Immer ist gerade jetzt
Roman. Erstmals Im Taschenbuch
Das mysteriöse Verschwinden ihres Vaters fesselt die 18-jährige Josy so sehr an ihre Mutter Freda, dass sie kein eigenes Leben wagt. Als sie endlich Mut fasst und allein nach Mexiko geht, gerät sie in höchste Gefahr.
''Amelie Fried...
''Amelie Fried...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Immer ist gerade jetzt “
Das mysteriöse Verschwinden ihres Vaters fesselt die 18-jährige Josy so sehr an ihre Mutter Freda, dass sie kein eigenes Leben wagt. Als sie endlich Mut fasst und allein nach Mexiko geht, gerät sie in höchste Gefahr.
''Amelie Fried erzählt einfach großartig.''
BAMS
''Amelie Fried erzählt einfach großartig.''
BAMS
Klappentext zu „Immer ist gerade jetzt “
Eine mitreißende und bewegende Geschichte über die schwierige Liebe zwischen Mutter und TochterVor zwei Jahren ist Fredas Mann von einem Ausflug in die Berge nicht zurückgekehrt. Seither bleibt ihr nichts, als auf ein Wunder zu hoffen. Umso inniger wird die Beziehung zu ihrer einzigen Tochter Josy. Als die beschließt, für ein Jahr nach Mexiko zu gehen und bei einem Kinderhilfsprojekt zu arbeiten, ist das ein Schock für Freda. Andererseits begreift sie, dass sie dem Mädchen die Chance geben muss, eine erwachsene Frau zu werden. Gerade als Freda begonnen hat, sich in ihrem neuen Leben einzurichten, erreicht sie eine katastrophale Nachricht: Josy ist spurlos verschwunden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn ihr Kind schwebt in Lebensgefahr.
Eine mitreißende und bewegende Geschichte über die schwierige Liebe zwischen Mutter und TochterManchmal ist die Liebe so stark, dass sie zum Gefängnis wird. So wie bei Freda und ihrer achtzehnjährigen Tochter Josy. Das mysteriöse Verschwinden ihres Vaters fesselt Josy so sehr an die Mutter, dass sie kein eigenes Leben wagt. Als sie endlich Mut fasst und allein in ein fremdes Land geht, gerät sie in den Sog einer großen Liebe - und in höchste Gefahr.
Lese-Probe zu „Immer ist gerade jetzt “
Immer ist gerade jetzt von Amelie Fried Jeder Mensch hat ein Recht auf Nahrung, Kleidung,
Wohnung und ärztliche Versorgung, außerdem
ein Recht auf Bildung und Freiheit - so steht es in der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Für Millionen Kinder auf der Welt sieht
die Wirklichkeit anders aus:
Sie wachsen unter menschenunwürdigen
Bedingungen auf, die wir nicht hinnehmen dürfen.
Diesen Kindern widme ich mein Buch.
Sie versuchte zu erkennen, wo sie lag, aber es war dunkel.
Sie konnte nicht sehen, wie groß der Raum war, in dem sie
sich befand. Sie konnte nicht sehen, ob sie allein war oder
ob im Dunkeln jemand lauerte. Diese Dunkelheit war das
Schlimmste. Panik kroch in ihr hoch.
Dann drang ein wenig Mondlicht durch schmale Ritzen
in den Wänden, die offenbar nur aus Brettern bestanden.
Die Umrisse eines Karrens und irgendwelcher Maschinen
zeichneten sich ab, vermutlich landwirtschaftliche Geräte.
Ein Auto näherte sich. Der Motor wurde ausgeschaltet, Autotüren
schlugen zu, Schritte näherten sich dem Schuppen.
Stimmengemurmel. Sie begann zu zittern.
Noch bevor Freda ganz wach war, fiel ihr ein, welcher Tag
heute war. Mit geschlossenen Augen blieb sie liegen und
versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihr
Kind nun erwachsen war.
Vor achtzehn Jahren: Der Arzt zeigt ihr das Neugeborene,
das von einer cremigen Schicht bedeckt ist und den unwiderstehlichen
Wunsch in ihr auslöst, es sauberzulecken. Auch
später, als ihr das Baby gewaschen und angezogen in die Arme
gelegt wird, kann sie kaum dem Drang widerstehen, ihm mit
der Zunge übers Gesicht zu fahren wie eine Katzenmutter.
... mehr
Den ganzen ersten Tag über sieht sie es an und versucht,
etwas Vertrautes an ihm zu entdecken. Nichts. Dieses Kind
ist kein Teil von ihr, wie sie es sich vorgestellt hat. Es ist ein
völlig eigenständiges Wesen, und es ist ihr fremd. Sie würden
sich erst kennenlernen müssen, begreift Freda und ist
überrascht.
Am nächsten Tag hört sie die Stimme ihrer Tochter aus
einem Konzert von zwanzig Babystimmen auf der Säuglingsstation
heraus. Und am übernächsten Tag blickt sie
in das Gesicht der Kleinen, das sich im Schlaf unwillig verzieht,
und bricht in Tränen aus bei dem Gedanken, dass dieses
hilflose Baby eines Tages erwachsen sein und sie nicht
mehr brauchen wird.
Als Josy größer wurde, entdeckte Freda, wie viel Spaß
man mit einem Kind haben kann. Sie lag mit Josy auf dem
Boden und untersuchte Staubflocken, stapelte Klötzchen
zu Türmen und zeichnete Prinzessinnen, deren Kleider das
Kind bunt ausmalte. Kein Spiel war Freda zu monoton,
keine Unternehmung zu anstrengend. Sie organisierte Schnitzeljagden
oder Mondscheinwanderungen im nahe gelegenen
Park und sammelte einen Koffer voller Kleider und
Kostüme zum Verkleiden bei schlechtem Wetter. Oft zog
der Duft von frisch gebackenen Muffins oder Waffeln durch
die Wohnung; sie konnte zwar nicht besonders gut kochen,
buk aber gern. Die Nachbarskinder kamen in Scharen und
waren willkommen, denn Freda fand es wichtig, dass ihr
Einzelkind viele Spielkameraden hatte. Sie hatte es geliebt,
Kinder um sich zu haben und selbst ein bisschen Kind sein
zu dürfen.
Sie setzte sich im Bett auf und rieb sich das Gesicht. Ein
Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie gerade mal fünf Stunden
geschlafen hatte. Sie zog die hellblauen Silikonstöpsel
aus den Ohren, die sie verwendete, wenn es spät geworden
war und sie sicher sein wollte, dass kein Geräusch sie wieder
aus dem Schlaf riss, in den sie mühsam gefunden hatte.
Dann griff sie nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. In
einem von Josy bemalten Holzrahmen daneben stand ein
Foto von Alex. Unwillkürlich tastete ihre Hand auf die andere
Bettseite. Als sie die Kühle des unberührten Lakens
spürte, zog sie die Hand schnell zurück.
Sie seufzte und schwang ihre Beine aus dem Bett. Ein
Pochen in ihrer rechten Schläfe erinnerte sie an die vergangene
Nacht. Ein bis zwei Gläser weniger hätten es auch
getan, dachte sie. Aber schließlich feiert man nur einmal
den achtzehnten Geburtstag seiner einzigen Tochter mit
einer großen Party.
Punkt zwölf war Josy zu ihr gekommen, hatte sie umarmt
und ihr ins Ohr geflüstert: »Glückwunsch, Mama, du
hast es geschafft! Ich danke dir für alles.«
»Ach, meine Süße«, hatte Freda geantwortet und ein
paar Tränen der Rührung verschluckt.
