Im Netz des Teufels
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Der Este Aleks lebt in einer Welt voller Fanatismus und kultischem Wahn: Mithilfe seiner Töchter glaubt er, die Unsterblichkeit erlangen zu können. Die Mädchen wurden nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Auf der Suche nach ihnen, zieht...
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Produktinformationen zu „Im Netz des Teufels “
Der Este Aleks lebt in einer Welt voller Fanatismus und kultischem Wahn: Mithilfe seiner Töchter glaubt er, die Unsterblichkeit erlangen zu können. Die Mädchen wurden nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Auf der Suche nach ihnen, zieht Aleks eine Blutspur quer über den Globus.
Klappentext zu „Im Netz des Teufels “
Aleks lebt in einer Welt des Wahns und glaubt, er sei ein "Todesloser". Aber um die wahrhaftige Unsterblichkeit zu erlangen, benötigt er den Beistand seiner Töchter. Diese wurden jedoch direkt nach ihrer Geburt zur Adoption freigegeben. Nun macht Aleks sich auf die Suche nach ihnen - und hinterlässt eine blutige Spur auf dem Weg zu seinen "Prinzessinnen" ...
Lese-Probe zu „Im Netz des Teufels “
Im Netz des Teufels von Richard MontanariProlog
Im Nordosten Estlands - März 2005
Elena Keskküla wusste, dass sie - überströmt vom Blut der Vorfahren - um Mitternacht kommen würden. Sie wusste es ebenso wie viele andere Dinge, die sie in ihren fünfzehn Lebensjahren vorhergesehen hatte. Als die Ennustaja ihres Dorfes - eine Wahrsagerin und Mystikerin, deren Deutungen sogar bei Gläubigen aus so fernen Städten wie Tallinn und Sankt Petersburg gefragt waren - war sie immer in der Lage gewesen, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Als Siebenjährige sah sie voraus, dass der Kartoffelacker ihrer Familie von Ungeziefer vernichtet wurde. Als Zehnjährige sah sie Jaak Lind, der in seinen geschwärzten Händen ein Bild des heiligen Christophorus hielt, auf einem Feld in Naltschik liegen. Als Zwölfjährige sagte sie die große Flut voraus, die fast ihr ganzes Dorf zerstörte. Sie sah das tote Vieh im Torfmoor versinken und die bunten Sonnenschirme in Schlammbächen treiben. In ihrem kurzen Leben hatte sie die Geduld teuflischer Männer und das Leid mutterloser Kinder gesehen. Sie konnte in die Seelen all ihrer Mitmenschen blicken und erkannte deren Scham, deren Schuld und deren Wünsche. Für Elena Keskküla war die Gegenwart immer Vergangenheit gewesen.
Was sie nicht vorhergesehen und was den schrecklichen Segen ihres zweiten Gesichts in Frage gestellt hatte, das war die entsetzliche Qual, Leben auf die Welt zu bringen, die tiefen Gefühle, mit denen sie diese Kinder liebte, die sie niemals kennenlernen würde, und die Trauer über solch einen Verlust.
Und das Blut.
So viel Blut . . .
Er kam an einem warmen Juliabend vor fast neun Monaten in ihr Bett, in einer Nacht, als der Duft der Gartenraute das Tal erfüllte und die Narwa fast geräuschlos durch ihr Bett floss. Sie hätte sich gerne gewehrt, doch sie wusste, dass
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es vergebens gewesen wäre. Er war ein stattlicher, kräftiger Mann mit großen Händen, einem schlanken, muskulösen Körper und den Tattoos der schändlichen Vennaskond. Der Drogenboss, Wucherer, Erpresser und Dieb bewegte sich wie ein Gespenst durch die Nacht und herrschte in den Städten und Dörfern des Landkreises Ida-Viru mit einer Rücksichtslosigkeit, die sogar während der russischen Besatzung unbekannt gewesen war.
Sein Name war Aleksander Savisaar.
