Ich töte, was du liebst
Töte dich selbst - dann wird dein Kind leben.
Eine Reihe von Kindesentführungen erschüttert die Stadt. Schon zwei Mütter haben sich das Leben genommen, nachdem sie vom Kidnapper ein Päckchen mit einem...
Eine Reihe von Kindesentführungen erschüttert die Stadt. Schon zwei Mütter haben sich das Leben genommen, nachdem sie vom Kidnapper ein Päckchen mit einem...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
2.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Ich töte, was du liebst “
Töte dich selbst - dann wird dein Kind leben.
Eine Reihe von Kindesentführungen erschüttert die Stadt. Schon zwei Mütter haben sich das Leben genommen, nachdem sie vom Kidnapper ein Päckchen mit einem abgeschnittenen Körperteil ihres Kindes erhalten hatten. Jetzt ist wieder ein Mädchen verschwunden. Doch noch immer finden Lieutenant Solomon Glass und seine Kollegen kein Muster, nichts, was die Opfer verbindet ...
"Ein hervorragend geschriebener, atmosphärischer Krimi mit starken Charakteren und einem komplexen Plot."
Sunday Canberra Times
Eine Reihe von Kindesentführungen erschüttert die Stadt. Schon zwei Mütter haben sich das Leben genommen, nachdem sie vom Kidnapper ein Päckchen mit einem abgeschnittenen Körperteil ihres Kindes erhalten hatten. Jetzt ist wieder ein Mädchen verschwunden. Doch noch immer finden Lieutenant Solomon Glass und seine Kollegen kein Muster, nichts, was die Opfer verbindet ...
"Ein hervorragend geschriebener, atmosphärischer Krimi mit starken Charakteren und einem komplexen Plot."
Sunday Canberra Times
Lese-Probe zu „Ich töte, was du liebst “
ICH TÖTE, WAS DU LIEBST von J.M. CalderEne mene meck, und du bist weg. Kinderreim
Teil I
Between the idea
And the reality
Between the motion
And the act
Falls the Shadow
T. S. Eliot
Eins
... mehr
Glass wusste, was das Päckchen enthielt. Jedenfalls glaubte er es zu wissen, denn schließlich hatte er schon vier dieser Päckchen gesehen. Und jetzt, jetzt gleich musste er Amys Mutter eröffnen, was ihm darüber bekannt war. Amys Mutter, die vor ihm stand und ihn ansah und die sich vor lauter Angst nicht überwinden konnte, den Blick auf das Päckchen zu richten, dieses unschuldige kleine Päckchen, das Glass in der Hand hielt.
Amy Gardner. Neun Jahre alt. Ein Engel. Und seit sechsunddreißig Stunden vermisst.
Die kleine Amy passte ins Muster. Vier Kinder waren im Laufe des vergangenen Jahres entführt worden, alle an einem Zweiundzwanzigsten, zum Wechsel der Jahreszeiten. Wie um jeden Zweifel daran, dass es sich um denselben Täter handelte, auszuschließen. Und immer kam ein paar Tage später ein Päckchen, adressiert an die Mutter. Das erste enthielt einen Finger. Einen Kinderfinger - Rachel McNeills Finger. Das zweite fiel bisher als einziges aus dem Rahmen, denn es enthielt weder einen Finger noch sonst einen Körperteil, sondern eine tote Schnecke. Das Kind, Rodney Springer, war zwei Tage später körperlich unversehrt freigelassen worden. Mit einer Botschaft an die Mutter: Sie Glückliche.
Warum?, fragte man sich. Warum dieses Kind und nicht das nächste? Oder das vorige? Wobei auch die anderen schließlich wieder freigelassen wurden, lebend, jedoch verstümmelt, traumatisiert.
Glass glaubte es zu wissen. Er war sogar fest davon überzeugt, es zu wissen. Es sollte der Eindruck entstehen, die Freilassung folge einem bestimmten Muster. Jedes zweite Kind? Oder vielleicht beim nächsten Mal das dritte? Womöglich eine grausige Fibonacci-Folge. Ein willkürliches Hoffnungskalkül ...
Beim dritten Kind hatte es zwei Päckchen erfordert. Zwei Päckchen im Abstand von zehn Tagen. Ein Finger, ein Ohr - und dann erfüllte auch Mrs. Chen die Forderung, genau wie Rachels Mutter es zuvor getan hatte: Sie nahm sich das Leben. Daraufhin wurde Mei Ling freigelassen, um einen Finger und ein Ohr beraubt. Das war doch ein fairer Handel, oder?
Nun also berichtete Glass in der Küche Amys Mutter, was sie wussten - dass aus irgendeinem Grund, aus irgendeinem irrationalen, unbegreiflichen Grund, von ihr dasselbe Opfer verlangt werden würde, das bereits die beiden anderen Frauen gebracht hatten: ihr Leben für das ihres Kindes zu geben. Es sei denn, sie wäre eine der Glücklichen.
»Sind Sie sicher, dass wir es hier öffnen sollen?«, fragte Glass, nachdem er geendet hatte. »Wir könnten es ins Labor bringen.«
Mrs. Gardner schüttelte den Kopf.
»Also gut.« Glass legte das Päckchen auf den Tisch, zog seine Handschuhe aus der Tasche. Der forensische Fotograf, der im Türrahmen lehnte, hörte auf, seinen Kaugummi zu kauen, trat vor und hob die Kamera. Blitz. Und noch einmal.
Blitz.
Glass rückte einen Stuhl vom Tisch ab und setzte sich, um das Päckchen von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Dann zückte er ein Messer, schob die Klinge unter das Klebeband. Schlug behutsam das Papier auseinander. Blitz.
Der mittlerweile vertraute Deckel lag jetzt frei. Darauf war in Rot HABANOS NOCTURNOS aufgedruckt - kubanische Zigarren. Ein weiterer Scherz? Ein weiteres Puzzleteil? Glass warf einen Blick zu seinem Assistenten Malone hinüber, doch der starrte nur gebannt und mit bleichem Gesicht auf den Küchentisch.
Glass richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Kästchen, hob es aus dem Packpapier und stellte es vor sich auf den Tisch. Der Fotograf ging einmal um den Tisch herum. Blitz, Blitz, Blitz.
Glass stellte die Zigarrenkiste auf seine flache Hand, hielt in der anderen das Messer und hob mit der Klinge den Deckel an.
Noch Stunden später, während der Regen auf sein Autodach prasselte, sah er die Szene vor seinem geistigen Auge in allen Einzelheiten ablaufen - langsam, quälend, unaufhaltsam. Und er wusste, genau so war es geplant gewesen.
Auf den ersten Blick schien das Kästchen leer zu sein. Glass beugte sich vor, um genauer hinzusehen.
Dann entdeckte er ganz unten in einer Ecke etwas Kleines. Es sah aus wie eine Schnecke oder ein halber getrockneter Pilz. Der Fotograf kam näher. Die Welt verschmolz in einem weißen Lichtblitz. Nahm wieder feste Formen an, schmolz erneut.
Mrs. Gardner beugte sich über den Tisch, eine Hand auf die kühle Platte gelegt.
»Ach, Gott sei Dank«, sagte sie. »Gott sei Dank. Es ist eine Schnecke, sehen Sie? Nur eine Schnecke.« Sie lachte mit zurückgelegtem Kopf, die Augen geschlossen. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah, dass Glass noch immer in das Kästchen starrte. Sie bemerkte die Veränderung in seinem Gesichtsausdruck.
»Was ist denn?«, fragte sie, nahm ihm, statt eine Antwort abzuwarten, hastig die Zigarrenkiste aus der Hand und tastete nach dem Gegenstand, bis sie ihn in den Fingern hielt. Ihre Hand zitterte.
»Was ist das?« Sie blickte Glass an. »Sagen Sie es mir. Bitte. O Gott, bitte, bitte sagen Sie es mir!«
Glass nahm ihr das winzige Stück Fleisch ab, legte es auf den Tisch, drehte es herum. Doch er war sich bereits sicher.
»Bitte«, drängte Mrs. Gardner erneut. »Tun Sie mir das nicht an. Bitte, sagen Sie es mir endlich.«
Glass schaute ihr ins Gesicht. Legte das Messer ab. Stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte.
»Es ist ihre Lippe«, sagte er. »Ihre Unterlippe.«
Zwei
»Mussten Sie ihr das zeigen?« Malones Stimme klang gepresst, jedoch eher vor Verzweiflung als vor Wut.
»Es war ihr Päckchen, Malone. Es wurde ihr zugestellt, nicht mir.« Auch Glass' Tonfall verriet extreme Anspannung, lag an der Grenze zu etwas, das weitaus tiefer ging als Wut und das jetzt im kalten Innenraum des Autos in der Luft zu hängen schien.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »sie hat sich genau an unsere Anweisungen gehalten. Bei der ersten Kontaktaufnahme hat sie sich sofort an uns gewandt.«
»Sicher, das verstehe ich ja. Aber es ihr wirklich zu zeigen, sie das sehen zu lassen ...«
»Sie hatte jedes Recht dazu, Malone. Es war ihre Entscheidung, nicht unsere. Sie hatte die Wahl.«
»Und was für eine Wahl.«
Eine Hupe ertönte, dann scherte ein silberner Dodge Viper hinter ihnen aus und raste vorbei. Beim Überholen warf der Fahrer ihnen einen erbosten Blick zu. Glass brauchte nicht auf den Tacho zu schauen, um zu erkennen, dass er weit unter dem Tempolimit gefahren war - vierzig, höchstens fünfzig auf einer Straße, auf der sechzig erlaubt waren. Wieder einmal. In Situationen wie dieser schien der Wagen seine Stimmungen aufzufangen; die acht schweren Kolben verfielen in ein beinahe lautloses Pulsieren, unterhalb der Grenze der bewussten Wahrnehmung, während sein eigener Kopf und sein Herz rasend arbeiteten, sein Verstand fieberhaft Gedanken, Bilder, Indizien, Beweismaterial durchging. Es war eine umgekehrte Symbiose, durch die er geistesabwesend und langsam durch die Straßen der Stadt navigierte. Seiner Stadt, deren Adern ihm so bekannt und vertraut waren, als sei er mit ihr verschmolzen, und in der er jederzeit wusste, wo er sich befand, ohne ein einziges Mal anhalten und überlegen zu müssen. Wo er nie mühsam den Weg suchen musste, sondern sich einfach in dem stetig pulsierenden Verkehrsstrom treiben ließ.
»Sie denken doch nicht ...?« Malones Stimme gehorchte ihm immer noch nicht richtig. Glass ließ ihm Zeit. »Diese Kinder - Sie denken doch nicht, dass sie bei Bewusstsein sind?«
Glass wusste, welchen Albtraum Malone durchlebte. Ein Kind allein in einer Zelle, in einem schalldichten Raum. Irgendwo in der Stadt. Ein Mädchen, neun Jahre alt, völlig verstört. Die Geräusche, wenn der Mann kam, sich von außen am Türschloss zu schaffen machte, dann an der Kette. Wenn er schließlich in ihre Zelle kam. Waren ihre Augen verbunden? Oder ließ er sie alles sehen? Und falls sie sah, was er in der Hand hielt - begriff sie, was er damit vorhatte?