Dann hatte ihre Tochter den Kopf schief gelegt und mit
ernstem Gesichtsausdruck gesagt: »Zwischen uns ändert
sich nichts, okay?«
»Nein, nichts«, hatte Freda gesagt.
Aber gedacht hatte sie: Es hat sich doch schon so vieles
geändert. Und beschützen kann ich dich jetzt auch nicht
mehr.
Als hätte sie es bisher gekonnt. Als könnte man ein Kind
überhaupt beschützen. Sie hatte immer alles getan, um Josy
vor Schlimmem zu bewahren, vielleicht hatte sie es manchmal
übertrieben. Besonders, seit Alex weg war. Hatte nicht
jeder Mensch sein individuelles Schicksal? Sein Lebensdrehbuch,
an dem man ein paar Verbesserungen anbringen,
dessen Handlung aber niemand wesentlich verändern
könnte? Wenn man Glück hatte, drehte man an angenehmen
Orten, in schicken Kostümen und mit netten Kollegen.
Aber wie der Film sich entwickelte, welche Wendungen und
Höhepunkte er enthielt, war die Entscheidung eines unbekannten
Regisseurs, der sich von niemandem hereinreden
ließ.
Freda stopfte ihr Kissen im Rücken zurecht und zog die
Knie an die Brust. Eine frühe Erinnerung kam ihr in den
Sinn. Josy musste ungefähr zehn Monate alt gewesen sein,
sie übte das Sichhochziehen und Stehen und entwickelte
Interesse an anderen Kindern. Freda begann, regelmäßig
mit ihr auf den Spielplatz zu gehen. Eines Tages beobachtete
sie einen kleinen Jungen, der den Sitz einer Holzschaukel
festhielt und genau in dem Moment losließ, als Josy sich
gerade aufgerichtet hatte. Das Holzbrett raste auf ihren
Hinterkopf zu, Freda sprang auf, die Schaukel prallte mit
einem dumpfen Geräusch gegen den Kleinkindschädel,
Josy fiel um. Sie schrie nicht. Sie machte nur ein kleines Geräusch,
wie eine Art Japsen oder Aufstoßen, dann rührte
sie sich nicht mehr. Fredas Herz blieb stehen. Sie riss Josy
in ihre Arme, der kleine Körper fühlte sich schlaff an. Vor
Fredas Augen schien ein schwarzer Vorhang herabzufallen.
Da zuckte der Körper in ihren Armen, und Josy begann zu
schreien.
Im nächsten Moment schrie auch Freda los. Sie schrie
den verängstigten Jungen an, schrie sich die Panik aus dem
Leib, bis die andere Mutter dazwischenging und Freda wieder
zu Bewusstsein kam. Es war ihr peinlich, und sie entschuldigte
sich. Der kleine Blödmann hatte es ja wohl nicht
mit Absicht getan, und wenn doch, dann hatte er die möglichen
Folgen seines Tuns nicht abschätzen können.
Im Krankenhaus wurden eine Prellung und eine Gehirnerschütterung
diagnostiziert. Und mit derselben Heftigkeit,
mit der Josy von dem Holzbrett getroffen worden war, traf
Freda die Erkenntnis, dass sie nie mehr aufhören würde,
sich um ihr Kind zu sorgen. Ja, dass die ständige Angst, es
könnte ihm etwas zustoßen, der Preis für das Glück war, das
sie durch ihr Kind empfand.
Alex war ganz anders, er hatte nie Angst. Er warf das Baby
in die Luft, schnallte es auf seinen Rücken, wenn er steile
Skiabfahrten runterraste, unternahm später riskante Berg
touren mit seiner Tochter, immer nach dem Motto: »Was
sie nicht umbringt, macht sie hart.« Freda nannte es Leichtsinn,
er nannte es Gottvertrauen. »Das Leben ist nun mal
lebensgefährlich«, erklärte er, »deshalb kannst du dich doch
nicht zu Hause einsperren.«
Über die Jahre hatte sich zu Fredas Erleichterung gezeigt,
dass viele scheinbar gefährliche Situationen in Wirklichkeit
harmlos waren. Sie machte die Erfahrung, dass Kinder erstaunlich
viel aushalten und meistens mehr können, als
ihre Mütter ihnen zutrauen. Der beste Beweis dafür war
schließlich, dass ihre Tochter ohne sichtbare Schäden zu
einer jungen Frau herangewachsen war. Eine große Dankbarkeit
erfüllte Freda plötzlich. Sie nahm das Foto von Alex
in die Hand und betrachtete es.
»Du kannst stolz auf deine Kleine sein«, sagte sie leise.
»Und auf mich auch.«
Beim Zähneputzen betrachtete Freda sich im Spiegel. Geschwollene
Augen, müder Teint. Sonst war der Anblick nicht
so übel, immerhin war sie schon dreiundvierzig. Nicht mehr
jung. Noch nicht alt. Irgendwas dazwischen. Irgendwas, von
dem sie hoffte, dass es ein »Noch nicht« wäre, und kein
»Nicht mehr«.
Sie stellte die elektrische Zahnbürste in die Halterung
zurück und zog ihren gemütlichen Hausanzug an, den Josy
als »Strampelanzug« bezeichnet hatte. Egal, heute Vormittag
würde niemand außer ihrer Tochter ihn zu Gesicht bekommen.
Ihre Gedanken wanderten wieder zurück in die Vergangenheit.
Plötzlich blieb sie stehen und suchte angestrengt
in ihrer Erinnerung, ging in ihr Zimmer, öffnete nacheinan-
der alle Schubladen einer Kommode, durchwühlte den Inhalt
und zog schließlich eine mit bunten Mandalas bedruckte
Mappe hervor.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, schob die Computertastatur
zur Seite und schlug die Mappe auf, in der
sich einige zusammengeheftete Blätter befanden. »Horoskop
« stand in schnörkeliger Handschrift auf der ersten
Seite, darunter Josys vollständiger Name und ihr Geburtsdatum.
Es war das Geschenk von Marie gewesen, einer Kollegin
aus der Buchhandlung, in der sie damals gearbeitet hatte.
Marie hatte sich außer als Handauflegerin, Hellseherin
und Mandala-Deuterin auch als Hobby-Astrologin betätigt.
Freda hatte diese Neigungen insgeheim belächelt, ihre
Zweifel aber für sich behalten, weil sie ihre Kollegin mochte
und nicht kränken wollte. Und so ganz genau konnte man
ja nie wissen, ob nicht doch etwas dran war an dem Eso-
Kram.
»Damit du weißt, was auf euch zukommt«, hatte Marie
gesagt, als sie Freda drei Wochen nach Josys Geburt die
Mappe überreichte und sphinxhaft dazu lächelte. Vielleicht
war es dieser Satz gewesen, der Freda all die Jahre davon abgehalten
hatte, das Horoskop zu lesen. Wer wollte schon so
genau wissen, was auf ihn zukam?