Elena hatte ihn zum ersten Mal gesehen, als sie noch ein Kind war. Er stand dort, wo der graue Wolf immer herumschlich. Damals wusste sie schon, dass er zu ihr kommen und in sie eindringen würde, obwohl sie zu jener Zeit viel zu jung war, um zu verstehen, was das genau bedeutete. Am nächsten Morgen stahl er sich so leise, wie er gekommen war, davon. Elena wusste, dass er seinen Samen in ihr zurückgelassen hatte und dass er eines Tages wieder kommen würde, um zu ernten, was er gesät hatte.
Während der vielen Monate, die folgten, sah Elena seine Augen von früh bis spät, spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht und die grausame Kraft seiner Berührung. In manchen Nächten, wenn sich kein Lüftchen regte, hörte sie die Musik. Die Menschen, die leise über ihn sprachen, sagten, dass Aleksander Savisaar in diesen Nächten immer auf dem Säbel-Hügel saß, der das Dorf überragte, und auf der Flöte spielte, während die baltischen Winde sein langes blondes Haar zerzausten. Es hieß, er würde recht viel von Mussorgski und Tschaikowski verstehen. Elena kannte sich mit diesen Dingen nicht aus. Sie wusste hingegen, dass das Leben in ihr sich oft regte, wenn sein Gesang durchs Tal hallte.
Es war Mitternacht, als die Babys Ende des Winters geboren wurden, zwei wunderschöne Mädchen und eine Totgeburt, alle umhüllt von einem dünnen Schleier - dem wahren Zeichen des zweiten Gesichts.
Elena verlor immer wieder das Bewusstsein. In ihren Fieberträumen sah sie einen Mann mit schlohweißem Haar, der seiner Kleidung, seinem Benehmen und seiner Sprache nach Finne sein musste, am Fuß ihres Bettes stehen. Sie sah, dass ihr Vater mit dem Mann verhandelte und sein Geld nahm. Kurz darauf verschwand der Finne mit den Neugeborenen. Beide Kinder waren zum Schutz gegen die Kälte in ein schwarzes wollenes Tekk gewickelt. Auf dem Boden neben dem Kamin ließ er ein drittes Bündel zurück, einen leblosen Haufen blutiger Fetzen. Elena, deren Mutterinstinkte sich gegen das Unglaubliche wehrten, versuchte, aus dem Bett aufzustehen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Das furchtbare Wissen, dass ihr diese Babys, die Nachkommen des Aleksander Savisaar, weggenommen worden waren, trieb ihr immer wieder die Tränen in die Augen. Verkauft mitten in der Nacht wie Vieh.
Und dann erlebte sie die Hölle auf Erden. Sie spürte seine Anwesenheit, noch ehe sie ihn sah. Er stand im Morgengrauen im Türrahmen. Seine Schultern waren so breit, dass sie die Türpfosten berührten, und er strahlte unbändige Wut aus.
Elena schloss die Augen. Die Zukunft tobte wie ein wütender Fluss in ihrem Inneren. Sie sah die abgeschlagenen Köpfe auf den Torpfosten an der Straße, die zum Bauernhof führte, die verkohlten, zertrümmerten Schädel ihres Vaters und ihres Bruders. Sie sah ihre achtlos aufeinander geworfenen Leichen in der Scheune liegen.
Als der Morgen über den Hügeln im Osten dämmerte, zerrte Aleksander Savisaar Elena aus dem Haus. Das Blut, das zwischen ihren Beinen floss, hinterließ kreuz und quer im Schnee eine zerrissene rote Spur. Er warf sie gegen die stattliche Fichte hinter dem Haus. Es war der Baum, um den Elena und ihr Bruder Andres seit ihrer Kindheit bei jeder Wintersonnenwende Bänder geschlungen hatten. Er küsste sie einmal, und dann zog er das Messer. Die blaue Stahlklinge schimmerte im Morgenlicht. Er roch nach Wodka, Wildbret und neuem Leder.
