsen und gedeihen, sie entwickeln sich, und ihr Bewusstsein ist so weit und frei, dass sie achtsam und aufnahmebereit durchs Leben gehen, das Licht im Dunkeln sehen, die verborgenen Chancen in jeder Sackgasse erkennen, den Erfolg schmecken in dem, was andere für Versagen halten, und hinterfragen, was andere als unabänderlich hinnehmen. Sie sind weniger abgestumpft, weniger zynisch als die Mehrheit. Nicht so leicht bereit, die Flinte ins Korn zu werfen.
Bei manchen Menschen öffnet sich das Bewusstsein auch erst später im Leben, durch eine Tragödie oder ein großes Glück, denn beides kann als Schlüssel wirken, der die bis dahin fest verschlossene Alleswisser-Kiste aufschließt. Dann springt der Deckel auf, das Unbekannte wird akzeptiert, sture Logik und Scheuklappendenken werden über Bord geworfen.
Doch dann gibt es auch diejenigen, deren Bewusstsein wie ein Büschel von Halmen ist, die zwar Knospen treiben, wenn der Mensch etwas Neues lernt - eine Knospe für jede neue Information -, aber diese Knospen öffnen sich nicht, sie blühen niemals auf. Solche Menschen kennen Großbuchstaben und Punkte, aber keine Fragezeichen und keine Leerstellen ...
Zu diesen Menschen gehörten auch meine Eltern. Zu denen, die immer alles wissen. Zu der Art, die gern Sprüche von sich geben wie: »Das hab ich ja noch nie gehört, wie kommst du denn darauf? Dafür gibt's keinerlei Beweise, also mach dich nicht lächerlich.« Auch mal um die Ecke zu denken, kam für sie nicht infrage, und sie hatten den Kopf zwar voller bunter, hübsch gepflegter und auch wohlriechender Knospen, aber sie gingen nicht auf, sodass sie leicht und anmutig im Wind tanzen konnten, sondern verharrten aufrecht, stocksteif und nüchtern - und blieben Knospen bis zum Tag ihres Todes.
Na ja, meine Mutter ist ja eigentlich gar nicht tot.
Noch nicht. Nicht im medizinischen Sinn zumindest, aber obwohl sie nicht tot ist - lebendig ist sie ganz sicher auch nicht. Sie ähnelt eher einer wandelnden Leiche, die hin und wieder einen Laut von sich gibt, als wollte sie überprüfen, ob sie noch lebt. Aus der Ferne denkt man, alles ist in Ordnung mit ihr. Aber von Nahem sieht man, dass ihr grellrosa Lippenstift verwischt ist und ihre Augen müde und seelenlos in die Gegend starren - ein bisschen wie diese TV-Kulissenhäuser auf dem Studiogelände, nur Fassade, nichts dahinter. So wandert sie im Haus herum, von einem Zimmer zum anderen, in einem Bademantel mit flappenden Glockenärmeln, wie eine nachdenkliche Südstaatenschönheit in einer Kolonialvilla aus Vom Winde verweht. Ihr Geschlender wirkt von außen graziös und schwanengleich, doch unter der Oberfläche sieht es ganz anders aus, denn dort brodelt es, dort ringt sie verzweifelt um Fassung und strengt sich an, den Kopf nicht sinken zu lassen. Aber das panische Lächeln, mit dem sie uns gelegentlich anblitzt, damit wir wissen, dass sie noch da ist, überzeugt keinen von uns.
Oh, ich mache ihr keine Vorwürfe. Sie nimmt sich ja nicht aus Bosheit den Luxus heraus, sich einfach so in sich selbst zurückzuziehen und es den anderen zu überlassen, die Sauerei auszubaden und zu retten, was aus dem Scherbenhaufen unseres Lebens noch zu retten ist.
Aber jetzt seid ihr wahrscheinlich alle etwas verwirrt, weil ich noch gar nicht richtig angefangen habe zu erzählen.