»Bestimmt nicht, oder, Lieutenant? Er macht sie doch sicher irgendwie bewusstlos? Gibt ihnen Betäubungsmittel? «
Einen Moment lang rechnete Glass damit, dass Malone ihn am Arm packen, an der Schulter rütteln würde, um ihn zu einer Antwort zu bewegen.
»Er kann doch nicht etwa -«
»Was erwarten Sie von mir, Malone? Und um wessen Schmerz geht es hier überhaupt, um den dieser Kinder oder um Ihren?«
Malone starrte seinen Vorgesetzten an, als habe dieser ihm eine Ohrfeige versetzt.
»Begreifen Sie denn nicht«, sagte Glass leise, »ich kann Ihnen nicht helfen.«
Als sie wieder in die Dienststelle kamen, lag zuoberst auf den Stapeln alter Unterlagen, die auf Glass' Schreibtisch Staub ansetzten, eine Notiz von Nora. Sie war mit einem so grell pinkfarbenen Textmarker umrahmt, dass nicht einmal er sie übersehen konnte. Auf dem Zettel stand, Commissioner Keeves sei zu Ohren gekommen, dass es im Fall Gardner neue Entwicklungen gebe. Er verlange einen Bericht, und zwar bis gestern. Spätestens. Glass legte die Notiz in den einzigen Eingangskorb, der noch nicht überquoll.
Malone ergriff den Zettel und überflog ihn. »Sie werden darauf reagieren müssen, Lieutenant.«
»Wie denn - soll ich ihm vielleicht etwas über das Wetter erzählen? Viel mehr wissen wir doch selbst noch nicht.«
»Trotzdem.«
»Übernehmen Sie das, Malone. Rufen Sie seine Assistentin an und sagen Sie ihr, wir warten noch auf die Laborberichte. «
»Denken Sie, die Untersuchungen werden etwas ergeben? «
»Nichts, was wir nicht bereits wissen. Es wird wieder mal alles sauber sein, völlig steril. Standardpackpapier, Standardklebeband, Standardschrift.«
Was hatten sie bisher in der Hand? Nichts als ein paar schriftliche Botschaften und ein halbes Dutzend Zigarrenkisten, alle von derselben Sorte. Habanos Nocturnos. Erstklassige kubanische Zigarren. Handgefertigt, teuer, Zigarren für Kenner. Die Sorte, die man spätabends genoss, allein oder mit einem guten Freund. Nocturnos: Nacht. Wie bedeutsam das wohl war? Und wer zum Teufel konnte wissen, woher sie stammten, in Anbetracht des vollständigen Importembargos gegen Kuba? Was den Ort betraf, an dem die Päckchen aufgegeben wurden - dem Poststempel nach zu urteilen, kamen hundert Annahmestellen in der Stadt in Frage.
»Himmel, Lieutenant!« Malones Stuhl ächzte, als er sein Gewicht verlagerte. »Wie sollen wir nur Licht in diese verrückte Angelegenheit bringen?«
Glass war ebenso ratlos und frustriert wie Malone, doch ihm war klar, dass Malone vollends den Mut verlieren würde, wenn er sich das anmerken ließe. »Okay, Malone, gehen wir noch einmal alles ganz von vorn durch.«
Malone vergrub das Gesicht in den Händen. »Nicht schon wieder, Lieutenant«, flehte er.
»Doch, schon wieder. Und wieder und immer wieder, so lange, bis wir etwas erkennen, was wir bisher übersehen haben.«
»Aber da gibt es nichts zu erkennen! Wir haben das Ganze schon so oft durchgekaut.«
»Es gibt immer etwas zu erkennen, wir sind nur noch nicht darauf gekommen. Also werden wir die Sache so oft wieder von vorn aufrollen, bis wir es finden.«
»Aber Lieutenant -«
»Vergessen Sie nicht, Malone, ich habe noch immer etwas aufzuholen. Sie hatten einen Vorsprung. Also nochmal von Anfang an.«
Malone musste an eine Szene vor anderthalb Jahren zurückdenken. »Es gibt nur einen Weg, der Beste zu werden «, hatte Commissioner Keeves an seinem, Malones, ersten Tag im Dezernat für Mord und schwere Gewaltverbrechen zu ihm gesagt, »und der besteht darin, sich den Besten auszusuchen und mit ihm zusammenzuarbeiten. « Malone hatte nacheinander mit fünf verschiedenen Partnern gearbeitet, bis er sich für Glass entschied. Mit dem kann man unmöglich zusammenarbeiten, so lautete im gesamten Bezirk die einhellige Meinung über Glass. Ein kluger Kopf, das musste man ihm lassen. Weder in der Theorie noch in der Praxis konnte ihm jemand das Wasser reichen. Ein harter Bursche, das auf jeden Fall. Und dreist dazu. Und schwierig. Niemand hätte jemals angezweifelt, dass Glass schwierig war. In seiner Personalakte stand, er habe ein Autoritätsproblem. Außerdem, es gab persönliche Dinge in seiner Vergangenheit, über die niemand sprechen wollte und bei denen unter anderem eine gescheiterte Ehe eine Rolle spielte.
»Glass?« Keeves hatte Malone beinahe angeschrien, als dieser ihm seinen Entschluss mitteilte.
»Sie haben selbst gesagt, ich soll mir den Besten suchen und mit ihm zusammenarbeiten«, hielt Malone dem Commissioner vor.
»Sicher. Ja. Das habe ich.« Keeves fehlten die Worte.
»Aber Glass?«
Jetzt seufzte Malone und begann, wie schon so oft, seinen Bericht abzuspulen. In unbeteiligtem Tonfall, als lese er von einem Datenblatt in seinem Kopf ab, nannte er die Fakten: »McNeill, Rachel, neun Jahre alt. Viertes Grundschuljahr. Klug, begabt, viele Freunde. Ein hübsches Kind, brünett. Die Mutter hat im Einzelhandel gearbeitet - Bekleidungsbranche, Arbeits- und Dienstkleidung, so etwas in der Art. Der Job war neu für sie. Im vergangenen Jahr hat sie finanziell und sozial einen gewissen Abstieg erlebt. Ihr Mann war zwei Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das Mädchen ist ein Einzelkind, aber offenbar unkompliziert, hat seine Trauer sogar besser verarbeitet als die Mutter. Es nahm Klavierunterricht.«
»Aha, Musik. Was ist mit den anderen?«
»Das wissen wir doch schon.«
»Ich höre?«
»Das zweite Kind - Rodney Springer - spielt kein Instrument und interessiert sich überhaupt nicht für Musik. Mei Ling schon, sie spielt allerdings nicht Klavier, sondern Geige, wie alle chinesischen Kinder.«
»Und?«
»Es ist keine Verbindung zu erkennen. Die kleine McNeill wird privat unterrichtet. Wurde privat unterrichtet. «
»Und Mei Ling?«
»Sie hat an einem Programm zur Begabtenförderung oben am Riverside Conservatory teilgenommen. Viel formeller, viel fortgeschrittener. Mit dem Bogen in der Hand war dieses Kind offenbar ein anderer Mensch. Zwischen ihr und Rachel McNeill liegen Welten. Nicht nur im Hinblick auf die Instrumente, sondern auch was das Talent, den Stil und den Wohnort betrifft. Rachel wohnt drüben in Wellsmore, die Chens waren aus Oakdale.«
»Schulen? Spielkreise?«
»Schulen, Spielkreise, Konzerte, Musikfreizeiten ... Glauben Sie mir, Lieutenant, es gibt keine einzige Überschneidung. Rachels Lehrerin - eine alte Dame, die anderthalb Straßenblocks von Rachels Elternhaus entfernt wohnt, sagt, dass das Mädchen nie mit anderen zusammengespielt hat. Zu schüchtern. Und im Riverside Con liegen vollständige Aufzeichnungen über Mei Ling vor. Keine Konzerte, keine Wettbewerbe, keine Spielkreise mit anderen Kindern. Alles streng klassisch. Elitär. Nun zu Amy Gardner: Sie spielt Flöte und hat jeden Dienstag und Donnerstag nach Schulschluss - das ist um vier - Unterricht bei einer Miss Lucy Tarrant am Welcome Drive, nicht einmal einen Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt. Nein, Lieutenant, den Bereich Musik haben wir gründlich abgeklopft. Ebenso wie Schulen, Sportvereine, Kirchen, Kinos, Ärzte, Zahnärzte und wo auch immer sich diese Kinder hätten begegnen können. Und dann natürlich die Wohnbezirke - die Gardners leben draußen in Harmony.«
»Was ist mit dem Springer-Jungen?«
»Er ist jünger, erst sieben, und bis zu diesem Vorfall in jeder Hinsicht ein normaler Junge. Schule, Basketball, Computerspiele, PlayStation. Mrs. Springer ist ebenso wie Mrs. Chen alleinerziehend. Eine ›wiedergeborene‹ Christin mit einem extremen Hang zur Kirche. Der Vater hat sie kurz nach der Geburt des Kindes verlassen.«
»Und er wurde auch überprüft?«
»Wieder verheiratet, wohnt im Norden des Staates, zwei Kinder. Er hat nicht viel Kontakt zu Rodney, der Junge besucht ihn nur einmal im Jahr in den Sommerferien. Außerdem hat der Vater wasserdichte Alibis. Ich habe ihn selbst befragt. Es herrscht kein böses Blut in der Familie, er hegt keinen Groll gegen die Mutter oder den Jungen. Guter Job, nettes Häuschen, eine gut aussehende zweite Frau. Er zahlt regelmäßig Unterhalt für Rodney. Nur mit Mrs. Springers religiöser Bekehrung ist er nicht zurechtgekommen. Er sagt, sie hat kurz nach ihrer Heirat ›zu Gott gefunden‹.«
»Vielleicht hat sie in der Hochzeitsnacht einen Schock erlitten.«
»Der Junge ist natürlich nicht in der Verfassung, uns irgendetwas zu sagen.«
»Was ist mit Mrs. Chen? Erzählen Sie mir von ihr.«
»Diese ganz bestimmte Sorte Chinesin, wenn Sie verstehen, was ich meine. Strebsam, ehrgeizig. Hat das Kind getrieben und getrieben. Mei Ling sollte um jeden Preis ein weiblicher Menuhin werden, und wenn sie beide dabei draufgingen.«
»Der Mann?«
»Lebt in Taiwan. Wir forschen da noch nach - anscheinend war er ihr auch nicht gut genug, oder er zählte einfach nicht. Sie hat alles in dieses Kind investiert. Dafür war ihr kein Opfer zu groß.«
»Offensichtlich.«
»Es gab Überlegungen, Mrs. Chen zu ihrem eigenen Schutz einweisen zu lassen, aber wir kamen zu spät. Sobald sie die Einzelheiten über den McNeill-Fall erfuhr und dann, dass Rodney Springer freigelassen worden war ...«
»Da hat sie ihre Wahl getroffen.«
»Aber sie konnte nicht wissen, dass Mei Ling dann wirklich freikommen würde, jedenfalls nicht mit Sicherheit. Dieser perverse Irre hätte ebenso gut -«
»Ich weiß, Malone. Aber diese Frau hatte nun einmal nichts als die Fakten in der Hand. Ihr Kind war entführt worden. Dann kam mit der Post ein Päckchen: ein Finger. Als Nächstes ein Ohr. Sie brauchte keine Laborergebnisse und keine DNS-Analyse abzuwarten - sehr oft muss sie gesehen haben, wie sich Mei Ling das Haar hinters Ohr strich, wenn sie die Geige unter das Kinn klemmte. Mrs. Chen wusste, dass es das Ohr ihrer Tochter war. Und sie wusste, dass Mrs. McNeill getan hatte, was von ihr verlangt wurde, und dass Rachel daraufhin freigekommen war. Wenn auch verstümmelt. Wer weiß, vielleicht hat sie ja sogar die richtige Entscheidung getroffen. Vielleicht wird dieses Kind tatsächlich der nächste Menuhin.«
»Nach dem, was der Kerl mit ihr gemacht hat?«
»Geige spielt man nicht mit dem Ohr, Malone.«
Das kannte Malone bereits von Glass: Immer wenn man gerade dachte, er öffnete sich - wenn er Einfühlung und Verständnis für andere Menschen zeigte und dabei auch etwas von sich selbst preiszugeben schien -, dann war es, als ertappe er sich in dem Moment selbst dabei. Der kurzzeitige Riss in der Fassade schloss sich augenblicklich wieder, und man kam sich vor, als blicke man in das schwarze Herz eines sterbenden Sterns. Fern und trostlos.