»Sie gehören mir, Wahrsagerin, und ich werde sie finden«, flüsterte er. »Es spielt keine Rolle, wie lange es dauert.« Er drückte die Spitze der rasiermesserscharfen Klinge an ihre Kehle. »Sie sind meine Tütred, und mit ihnen werde ich unsterblich sein.«
In diesem Augenblick hatte Elena Keskküla eine starke Vision. Sie sah einen anderen Mann, einen guten Mann, der ihre geliebten Töchter wie seine eigenen Kinder aufziehen würde. Es war ein Mann, der im Garten des Todes gestanden und gelebt hatte, ein Mann, der eines Tages auf einem weit entfernten Schlachtfeld dem Teufel persönlich gegenüberstehen würde.
ERSTER TEIL - 1. Kapitel
Eden Falls, New York - Vier Jahre Später
An dem Tag, als Michael Roman fünf Jahre nach dem letzten Tag seines Lebens begriff, dass er ewig leben würde, färbte sich seine ganze Welt rosarot. Genau genommen war es ein helles Rosarot: rosarote Tischdecken, rosarote Stühle, rosarote Blumen, rosarote Kreppgirlanden, sogar ein riesengroßer rosaroter Sonnenschirm, der mit lächelnden rosaroten Häschen geschmückt war. Es gab rosarote Tassen und rosarote Teller, rosarote Gabeln und Servietten und einen großen Teller, auf dem sich Muffins mit rosarotem Zuckerguss türmten.
Das Einzige, was das Haus davor bewahrte, bei den Zuckerhaus- Immobilien gelistet zu werden, war ein kleiner Fleck grünes Gras, das man zwischen den unzähligen Klapptischen aus Aluminium und den Plastikstühlen kaum sehen konnte. Und dieses Gras würde nie wieder so sein wie zuvor. Dann hatte er im Geiste noch etwas anderes Grünes vor Augen. Grüne Geldscheine, die sich verabschiedeten.
Was all das wohl kostete?
Als Michael hinter dem Haus stand, dachte er an den Augenblick, als er es zum ersten Mal gesehen hatte und wie perfekt es ihm erschienen war.
Es war ein Ziegelsteinhaus im Kolonialstil mit drei Schlafzimmern, braunen Fensterläden und farblich passenden Stützpfeilern, das weit von der kurvenreichen Straße entfernt lag. Das Haus stand inmitten großer Platanen einsam auf einem Kleinen Hügel. Eine meterhohe Hecke schirmte es gegen die Straße und die Nachbarn ab. Hinter dem Haus befanden sich eine Garage für zwei Fahrzeuge, ein Schuppen für Gartengeräte und ein großer Garten mit Sichtschutzzaun. Das Grundstück, hinter dem der Wald begann, senkte sich hinab zu einem gewundenen Bach, der in den Hudson River mündete. Nachts war es hier schaurig still. Für Michael, der in der Stadt aufgewachsen war, war es eine große Umstellung gewesen. Anfangs hatte ihm die Abgeschiedenheit zugesetzt. Abby ging es genauso, doch das hätte sie niemals zugegeben. Die nächsten Häuser waren in alle Richtungen vierhundert Meter entfernt. Im Sommer waren die Bäume so dicht belaubt, dass man hätte meinen können, in einem riesigen grünen Kokon zu wohnen. Als im letzten Jahr während eines starken Sturms zweimal der Strom ausfiel, hatte Michael sich wie auf dem Mond gefühlt. Seit diesem Vorfall hatte er große Vorräte an Batterien, Kerzen, Konserven und sogar zwei Ölöfen angeschafft. Wahrscheinlich könnten sie eine Woche im Yukon überleben, wenn es sein müsste.
»Der Clown kommt um ein Uhr.«
Michael drehte sich zu seiner Frau um, die mit einem Teller Plätzchen, die mit rosarotem Zuckerguss überzogen waren, den Hof überquerte. Sie trug eine enge weiße Jeans, ein taubenblaues Roar Lion Roar-T-Shirt der Columbia University und Flipflops aus dem Drogeriemarkt. Irgendwie schaffte sie es immer, wie Grace Kelly auszusehen.