Heute, achtzehn Jahre danach, könnte sie ja überprüfen,
ob Marie mit ihren Prognosen Recht behalten hatte. Neugierig
blätterte sie die zweite Seite auf. Sie zeigte die Zeichnung
der Sternenkonstellation zum Zeitpunkt von Josys
Geburt, ein Gewirr von Punkten und Linien, aus dem sie
nicht schlau wurde. Darunter stand: »Zwilling mit Aszendent
Widder, Mond im Wassermann.«
Es folgte eine Deutung der Zwillings-Persönlichkeit: »Zwillinge
sind immer in Bewegung, sie lieben den Trubel und
hassen Langeweile und Routine. Sie wirbeln durchs Leben
und sind überall zu finden, wo etwas los ist. Durch ihre
gewinnende und spritzige Art finden sie schnell Freunde,
obwohl sie nicht gerade durch Zuverlässigkeit glänzen. Sie
vergessen schon mal eine Verabredung oder eine Zusage,
aufgrund ihres Charmes kann man ihnen aber nicht lange
böse sein. Der ständige Wunsch nach Veränderung lässt sie
gern Berufe wie Journalist oder Reiseleiter ergreifen. Aufgrund
ihres Sprachtalentes sind sie auch gute Lehrer oder
Sprachwissenschaftler. Zwillings-Frauen sind flatterhaft
und kapriziös, sie wechseln ständig ihre Vorlieben und Interessen
- und ihre Männer. Das Zwillings-Kind ist fröhlich
und aufgeweckt; neugierig erkundet es die Welt. Zu anderen
Kindern findet es leicht Kontakt und ist ein beliebter
Spielkamerad. Seine Begeisterungsfähigkeit führt allerdings
dazu, dass es sich leicht verzettelt, es fängt vieles an und
führt wenig zu Ende.«
Verblüfft ließ Freda die Hand mit dem Blatt sinken. Diese
Beschreibung traf so genau zu, als habe jemand Josy charakterisiert,
der sie gut kannte. Sie griff nach der Seite, auf
der die Kombination des Sternzeichens mit dem Aszendenten
gedeutet wurde. »Feuer und Luft passen hier gut zusammen.
Das geschickte Denken des Zwillings paart sich
mit der Tatkraft des Widders und führt zu schnellen Entschlüssen
und starkem Durchsetzungsvermögen. Manchmal
aber werden die eigenen Kräfte überschätzt, dadurch
entsteht eine gewisse Neigung zur Selbstgefährdung.«
Wie damals, als ihre Tochter noch nicht schwimmen
konnte, es aber liebte, vom Beckenrand aus ins tiefe Wasser
zu springen. Kaum war sie aufgetaucht, fing Freda sie ein
und brachte sie wieder zum Ausstieg. Einmal hatte Josy in
ihrem Eifer übersehen, dass Freda nicht im Wasser war, sondern
am Beckenrand stand und mit jemandem sprach. Irgendein
Instinkt hatte Freda plötzlich dazu gebracht, sich
umzudrehen. Als sie Josys roten Badeanzug verschwommen
am Grund sah, hechtete sie ins Becken und zog ihr
Kind heraus, das bereits das Bewusstsein verloren hatte.
Noch heute bekam sie Gänsehaut, wenn sie an die endlosen
Sekunden dachte, die vergingen, bis Josy einen Schwall Wasser
von sich gab und wieder zu atmen begann.
In der Küche kochte Freda Tee. Sie trug die Tasse ins Wohnzimmer,
wo sie Josys Geschenke versteckt hatte, zog die
Päckchen unter dem Sofa hervor und drapierte sie auf
einem kleinen Tisch. Vom Balkon holte sie einen Strauß
mit achtzehn sündhaft teuren, aprikosenfarbenen Rosen,
die dort die Nacht verbracht hatten. In der Speisekammer
stand die Geburtstagstorte, die sie tags zuvor heimlich gebacken
hatte. Sie dekorierte sie mit achtzehn Kerzen und
einem Lebenslicht und stellte sie zu den Geschenken. Zufrieden
trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Arrangement.
Es sah wunderschön aus, Josy würde begeistert
sein! Sobald sie Geräusche aus ihrem Zimmer hörte, würde
sie die Kerzen anzünden. Im CD-Player lag eine Techno-Version
von »Happy birthday« bereit. Sie lauschte auf den Flur
hinaus, hörte aber nichts. Wahrscheinlich würde Josy heute
etwas länger schlafen, es musste sehr spät geworden sein.
Freda ging zurück in die Küche und schenkte sich Tee
nach. Während sie trank, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass
etwas nicht stimmte. Es war ganz still. Nur das Tropfen des
Wasserhahns war zu hören. Nachdem sie das Tropfen abgestellt
hatte, blieb sie stehen und versuchte, den Grund für
ihre Unruhe zu finden. Sie ging auf den Flur hinaus - und
dann begriff sie: Unter Josys Zimmertür schien Licht durch.
Das hieß, die Jalousie war oben. Das hieß, Josy schlief nicht
in diesem Zimmer. Das hieß, sie war nicht nach Hause gekommen.
Fredas Magen verkrampfte sich. Sofort produzierte ihr
Kopf eines der vielen Katastrophenszenarien, die sie seit
dem Verschwinden von Alex regelmäßig heimsuchten. Josy
war auf dem Heimweg überfallen, vergewaltigt, ermordet
worden. Oder sie war vor ein Auto gelaufen, hatte wie
immer keinen Ausweis bei sich und lag nun bewusstlos
in irgendeinem Krankenhaus. Oder ... Hör auf, befahl Freda
sich selbst, das bringt doch nichts. Wie oft hast du dich
schon mit solchen Fantasien verrückt gemacht, immer
grundlos. Bestimmt übernachtet sie bei einer Freundin.
Wahrscheinlich hat sie sogar eine SMS geschickt. Josy
wusste, dass ihre Mutter schnell nervös wurde, wenn sie
nicht war, wo sie sein sollte, und meldete sich deshalb zuverlässig.
Keine Nachricht. Wahrscheinlich war wieder der Akku
von Josys Handy leer gewesen. Oder die Prepaid-Karte abtelefoniert.
Es war erstaunlich, dass Akkus und Prepaid-Karten
immer gerade dann leer waren, wenn man das Handy
dringend benötigte.
Freda wählte Josys Nummer. Mailbox. Sie versuchte es
bei Naomi, bei Lara. Ebenfalls Mailbox. Sie hinterließ überall
Nachrichten, sprach mit betont fröhlicher Stimme, um
sich nicht anmerken zu lassen, dass sie besorgt war. Sie
mochte sich selbst nicht in der Rolle der Panik-Mom, wie
Josys Freundinnen sie hinter ihrem Rücken nannten. Es war
Josy mal rausgerutscht, und zuerst war Freda wütend geworden;
insgeheim hatte sie sich aber eingestehen müssen,
dass die Bezeichnung durchaus zutreffend war. Andere
Mütter waren viel lässiger, machten sich viel weniger Gedanken
darüber, was alles passieren könnte. Josy hielt ihr
oft vor, sie fühle sich kontrolliert und eingeengt. Trotzdem
konnte Freda sich nicht anders verhalten, es war wie ein
Zwang.
Endlich, eine weitere halbe Stunde später, klingelte das
Telefon. Naomi, total verschlafen.
»Keine Ahnung, wo Josy ist«, nuschelte sie kaum vernehmbar.
»Ich bin so gegen drei gegangen, da hat sie noch
getanzt.«
»Kein Problem«, sagte Freda munter. »Falls sie sich meldet,
sag ihr einfach, sie soll mich anrufen.«
»Geht klar.« Und nach einer Pause: »Und danke für gestern,
war 'ne super Party!«
Freda lachte. »Freut mich, wenn's dir gefallen hat!«
Die Party hatte Fredas Budget für den Jahresurlaub aufgefressen.
Zum Glück besaß der Vater von Josys Schulfreund
Zino eine Brauerei und hatte die Getränke spendiert, aber
mit der Saalmiete, dem Essen und dem Discjockey war
doch einiges zusammengekommen. Es war ihr egal, Urlaub
konnte sie noch oft machen.
Nachdem sie die Spülmaschine ausgeräumt, die Küche
gefegt, ihre E-Mails gecheckt und eine weitere Kanne Tee
gekocht hatte, konnte sie ihre Unruhe nicht mehr bezähmen
und wählte ein zweites, dann ein drittes Mal Josys
Handynummer. Immer Mailbox. Inzwischen war es elf. Wo,
zum Teufel, steckte ihre Tochter?