Also: Mein Name ist Tamara Goodwin. Goodwin. Eine dieser grässlichen Wortkombinationen, die ich zutiefst verachte. Entweder man gewinnt oder man verliert. Aber ein »good win« - ein guter Gewinn? Das ist wie »schmerzlicher Verlust«, »warme Sonne« oder »endgültig tot«. Zwei Wörter, die völlig unnütz zusammengepackt werden, um etwas auszudrücken, was man genauso gut mit einem einzigen Wort hätte sagen können. Manchmal lasse ich einfach eine Silbe weg, wenn mich jemand nach meinem Namen fragt, und nenne mich Tamara Good. Was ein bisschen ironisch ist, weil ich nie ein sonderlich guter Mensch gewesen bin. Oder ich behaupte, ich heiße Tamara Win, eine ironische Anspielung darauf, dass das Glück mir zurzeit gar nicht hold ist.
Ich bin angeblich sechzehn, aber ich fühle mich mindestens doppelt so alt. Mit vierzehn habe ich mich gefühlt wie vierzehn, habe mich benommen wie elf und mich danach gesehnt, endlich achtzehn zu sein. Aber in den letzten Monaten bin ich um Jahre gealtert. Ist das möglich? Menschen mit den geschlossenen Bewusstseinsknospen schütteln jetzt den Kopf und antworten mit einem klaren Nein, während die aufgeblühten ein Kann sein signalisieren. Alles ist möglich, meinen sie. Aber das stimmt nicht. Es ist nicht alles möglich.
Zum Beispiel ist es nicht möglich, meinen Dad wieder lebendig zu machen. Ich hab es versucht, als ich ihn tot auf dem Boden in seinem Büro gefunden habe - »endgültig tot«, könnte man sagen, blau im Gesicht, neben sich eine leere Tablettenpackung, auf dem Schreibtisch eine ebenfalls leere Flasche Whiskey. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich habe trotzdem meine Lippen auf seine gepresst, um ihn zu beatmen, und dann mit den Händen rhythmisch auf seine Brust gedrückt, um es mit einer Herzmassage zu versuchen. Aber nichts davon hat funktioniert.
Es hat auch nichts gebracht, dass meine Mutter sich bei der Beerdigung auf den Sarg geworfen und den Lack zerkratzt hat, als sie meinen Vater ins Grab hinunterlassen wollten - das, nebenbei bemerkt, mit grünem Kunstrasen ausgelegt war, was ich ziemlich albern fand. Wollte man uns weismachen, dass es etwas anderes war als die madendurchsetzte Erde, in die man Dad für den Rest der Ewigkeit einbuddelte? Obwohl ich Mum dafür bewundere, dass sie es wenigstens versucht hat, war auch ihr Zusammenbruch auf dem Friedhof erfolglos.
Und auch die endlosen Geschichten, die man sich bei der Feier nach der Beerdigung im Zuge einer Art Wettbewerb zum Thema »Wer kannte George am besten?« über meinen Vater erzählte, haben es nicht geschafft, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ständig wurden neue Anekdoten aufgetischt, eingeleitet mit Phrasen wie »Echt lustig, deine Geschichte, aber wartet, bis ihr meine gehört habt ... « oder »Als George und ich mal ...« oder »Ich weiß noch genau, wie George gesagt hat ...« Und so weiter. Alle waren so eifrig bei der Sache, dass sie sich ständig gegenseitig ins Wort fielen und nicht nur Tränen, sondern auch Rotwein auf Mums neuem Perserteppich vergossen. Jeder gab sein Bestes, und man hätte fast denken können, Dad wäre bei uns im Zimmer, aber im Endeffekt haben ihn auch die ganzen Erinnerungen nicht zurückgeholt.