»Kommt dein Bruder auch?«, fragte Michael.
»Sei nett zu ihm.«
Abigail Reed Roman war einunddreißig Jahre alt und vier Jahre jünger als ihr Ehemann. Im Gegensatz zu Michael, der aus einfachen Verhältnissen stammte, war Abby als Tochter eines weltbekannten Herzchirurgen in einem herrschaftlichen Haus in Pound Ridge aufgewachsen. Mitunter hätte man meinen können, Michael, der schnell auf hundertachtzig war, hätte überhaupt gar keine Geduld, doch seine Frau war meistens die Ruhe selbst. Es sei denn, sie wurde in die Enge getrieben. Dann konnte auch sie fuchsteufelswild werden. Das konnte nach fast zehnjähriger Tätigkeit als Krankenschwester in der Notaufnahme des New York Downtown Hospital nicht ausbleiben. Zehn Jahre lang Drogensüchtige, Schwerstverletzte, Todkranke, zerstörte Seelen.
Doch das war in einem anderen Leben.
»Hast du den Kuchen mit Zuckerguss überzogen?«
Scheiße, dachte Michael. Das hatte er ganz vergessen, und Das war gar nicht seine Art. Erwar nicht nur derjenige, der in dieser kleinen Familie meistens das Kochen übernahm, sondern er war auch fürs Backen zuständig. Sein Bienenstike war so lecker, dass sogar starke Männer schwach wurden.
»Mach ich sofort.«
Als Michael zurück zum Haus lief und dabei den rosaroten Luftballons auswich, dachte er über diesen Tag nach. Seitdem sie vor einem Jahr aus der Stadt hierhergezogen waren, hatten sie noch nicht viele Partys gegeben. In Michaels Kindheit schienen sich in der winzigen Wohnung seiner Eltern in Queens ständig Freunde, Nachbarn, Verwandte und Kunden der Familien-Bäckerei aufzuhalten. Eine Symphonie osteuropäischer und baltischer Sprachen hallte über die Feuerleiter auf die Straßen von Astoria. Selbst in den letzten Jahren, seit sein Stern im Büro des Bezirksstaatsanwalts aufgegangen war, hatten er und Abby jedes Jahr höchstens eine Hand voll Cocktailempfänge oder Dinnerpartys für einflussreiche Gäste gegeben.
Doch hier in diesem Vorort sprachen sie immer seltener Einladungen aus, bis fast gar nicht mehr bei ihnen gefeiert wurde. Alles schien sich nur noch um die Mädchen zu drehen. Vielleicht war das nicht der beste Schachzug für seine Karriere, aber Michael war mit seinem Leben rundum zufrieden. An dem Tag, als die Mädchen in sein Leben traten, änderte sich alles.
Als Michael zehn Minuten später in der Küche stand und der Kuchen mit Zuckerguss überzogen und dekoriert war, hörte er, dass sich vier kleine Füße näherten und dann stehen blieben.
»Wie sehen wir aus, Daddy?«
Michael drehte sich um. Als er seine vier Jahre alten Zwillinge, die beide gleich gekleidet waren, dort Hand in Hand in ihren weißen Kleidchen - und natürlich mit rosaroten Bändern im Haar - stehen sah, war er überglücklich. Charlotte und Emily. Die beiden Hälften seines Herzens. Vielleicht würde er ewig leben.
Copyright © 2009 by Richard Montanari
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Sein Name war Aleksander Savisaar.
Elena hatte ihn zum ersten Mal gesehen, als sie noch ein Kind war. Er stand dort, wo der graue Wolf immer herumschlich. Damals wusste sie schon, dass er zu ihr kommen und in sie eindringen würde, obwohl sie zu jener Zeit viel zu jung war, um zu verstehen, was das genau bedeutete. Am nächsten Morgen stahl er sich so leise, wie er gekommen war, davon. Elena wusste, dass er seinen Samen in ihr zurückgelassen hatte und dass er eines Tages wieder kommen würde, um zu ernten, was er gesät hatte.