»Aber das ist es ja gerade: In gewisser Weise spielt man sie tatsächlich mit dem Ohr. Die Geige ist eines der Instrumente, für die man seine Ohren braucht. Ich meine nicht nur zum Hören, sondern physisch. Jedenfalls das Ohrläppchen. Das hat etwas mit den Oberschwingungen zu tun.«
Glass sah Malone an.
»Ich habe mal was darüber gelesen«, erklärte der Detective und zuckte mit den Schultern.
Typisch Malone, dachte Glass. Man unterschätzte ihn leicht, doch dann kam er plötzlich mit so etwas daher. Und es ging noch weiter.
»Es ist, als hätte er gewusst, wie er Mrs. Chen am empfindlichsten treffen kann«, fuhr Malone fort. »Indem er Mei Ling genau das genommen hat, worauf sie besonders angewiesen war.« Glass dachte einen Moment lang darüber nach.
»Möglich «, sagte er dann. »Und jetzt zu den Gardners - erzählen Sie mir von ihnen.«
Malone wusste, dass Glass' Verstand jedes Detail, das er kannte, jedes winzige Informationsbröckchen und noch viel mehr längst gespeichert, ausgewertet und zum Rest in Beziehung gesetzt hatte, auf der Suche nach Verbindungen, nach einem passenden Puzzleteil. Was für eine Maschine, die da unablässig hinter diesen Augen rotierte - Himmel, welche Farbe hatten seine Augen eigentlich? Schwarz mit Einsprengseln von was, reinstem Silber? Augen, die ihr Gegenüber ohne einen Wimpernschlag fixierten. Und warteten. Augen, deren Wachsamkeit bereits mehr als einem Mörder und Vergewaltiger zum Verhängnis geworden war.
Aber so war Glass nun einmal: Obwohl er alles den Fall betreffende bereits wusste, wollte er es dennoch wieder und wieder hören. Dabei achtete er auf jeden Unterton, jede kleine Abweichung in einem Detail, jedes Zögern oder Anzeichen von Zweifel, das den Zugang eröffnete in eine Welt, die anders geordnet war, als man die ganze Zeit angenommen hatte.
Solomon Glass - das war Malone allmählich klar geworden - stützte sich bei all seiner Klugheit, seinen akademischen Abschlüssen, seiner theoretischen Ausbildung ebenso sehr auf Intuition wie auf seinen Verstand. Auf plötzliche seismische Verschiebungen, die aus dem Nichts zu kommen schienen und mit einem Schlag die gesamte Landschaft, die man seit Wochen oder Monaten bearbeitet und beackert hatte, ohne etwas Neues zu entdecken, grundlegend veränderten. Intuition - so hatte Glass einmal zu ihm gesagt, wobei er sich auf Thomas von Aquin berief - ist den Engeln gegeben. Wir Übrigen müssen eben mit dem Verstand auskommen. Scheiß drauf, dachte Malone. Zum Teufel mit Thomas von Aquin. Wenn Intuition der schnellste Weg zum Ziel war, dann wollte auch er diesen Weg nutzen, dann musste er lernen, seine Intuition zu gebrauchen.
Inzwischen wartete Glass. Auf Fakten.
»Ach ja, die Gardners. Also, wie Sie ja bereits wissen, wohnen sie draußen in Harmony.« Malone blätterte die Seiten seines Notizblocks um. »Ein großes Haus, typische Neureichvilla. Ein Dutzend Badezimmer, drei Garagen, ein Stall für das Pony der Tochter, riesige Terrassen, ein Swimmingpool -«
»An Ihnen ist ein Immobilienmakler verloren gegangen, Malone.«
»Zwei Kinder. Amy, neun Jahre alt, und ein vierjähriger Junge. Er heißt ... Cyrus.«
»Cyrus?«
»Der Name hat in der Familie Tradition.«
Malone beobachtete mit heimlicher Zufriedenheit eine winzige Veränderung in Glass' Gesicht, einen Hauch von Anerkennung. Offenbar hatte Glass bis jetzt nicht gewusst, wie das zweite Kind hieß.
»Sie haben Mrs. Gardner danach gefragt?«
»Hmm.«
»Fahren Sie fort.«
»Mrs. Gardner bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder. Sie braucht nicht zu arbeiten. Es ist eine typische 1960er-Jahre-Familie. Mr. Gardner bringt die Brötchen auf den Tisch.«
»Er ist Bäcker?« Malone lernte allmählich, mit dem Sarkasmus seines Vorgesetzten zurechtzukommen - indem er ihn ignorierte. »Er arbeitet bei der Mercantile First West. Sagte ich gerade, er arbeitet dort? Richtig ist, ihm gehört die Hälfte der Aktien.«
»Es ist also keine gewöhnliche Bank.«
»Eine Art Handelsbank. Auf den Transfer ausländischer Währungen spezialisiert, Anleihengeschäfte, Devisenterminhandel. Gardner ist ein Karrieremensch durch und durch. Europa, Asien, Australien - er ist nie zu Hause.«
»Zweimal muss er wohl doch da gewesen sein.«
»Als er die Nachricht bekam, war er gerade in Jakarta. Er wird heute Nachmittag hier erwartet.«
»Jakarta, sind Sie sicher?«
»Ja, laut Mrs. Gardner war er in Jakarta.« Malone las auf seinem Block nach. »Er soll ihr gesagt haben, er rufe von dort aus an.«
»Nach Auskunft der Telefongesellschaft kam der Anruf aber aus Phuket.«
»Und was sagt uns das?«
»Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Erzählen Sie mir mehr von Amys Flötenunterricht.«
»Wissen Sie«, sagte Malone, »es muss doch irgendwas dahinterstecken. Ich meine, hinter der Musik.«
»Aber Sie sagten, dass Sie alle möglichen Verbindungen abgeklopft haben und nichts dabei herausgekommen ist. Und vergessen Sie nicht den Springer-Jungen. Der spielt nichts weiter als Computerspiele.« Glass schwieg einen Moment lang. »Also?«
»Amy wird um vier zum Flötenunterricht gebracht. Der Unterricht dauert eine Stunde. Und um fünf wartet Mrs. Gardner immer vor dem Haus der Lehrerin. Vergessen Sie nicht, wir reden von Harmony. Wenn da nur mal eine Katze auf einen Rasen pinkelt, wird gleich die Feuerwehr gerufen. Zudem ist Mrs. Gardner eine extreme Sicherheitsfanatikerin. In den letzten zwei Jahren hat sie sich nie um mehr als drei Minuten verspätet. Amy hatte die Anweisung, auf der Veranda des Hauses zu warten und erst an die Straße zu kommen, wenn sie das Auto sah.«
»Aber an jenem Tag ...?«
»An jenem Tag war Mrs. Gardner erst um zehn nach fünf dort. Es gab einen Unfall auf der Straße zum Einkaufszentrum. Der gesamte Verkehr wurde über die Ringstraße umgeleitet.«
»Und innerhalb dieser zehn Minuten ist Amy verschwunden. «
»Niemand hat etwas gesehen, niemand hat etwas gehört. Die Musiklehrerin war drinnen mit dem nächsten Schüler beschäftigt.«
»Und die Nachbarn? Hat denn keiner ein Auto gehört? Es ist doch davon auszugehen, dass sie mit einem Fahrzeug entführt wurde. Anderenfalls hätte der Täter riskiert, Mrs. Gardner über den Weg zu laufen.«
»Oh, die Nachbarn haben durchaus Autos gehört, aber niemand hat darauf geachtet. Kein Wunder, schließlich werden dort jede Stunde oder sogar jede halbe Stunde Kinder hingebracht und wieder abgeholt, und das an vier Tagen in der Woche. Die Nachbarn hören ständig Autos halten und wieder anfahren, Türenschlagen, Kinderstimmen. Es ist wie fallendes Laub - eines Tages sind die Bäume kahl, aber niemand hat auch nur ein einziges Blatt fallen sehen.«
»Und als Mrs. Gardner schließlich ankam?«
»Da war Amy verschwunden. Keine Spuren einer Auseinandersetzung, nichts. Nur der Flötenkasten stand auf der Veranda, ordentlich an die Hauswand gelehnt. «
»Was ist mit dieser Lucy Tarrant, der Musiklehrerin? «
»Wie ich schon sagte, sie hat nichts bemerkt.«
»Und sie selbst ist unverdächtig?«
»Die Frau ist ganz und gar koscher. Aufbaustudium an der Juilliard School, spielt im örtlichen Orchester, eine Musikerin mit Leib und Seele. Beherrscht alle möglichen Instrumente. Mehrere Flöten, Klarinette, Oboe. Praktisch alles, wo man reinbläst. Die Nachbarn kommen sich vor wie am Güterbahnhof - die ganze Zeit das Gepfeife -, aber sie kennt sich offenbar wirklich damit aus.«
»Dann hatte der Täter einfach nur Glück?«
»Ich weiß nicht, Lieutenant. Wie konnte er ahnen, dass sich Mrs. Gardner gerade an diesem Tag verspäten würde? Dass es beim Einkaufszentrum einen Unfall geben würde, einen Haufen verbogenes Blech? Der Mann mag gerissen sein, aber er ist nicht Uri Geller.«
»Was haben wir sonst noch?«
»Es ist jedes Mal dieser bestimmte Tag. Der Zweiundzwanzigste. Was immer diesen Kerl antreibt - die Jahreszeiten, die Sonnenwende, was weiß ich -, aus irgendeinem Grund muss es gerade dieses Datum sein. Alle verfügbaren Leute waren auf den Straßen im Einsatz. Streifenpolizisten, Verkehrspolizisten, jede Uniform und jeder Zivilbeamte, den wir auftreiben konnten. Mord, Betrug, Forensik, Rettungskräfte - jeder, der laufen oder fahren konnte, hat an diesem Tag draußen patrouilliert, weil uns klar war, dass der Täter wieder zuschlagen würde. Selbst Commissioner Keeves war im Einsatz.«
»Und trotzdem hat er sie entführen können. Am helllichten Tag, oder jedenfalls beinahe. Um fünf Uhr am Nachmittag.«
»Ja, aber in Harmony, Lieutenant. Ausgerechnet da draußen. Wir dachten, es würde in der Stadt geschehen, wie die vorigen Male.«
»Wenn also Mrs. Gardner pünktlich gewesen wäre, wie sie es bisher in neunundneunzig von hundert Fällen war, dann hätte er keine Gelegenheit gehabt, Amy in seine Gewalt zu bringen. Er zeigt sich nie, er geht kein Risiko ein.« Glass seufzte. »Und Mrs. Gardner hätte durchaus pünktlich sein können. Was sagt uns das - in Verbindung mit der Tatsache, dass er so auf das Datum fixiert ist?«
Malone runzelte die Stirn und überlegte. »Es muss bedeuten ...«
Glass wartete. »Es muss bedeuten, dass sie nicht sein eigentliches Opfer war. Es ging nicht speziell um Amy Gardner.« Als Malone diese Erkenntnis kam, sprang er so heftig auf, dass er beinahe seinen Stuhl umgerissen hätte. »Jedenfalls nicht ausschließlich. Er muss für diesen Tag noch weitere potenzielle Opfer im Blick gehabt haben. Für den Fall, dass Mrs. Gardner pünktlich kam.«
»Und das heißt ...?«
»Das heißt, es geht ihm nicht so sehr um die Kinder. Ich meine, im Prinzip natürlich schon - immerhin entführt er ausschließlich Kinder. Aber er ist nicht auf eine einzelne Person fixiert. Er geht eher opportunistisch vor. In diesem Fall hat es Amy Gardner getroffen, aber es hätte genauso gut ein anderes Kind sein können.«
Malone hob die Hände, nannte willkürlich einen Namen. »Josie Finkelstein.«
»Josie Finkelstein?«
Malones Mund wurde trocken angesichts dieses zerklüfteten düsteren Felsblocks, der ihm gegenübersaß. Unbewegt. Undurchschaubar. Nur eine Schwärze, die ihn umgab, und gewisse Furchen um die Augen verrieten etwas von seiner Geschichte.