Josy erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Kopf fühlte
sich an, als wäre sie gegen eine Eisentür gelaufen. Stöhnend
versuchte sie, sich auf die andere Seite zu drehen. Verdammt,
wie das dröhnte! Das konnten doch nicht die paar
Cola-Rum und Wodka-Orange gewesen sein, die sie gestern
getrunken hatte? Mühsam öffnete sie die Augen einen
Spalt. Sie blickte auf eine gelblich gestrichene Betondecke
mit einer Neonröhre. Ihr Blick wanderte abwärts über die
verschmutzten Wände, von denen die Farbe abblätterte, und
blieb an einer massiven Gittertür aus Eisen hängen. Mit
einem Ruck setzte sie sich auf und hielt sich den schmerzenden
Kopf.
In diesem Augenblick kehrte ihre Erinnerung zurück. Das
hier sah nicht nur aus wie eine Gefängniszelle, es war eine.
Gegen vier hatte Josy sich mit den letzten Partygästen
ein Taxi genommen, um nach Hause zu fahren. Kaum saß
sie im Wagen, wurde ihr schlecht. Eine Weile gelang es ihr,
sich zu beherrschen, dann wurde die Übelkeit so stark, dass
sie aussteigen musste. Sie verabschiedete sich hastig von
ihren Freunden, und als das Taxi außer Sichtweite war, erbrach
sie sich hinter einem Müllcontainer. Obwohl sie kaum
stehen konnte, beschloss sie, zu Fuß weiterzugehen, vielleicht
würden frische Luft und Bewegung helfen. Die Straßen
waren leer, die Stadt schien wie ausgestorben. Josy
schlug im Vorübergehen mit der Faust auf die Kühlerhauben
und Dächer geparkter Autos; das dumpfe Dröhnen
gab ihren schwankenden Schritten einen Rhythmus. Eins ...
bumm ... zwei ... bumm ... Sie bemerkte nicht, dass ein Streifenwagen
hinter ihr her fuhr. Erst als er sie überholte und
vor ihr zum Stehen kam, hielt sie inne und lehnte sich an
ein Auto.
»Na, junge Dame, wohin des Wegs?«, fragte der junge
Polizeibeamte, der auf der Beifahrerseite ausgestiegen
war.
»Nach Hause«, sagte sie mit schwerer Zunge. Sah eigentlich
ganz nett aus, der Typ. Wenn er nur nicht diese kackgrüne
Uniform anhätte. Sie überlegte, ob sie ihm das sagen
sollte, aber es schien ihr zu anstrengend, die Worte zu formen.
»Und, haben wir was getankt?«
»Ich weiß nich, wie's bei Ihnen is«, erwiderte sie schleppend,
»ich habn bisschen was getrunken. Deshalb gehe ich
auch zu Fuß.«
»Sehr vernünftig«, sagte der nette Bulle. »Hätten Sie denn
mal Ihren Ausweis, bitte?«
»Meinn ... Ausweis?«
»Genau.«
Josy wühlte der Form halber in dem Stoffbeutel, der ihr
als Handtasche diente. Sie hatte nie einen Ausweis bei sich.
Die Gefahr, dass sie ihn verlieren könnte, war zu groß. Sie
verlor ständig irgendwas, deshalb nahm sie immer so wenig
wie möglich mit.
»Tut mit leid. Vergessen.«
»Wie alt sind wir denn?«
»Ich weiß nich, wie alt Sie sind ...«, fing Josy wieder an,
aber plötzlich verstand der Typ keinen Spaß mehr. Vielleicht
hatte er selbst gemerkt, wie blöde es war, in diesem
Krankenschwestern-Ton zu sprechen.
»Wie alt Sie sind, will ich wissen!«, blaffte er sie an.
»Achtzehn.«
»Achtzehn«, wiederholte er spöttisch. »Und das soll ich
Ihnen glauben?«
»Ich hab heute Geburtstag.«
»Na, so ein Zufall! Dann fahren wir jetzt zusammen auf
die Wache und stoßen an.«
»Danke, sehr freundlich«, artikulierte Josy mit Mühe,
»aber ich bin siemlich müde.«
Sie kniff die Augen zusammen. Der Typ schien irgendwie
zu verschwimmen, mal kam er näher, dann waberte
er wieder davon. Ihr war schwindelig, sie wollte
sich an einem Auto abstützen, griff daneben und fiel gegen
den Seitenspiegel, der knirschend aus seiner Halterung
brach.
»Oje, oje«, lallte sie, »tut mir leid.«
»Sachbeschädigung«, konstatierte der Polizist und notierte
das Nummernschild.
Josy wollte sich gerade in Bewegung setzen, da packte er
sie am Arm.
»Lassen Sie mich!«, rief Josy und wollte sich losreißen.
Der Polizist hielt sie eisern fest und sagte: »Schluss jetzt.
Sie können sich nicht ausweisen, sind vermutlich minderjährig
und randalieren schwer alkoholisiert herum. Sie kommen
jetzt bitte mit.«
»Schwer alko... alkollisiert«, wiederholte sie verächtlich,
»so ein Quatsch!«
Im nächsten Moment fand Josy sich auf dem Rücksitz
des Polizeiwagens wieder. Die Fahrt zur Wache verlief
schweigend. Sie landeten in einem ungemütlichen Büro
mit abgeschabter Einrichtung und scheußlich greller Beleuchtung.
»Personenfeststellung«, sagte der Polizist, der sie hergebracht
hatte, und überließ sie seinem Kollegen. Josy diktierte
ihm Namen, Adresse und Telefonnummer. Der Be-
amte, ein gutmütig wirkender, etwas älterer Mann mit
einem Schnauzbart, tippte alles in den Computer. Dann
griff er nach dem Telefon. »So, dann wollen wir mal deine
Eltern informieren.«
»Bitte nicht ... meine Mutter wecken!«, protestierte Josy
vergeblich.
Er ließ es lange klingeln, aber niemand hob ab. Wahrscheinlich
hat sie Stöpsel in den Ohren, dachte Josy.
»Handynummer?«, fragte der Polizist.
»Das Handy ist nachts ausgeschaltet.«
Er zuckte die Schultern und stand auf. »Dann fahren wir
jetzt hin.«
Willenlos ließ Josy sich zum nächsten Polizeifahrzeug bugsieren.
Kaum saß sie, schlief sie ein. Wenig später wurde sie
unsanft geweckt.
»Wir sind da«, sagte ihr Begleiter und rüttelte an ihrer
Schulter.
Sie griff in ihren Stoffbeutel, wühlte und suchte - kein
Hausschlüssel! In ihrer Aufregung vor der Party musste sie
vergessen haben, ihn einzustecken.
»Das is jetzt blöd«, nuschelte sie, »ich hab kein Schlüssel
dabei.«
»Tja, dann ...« Bedauernd hob der Polizist die Hand und
legte den Finger auf die Klingel. Der Ton durchschnitt schrill
die nächtliche Ruhe, aber niemand öffnete. »Ihre Mutter
hat ja einen gesegneten Schlaf. Beneidenswert geradezu.
Sonst ist niemand in der Wohnung?«
Josy schüttelte den Kopf. Ihr Magen rebellierte wieder,
sie musste aufstoßen. »'tschuldigung«, murmelte sie. »Und ...
was jetzt?«
»Es gibt da ein nettes kleines Hotel«, sagte er, »da ist die
Übernachtung kostenlos.«
Josy starrte ihn an. Dann begriff sie. »O nein.«
»O ja«, sagte er und öffnete ihr die Tür des Polizeiwagens.