Während der vielen Monate, die folgten, sah Elena seine Augen von früh bis spät, spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht und die grausame Kraft seiner Berührung. In manchen Nächten, wenn sich kein Lüftchen regte, hörte sie die Musik. Die Menschen, die leise über ihn sprachen, sagten, dass Aleksander Savisaar in diesen Nächten immer auf dem Säbel-Hügel saß, der das Dorf überragte, und auf der Flöte spielte, während die baltischen Winde sein langes blondes Haar zerzausten. Es hieß, er würde recht viel von Mussorgski und Tschaikowski verstehen. Elena kannte sich mit diesen Dingen nicht aus. Sie wusste hingegen, dass das Leben in ihr sich oft regte, wenn sein Gesang durchs Tal hallte.
Es war Mitternacht, als die Babys Ende des Winters geboren wurden, zwei wunderschöne Mädchen und eine Totgeburt, alle umhüllt von einem dünnen Schleier - dem wahren Zeichen des zweiten Gesichts.
Elena verlor immer wieder das Bewusstsein. In ihren Fieberträumen sah sie einen Mann mit schlohweißem Haar, der seiner Kleidung, seinem Benehmen und seiner Sprache nach Finne sein musste, am Fuß ihres Bettes stehen. Sie sah, dass ihr Vater mit dem Mann verhandelte und sein Geld nahm. Kurz darauf verschwand der Finne mit den Neugeborenen. Beide Kinder waren zum Schutz gegen die Kälte in ein schwarzes wollenes Tekk gewickelt. Auf dem Boden neben dem Kamin ließ er ein drittes Bündel zurück, einen leblosen Haufen blutiger Fetzen. Elena, deren Mutterinstinkte sich gegen das Unglaubliche wehrten, versuchte, aus dem Bett aufzustehen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Das furchtbare Wissen, dass ihr diese Babys, die Nachkommen des Aleksander Savisaar, weggenommen worden waren, trieb ihr immer wieder die Tränen in die Augen. Verkauft mitten in der Nacht wie Vieh.
Und dann erlebte sie die Hölle auf Erden. Sie spürte seine Anwesenheit, noch ehe sie ihn sah. Er stand im Morgengrauen im Türrahmen. Seine Schultern waren so breit, dass sie die Türpfosten berührten, und er strahlte unbändige Wut aus.
Elena schloss die Augen. Die Zukunft tobte wie ein wütender Fluss in ihrem Inneren. Sie sah die abgeschlagenen Köpfe auf den Torpfosten an der Straße, die zum Bauernhof führte, die verkohlten, zertrümmerten Schädel ihres Vaters und ihres Bruders. Sie sah ihre achtlos aufeinander geworfenen Leichen in der Scheune liegen.
Als der Morgen über den Hügeln im Osten dämmerte, zerrte Aleksander Savisaar Elena aus dem Haus. Das Blut, das zwischen ihren Beinen floss, hinterließ kreuz und quer im Schnee eine zerrissene rote Spur. Er warf sie gegen die stattliche Fichte hinter dem Haus. Es war der Baum, um den Elena und ihr Bruder Andres seit ihrer Kindheit bei jeder Wintersonnenwende Bänder geschlungen hatten. Er küsste sie einmal, und dann zog er das Messer. Die blaue Stahlklinge schimmerte im Morgenlicht. Er roch nach Wodka, Wildbret und neuem Leder.