»Ich bitte Sie, Lieutenant. Das war irgendein Name, weiter nichts, okay?« Glass nickte langsam, ließ das so stehen. »Sie und Nora«, sagte er, »Sie haben monatelang die Datenbanken durchsucht und jeden Menschen befragt, der irgendetwas mit diesen Kindern zu tun haben könnte. Nach Übereinstimmungen gesucht, nach Querbezügen, nach Mustern. Was haben Sie herausgefunden?«
»Es ist eher so, dass wir einiges ausschließen konnten. Erpressung, persönliche Motive, Rache, schiefgelaufene Drogendeals, Pädophilie, Familienzwiste, Sorgerechtsstreitigkeiten, Organhandel ... Nichts passt in das Profil dieses kranken Hirns.«
Glass dachte einen Moment lang darüber nach. »Und der kleine Springer?«
»Nun, er wurde eines Morgens um sechs Uhr früh gefunden - von einem Wachmann in dem Einkaufszentrum draußen in Braxton. Er irrte völlig orientierungslos umher, wie ein Zombie. Er konnte nicht sagen, wer er war, wo er wohnte oder wohin er wollte. Er hatte auch eins der Zigarrenkästchen bei sich, und als der Wachmann ihn fragte, was er da hätte, was da drin sei - nichts. Der Junge hat kein Wort gesagt. Aber als der Mann ihm das Kästchen abnehmen wollte, um selbst hineinzuschauen, in der Hoffnung auf einen Hinweis darauf, wer dieses Kind war, fing der Junge an zu schreien und hörte nicht mehr auf. Als wir hinkamen, war der Security-Typ völlig mit den Nerven am Ende. Er sagte, das war der furchtbarste Laut, den er je gehört hat.«
»Und in dem Kästchen?«
»Nur die Botschaft an Mrs. Springer. Sie Glückliche.«
»Die Schrift war aus Zeitungen ausgeschnitten?«
»Ja, die gleichen seltsamen Buchstabengruppen wie bei den anderen. Aber nach der Schrifttype zu urteilen, muss es The Tribune sein.«
»Davon werden ja auch nur anderthalb Millionen am Tag verkauft.«
»So ungefähr.«
»Hören Sie«, sagte Glass, »vielleicht sind es gar nicht die Kinder, auf die er es abgesehen hat. Immerhin vergeht er sich nicht an ihnen.«
»Sie meinen, es sind die Mütter?«
»Könnte doch sein? Witwen, Alleinerziehende, Einzelkinder. Depression, Alkohol, Neurosen ...«
»Ich weiß nicht.«
»Die Kinder - die sind eigentlich völlig normal. Jedenfalls so lange, bis sie entführt werden. Es sind die Mütter, die besonders verwundbar sind.«
»Aber Mrs. Gardner? Die hat doch den Jackpot geknackt. Verheiratet, attraktiv, bei guter Gesundheit. Hat einen erfolgreichen Mann, ein schickes Haus und jede Menge Geld.«
»Von dem einiges gerade in Phuket ausgegeben wurde, wie ich hörte.«
»Zwei Kinder -«
»Eins, im Augenblick.«
»Also, was sollen wir jetzt tun? Sollen wir aufhören, uns Gedanken über die Kinder zu machen, und uns stattdessen auf die Mütter konzentrieren?«
»Nein, wir denken weiterhin über beide nach. Denn wie ich schon sagte, vielleicht gibt es noch etwas, was wir bisher einfach nicht richtig sehen. Mein Instinkt sagt, dass es nicht primär um die Kinder geht. Sie sind Mittel zum Zweck, um an die Mütter heranzukommen. Aber ich weiß nicht, ob das alles ist. Ob es sich tatsächlich nur um die Mütter dreht oder ob die wiederum auch nur ein Teil von etwas anderem sind, von einem gänzlich anderen Spiel.«
Malone bekam allmählich Kopfschmerzen. »Das alles kommt mir ein bisschen so vor wie diese chinesischen Schachteln, wissen Sie?«
»Ich werde tun, als hätte ich das überhört.«
»Aber warum sollte jemand gerade diese Frauen auswählen? «
»Der Bursche ist clever. Er fügt nicht nur selbst Leid zu, er wittert auch bereits vorhandenes. Selbst bei den Gardners durchschaut er offenbar die Fassade. Er muss über Insiderwissen verfügen. Er ist uns voraus. Wir wissen lediglich, dass er Druck auf die Mutter ausübt, auf Mrs. Gardner.«
»Das ist also unser Anhaltspunkt, um an den Täter heranzukommen? Jemand, der Frauen hasst, insbesondere Mütter? So sehr, dass er ihren Tod will - und nicht nur irgendwie, sondern durch Selbstmord?«
»Möglicherweise. Die Frage lautet, warum?«
»Vielleicht hasst der Kerl ja seine eigene Mutter. Wer weiß, womöglich wohnt er sogar noch bei ihr. Oberflächlich betrachtet scheint alles in Ordnung - Familie, Nachbarn, alle halten ihn für den liebenden Sohn. Aber insgeheim hasst er sie so sehr, dass er sie am liebsten umbringen würde. Und weil er das aus irgendeinem Grund nicht kann, sucht er sich eine Stellvertreterin. Einen Sündenbock. Und nachdem er es einmal getan hat ...«
»Ritueller Mord an der eigenen Mutter? Eine Neuauflage von Psycho? Ich habe Ihnen doch schon mal gesagt, Sie sollen sich vor abgehobenen Theorien hüten.«
»Stimmt, aber wir müssen nun einmal in jede mögliche Richtung denken, Lieutenant. Wissen Sie noch, als Rodney Springer freigelassen wurde - gleich nach der Entführung, ganz entgegen dem Muster -, da dachten wir, dem Täter sei einfach ein Missgeschick unterlaufen, ein Fehler.«
»Sind ihm sonst noch Fehler unterlaufen? Irgendwelche Missgeschicke?«
»Nein.«
»Dann vergessen Sie das, Malone. Vergessen Sie es einfach. Dieser Kerl macht keine Fehler.«
Drei
Glass war mit seiner Jacke schon fast an der Tür, auf dem Weg zu einer Verabredung mit seinem Bruder, als es Malone wieder einfiel. »Was soll ich denn nun Commissioner Keeves erzählen? «
»Keeves? Ich dachte, Sie treffen sich zum Mittagessen mit Nora.«
»Sehr komisch, Lieutenant. Was, wenn Keeves anruft und verlangt, dass ich ihn über den Fall Gardner auf den neuesten Stand bringe?«
Glass blieb stehen und ging ein wenig in die Knie, sodass er durch die Schlitze der Jalousien in den bleiernen Himmel hinaussehen konnte. »Sagen Sie ihm, ich denke, es wird Regen geben.«
»Ich bitte Sie, Lieutenant. Der Bürgermeister ist wegen dieser Fälle schon in Teufels Küche. Jetzt wird Keeves garantiert mir die Hölle heißmachen.«
»Dann sagen Sie ihm, wir haben den Kreis der Verdächtigen auf anderthalb Millionen eingegrenzt.«
»Vielen Dank«, murmelte Malone, doch Glass war bereits durch die Tür. »Ich werd's ihm ausrichten.«
Dennoch war es Malone und nicht Glass, dem kurz darauf ein Grinsen übers Gesicht ging. Er hob die abgewetzte Lederbrieftasche vom Boden hinter dem Schreibtisch seines Vorgesetzten auf. Sie musste Glass aus der Tasche gefallen sein, als sie von den Gardners zurückgekommen waren und er seine Jacke über die Stuhllehne geworfen hatte. Oder vielleicht als er sie hastig am Kragen genommen hatte, um hinauszustürzen. Malone gönnte sich einen Moment der Schadenfreude bei der Vorstellung, wie Glass sein Mittagessen bestellte - hoffentlich in einem schicken Restaurant, nicht in solch einem Schuppen, wo sie einem für eins achtzig uraltes Pastrami auf Graubrot servierten und es mit bergeweise Krautsalat als frisch zu tarnen versuchten - und wie er dann nach dem Essen gemütlich bei einem Kaffee saß, sich mit dem Zahnstocher das Schweinefilet zwischen den Zähnen herauspickte und nach seiner Brieftasche griff ...