Es half auch nichts, dass Mum kurz darauf die Wahrheit über Dads Finanzen herausfand, die ungefähr so zerrüttet waren wie er selbst. Dad war bankrott, die Bank hatte bereits die Pfändung unseres Hauses und des ganzen übrigen Besitzes angeordnet, sodass Mum alles - wirklich alles! - verkaufen musste, um die Schulden zu bezahlen. Nicht mal da ist Dad zurückgekommen, um uns zu helfen, und irgendwann habe ich dann begriffen, dass er weg war. Endgültig. Ich dachte mir, wenn er uns das alles alleine durchziehen lässt, wenn er mich Luft in seinen Körper pumpen und Mum vor all diesen Leuten seinen Sarg zerkratzen lässt und dann auch noch dabei zuschaut, wie wir alles verlieren, was wir jemals besessen haben, dann kann ich ziemlich sicher sein, dass er ein für alle Mal aus unserem Leben verschwunden ist.
Ganz schön schlau von ihm, sich rechtzeitig zu verabschieden und den ganzen Zirkus nicht mitmachen zu müssen. Der war nämlich garantiert genauso grässlich und demütigend, wie er es befürchtet hat.
Wären meine Eltern mit blühenden Bewusstseinsblumen und nicht nur mit Knospen ausgestattet gewesen, hätten sie den ganzen Schlamassel vielleicht - ganz vielleicht! - vermeiden können. Aber so war es eben nicht. Es gab für sie kein Licht am Ende dieses Tunnels, und wenn doch mal eines auftauchte, war es ein heranbrausender Zug. Sie sahen keine andere Möglichkeit, keine andere Art, mit der Lage umzugehen. Meine Eltern waren vernünftige, praktische Menschen, und eine vernünftige, praktische Lösung war nicht im Angebot. Wenn mein Vater Vertrauen gehabt hätte, Zuversicht, irgendeine Art von Glauben, dann hätte er möglicherweise die Kraft gefunden, durch die Talsohle zu kommen. Aber davon besaß er nichts, und als er getan hat, was er getan hat, hat er uns letzten Endes mit sich in dieses Grab hinuntergezogen.
Es fasziniert mich, dass der Tod, so dunkel und endgültig er ist, dennoch häufig so ein helles Licht auf den Charakter eines Menschen wirft. In den Wochen nach Dads Tod hörte ich endlose, rührende Geschichten über ihn. Doch so tröstlich sie waren, so gern ich mich in ihnen verlor, in mir gab es immer Zweifel, ob sie wahr waren. Dad war kein netter Mensch. Natürlich habe ich ihn geliebt, aber ich weiß, dass er kein wirklich guter Mensch war. Wenn wir miteinander geredet haben - was nicht sehr oft vorkam -, geschah das meist in der Form einer Auseinandersetzung. Oder er gab mir Geld, um mich abzuwimmeln. Dad war reizbar und aufbrausend, hat seine Mitmenschen eingeschüchtert und ihnen nur allzu gerne seine Meinung aufgedrückt. Er war ziemlich arrogant, und wenn er einen anderen Menschen dazu brachte, sich unbehaglich und minderwertig zu fühlen, genoss er das in vollen Zügen. Manchmal ließ er sein Steak im Restaurant drei- oder viermal zurückgehen, nur um zuzusehen, wie der Kellner ins Schwitzen geriet. Oder er bestellte eine Flasche vom teuersten Wein und ließ ihn dann unter dem Vorwand zurückgehen, er hätte Kork. Wenn es in unserer Straße eine Party gab, beschwerte er sich bei der Polizei wegen des Lärms und sorgte dafür, dass sie dem Treiben ein Ende machte - nur weil er nicht eingeladen worden war.
Selbstverständlich erwähnte ich nichts davon auf seiner Beerdigung und auch nicht bei der kleinen Feier, die danach in unserem Haus stattfand. Genau genommen sagte ich überhaupt nichts. Ich trank ganz allein eine Flasche Rotwein und kotzte dann auf den Boden neben Dads Schreibtisch, genau auf die Stelle, wo er gestorben war. Dort fand Mum mich irgendwann und gab mir eine schallende Ohrfeige, weil sie meinte, ich hätte alles kaputt gemacht. Keine Ahnung, ob sie damit den Teppich oder die Erinnerung an Dad meinte, aber egal - ich war sicher, dass er beides ganz allein vermasselt hatte.