»Sie gehören mir, Wahrsagerin, und ich werde sie finden«, flüsterte er. »Es spielt keine Rolle, wie lange es dauert.« Er drückte die Spitze der rasiermesserscharfen Klinge an ihre Kehle. »Sie sind meine Tütred, und mit ihnen werde ich unsterblich sein.«
In diesem Augenblick hatte Elena Keskküla eine starke Vision. Sie sah einen anderen Mann, einen guten Mann, der ihre geliebten Töchter wie seine eigenen Kinder aufziehen würde. Es war ein Mann, der im Garten des Todes gestanden und gelebt hatte, ein Mann, der eines Tages auf einem weit entfernten Schlachtfeld dem Teufel persönlich gegenüberstehen würde.
ERSTER TEIL - 1. Kapitel
Eden Falls, New York - Vier Jahre Später
An dem Tag, als Michael Roman fünf Jahre nach dem letzten Tag seines Lebens begriff, dass er ewig leben würde, färbte sich seine ganze Welt rosarot. Genau genommen war es ein helles Rosarot: rosarote Tischdecken, rosarote Stühle, rosarote Blumen, rosarote Kreppgirlanden, sogar ein riesengroßer rosaroter Sonnenschirm, der mit lächelnden rosaroten Häschen geschmückt war. Es gab rosarote Tassen und rosarote Teller, rosarote Gabeln und Servietten und einen großen Teller, auf dem sich Muffins mit rosarotem Zuckerguss türmten.
Das Einzige, was das Haus davor bewahrte, bei den Zuckerhaus- Immobilien gelistet zu werden, war ein kleiner Fleck grünes Gras, das man zwischen den unzähligen Klapptischen aus Aluminium und den Plastikstühlen kaum sehen konnte. Und dieses Gras würde nie wieder so sein wie zuvor. Dann hatte er im Geiste noch etwas anderes Grünes vor Augen. Grüne Geldscheine, die sich verabschiedeten.
Was all das wohl kostete?
Als Michael hinter dem Haus stand, dachte er an den Augenblick, als er es zum ersten Mal gesehen hatte und wie perfekt es ihm erschienen war.
Es war ein Ziegelsteinhaus im Kolonialstil mit drei Schlafzimmern, braunen Fensterläden und farblich passenden Stützpfeilern, das weit von der kurvenreichen Straße entfernt lag. Das Haus stand inmitten großer Platanen einsam auf einem Kleinen Hügel. Eine meterhohe Hecke schirmte es gegen die Straße und die Nachbarn ab. Hinter dem Haus befanden sich eine Garage für zwei Fahrzeuge, ein Schuppen für Gartengeräte und ein großer Garten mit Sichtschutzzaun. Das Grundstück, hinter dem der Wald begann, senkte sich hinab zu einem gewundenen Bach, der in den Hudson River mündete. Nachts war es hier schaurig still. Für Michael, der in der Stadt aufgewachsen war, war es eine große Umstellung gewesen. Anfangs hatte ihm die Abgeschiedenheit zugesetzt. Abby ging es genauso, doch das hätte sie niemals zugegeben. Die nächsten Häuser waren in alle Richtungen vierhundert Meter entfernt. Im Sommer waren die Bäume so dicht belaubt, dass man hätte meinen können, in einem riesigen grünen Kokon zu wohnen. Als im letzten Jahr während eines starken Sturms zweimal der Strom ausfiel, hatte Michael sich wie auf dem Mond gefühlt. Seit diesem Vorfall hatte er große Vorräte an Batterien, Kerzen, Konserven und sogar zwei Ölöfen angeschafft. Wahrscheinlich könnten sie eine Woche im Yukon überleben, wenn es sein müsste.
»Der Clown kommt um ein Uhr.«
Michael drehte sich zu seiner Frau um, die mit einem Teller Plätzchen, die mit rosarotem Zuckerguss überzogen waren, den Hof überquerte. Sie trug eine enge weiße Jeans, ein taubenblaues Roar Lion Roar-T-Shirt der Columbia University und Flipflops aus dem Drogeriemarkt. Irgendwie schaffte sie es immer, wie Grace Kelly auszusehen.
»Kommt dein Bruder auch?«, fragte Michael.