Malone ging zu dem Safe in der Wand, drehte das Zahlenschloss und wollte gerade die Brieftasche hineinlegen, doch dann konnte er nicht widerstehen. Nicht, dass er wirklich hineingeschaut hätte, es war nur - Brieftaschen hatten so eine Eigenart, in der Hand aufzuklappen. Sodass man einen flüchtigen Blick gar nicht vermeiden konnte: Karten, Kassenzettel, ein Foto, ein ganzes Leben in einem Schnappschuss zusammengefasst. Malone rechnete nicht damit, sie zu sehen, Tuesday Reed. Dazu war Glass zu clever, zu geheimniskrämerisch und zu diskret. Doch Malone rechnete auch nicht mit dem, was er tatsächlich zu sehen bekam: zwei Gesichter, einander so ähnlich, dass sie Schwestern sein mussten. Malone war nicht gut darin, das Alter zu schätzen, aber er tippte
Aus dem Australischen von Anja Schünemann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Glass wusste, was das Päckchen enthielt. Jedenfalls glaubte er es zu wissen, denn schließlich hatte er schon vier dieser Päckchen gesehen. Und jetzt, jetzt gleich musste er Amys Mutter eröffnen, was ihm darüber bekannt war. Amys Mutter, die vor ihm stand und ihn ansah und die sich vor lauter Angst nicht überwinden konnte, den Blick auf das Päckchen zu richten, dieses unschuldige kleine Päckchen, das Glass in der Hand hielt.
Amy Gardner. Neun Jahre alt. Ein Engel. Und seit sechsunddreißig Stunden vermisst.
Die kleine Amy passte ins Muster. Vier Kinder waren im Laufe des vergangenen Jahres entführt worden, alle an einem Zweiundzwanzigsten, zum Wechsel der Jahreszeiten. Wie um jeden Zweifel daran, dass es sich um denselben Täter handelte, auszuschließen. Und immer kam ein paar Tage später ein Päckchen, adressiert an die Mutter. Das erste enthielt einen Finger. Einen Kinderfinger - Rachel McNeills Finger. Das zweite fiel bisher als einziges aus dem Rahmen, denn es enthielt weder einen Finger noch sonst einen Körperteil, sondern eine tote Schnecke. Das Kind, Rodney Springer, war zwei Tage später körperlich unversehrt freigelassen worden. Mit einer Botschaft an die Mutter: Sie Glückliche.
Warum?, fragte man sich. Warum dieses Kind und nicht das nächste? Oder das vorige? Wobei auch die anderen schließlich wieder freigelassen wurden, lebend, jedoch verstümmelt, traumatisiert.
Glass glaubte es zu wissen. Er war sogar fest davon überzeugt, es zu wissen. Es sollte der Eindruck entstehen, die Freilassung folge einem bestimmten Muster. Jedes zweite Kind? Oder vielleicht beim nächsten Mal das dritte? Womöglich eine grausige Fibonacci-Folge. Ein willkürliches Hoffnungskalkül ...
Beim dritten Kind hatte es zwei Päckchen erfordert. Zwei Päckchen im Abstand von zehn Tagen. Ein Finger, ein Ohr - und dann erfüllte auch Mrs. Chen die Forderung, genau wie Rachels Mutter es zuvor getan hatte: Sie nahm sich das Leben. Daraufhin wurde Mei Ling freigelassen, um einen Finger und ein Ohr beraubt. Das war doch ein fairer Handel, oder?
Nun also berichtete Glass in der Küche Amys Mutter, was sie wussten - dass aus irgendeinem Grund, aus irgendeinem irrationalen, unbegreiflichen Grund, von ihr dasselbe Opfer verlangt werden würde, das bereits die beiden anderen Frauen gebracht hatten: ihr Leben für das ihres Kindes zu geben. Es sei denn, sie wäre eine der Glücklichen.
»Sind Sie sicher, dass wir es hier öffnen sollen?«, fragte Glass, nachdem er geendet hatte. »Wir könnten es ins Labor bringen.«
Mrs. Gardner schüttelte den Kopf.
»Also gut.« Glass legte das Päckchen auf den Tisch, zog seine Handschuhe aus der Tasche. Der forensische Fotograf, der im Türrahmen lehnte, hörte auf, seinen Kaugummi zu kauen, trat vor und hob die Kamera. Blitz. Und noch einmal.
Blitz.
Glass rückte einen Stuhl vom Tisch ab und setzte sich, um das Päckchen von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Dann zückte er ein Messer, schob die Klinge unter das Klebeband. Schlug behutsam das Papier auseinander. Blitz.
Der mittlerweile vertraute Deckel lag jetzt frei. Darauf war in Rot HABANOS NOCTURNOS aufgedruckt - kubanische Zigarren. Ein weiterer Scherz? Ein weiteres Puzzleteil? Glass warf einen Blick zu seinem Assistenten Malone hinüber, doch der starrte nur gebannt und mit bleichem Gesicht auf den Küchentisch.
Glass richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Kästchen, hob es aus dem Packpapier und stellte es vor sich auf den Tisch. Der Fotograf ging einmal um den Tisch herum. Blitz, Blitz, Blitz.
Glass stellte die Zigarrenkiste auf seine flache Hand, hielt in der anderen das Messer und hob mit der Klinge den Deckel an.
Noch Stunden später, während der Regen auf sein Autodach prasselte, sah er die Szene vor seinem geistigen Auge in allen Einzelheiten ablaufen - langsam, quälend, unaufhaltsam. Und er wusste, genau so war es geplant gewesen.
Auf den ersten Blick schien das Kästchen leer zu sein. Glass beugte sich vor, um genauer hinzusehen.
Dann entdeckte er ganz unten in einer Ecke etwas Kleines. Es sah aus wie eine Schnecke oder ein halber getrockneter Pilz. Der Fotograf kam näher. Die Welt verschmolz in einem weißen Lichtblitz. Nahm wieder feste Formen an, schmolz erneut.
Mrs. Gardner beugte sich über den Tisch, eine Hand auf die kühle Platte gelegt.
»Ach, Gott sei Dank«, sagte sie. »Gott sei Dank. Es ist eine Schnecke, sehen Sie? Nur eine Schnecke.« Sie lachte mit zurückgelegtem Kopf, die Augen geschlossen. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah, dass Glass noch immer in das Kästchen starrte. Sie bemerkte die Veränderung in seinem Gesichtsausdruck.
»Was ist denn?«, fragte sie, nahm ihm, statt eine Antwort abzuwarten, hastig die Zigarrenkiste aus der Hand und tastete nach dem Gegenstand, bis sie ihn in den Fingern hielt. Ihre Hand zitterte.
»Was ist das?« Sie blickte Glass an. »Sagen Sie es mir. Bitte. O Gott, bitte, bitte sagen Sie es mir!«
Glass nahm ihr das winzige Stück Fleisch ab, legte es auf den Tisch, drehte es herum. Doch er war sich bereits sicher.
»Bitte«, drängte Mrs. Gardner erneut. »Tun Sie mir das nicht an. Bitte, sagen Sie es mir endlich.«
Glass schaute ihr ins Gesicht. Legte das Messer ab. Stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte.
»Es ist ihre Lippe«, sagte er. »Ihre Unterlippe.«
Zwei
»Mussten Sie ihr das zeigen?« Malones Stimme klang gepresst, jedoch eher vor Verzweiflung als vor Wut.
»Es war ihr Päckchen, Malone. Es wurde ihr zugestellt, nicht mir.« Auch Glass' Tonfall verriet extreme Anspannung, lag an der Grenze zu etwas, das weitaus tiefer ging als Wut und das jetzt im kalten Innenraum des Autos in der Luft zu hängen schien.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »sie hat sich genau an unsere Anweisungen gehalten. Bei der ersten Kontaktaufnahme hat sie sich sofort an uns gewandt.«
»Sicher, das verstehe ich ja. Aber es ihr wirklich zu zeigen, sie das sehen zu lassen ...«
»Sie hatte jedes Recht dazu, Malone. Es war ihre Entscheidung, nicht unsere. Sie hatte die Wahl.«
»Und was für eine Wahl.«
Eine Hupe ertönte, dann scherte ein silberner Dodge Viper hinter ihnen aus und raste vorbei. Beim Überholen warf der Fahrer ihnen einen erbosten Blick zu. Glass brauchte nicht auf den Tacho zu schauen, um zu erkennen, dass er weit unter dem Tempolimit gefahren war - vierzig, höchstens fünfzig auf einer Straße, auf der sechzig erlaubt waren. Wieder einmal. In Situationen wie dieser schien der Wagen seine Stimmungen aufzufangen; die acht schweren Kolben verfielen in ein beinahe lautloses Pulsieren, unterhalb der Grenze der bewussten Wahrnehmung, während sein eigener Kopf und sein Herz rasend arbeiteten, sein Verstand fieberhaft Gedanken, Bilder, Indizien, Beweismaterial durchging. Es war eine umgekehrte Symbiose, durch die er geistesabwesend und langsam durch die Straßen der Stadt navigierte. Seiner Stadt, deren Adern ihm so bekannt und vertraut waren, als sei er mit ihr verschmolzen, und in der er jederzeit wusste, wo er sich befand, ohne ein einziges Mal anhalten und überlegen zu müssen. Wo er nie mühsam den Weg suchen musste, sondern sich einfach in dem stetig pulsierenden Verkehrsstrom treiben ließ.
»Sie denken doch nicht ...?« Malones Stimme gehorchte ihm immer noch nicht richtig. Glass ließ ihm Zeit. »Diese Kinder - Sie denken doch nicht, dass sie bei Bewusstsein sind?«
Glass wusste, welchen Albtraum Malone durchlebte. Ein Kind allein in einer Zelle, in einem schalldichten Raum. Irgendwo in der Stadt. Ein Mädchen, neun Jahre alt, völlig verstört. Die Geräusche, wenn der Mann kam, sich von außen am Türschloss zu schaffen machte, dann an der Kette. Wenn er schließlich in ihre Zelle kam. Waren ihre Augen verbunden? Oder ließ er sie alles sehen? Und falls sie sah, was er in der Hand hielt - begriff sie, was er damit vorhatte?
»Bestimmt nicht, oder, Lieutenant? Er macht sie doch sicher irgendwie bewusstlos? Gibt ihnen Betäubungsmittel? «
Einen Moment lang rechnete Glass damit, dass Malone ihn am Arm packen, an der Schulter rütteln würde, um ihn zu einer Antwort zu bewegen.
»Er kann doch nicht etwa -«
»Was erwarten Sie von mir, Malone? Und um wessen Schmerz geht es hier überhaupt, um den dieser Kinder oder um Ihren?«
Malone starrte seinen Vorgesetzten an, als habe dieser ihm eine Ohrfeige versetzt.
»Begreifen Sie denn nicht«, sagte Glass leise, »ich kann Ihnen nicht helfen.«
Als sie wieder in die Dienststelle kamen, lag zuoberst auf den Stapeln alter Unterlagen, die auf Glass' Schreibtisch Staub ansetzten, eine Notiz von Nora. Sie war mit einem so grell pinkfarbenen Textmarker umrahmt, dass nicht einmal er sie übersehen konnte. Auf dem Zettel stand, Commissioner Keeves sei zu Ohren gekommen, dass es im Fall Gardner neue Entwicklungen gebe. Er verlange einen Bericht, und zwar bis gestern. Spätestens. Glass legte die Notiz in den einzigen Eingangskorb, der noch nicht überquoll.