Sie landete in der letzten der drei kargen Ausnüchterungszellen,
die noch frei war. Resigniert rollte sie sich auf
der harten Liegefläche zusammen, stopfte sich ihre Jacke
als Kissen unter den Kopf und zog die widerliche, kratzige
Wolldecke über sich. Inzwischen war sie so müde, dass
ihr egal war, wo sie lag. Hauptsache, sie konnte endlich
schlafen.
Ihr Rücken schmerzte, sie dehnte und streckte sich stöhnend.
Vorsichtig stand sie auf und ging ein paar Schritte
in der Zelle auf und ab, um ihren Kreislauf in Schwung zu
bringen. Vielleicht würden dann auch die Kopfschmerzen
besser werden. Pinkeln musste sie auch. Aber eher würde
sie sterben, als die ekelige Kloschüssel zu benutzen.
Sie zog ihr Handy aus dem Beutel und schaltete es ein.
Drei Anrufe von Panik-Mom. Josy seufzte. Wann würde Freda
endlich aufhören, sich Sorgen um sie zu machen? Wie sollte
sie erwachsen werden, wenn ihre eigene Mutter ihr nicht
vertraute?
Sie drückte die Kurzwahltaste für zu Hause.
»Josy, endlich!«, meldete sich Freda erleichtert. »Wo warst
du denn bloß?«
»Das ... ist eine längere Geschichte. Kannst du mich abholen?«
»Wo denn?«
»In der Hochbrückenstraße.«
Vollständige Taschenbuchausgabe 05/2010
Copyright © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2010
Umschlaggestaltung und Artwork: Eisele Grafik-Design,
München, unter Verwendung eines Fotos von
© David Dohnal/Shutterstock
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
iSBN: 978-3-453-40719-0
www.heyne.de
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
München Super liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.
SGS-COC-001940
4. Auflage
Den ganzen ersten Tag über sieht sie es an und versucht,
etwas Vertrautes an ihm zu entdecken. Nichts. Dieses Kind
ist kein Teil von ihr, wie sie es sich vorgestellt hat. Es ist ein
völlig eigenständiges Wesen, und es ist ihr fremd. Sie würden
sich erst kennenlernen müssen, begreift Freda und ist
überrascht.
Am nächsten Tag hört sie die Stimme ihrer Tochter aus
einem Konzert von zwanzig Babystimmen auf der Säuglingsstation
heraus. Und am übernächsten Tag blickt sie
in das Gesicht der Kleinen, das sich im Schlaf unwillig verzieht,
und bricht in Tränen aus bei dem Gedanken, dass dieses
hilflose Baby eines Tages erwachsen sein und sie nicht
mehr brauchen wird.
Als Josy größer wurde, entdeckte Freda, wie viel Spaß
man mit einem Kind haben kann. Sie lag mit Josy auf dem
Boden und untersuchte Staubflocken, stapelte Klötzchen
zu Türmen und zeichnete Prinzessinnen, deren Kleider das
Kind bunt ausmalte. Kein Spiel war Freda zu monoton,
keine Unternehmung zu anstrengend. Sie organisierte Schnitzeljagden
oder Mondscheinwanderungen im nahe gelegenen
Park und sammelte einen Koffer voller Kleider und
Kostüme zum Verkleiden bei schlechtem Wetter. Oft zog
der Duft von frisch gebackenen Muffins oder Waffeln durch
die Wohnung; sie konnte zwar nicht besonders gut kochen,
buk aber gern. Die Nachbarskinder kamen in Scharen und
waren willkommen, denn Freda fand es wichtig, dass ihr
Einzelkind viele Spielkameraden hatte. Sie hatte es geliebt,
Kinder um sich zu haben und selbst ein bisschen Kind sein
zu dürfen.
Sie setzte sich im Bett auf und rieb sich das Gesicht. Ein
Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie gerade mal fünf Stunden
geschlafen hatte. Sie zog die hellblauen Silikonstöpsel
aus den Ohren, die sie verwendete, wenn es spät geworden
war und sie sicher sein wollte, dass kein Geräusch sie wieder
aus dem Schlaf riss, in den sie mühsam gefunden hatte.
Dann griff sie nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. In
einem von Josy bemalten Holzrahmen daneben stand ein
Foto von Alex. Unwillkürlich tastete ihre Hand auf die andere
Bettseite. Als sie die Kühle des unberührten Lakens
spürte, zog sie die Hand schnell zurück.
Sie seufzte und schwang ihre Beine aus dem Bett. Ein
Pochen in ihrer rechten Schläfe erinnerte sie an die vergangene
Nacht. Ein bis zwei Gläser weniger hätten es auch
getan, dachte sie. Aber schließlich feiert man nur einmal
den achtzehnten Geburtstag seiner einzigen Tochter mit
einer großen Party.
Punkt zwölf war Josy zu ihr gekommen, hatte sie umarmt
und ihr ins Ohr geflüstert: »Glückwunsch, Mama, du
hast es geschafft! Ich danke dir für alles.«
»Ach, meine Süße«, hatte Freda geantwortet und ein
paar Tränen der Rührung verschluckt.
Dann hatte ihre Tochter den Kopf schief gelegt und mit
ernstem Gesichtsausdruck gesagt: »Zwischen uns ändert
sich nichts, okay?«
»Nein, nichts«, hatte Freda gesagt.
Aber gedacht hatte sie: Es hat sich doch schon so vieles
geändert. Und beschützen kann ich dich jetzt auch nicht
mehr.
Als hätte sie es bisher gekonnt. Als könnte man ein Kind
überhaupt beschützen. Sie hatte immer alles getan, um Josy
vor Schlimmem zu bewahren, vielleicht hatte sie es manchmal
übertrieben. Besonders, seit Alex weg war. Hatte nicht
jeder Mensch sein individuelles Schicksal? Sein Lebensdrehbuch,
an dem man ein paar Verbesserungen anbringen,
dessen Handlung aber niemand wesentlich verändern
könnte? Wenn man Glück hatte, drehte man an angenehmen
Orten, in schicken Kostümen und mit netten Kollegen.
Aber wie der Film sich entwickelte, welche Wendungen und
Höhepunkte er enthielt, war die Entscheidung eines unbekannten
Regisseurs, der sich von niemandem hereinreden
ließ.
Freda stopfte ihr Kissen im Rücken zurecht und zog die
Knie an die Brust. Eine frühe Erinnerung kam ihr in den
Sinn. Josy musste ungefähr zehn Monate alt gewesen sein,
sie übte das Sichhochziehen und Stehen und entwickelte
Interesse an anderen Kindern. Freda begann, regelmäßig
mit ihr auf den Spielplatz zu gehen. Eines Tages beobachtete
sie einen kleinen Jungen, der den Sitz einer Holzschaukel
festhielt und genau in dem Moment losließ, als Josy sich
gerade aufgerichtet hatte. Das Holzbrett raste auf ihren
Hinterkopf zu, Freda sprang auf, die Schaukel prallte mit
einem dumpfen Geräusch gegen den Kleinkindschädel,
Josy fiel um. Sie schrie nicht. Sie machte nur ein kleines Geräusch,
wie eine Art Japsen oder Aufstoßen, dann rührte
sie sich nicht mehr. Fredas Herz blieb stehen. Sie riss Josy
in ihre Arme, der kleine Körper fühlte sich schlaff an. Vor
Fredas Augen schien ein schwarzer Vorhang herabzufallen.
Da zuckte der Körper in ihren Armen, und Josy begann zu
schreien.