»Sei nett zu ihm.«
Abigail Reed Roman war einunddreißig Jahre alt und vier Jahre jünger als ihr Ehemann. Im Gegensatz zu Michael, der aus einfachen Verhältnissen stammte, war Abby als Tochter eines weltbekannten Herzchirurgen in einem herrschaftlichen Haus in Pound Ridge aufgewachsen. Mitunter hätte man meinen können, Michael, der schnell auf hundertachtzig war, hätte überhaupt gar keine Geduld, doch seine Frau war meistens die Ruhe selbst. Es sei denn, sie wurde in die Enge getrieben. Dann konnte auch sie fuchsteufelswild werden. Das konnte nach fast zehnjähriger Tätigkeit als Krankenschwester in der Notaufnahme des New York Downtown Hospital nicht ausbleiben. Zehn Jahre lang Drogensüchtige, Schwerstverletzte, Todkranke, zerstörte Seelen.
Doch das war in einem anderen Leben.
»Hast du den Kuchen mit Zuckerguss überzogen?«
Scheiße, dachte Michael. Das hatte er ganz vergessen, und Das war gar nicht seine Art. Erwar nicht nur derjenige, der in dieser kleinen Familie meistens das Kochen übernahm, sondern er war auch fürs Backen zuständig. Sein Bienenstike war so lecker, dass sogar starke Männer schwach wurden.
»Mach ich sofort.«
Als Michael zurück zum Haus lief und dabei den rosaroten Luftballons auswich, dachte er über diesen Tag nach. Seitdem sie vor einem Jahr aus der Stadt hierhergezogen waren, hatten sie noch nicht viele Partys gegeben. In Michaels Kindheit schienen sich in der winzigen Wohnung seiner Eltern in Queens ständig Freunde, Nachbarn, Verwandte und Kunden der Familien-Bäckerei aufzuhalten. Eine Symphonie osteuropäischer und baltischer Sprachen hallte über die Feuerleiter auf die Straßen von Astoria. Selbst in den letzten Jahren, seit sein Stern im Büro des Bezirksstaatsanwalts aufgegangen war, hatten er und Abby jedes Jahr höchstens eine Hand voll Cocktailempfänge oder Dinnerpartys für einflussreiche Gäste gegeben.
Doch hier in diesem Vorort sprachen sie immer seltener Einladungen aus, bis fast gar nicht mehr bei ihnen gefeiert wurde. Alles schien sich nur noch um die Mädchen zu drehen. Vielleicht war das nicht der beste Schachzug für seine Karriere, aber Michael war mit seinem Leben rundum zufrieden. An dem Tag, als die Mädchen in sein Leben traten, änderte sich alles.
Als Michael zehn Minuten später in der Küche stand und der Kuchen mit Zuckerguss überzogen und dekoriert war, hörte er, dass sich vier kleine Füße näherten und dann stehen blieben.
»Wie sehen wir aus, Daddy?«
Michael drehte sich um. Als er seine vier Jahre alten Zwillinge, die beide gleich gekleidet waren, dort Hand in Hand in ihren weißen Kleidchen - und natürlich mit rosaroten Bändern im Haar - stehen sah, war er überglücklich. Charlotte und Emily. Die beiden Hälften seines Herzens. Vielleicht würde er ewig leben.
Copyright © 2009 by Richard Montanari
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Richard Montanari
Richard Montanari was born in Cleveland, Ohio, to a traditional Italian-American family. After university, he travelled Europe extensively and lived in London, selling clothing in Chelsea and foreign language encyclopedias door-to-door in Hampstead Heath. Returning to the US, he started working as a freelance writer for the Chicago Tribune, the Detroit Free Press, the Seattle Times, and many others. He wrote his first book, Deviant Way, in 1996 and it won the OLMA for Best First Mystery. His novels have now been published in more than twenty-five languages.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Montanari
- 2011, 462 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Meddekis, Karin
- Übersetzer: Karin Meddekis
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404165977
- ISBN-13: 9783404165971
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