Malone ergriff den Zettel und überflog ihn. »Sie werden darauf reagieren müssen, Lieutenant.«
»Wie denn - soll ich ihm vielleicht etwas über das Wetter erzählen? Viel mehr wissen wir doch selbst noch nicht.«
»Trotzdem.«
»Übernehmen Sie das, Malone. Rufen Sie seine Assistentin an und sagen Sie ihr, wir warten noch auf die Laborberichte. «
»Denken Sie, die Untersuchungen werden etwas ergeben? «
»Nichts, was wir nicht bereits wissen. Es wird wieder mal alles sauber sein, völlig steril. Standardpackpapier, Standardklebeband, Standardschrift.«
Was hatten sie bisher in der Hand? Nichts als ein paar schriftliche Botschaften und ein halbes Dutzend Zigarrenkisten, alle von derselben Sorte. Habanos Nocturnos. Erstklassige kubanische Zigarren. Handgefertigt, teuer, Zigarren für Kenner. Die Sorte, die man spätabends genoss, allein oder mit einem guten Freund. Nocturnos: Nacht. Wie bedeutsam das wohl war? Und wer zum Teufel konnte wissen, woher sie stammten, in Anbetracht des vollständigen Importembargos gegen Kuba? Was den Ort betraf, an dem die Päckchen aufgegeben wurden - dem Poststempel nach zu urteilen, kamen hundert Annahmestellen in der Stadt in Frage.
»Himmel, Lieutenant!« Malones Stuhl ächzte, als er sein Gewicht verlagerte. »Wie sollen wir nur Licht in diese verrückte Angelegenheit bringen?«
Glass war ebenso ratlos und frustriert wie Malone, doch ihm war klar, dass Malone vollends den Mut verlieren würde, wenn er sich das anmerken ließe. »Okay, Malone, gehen wir noch einmal alles ganz von vorn durch.«
Malone vergrub das Gesicht in den Händen. »Nicht schon wieder, Lieutenant«, flehte er.
»Doch, schon wieder. Und wieder und immer wieder, so lange, bis wir etwas erkennen, was wir bisher übersehen haben.«
»Aber da gibt es nichts zu erkennen! Wir haben das Ganze schon so oft durchgekaut.«
»Es gibt immer etwas zu erkennen, wir sind nur noch nicht darauf gekommen. Also werden wir die Sache so oft wieder von vorn aufrollen, bis wir es finden.«
»Aber Lieutenant -«
»Vergessen Sie nicht, Malone, ich habe noch immer etwas aufzuholen. Sie hatten einen Vorsprung. Also nochmal von Anfang an.«
Malone musste an eine Szene vor anderthalb Jahren zurückdenken. »Es gibt nur einen Weg, der Beste zu werden «, hatte Commissioner Keeves an seinem, Malones, ersten Tag im Dezernat für Mord und schwere Gewaltverbrechen zu ihm gesagt, »und der besteht darin, sich den Besten auszusuchen und mit ihm zusammenzuarbeiten. « Malone hatte nacheinander mit fünf verschiedenen Partnern gearbeitet, bis er sich für Glass entschied. Mit dem kann man unmöglich zusammenarbeiten, so lautete im gesamten Bezirk die einhellige Meinung über Glass. Ein kluger Kopf, das musste man ihm lassen. Weder in der Theorie noch in der Praxis konnte ihm jemand das Wasser reichen. Ein harter Bursche, das auf jeden Fall. Und dreist dazu. Und schwierig. Niemand hätte jemals angezweifelt, dass Glass schwierig war. In seiner Personalakte stand, er habe ein Autoritätsproblem. Außerdem, es gab persönliche Dinge in seiner Vergangenheit, über die niemand sprechen wollte und bei denen unter anderem eine gescheiterte Ehe eine Rolle spielte.
»Glass?« Keeves hatte Malone beinahe angeschrien, als dieser ihm seinen Entschluss mitteilte.
»Sie haben selbst gesagt, ich soll mir den Besten suchen und mit ihm zusammenarbeiten«, hielt Malone dem Commissioner vor.
»Sicher. Ja. Das habe ich.« Keeves fehlten die Worte.
»Aber Glass?«
Jetzt seufzte Malone und begann, wie schon so oft, seinen Bericht abzuspulen. In unbeteiligtem Tonfall, als lese er von einem Datenblatt in seinem Kopf ab, nannte er die Fakten: »McNeill, Rachel, neun Jahre alt. Viertes Grundschuljahr. Klug, begabt, viele Freunde. Ein hübsches Kind, brünett. Die Mutter hat im Einzelhandel gearbeitet - Bekleidungsbranche, Arbeits- und Dienstkleidung, so etwas in der Art. Der Job war neu für sie. Im vergangenen Jahr hat sie finanziell und sozial einen gewissen Abstieg erlebt. Ihr Mann war zwei Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das Mädchen ist ein Einzelkind, aber offenbar unkompliziert, hat seine Trauer sogar besser verarbeitet als die Mutter. Es nahm Klavierunterricht.«
»Aha, Musik. Was ist mit den anderen?«
»Das wissen wir doch schon.«
»Ich höre?«
»Das zweite Kind - Rodney Springer - spielt kein Instrument und interessiert sich überhaupt nicht für Musik. Mei Ling schon, sie spielt allerdings nicht Klavier, sondern Geige, wie alle chinesischen Kinder.«
»Und?«
»Es ist keine Verbindung zu erkennen. Die kleine McNeill wird privat unterrichtet. Wurde privat unterrichtet. «
»Und Mei Ling?«
»Sie hat an einem Programm zur Begabtenförderung oben am Riverside Conservatory teilgenommen. Viel formeller, viel fortgeschrittener. Mit dem Bogen in der Hand war dieses Kind offenbar ein anderer Mensch. Zwischen ihr und Rachel McNeill liegen Welten. Nicht nur im Hinblick auf die Instrumente, sondern auch was das Talent, den Stil und den Wohnort betrifft. Rachel wohnt drüben in Wellsmore, die Chens waren aus Oakdale.«
»Schulen? Spielkreise?«
»Schulen, Spielkreise, Konzerte, Musikfreizeiten ... Glauben Sie mir, Lieutenant, es gibt keine einzige Überschneidung. Rachels Lehrerin - eine alte Dame, die anderthalb Straßenblocks von Rachels Elternhaus entfernt wohnt, sagt, dass das Mädchen nie mit anderen zusammengespielt hat. Zu schüchtern. Und im Riverside Con liegen vollständige Aufzeichnungen über Mei Ling vor. Keine Konzerte, keine Wettbewerbe, keine Spielkreise mit anderen Kindern. Alles streng klassisch. Elitär. Nun zu Amy Gardner: Sie spielt Flöte und hat jeden Dienstag und Donnerstag nach Schulschluss - das ist um vier - Unterricht bei einer Miss Lucy Tarrant am Welcome Drive, nicht einmal einen Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt. Nein, Lieutenant, den Bereich Musik haben wir gründlich abgeklopft. Ebenso wie Schulen, Sportvereine, Kirchen, Kinos, Ärzte, Zahnärzte und wo auch immer sich diese Kinder hätten begegnen können. Und dann natürlich die Wohnbezirke - die Gardners leben draußen in Harmony.«
»Was ist mit dem Springer-Jungen?«
»Er ist jünger, erst sieben, und bis zu diesem Vorfall in jeder Hinsicht ein normaler Junge. Schule, Basketball, Computerspiele, PlayStation. Mrs. Springer ist ebenso wie Mrs. Chen alleinerziehend. Eine ›wiedergeborene‹ Christin mit einem extremen Hang zur Kirche. Der Vater hat sie kurz nach der Geburt des Kindes verlassen.«
»Und er wurde auch überprüft?«
»Wieder verheiratet, wohnt im Norden des Staates, zwei Kinder. Er hat nicht viel Kontakt zu Rodney, der Junge besucht ihn nur einmal im Jahr in den Sommerferien. Außerdem hat der Vater wasserdichte Alibis. Ich habe ihn selbst befragt. Es herrscht kein böses Blut in der Familie, er hegt keinen Groll gegen die Mutter oder den Jungen. Guter Job, nettes Häuschen, eine gut aussehende zweite Frau. Er zahlt regelmäßig Unterhalt für Rodney. Nur mit Mrs. Springers religiöser Bekehrung ist er nicht zurechtgekommen. Er sagt, sie hat kurz nach ihrer Heirat ›zu Gott gefunden‹.«
»Vielleicht hat sie in der Hochzeitsnacht einen Schock erlitten.«
»Der Junge ist natürlich nicht in der Verfassung, uns irgendetwas zu sagen.«
»Was ist mit Mrs. Chen? Erzählen Sie mir von ihr.«
»Diese ganz bestimmte Sorte Chinesin, wenn Sie verstehen, was ich meine. Strebsam, ehrgeizig. Hat das Kind getrieben und getrieben. Mei Ling sollte um jeden Preis ein weiblicher Menuhin werden, und wenn sie beide dabei draufgingen.«
»Der Mann?«
»Lebt in Taiwan. Wir forschen da noch nach - anscheinend war er ihr auch nicht gut genug, oder er zählte einfach nicht. Sie hat alles in dieses Kind investiert. Dafür war ihr kein Opfer zu groß.«
»Offensichtlich.«
»Es gab Überlegungen, Mrs. Chen zu ihrem eigenen Schutz einweisen zu lassen, aber wir kamen zu spät. Sobald sie die Einzelheiten über den McNeill-Fall erfuhr und dann, dass Rodney Springer freigelassen worden war ...«
»Da hat sie ihre Wahl getroffen.«
»Aber sie konnte nicht wissen, dass Mei Ling dann wirklich freikommen würde, jedenfalls nicht mit Sicherheit. Dieser perverse Irre hätte ebenso gut -«
»Ich weiß, Malone. Aber diese Frau hatte nun einmal nichts als die Fakten in der Hand. Ihr Kind war entführt worden. Dann kam mit der Post ein Päckchen: ein Finger. Als Nächstes ein Ohr. Sie brauchte keine Laborergebnisse und keine DNS-Analyse abzuwarten - sehr oft muss sie gesehen haben, wie sich Mei Ling das Haar hinters Ohr strich, wenn sie die Geige unter das Kinn klemmte. Mrs. Chen wusste, dass es das Ohr ihrer Tochter war. Und sie wusste, dass Mrs. McNeill getan hatte, was von ihr verlangt wurde, und dass Rachel daraufhin freigekommen war. Wenn auch verstümmelt. Wer weiß, vielleicht hat sie ja sogar die richtige Entscheidung getroffen. Vielleicht wird dieses Kind tatsächlich der nächste Menuhin.«
»Nach dem, was der Kerl mit ihr gemacht hat?«
»Geige spielt man nicht mit dem Ohr, Malone.«
Das kannte Malone bereits von Glass: Immer wenn man gerade dachte, er öffnete sich - wenn er Einfühlung und Verständnis für andere Menschen zeigte und dabei auch etwas von sich selbst preiszugeben schien -, dann war es, als ertappe er sich in dem Moment selbst dabei. Der kurzzeitige Riss in der Fassade schloss sich augenblicklich wieder, und man kam sich vor, als blicke man in das schwarze Herz eines sterbenden Sterns. Fern und trostlos.