Im nächsten Moment schrie auch Freda los. Sie schrie
den verängstigten Jungen an, schrie sich die Panik aus dem
Leib, bis die andere Mutter dazwischenging und Freda wieder
zu Bewusstsein kam. Es war ihr peinlich, und sie entschuldigte
sich. Der kleine Blödmann hatte es ja wohl nicht
mit Absicht getan, und wenn doch, dann hatte er die möglichen
Folgen seines Tuns nicht abschätzen können.
Im Krankenhaus wurden eine Prellung und eine Gehirnerschütterung
diagnostiziert. Und mit derselben Heftigkeit,
mit der Josy von dem Holzbrett getroffen worden war, traf
Freda die Erkenntnis, dass sie nie mehr aufhören würde,
sich um ihr Kind zu sorgen. Ja, dass die ständige Angst, es
könnte ihm etwas zustoßen, der Preis für das Glück war, das
sie durch ihr Kind empfand.
Alex war ganz anders, er hatte nie Angst. Er warf das Baby
in die Luft, schnallte es auf seinen Rücken, wenn er steile
Skiabfahrten runterraste, unternahm später riskante Berg
touren mit seiner Tochter, immer nach dem Motto: »Was
sie nicht umbringt, macht sie hart.« Freda nannte es Leichtsinn,
er nannte es Gottvertrauen. »Das Leben ist nun mal
lebensgefährlich«, erklärte er, »deshalb kannst du dich doch
nicht zu Hause einsperren.«
Über die Jahre hatte sich zu Fredas Erleichterung gezeigt,
dass viele scheinbar gefährliche Situationen in Wirklichkeit
harmlos waren. Sie machte die Erfahrung, dass Kinder erstaunlich
viel aushalten und meistens mehr können, als
ihre Mütter ihnen zutrauen. Der beste Beweis dafür war
schließlich, dass ihre Tochter ohne sichtbare Schäden zu
einer jungen Frau herangewachsen war. Eine große Dankbarkeit
erfüllte Freda plötzlich. Sie nahm das Foto von Alex
in die Hand und betrachtete es.
»Du kannst stolz auf deine Kleine sein«, sagte sie leise.
»Und auf mich auch.«
Beim Zähneputzen betrachtete Freda sich im Spiegel. Geschwollene
Augen, müder Teint. Sonst war der Anblick nicht
so übel, immerhin war sie schon dreiundvierzig. Nicht mehr
jung. Noch nicht alt. Irgendwas dazwischen. Irgendwas, von
dem sie hoffte, dass es ein »Noch nicht« wäre, und kein
»Nicht mehr«.
Sie stellte die elektrische Zahnbürste in die Halterung
zurück und zog ihren gemütlichen Hausanzug an, den Josy
als »Strampelanzug« bezeichnet hatte. Egal, heute Vormittag
würde niemand außer ihrer Tochter ihn zu Gesicht bekommen.
Ihre Gedanken wanderten wieder zurück in die Vergangenheit.
Plötzlich blieb sie stehen und suchte angestrengt
in ihrer Erinnerung, ging in ihr Zimmer, öffnete nacheinan-
der alle Schubladen einer Kommode, durchwühlte den Inhalt
und zog schließlich eine mit bunten Mandalas bedruckte
Mappe hervor.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, schob die Computertastatur
zur Seite und schlug die Mappe auf, in der
sich einige zusammengeheftete Blätter befanden. »Horoskop
« stand in schnörkeliger Handschrift auf der ersten
Seite, darunter Josys vollständiger Name und ihr Geburtsdatum.
Es war das Geschenk von Marie gewesen, einer Kollegin
aus der Buchhandlung, in der sie damals gearbeitet hatte.
Marie hatte sich außer als Handauflegerin, Hellseherin
und Mandala-Deuterin auch als Hobby-Astrologin betätigt.
Freda hatte diese Neigungen insgeheim belächelt, ihre
Zweifel aber für sich behalten, weil sie ihre Kollegin mochte
und nicht kränken wollte. Und so ganz genau konnte man
ja nie wissen, ob nicht doch etwas dran war an dem Eso-
Kram.
»Damit du weißt, was auf euch zukommt«, hatte Marie
gesagt, als sie Freda drei Wochen nach Josys Geburt die
Mappe überreichte und sphinxhaft dazu lächelte. Vielleicht
war es dieser Satz gewesen, der Freda all die Jahre davon abgehalten
hatte, das Horoskop zu lesen. Wer wollte schon so
genau wissen, was auf ihn zukam?
Heute, achtzehn Jahre danach, könnte sie ja überprüfen,
ob Marie mit ihren Prognosen Recht behalten hatte. Neugierig
blätterte sie die zweite Seite auf. Sie zeigte die Zeichnung
der Sternenkonstellation zum Zeitpunkt von Josys
Geburt, ein Gewirr von Punkten und Linien, aus dem sie
nicht schlau wurde. Darunter stand: »Zwilling mit Aszendent
Widder, Mond im Wassermann.«
Es folgte eine Deutung der Zwillings-Persönlichkeit: »Zwillinge
sind immer in Bewegung, sie lieben den Trubel und
hassen Langeweile und Routine. Sie wirbeln durchs Leben
und sind überall zu finden, wo etwas los ist. Durch ihre
gewinnende und spritzige Art finden sie schnell Freunde,
obwohl sie nicht gerade durch Zuverlässigkeit glänzen. Sie
vergessen schon mal eine Verabredung oder eine Zusage,
aufgrund ihres Charmes kann man ihnen aber nicht lange
böse sein. Der ständige Wunsch nach Veränderung lässt sie
gern Berufe wie Journalist oder Reiseleiter ergreifen. Aufgrund
ihres Sprachtalentes sind sie auch gute Lehrer oder
Sprachwissenschaftler. Zwillings-Frauen sind flatterhaft
und kapriziös, sie wechseln ständig ihre Vorlieben und Interessen
- und ihre Männer. Das Zwillings-Kind ist fröhlich
und aufgeweckt; neugierig erkundet es die Welt. Zu anderen
Kindern findet es leicht Kontakt und ist ein beliebter
Spielkamerad. Seine Begeisterungsfähigkeit führt allerdings
dazu, dass es sich leicht verzettelt, es fängt vieles an und
führt wenig zu Ende.«
Verblüfft ließ Freda die Hand mit dem Blatt sinken. Diese
Beschreibung traf so genau zu, als habe jemand Josy charakterisiert,
der sie gut kannte. Sie griff nach der Seite, auf
der die Kombination des Sternzeichens mit dem Aszendenten
gedeutet wurde. »Feuer und Luft passen hier gut zusammen.
Das geschickte Denken des Zwillings paart sich
mit der Tatkraft des Widders und führt zu schnellen Entschlüssen
und starkem Durchsetzungsvermögen. Manchmal
aber werden die eigenen Kräfte überschätzt, dadurch
entsteht eine gewisse Neigung zur Selbstgefährdung.«
Wie damals, als ihre Tochter noch nicht schwimmen
konnte, es aber liebte, vom Beckenrand aus ins tiefe Wasser
zu springen. Kaum war sie aufgetaucht, fing Freda sie ein
und brachte sie wieder zum Ausstieg. Einmal hatte Josy in
ihrem Eifer übersehen, dass Freda nicht im Wasser war, sondern
am Beckenrand stand und mit jemandem sprach. Irgendein
Instinkt hatte Freda plötzlich dazu gebracht, sich
umzudrehen. Als sie Josys roten Badeanzug verschwommen
am Grund sah, hechtete sie ins Becken und zog ihr
Kind heraus, das bereits das Bewusstsein verloren hatte.
Noch heute bekam sie Gänsehaut, wenn sie an die endlosen
Sekunden dachte, die vergingen, bis Josy einen Schwall Wasser
von sich gab und wieder zu atmen begann.