Aber ich will nicht meinen ganzen Hass auf Dad abladen, ich war selber ein schrecklicher Mensch. Die schlimmste Tochter, die man sich vorstellen kann. Meine Eltern haben mir alles gegeben, und ich habe mich nie bedankt. Oder wenn ich es doch getan habe, dann kam es nicht von Herzen, denn ich wusste nicht wirklich, was Dankbarkeit bedeutet. »Danke« ist ein Zeichen der Wertschätzung. Mum und Dad haben mir ständig von den hungernden Babys in Afrika erzählt, weil sie glaubten, so könnten sie mich dazu bringen, für das, was ich besaß, Dankbarkeit zu empfinden. Rückblickend ist mir aber klar geworden, dass ich es wahrscheinlich am ehesten gelernt hätte, wenn sie mir nicht ständig alles gegeben hätten.
Wir wohnten in einer modernen Villa mit sechshundertfünfzig Quadratmetern, sechs Schlafzimmern, einem Swimmingpool, einem Tennisplatz und einem Privatstrand in Killiney, in der Nähe von Dublin. Mein Zimmer lag auf der rückwärtigen Seite des Hauses und hatte einen Balkon mit Blick zum Strand, den ich mir, soweit ich mich erinnere, aber nie anschaute. Zum Zimmer gehörte eine eigene Dusche und ein Jacuzzi mit einem Plasmafernseher - TileVision, um genau zu sein - über der Wanne. Ich hatte einen Schrank voller Designerhandtaschen, einen Computer, eine Playstation und ein Himmelbett. Kurz gesagt, ich war ein Glückspilz.
Aber als Tochter war ich der absolute Albtraum. Unhöflich, frech, verwöhnt ohne Ende. Und um alles noch schlimmer zu machen, nahm ich den ganzen Luxus für selbstverständlich. Ich ging blind davon aus, dass ich ihn verdiente, denn alle, die ich kannte, waren genauso reich. Keine Sekunde wäre mir in den Sinn gekommen, dass meine Bekannten das ganze Zeug vielleicht auch nicht wirklich verdient hatten.
Um mich auch abends und nachts jederzeit mit meinen Freunden treffen zu können, hatte ich eine Methode entwickelt, mich unbemerkt aus meinem Zimmer zu schleichen. Ich kletterte von meinem Balkon an der Regenrinne aufs Dach des Swimmingpools hinunter, und von dort war es nur ein kurzer Sprung auf den Boden. Dann versammelten wir uns an einer bestimmten Stelle unseres Privatstrands und konsumierten ziemlich große Mengen Alkohol. Die Mädchen tranken meistens sogenannte Dolly Mixtures, das heißt, wir mischten in einer Plastikflasche alles zusammen, was wir in den Alkoholvitrinen unserer Eltern vorfanden. Auf diese Art sank der Pegel der einzelnen Flaschen immer nur um ein paar Zentimeter, und niemand schöpfte Verdacht. Die Jungs tranken jede Sorte Cider, die sie in die Finger bekamen, und sie knutschten mit jedem Mädchen, das dazu bereit war. Dieses Mädchen war meistens ich. Meiner besten Freundin Zoey spannte ich einen Jungen namens Fiachrá aus, dessen Vater ein berühmter Schauspieler war, und um ehrlich zu sein, ließ ich mir von ihm nur aus diesem Grund jeden Abend ungefähr eine halbe Stunde unter den Rock fassen. Ich dachte, wenn ich nett zu ihm war, würde ich bestimmt eines Tages seinen Vater kennenlernen. Aber dazu kam es nie.