»Aber das ist es ja gerade: In gewisser Weise spielt man sie tatsächlich mit dem Ohr. Die Geige ist eines der Instrumente, für die man seine Ohren braucht. Ich meine nicht nur zum Hören, sondern physisch. Jedenfalls das Ohrläppchen. Das hat etwas mit den Oberschwingungen zu tun.«
Glass sah Malone an.
»Ich habe mal was darüber gelesen«, erklärte der Detective und zuckte mit den Schultern.
Typisch Malone, dachte Glass. Man unterschätzte ihn leicht, doch dann kam er plötzlich mit so etwas daher. Und es ging noch weiter.
»Es ist, als hätte er gewusst, wie er Mrs. Chen am empfindlichsten treffen kann«, fuhr Malone fort. »Indem er Mei Ling genau das genommen hat, worauf sie besonders angewiesen war.« Glass dachte einen Moment lang darüber nach.
»Möglich «, sagte er dann. »Und jetzt zu den Gardners - erzählen Sie mir von ihnen.«
Malone wusste, dass Glass' Verstand jedes Detail, das er kannte, jedes winzige Informationsbröckchen und noch viel mehr längst gespeichert, ausgewertet und zum Rest in Beziehung gesetzt hatte, auf der Suche nach Verbindungen, nach einem passenden Puzzleteil. Was für eine Maschine, die da unablässig hinter diesen Augen rotierte - Himmel, welche Farbe hatten seine Augen eigentlich? Schwarz mit Einsprengseln von was, reinstem Silber? Augen, die ihr Gegenüber ohne einen Wimpernschlag fixierten. Und warteten. Augen, deren Wachsamkeit bereits mehr als einem Mörder und Vergewaltiger zum Verhängnis geworden war.
Aber so war Glass nun einmal: Obwohl er alles den Fall betreffende bereits wusste, wollte er es dennoch wieder und wieder hören. Dabei achtete er auf jeden Unterton, jede kleine Abweichung in einem Detail, jedes Zögern oder Anzeichen von Zweifel, das den Zugang eröffnete in eine Welt, die anders geordnet war, als man die ganze Zeit angenommen hatte.
Solomon Glass - das war Malone allmählich klar geworden - stützte sich bei all seiner Klugheit, seinen akademischen Abschlüssen, seiner theoretischen Ausbildung ebenso sehr auf Intuition wie auf seinen Verstand. Auf plötzliche seismische Verschiebungen, die aus dem Nichts zu kommen schienen und mit einem Schlag die gesamte Landschaft, die man seit Wochen oder Monaten bearbeitet und beackert hatte, ohne etwas Neues zu entdecken, grundlegend veränderten. Intuition - so hatte Glass einmal zu ihm gesagt, wobei er sich auf Thomas von Aquin berief - ist den Engeln gegeben. Wir Übrigen müssen eben mit dem Verstand auskommen. Scheiß drauf, dachte Malone. Zum Teufel mit Thomas von Aquin. Wenn Intuition der schnellste Weg zum Ziel war, dann wollte auch er diesen Weg nutzen, dann musste er lernen, seine Intuition zu gebrauchen.
Inzwischen wartete Glass. Auf Fakten.
»Ach ja, die Gardners. Also, wie Sie ja bereits wissen, wohnen sie draußen in Harmony.« Malone blätterte die Seiten seines Notizblocks um. »Ein großes Haus, typische Neureichvilla. Ein Dutzend Badezimmer, drei Garagen, ein Stall für das Pony der Tochter, riesige Terrassen, ein Swimmingpool -«
»An Ihnen ist ein Immobilienmakler verloren gegangen, Malone.«
»Zwei Kinder. Amy, neun Jahre alt, und ein vierjähriger Junge. Er heißt ... Cyrus.«
»Cyrus?«
»Der Name hat in der Familie Tradition.«
Malone beobachtete mit heimlicher Zufriedenheit eine winzige Veränderung in Glass' Gesicht, einen Hauch von Anerkennung. Offenbar hatte Glass bis jetzt nicht gewusst, wie das zweite Kind hieß.
»Sie haben Mrs. Gardner danach gefragt?«
»Hmm.«
»Fahren Sie fort.«
»Mrs. Gardner bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder. Sie braucht nicht zu arbeiten. Es ist eine typische 1960er-Jahre-Familie. Mr. Gardner bringt die Brötchen auf den Tisch.«
»Er ist Bäcker?« Malone lernte allmählich, mit dem Sarkasmus seines Vorgesetzten zurechtzukommen - indem er ihn ignorierte. »Er arbeitet bei der Mercantile First West. Sagte ich gerade, er arbeitet dort? Richtig ist, ihm gehört die Hälfte der Aktien.«
»Es ist also keine gewöhnliche Bank.«
»Eine Art Handelsbank. Auf den Transfer ausländischer Währungen spezialisiert, Anleihengeschäfte, Devisenterminhandel. Gardner ist ein Karrieremensch durch und durch. Europa, Asien, Australien - er ist nie zu Hause.«
»Zweimal muss er wohl doch da gewesen sein.«
»Als er die Nachricht bekam, war er gerade in Jakarta. Er wird heute Nachmittag hier erwartet.«
»Jakarta, sind Sie sicher?«
»Ja, laut Mrs. Gardner war er in Jakarta.« Malone las auf seinem Block nach. »Er soll ihr gesagt haben, er rufe von dort aus an.«
»Nach Auskunft der Telefongesellschaft kam der Anruf aber aus Phuket.«
»Und was sagt uns das?«
»Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Erzählen Sie mir mehr von Amys Flötenunterricht.«
»Wissen Sie«, sagte Malone, »es muss doch irgendwas dahinterstecken. Ich meine, hinter der Musik.«
»Aber Sie sagten, dass Sie alle möglichen Verbindungen abgeklopft haben und nichts dabei herausgekommen ist. Und vergessen Sie nicht den Springer-Jungen. Der spielt nichts weiter als Computerspiele.« Glass schwieg einen Moment lang. »Also?«
»Amy wird um vier zum Flötenunterricht gebracht. Der Unterricht dauert eine Stunde. Und um fünf wartet Mrs. Gardner immer vor dem Haus der Lehrerin. Vergessen Sie nicht, wir reden von Harmony. Wenn da nur mal eine Katze auf einen Rasen pinkelt, wird gleich die Feuerwehr gerufen. Zudem ist Mrs. Gardner eine extreme Sicherheitsfanatikerin. In den letzten zwei Jahren hat sie sich nie um mehr als drei Minuten verspätet. Amy hatte die Anweisung, auf der Veranda des Hauses zu warten und erst an die Straße zu kommen, wenn sie das Auto sah.«
»Aber an jenem Tag ...?«
»An jenem Tag war Mrs. Gardner erst um zehn nach fünf dort. Es gab einen Unfall auf der Straße zum Einkaufszentrum. Der gesamte Verkehr wurde über die Ringstraße umgeleitet.«
»Und innerhalb dieser zehn Minuten ist Amy verschwunden. «
»Niemand hat etwas gesehen, niemand hat etwas gehört. Die Musiklehrerin war drinnen mit dem nächsten Schüler beschäftigt.«
»Und die Nachbarn? Hat denn keiner ein Auto gehört? Es ist doch davon auszugehen, dass sie mit einem Fahrzeug entführt wurde. Anderenfalls hätte der Täter riskiert, Mrs. Gardner über den Weg zu laufen.«
»Oh, die Nachbarn haben durchaus Autos gehört, aber niemand hat darauf geachtet. Kein Wunder, schließlich werden dort jede Stunde oder sogar jede halbe Stunde Kinder hingebracht und wieder abgeholt, und das an vier Tagen in der Woche. Die Nachbarn hören ständig Autos halten und wieder anfahren, Türenschlagen, Kinderstimmen. Es ist wie fallendes Laub - eines Tages sind die Bäume kahl, aber niemand hat auch nur ein einziges Blatt fallen sehen.«
»Und als Mrs. Gardner schließlich ankam?«
»Da war Amy verschwunden. Keine Spuren einer Auseinandersetzung, nichts. Nur der Flötenkasten stand auf der Veranda, ordentlich an die Hauswand gelehnt. «
»Was ist mit dieser Lucy Tarrant, der Musiklehrerin? «
»Wie ich schon sagte, sie hat nichts bemerkt.«
»Und sie selbst ist unverdächtig?«
»Die Frau ist ganz und gar koscher. Aufbaustudium an der Juilliard School, spielt im örtlichen Orchester, eine Musikerin mit Leib und Seele. Beherrscht alle möglichen Instrumente. Mehrere Flöten, Klarinette, Oboe. Praktisch alles, wo man reinbläst. Die Nachbarn kommen sich vor wie am Güterbahnhof - die ganze Zeit das Gepfeife -, aber sie kennt sich offenbar wirklich damit aus.«
»Dann hatte der Täter einfach nur Glück?«
»Ich weiß nicht, Lieutenant. Wie konnte er ahnen, dass sich Mrs. Gardner gerade an diesem Tag verspäten würde? Dass es beim Einkaufszentrum einen Unfall geben würde, einen Haufen verbogenes Blech? Der Mann mag gerissen sein, aber er ist nicht Uri Geller.«
»Was haben wir sonst noch?«
»Es ist jedes Mal dieser bestimmte Tag. Der Zweiundzwanzigste. Was immer diesen Kerl antreibt - die Jahreszeiten, die Sonnenwende, was weiß ich -, aus irgendeinem Grund muss es gerade dieses Datum sein. Alle verfügbaren Leute waren auf den Straßen im Einsatz. Streifenpolizisten, Verkehrspolizisten, jede Uniform und jeder Zivilbeamte, den wir auftreiben konnten. Mord, Betrug, Forensik, Rettungskräfte - jeder, der laufen oder fahren konnte, hat an diesem Tag draußen patrouilliert, weil uns klar war, dass der Täter wieder zuschlagen würde. Selbst Commissioner Keeves war im Einsatz.«
»Und trotzdem hat er sie entführen können. Am helllichten Tag, oder jedenfalls beinahe. Um fünf Uhr am Nachmittag.«
»Ja, aber in Harmony, Lieutenant. Ausgerechnet da draußen. Wir dachten, es würde in der Stadt geschehen, wie die vorigen Male.«
»Wenn also Mrs. Gardner pünktlich gewesen wäre, wie sie es bisher in neunundneunzig von hundert Fällen war, dann hätte er keine Gelegenheit gehabt, Amy in seine Gewalt zu bringen. Er zeigt sich nie, er geht kein Risiko ein.« Glass seufzte. »Und Mrs. Gardner hätte durchaus pünktlich sein können. Was sagt uns das - in Verbindung mit der Tatsache, dass er so auf das Datum fixiert ist?«
Malone runzelte die Stirn und überlegte. »Es muss bedeuten ...«
Glass wartete. »Es muss bedeuten, dass sie nicht sein eigentliches Opfer war. Es ging nicht speziell um Amy Gardner.« Als Malone diese Erkenntnis kam, sprang er so heftig auf, dass er beinahe seinen Stuhl umgerissen hätte. »Jedenfalls nicht ausschließlich. Er muss für diesen Tag noch weitere potenzielle Opfer im Blick gehabt haben. Für den Fall, dass Mrs. Gardner pünktlich kam.«
»Und das heißt ...?«
»Das heißt, es geht ihm nicht so sehr um die Kinder. Ich meine, im Prinzip natürlich schon - immerhin entführt er ausschließlich Kinder. Aber er ist nicht auf eine einzelne Person fixiert. Er geht eher opportunistisch vor. In diesem Fall hat es Amy Gardner getroffen, aber es hätte genauso gut ein anderes Kind sein können.«
Malone hob die Hände, nannte willkürlich einen Namen. »Josie Finkelstein.«
»Josie Finkelstein?«
Malones Mund wurde trocken angesichts dieses zerklüfteten düsteren Felsblocks, der ihm gegenübersaß. Unbewegt. Undurchschaubar. Nur eine Schwärze, die ihn umgab, und gewisse Furchen um die Augen verrieten etwas von seiner Geschichte.