In der Küche kochte Freda Tee. Sie trug die Tasse ins Wohnzimmer,
wo sie Josys Geschenke versteckt hatte, zog die
Päckchen unter dem Sofa hervor und drapierte sie auf
einem kleinen Tisch. Vom Balkon holte sie einen Strauß
mit achtzehn sündhaft teuren, aprikosenfarbenen Rosen,
die dort die Nacht verbracht hatten. In der Speisekammer
stand die Geburtstagstorte, die sie tags zuvor heimlich gebacken
hatte. Sie dekorierte sie mit achtzehn Kerzen und
einem Lebenslicht und stellte sie zu den Geschenken. Zufrieden
trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Arrangement.
Es sah wunderschön aus, Josy würde begeistert
sein! Sobald sie Geräusche aus ihrem Zimmer hörte, würde
sie die Kerzen anzünden. Im CD-Player lag eine Techno-Version
von »Happy birthday« bereit. Sie lauschte auf den Flur
hinaus, hörte aber nichts. Wahrscheinlich würde Josy heute
etwas länger schlafen, es musste sehr spät geworden sein.
Freda ging zurück in die Küche und schenkte sich Tee
nach. Während sie trank, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass
etwas nicht stimmte. Es war ganz still. Nur das Tropfen des
Wasserhahns war zu hören. Nachdem sie das Tropfen abgestellt
hatte, blieb sie stehen und versuchte, den Grund für
ihre Unruhe zu finden. Sie ging auf den Flur hinaus - und
dann begriff sie: Unter Josys Zimmertür schien Licht durch.
Das hieß, die Jalousie war oben. Das hieß, Josy schlief nicht
in diesem Zimmer. Das hieß, sie war nicht nach Hause gekommen.
Fredas Magen verkrampfte sich. Sofort produzierte ihr
Kopf eines der vielen Katastrophenszenarien, die sie seit
dem Verschwinden von Alex regelmäßig heimsuchten. Josy
war auf dem Heimweg überfallen, vergewaltigt, ermordet
worden. Oder sie war vor ein Auto gelaufen, hatte wie
immer keinen Ausweis bei sich und lag nun bewusstlos
in irgendeinem Krankenhaus. Oder ... Hör auf, befahl Freda
sich selbst, das bringt doch nichts. Wie oft hast du dich
schon mit solchen Fantasien verrückt gemacht, immer
grundlos. Bestimmt übernachtet sie bei einer Freundin.
Wahrscheinlich hat sie sogar eine SMS geschickt. Josy
wusste, dass ihre Mutter schnell nervös wurde, wenn sie
nicht war, wo sie sein sollte, und meldete sich deshalb zuverlässig.
Keine Nachricht. Wahrscheinlich war wieder der Akku
von Josys Handy leer gewesen. Oder die Prepaid-Karte abtelefoniert.
Es war erstaunlich, dass Akkus und Prepaid-Karten
immer gerade dann leer waren, wenn man das Handy
dringend benötigte.
Freda wählte Josys Nummer. Mailbox. Sie versuchte es
bei Naomi, bei Lara. Ebenfalls Mailbox. Sie hinterließ überall
Nachrichten, sprach mit betont fröhlicher Stimme, um
sich nicht anmerken zu lassen, dass sie besorgt war. Sie
mochte sich selbst nicht in der Rolle der Panik-Mom, wie
Josys Freundinnen sie hinter ihrem Rücken nannten. Es war
Josy mal rausgerutscht, und zuerst war Freda wütend geworden;
insgeheim hatte sie sich aber eingestehen müssen,
dass die Bezeichnung durchaus zutreffend war. Andere
Mütter waren viel lässiger, machten sich viel weniger Gedanken
darüber, was alles passieren könnte. Josy hielt ihr
oft vor, sie fühle sich kontrolliert und eingeengt. Trotzdem
konnte Freda sich nicht anders verhalten, es war wie ein
Zwang.
Endlich, eine weitere halbe Stunde später, klingelte das
Telefon. Naomi, total verschlafen.
»Keine Ahnung, wo Josy ist«, nuschelte sie kaum vernehmbar.
»Ich bin so gegen drei gegangen, da hat sie noch
getanzt.«
»Kein Problem«, sagte Freda munter. »Falls sie sich meldet,
sag ihr einfach, sie soll mich anrufen.«
»Geht klar.« Und nach einer Pause: »Und danke für gestern,
war 'ne super Party!«
Freda lachte. »Freut mich, wenn's dir gefallen hat!«
Die Party hatte Fredas Budget für den Jahresurlaub aufgefressen.
Zum Glück besaß der Vater von Josys Schulfreund
Zino eine Brauerei und hatte die Getränke spendiert, aber
mit der Saalmiete, dem Essen und dem Discjockey war
doch einiges zusammengekommen. Es war ihr egal, Urlaub
konnte sie noch oft machen.
Nachdem sie die Spülmaschine ausgeräumt, die Küche
gefegt, ihre E-Mails gecheckt und eine weitere Kanne Tee
gekocht hatte, konnte sie ihre Unruhe nicht mehr bezähmen
und wählte ein zweites, dann ein drittes Mal Josys
Handynummer. Immer Mailbox. Inzwischen war es elf. Wo,
zum Teufel, steckte ihre Tochter?
Josy erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Kopf fühlte
sich an, als wäre sie gegen eine Eisentür gelaufen. Stöhnend
versuchte sie, sich auf die andere Seite zu drehen. Verdammt,
wie das dröhnte! Das konnten doch nicht die paar
Cola-Rum und Wodka-Orange gewesen sein, die sie gestern
getrunken hatte? Mühsam öffnete sie die Augen einen
Spalt. Sie blickte auf eine gelblich gestrichene Betondecke
mit einer Neonröhre. Ihr Blick wanderte abwärts über die
verschmutzten Wände, von denen die Farbe abblätterte, und
blieb an einer massiven Gittertür aus Eisen hängen. Mit
einem Ruck setzte sie sich auf und hielt sich den schmerzenden
Kopf.
In diesem Augenblick kehrte ihre Erinnerung zurück. Das
hier sah nicht nur aus wie eine Gefängniszelle, es war eine.
Gegen vier hatte Josy sich mit den letzten Partygästen
ein Taxi genommen, um nach Hause zu fahren. Kaum saß
sie im Wagen, wurde ihr schlecht. Eine Weile gelang es ihr,
sich zu beherrschen, dann wurde die Übelkeit so stark, dass
sie aussteigen musste. Sie verabschiedete sich hastig von
ihren Freunden, und als das Taxi außer Sichtweite war, erbrach
sie sich hinter einem Müllcontainer. Obwohl sie kaum
stehen konnte, beschloss sie, zu Fuß weiterzugehen, vielleicht
würden frische Luft und Bewegung helfen. Die Straßen
waren leer, die Stadt schien wie ausgestorben. Josy
schlug im Vorübergehen mit der Faust auf die Kühlerhauben
und Dächer geparkter Autos; das dumpfe Dröhnen
gab ihren schwankenden Schritten einen Rhythmus. Eins ...
bumm ... zwei ... bumm ... Sie bemerkte nicht, dass ein Streifenwagen
hinter ihr her fuhr. Erst als er sie überholte und
vor ihr zum Stehen kam, hielt sie inne und lehnte sich an
ein Auto.
»Na, junge Dame, wohin des Wegs?«, fragte der junge
Polizeibeamte, der auf der Beifahrerseite ausgestiegen
war.
»Nach Hause«, sagte sie mit schwerer Zunge. Sah eigentlich
ganz nett aus, der Typ. Wenn er nur nicht diese kackgrüne
Uniform anhätte. Sie überlegte, ob sie ihm das sagen
sollte, aber es schien ihr zu anstrengend, die Worte zu formen.