Meine Eltern fanden es wichtig, dass ich die Welt kennenlernte und erfuhr, wie andere Menschen lebten. Immer wieder erklärten sie mir, was für ein Glück ich hatte, dass ich in diesem schönen großen Haus am Meer wohnte, und zur Erweiterung meines Horizonts verbrachten wir den Sommer in unserer Villa in Marbella, die Weihnachtsferien in unserem Chalet in Verbier und Ostern im New Yorker Ritz, natürlich nicht ohne ausführliche Einkaufstouren. Für meinen siebzehnten Geburtstag stand ein rosa Mini Cooper Cabrio auf meinen Namen bereit und ein Termin im Aufnahmestudio eines Freunds meines Vaters, der mich singen hören und mir eventuell einen Plattenvertrag geben wollte. Allerdings hätte ich keinen Moment mehr mit ihm irgendwo allein verbracht, nachdem er mir einmal den Hintern betatscht hatte. Dieser Preis war mir für das Berühmtwerden zu hoch.
Das ganze Jahr über nahmen Mum und Dad immer wieder an irgendwelchen Charity-Veranstaltungen teil, bei denen Mum meistens noch mehr Geld für ihr Kleid als für den Eintritt ausgab. Zweimal im Jahr packte sie all ihre Impulskäufe zusammen, Sachen, die sie nie anzog, stopfte sie in einen Plastiksack und schickte sie ihrer Schwägerin Rosaleen, die auf dem Land wohnte - für den Fall, dass Rosaleen Lust hatte, die Kühe in einem Sommerkleidchen von Pucci zu melken.
Jetzt, wo wir nicht mehr in der gleichen Welt wie früher leben, ist mir klar, dass wir keine sonderlich netten Menschen waren. Ich glaube, dass meine Mutter das irgendwo unter ihrer erstarrten Oberfläche auch weiß. Nicht dass wir böse gewesen wären, das nicht - wir waren einfach nur nicht nett. Wir gaben weit weniger, als wir nahmen.
Aber was dann passierte, haben wir trotzdem nicht verdient.
Früher habe ich nie an morgen gedacht. Ich habe ganz im Hier und Jetzt gelebt. Wenn mir der Sinn nach etwas stand, wollte ich es haben, und zwar sofort. Als ich meinen Vater zum letzten Mal im Leben sah, habe ich ihn angeschrien, habe ihm gesagt, ich würde ihn hassen, habe die Tür zugeknallt und bin einfach gegangen. Nie wäre ich früher auf die Idee gekommen, meine kleine Welt mal aus der Distanz zu betrachten und darüber nachzudenken, was ich tat oder sagte. Ob ich damit vielleicht einen anderen Menschen verletzte. Meinem Dad warf ich bei dieser letzten Gelegenheit an den Kopf, dass ich ihn nie wiedersehen wollte - und genau das passierte dann ja auch. Ich dachte nie an den nächsten Tag, und so kam mir natürlich auch nicht in den Sinn, dass das die letzten Worte sein könnten, die ich mit ihm wechseln würde, die letzten Momente, die ich mit ihm erlebte. Jetzt muss ich irgendwie damit zurechtkommen, und das fällt mir nicht leicht. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ich bereue und die ich mir irgendwann verzeihen muss. Aber das dauert.
Jetzt, wo mein Dad tot ist, und auch wegen der ganzen Geschichte, die ich euch ja noch erzählen muss, habe ich gar keine andere Wahl, als an morgen zu denken und an all die Menschen, die von diesem Morgen beeinflusst werden können. Jetzt bin ich, wenn ich morgens aufwache, froh, dass es diesen Morgen gibt.
Ich habe meinen Vater verloren. Er hat sein Morgen verloren und ich all die gemeinsamen Morgen mit ihm. Man könnte sagen, dass ich sie jetzt zu schätzen weiß. Jetzt möchte ich das Beste aus ihnen machen.
Übersetzung: Christine Strüh
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Cecelia Ahern
Cecelia Ahern, geb. 1981, ist in Dublin zu Hause. Schon als Kind schrieb die Tochter des irischen Ministerpräsidenten Geschichten. Direkt nach dem Uni-Abschluss in Journalistik und Medienkunde begann sie mit dem Roman, der sie berühmt machte 'P.S. Ich liebe Dich', der mit Hilary Swank verfilmt wurde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Cecelia Ahern
- 383 Seiten, Maße: 13,3 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006575
- ISBN-13: 9783868006575
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