»Ich bitte Sie, Lieutenant. Das war irgendein Name, weiter nichts, okay?« Glass nickte langsam, ließ das so stehen. »Sie und Nora«, sagte er, »Sie haben monatelang die Datenbanken durchsucht und jeden Menschen befragt, der irgendetwas mit diesen Kindern zu tun haben könnte. Nach Übereinstimmungen gesucht, nach Querbezügen, nach Mustern. Was haben Sie herausgefunden?«
»Es ist eher so, dass wir einiges ausschließen konnten. Erpressung, persönliche Motive, Rache, schiefgelaufene Drogendeals, Pädophilie, Familienzwiste, Sorgerechtsstreitigkeiten, Organhandel ... Nichts passt in das Profil dieses kranken Hirns.«
Glass dachte einen Moment lang darüber nach. »Und der kleine Springer?«
»Nun, er wurde eines Morgens um sechs Uhr früh gefunden - von einem Wachmann in dem Einkaufszentrum draußen in Braxton. Er irrte völlig orientierungslos umher, wie ein Zombie. Er konnte nicht sagen, wer er war, wo er wohnte oder wohin er wollte. Er hatte auch eins der Zigarrenkästchen bei sich, und als der Wachmann ihn fragte, was er da hätte, was da drin sei - nichts. Der Junge hat kein Wort gesagt. Aber als der Mann ihm das Kästchen abnehmen wollte, um selbst hineinzuschauen, in der Hoffnung auf einen Hinweis darauf, wer dieses Kind war, fing der Junge an zu schreien und hörte nicht mehr auf. Als wir hinkamen, war der Security-Typ völlig mit den Nerven am Ende. Er sagte, das war der furchtbarste Laut, den er je gehört hat.«
»Und in dem Kästchen?«
»Nur die Botschaft an Mrs. Springer. Sie Glückliche.«
»Die Schrift war aus Zeitungen ausgeschnitten?«
»Ja, die gleichen seltsamen Buchstabengruppen wie bei den anderen. Aber nach der Schrifttype zu urteilen, muss es The Tribune sein.«
»Davon werden ja auch nur anderthalb Millionen am Tag verkauft.«
»So ungefähr.«
»Hören Sie«, sagte Glass, »vielleicht sind es gar nicht die Kinder, auf die er es abgesehen hat. Immerhin vergeht er sich nicht an ihnen.«
»Sie meinen, es sind die Mütter?«
»Könnte doch sein? Witwen, Alleinerziehende, Einzelkinder. Depression, Alkohol, Neurosen ...«
»Ich weiß nicht.«
»Die Kinder - die sind eigentlich völlig normal. Jedenfalls so lange, bis sie entführt werden. Es sind die Mütter, die besonders verwundbar sind.«
»Aber Mrs. Gardner? Die hat doch den Jackpot geknackt. Verheiratet, attraktiv, bei guter Gesundheit. Hat einen erfolgreichen Mann, ein schickes Haus und jede Menge Geld.«
»Von dem einiges gerade in Phuket ausgegeben wurde, wie ich hörte.«
»Zwei Kinder -«
»Eins, im Augenblick.«
»Also, was sollen wir jetzt tun? Sollen wir aufhören, uns Gedanken über die Kinder zu machen, und uns stattdessen auf die Mütter konzentrieren?«
»Nein, wir denken weiterhin über beide nach. Denn wie ich schon sagte, vielleicht gibt es noch etwas, was wir bisher einfach nicht richtig sehen. Mein Instinkt sagt, dass es nicht primär um die Kinder geht. Sie sind Mittel zum Zweck, um an die Mütter heranzukommen. Aber ich weiß nicht, ob das alles ist. Ob es sich tatsächlich nur um die Mütter dreht oder ob die wiederum auch nur ein Teil von etwas anderem sind, von einem gänzlich anderen Spiel.«
Malone bekam allmählich Kopfschmerzen. »Das alles kommt mir ein bisschen so vor wie diese chinesischen Schachteln, wissen Sie?«
»Ich werde tun, als hätte ich das überhört.«
»Aber warum sollte jemand gerade diese Frauen auswählen? «
»Der Bursche ist clever. Er fügt nicht nur selbst Leid zu, er wittert auch bereits vorhandenes. Selbst bei den Gardners durchschaut er offenbar die Fassade. Er muss über Insiderwissen verfügen. Er ist uns voraus. Wir wissen lediglich, dass er Druck auf die Mutter ausübt, auf Mrs. Gardner.«
»Das ist also unser Anhaltspunkt, um an den Täter heranzukommen? Jemand, der Frauen hasst, insbesondere Mütter? So sehr, dass er ihren Tod will - und nicht nur irgendwie, sondern durch Selbstmord?«
»Möglicherweise. Die Frage lautet, warum?«
»Vielleicht hasst der Kerl ja seine eigene Mutter. Wer weiß, womöglich wohnt er sogar noch bei ihr. Oberflächlich betrachtet scheint alles in Ordnung - Familie, Nachbarn, alle halten ihn für den liebenden Sohn. Aber insgeheim hasst er sie so sehr, dass er sie am liebsten umbringen würde. Und weil er das aus irgendeinem Grund nicht kann, sucht er sich eine Stellvertreterin. Einen Sündenbock. Und nachdem er es einmal getan hat ...«
»Ritueller Mord an der eigenen Mutter? Eine Neuauflage von Psycho? Ich habe Ihnen doch schon mal gesagt, Sie sollen sich vor abgehobenen Theorien hüten.«
»Stimmt, aber wir müssen nun einmal in jede mögliche Richtung denken, Lieutenant. Wissen Sie noch, als Rodney Springer freigelassen wurde - gleich nach der Entführung, ganz entgegen dem Muster -, da dachten wir, dem Täter sei einfach ein Missgeschick unterlaufen, ein Fehler.«
»Sind ihm sonst noch Fehler unterlaufen? Irgendwelche Missgeschicke?«
»Nein.«
»Dann vergessen Sie das, Malone. Vergessen Sie es einfach. Dieser Kerl macht keine Fehler.«
Drei
Glass war mit seiner Jacke schon fast an der Tür, auf dem Weg zu einer Verabredung mit seinem Bruder, als es Malone wieder einfiel. »Was soll ich denn nun Commissioner Keeves erzählen? «
»Keeves? Ich dachte, Sie treffen sich zum Mittagessen mit Nora.«
»Sehr komisch, Lieutenant. Was, wenn Keeves anruft und verlangt, dass ich ihn über den Fall Gardner auf den neuesten Stand bringe?«
Glass blieb stehen und ging ein wenig in die Knie, sodass er durch die Schlitze der Jalousien in den bleiernen Himmel hinaussehen konnte. »Sagen Sie ihm, ich denke, es wird Regen geben.«
»Ich bitte Sie, Lieutenant. Der Bürgermeister ist wegen dieser Fälle schon in Teufels Küche. Jetzt wird Keeves garantiert mir die Hölle heißmachen.«
»Dann sagen Sie ihm, wir haben den Kreis der Verdächtigen auf anderthalb Millionen eingegrenzt.«
»Vielen Dank«, murmelte Malone, doch Glass war bereits durch die Tür. »Ich werd's ihm ausrichten.«
Dennoch war es Malone und nicht Glass, dem kurz darauf ein Grinsen übers Gesicht ging. Er hob die abgewetzte Lederbrieftasche vom Boden hinter dem Schreibtisch seines Vorgesetzten auf. Sie musste Glass aus der Tasche gefallen sein, als sie von den Gardners zurückgekommen waren und er seine Jacke über die Stuhllehne geworfen hatte. Oder vielleicht als er sie hastig am Kragen genommen hatte, um hinauszustürzen. Malone gönnte sich einen Moment der Schadenfreude bei der Vorstellung, wie Glass sein Mittagessen bestellte - hoffentlich in einem schicken Restaurant, nicht in solch einem Schuppen, wo sie einem für eins achtzig uraltes Pastrami auf Graubrot servierten und es mit bergeweise Krautsalat als frisch zu tarnen versuchten - und wie er dann nach dem Essen gemütlich bei einem Kaffee saß, sich mit dem Zahnstocher das Schweinefilet zwischen den Zähnen herauspickte und nach seiner Brieftasche griff ...
Malone ging zu dem Safe in der Wand, drehte das Zahlenschloss und wollte gerade die Brieftasche hineinlegen, doch dann konnte er nicht widerstehen. Nicht, dass er wirklich hineingeschaut hätte, es war nur - Brieftaschen hatten so eine Eigenart, in der Hand aufzuklappen. Sodass man einen flüchtigen Blick gar nicht vermeiden konnte: Karten, Kassenzettel, ein Foto, ein ganzes Leben in einem Schnappschuss zusammengefasst. Malone rechnete nicht damit, sie zu sehen, Tuesday Reed. Dazu war Glass zu clever, zu geheimniskrämerisch und zu diskret. Doch Malone rechnete auch nicht mit dem, was er tatsächlich zu sehen bekam: zwei Gesichter, einander so ähnlich, dass sie Schwestern sein mussten. Malone war nicht gut darin, das Alter zu schätzen, aber er tippte
Aus dem Australischen von Anja Schünemann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
... weniger
Autoren-Porträt von J.M. CALDER
J. M. Calder ist das Pseudonym von John Clanchy und Mark Henshaw. Die beiden Schriftsteller leben in Canberra.
Bibliographische Angaben
- Autor: J.M. CALDER
- 2013, 1, 432 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655966
- ISBN-13: 9783863655969
Kommentare zu "Ich töte, was du liebst"
0 Gebrauchte Artikel zu „Ich töte, was du liebst“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 5Schreiben Sie einen Kommentar zu "Ich töte, was du liebst".
Kommentar verfassen