»Und, haben wir was getankt?«
»Ich weiß nich, wie's bei Ihnen is«, erwiderte sie schleppend,
»ich habn bisschen was getrunken. Deshalb gehe ich
auch zu Fuß.«
»Sehr vernünftig«, sagte der nette Bulle. »Hätten Sie denn
mal Ihren Ausweis, bitte?«
»Meinn ... Ausweis?«
»Genau.«
Josy wühlte der Form halber in dem Stoffbeutel, der ihr
als Handtasche diente. Sie hatte nie einen Ausweis bei sich.
Die Gefahr, dass sie ihn verlieren könnte, war zu groß. Sie
verlor ständig irgendwas, deshalb nahm sie immer so wenig
wie möglich mit.
»Tut mit leid. Vergessen.«
»Wie alt sind wir denn?«
»Ich weiß nich, wie alt Sie sind ...«, fing Josy wieder an,
aber plötzlich verstand der Typ keinen Spaß mehr. Vielleicht
hatte er selbst gemerkt, wie blöde es war, in diesem
Krankenschwestern-Ton zu sprechen.
»Wie alt Sie sind, will ich wissen!«, blaffte er sie an.
»Achtzehn.«
»Achtzehn«, wiederholte er spöttisch. »Und das soll ich
Ihnen glauben?«
»Ich hab heute Geburtstag.«
»Na, so ein Zufall! Dann fahren wir jetzt zusammen auf
die Wache und stoßen an.«
»Danke, sehr freundlich«, artikulierte Josy mit Mühe,
»aber ich bin siemlich müde.«
Sie kniff die Augen zusammen. Der Typ schien irgendwie
zu verschwimmen, mal kam er näher, dann waberte
er wieder davon. Ihr war schwindelig, sie wollte
sich an einem Auto abstützen, griff daneben und fiel gegen
den Seitenspiegel, der knirschend aus seiner Halterung
brach.
»Oje, oje«, lallte sie, »tut mir leid.«
»Sachbeschädigung«, konstatierte der Polizist und notierte
das Nummernschild.
Josy wollte sich gerade in Bewegung setzen, da packte er
sie am Arm.
»Lassen Sie mich!«, rief Josy und wollte sich losreißen.
Der Polizist hielt sie eisern fest und sagte: »Schluss jetzt.
Sie können sich nicht ausweisen, sind vermutlich minderjährig
und randalieren schwer alkoholisiert herum. Sie kommen
jetzt bitte mit.«
»Schwer alko... alkollisiert«, wiederholte sie verächtlich,
»so ein Quatsch!«
Im nächsten Moment fand Josy sich auf dem Rücksitz
des Polizeiwagens wieder. Die Fahrt zur Wache verlief
schweigend. Sie landeten in einem ungemütlichen Büro
mit abgeschabter Einrichtung und scheußlich greller Beleuchtung.
»Personenfeststellung«, sagte der Polizist, der sie hergebracht
hatte, und überließ sie seinem Kollegen. Josy diktierte
ihm Namen, Adresse und Telefonnummer. Der Be-
amte, ein gutmütig wirkender, etwas älterer Mann mit
einem Schnauzbart, tippte alles in den Computer. Dann
griff er nach dem Telefon. »So, dann wollen wir mal deine
Eltern informieren.«
»Bitte nicht ... meine Mutter wecken!«, protestierte Josy
vergeblich.
Er ließ es lange klingeln, aber niemand hob ab. Wahrscheinlich
hat sie Stöpsel in den Ohren, dachte Josy.
»Handynummer?«, fragte der Polizist.
»Das Handy ist nachts ausgeschaltet.«
Er zuckte die Schultern und stand auf. »Dann fahren wir
jetzt hin.«
Willenlos ließ Josy sich zum nächsten Polizeifahrzeug bugsieren.
Kaum saß sie, schlief sie ein. Wenig später wurde sie
unsanft geweckt.
»Wir sind da«, sagte ihr Begleiter und rüttelte an ihrer
Schulter.
Sie griff in ihren Stoffbeutel, wühlte und suchte - kein
Hausschlüssel! In ihrer Aufregung vor der Party musste sie
vergessen haben, ihn einzustecken.
»Das is jetzt blöd«, nuschelte sie, »ich hab kein Schlüssel
dabei.«
»Tja, dann ...« Bedauernd hob der Polizist die Hand und
legte den Finger auf die Klingel. Der Ton durchschnitt schrill
die nächtliche Ruhe, aber niemand öffnete. »Ihre Mutter
hat ja einen gesegneten Schlaf. Beneidenswert geradezu.
Sonst ist niemand in der Wohnung?«
Josy schüttelte den Kopf. Ihr Magen rebellierte wieder,
sie musste aufstoßen. »'tschuldigung«, murmelte sie. »Und ...
was jetzt?«
»Es gibt da ein nettes kleines Hotel«, sagte er, »da ist die
Übernachtung kostenlos.«
Josy starrte ihn an. Dann begriff sie. »O nein.«
»O ja«, sagte er und öffnete ihr die Tür des Polizeiwagens.
Sie landete in der letzten der drei kargen Ausnüchterungszellen,
die noch frei war. Resigniert rollte sie sich auf
der harten Liegefläche zusammen, stopfte sich ihre Jacke
als Kissen unter den Kopf und zog die widerliche, kratzige
Wolldecke über sich. Inzwischen war sie so müde, dass
ihr egal war, wo sie lag. Hauptsache, sie konnte endlich
schlafen.
Ihr Rücken schmerzte, sie dehnte und streckte sich stöhnend.
Vorsichtig stand sie auf und ging ein paar Schritte
in der Zelle auf und ab, um ihren Kreislauf in Schwung zu
bringen. Vielleicht würden dann auch die Kopfschmerzen
besser werden. Pinkeln musste sie auch. Aber eher würde
sie sterben, als die ekelige Kloschüssel zu benutzen.
Sie zog ihr Handy aus dem Beutel und schaltete es ein.
Drei Anrufe von Panik-Mom. Josy seufzte. Wann würde Freda
endlich aufhören, sich Sorgen um sie zu machen? Wie sollte
sie erwachsen werden, wenn ihre eigene Mutter ihr nicht
vertraute?
Sie drückte die Kurzwahltaste für zu Hause.
»Josy, endlich!«, meldete sich Freda erleichtert. »Wo warst
du denn bloß?«
»Das ... ist eine längere Geschichte. Kannst du mich abholen?«
»Wo denn?«
»In der Hochbrückenstraße.«
Vollständige Taschenbuchausgabe 05/2010
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2010
Umschlaggestaltung und Artwork: Eisele Grafik-Design,
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Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
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SGS-COC-001940
4. Auflage
... weniger
Autoren-Porträt von Amelie Fried
Amelie Fried, geb. 1958, war von 1998 bis 2009 Gastgeberin der Talkshow "3 nach 9", zuletzt moderierte sie im ZDF "Die Vorleser". Alle ihre Romane waren Bestseller, viele wurden zu erfolgreichen Fernsehfilmen. Für ihre Kinderbücher erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, darunter den "Deutschen Jugendliteraturpreis". Zuletzt im Heyne Taschenbuch erschienen: "Schuhhaus Pallas" und "Wildes Leben". Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Amelie Fried
- 2010, Erstmals im TB, 399 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453407199
- ISBN-13: 9783453407190
- Erscheinungsdatum: 09.04.2010
Rezension zu „Immer ist gerade jetzt “
"Ein zutiefst berührendes und spannendes Buch."
Pressezitat
"Amelie Fried erzählt einfach ganz großartig." Bild am Sonntag
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