In einer Person
Roman
Auf der Laienbühne seines Großvaters lernt William, dass gewisse Rollen sehr gefährlich sind. Und dass Menschen, die er liebt, manchmal ganz andere Rollen spielen, als er glaubt: so wie die geheimnisvolle Bibliothekarin Miss Frost. Denn wer...
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Produktinformationen zu „In einer Person “
Auf der Laienbühne seines Großvaters lernt William, dass gewisse Rollen sehr gefährlich sind. Und dass Menschen, die er liebt, manchmal ganz andere Rollen spielen, als er glaubt: so wie die geheimnisvolle Bibliothekarin Miss Frost. Denn wer sich nicht in Gefahr begibt, wird niemals erfahren, wer er ist.
Klappentext zu „In einer Person “
Auf der Laienbühne seines Großvaters in Vermont lernt William, dass gewisse Rollen sehr gefährlich sind. Und dass Menschen, die er liebt, manchmal ganz andere Rollen spielen, als er glaubt: so wie die geheimnisvolle Bibliothekarin Miss Frost. Denn wer sich nicht in Gefahr begibt, wird niemals erfahren, wer er ist.
Lese-Probe zu „In einer Person “
In einer Person von John IrvingAus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog und Astrid Arz
1
Eine Rollenbesetzung mit Hindernissen
Ich möchte damit anfangen, von Miss Frost zu erzählen. Auch wenn ich immer sage, ich sei Schriftsteller geworden, weil ich im prägenden Alter von fünfzehn einen bestimmten Dickens-Roman las, war ich in Wahrheit jünger, denn als ich das erste Mal Miss Frost begegnete und mir vorstellte, Sex mit ihr zu haben, bedeutete dieser Augenblick meines sexuellen Erwachens zugleich die Sturzgeburt meiner Phantasie. Was wir begehren, prägt uns. Ein flüchtiger Moment verstohlenen Begehrens, und ich wollte Schriftsteller werden und Sex mit Miss Frost haben - nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Ich lernte Miss Frost in einer Bibliothek kennen. Ich mag Bibliotheken, obwohl ich Mühe mit der Aussprache des Wortes habe - im Plural wie im Singular. Offenbar fällt mir die Aussprache bestimmter Wörter äußerst schwer; überwiegend Hauptwörter: Menschen, Orte und Dinge, die mich entsetzlich aufgeregt, in schwere Konflikte oder abgrundtiefe Panik gestürzt haben. Na ja, jedenfalls sind die diversen Stimmbildner, Logopäden und Psychiater, die mich - leider vergeblich - behandelt haben, zu dieser Ansicht gelangt. In der Grundschule blieb ich einmal sitzen: wegen »schwerer Sprachstörungen«, was maßlos übertrieben war. Mittlerweile bin ich Ende sechzig, fast siebzig, und die Ursache meiner Sprachfehler ist mir inzwischen egal. (Kurz und knapp: Scheiß auf die Kausalität.)
... mehr
Das Wort Kausalität versuche ich gar nicht erst auszusprechen, wohingegen ich mir durchaus eine halbwegs verständliche falsche Aussprache von Bibliothek oder Bibliotheken abringen kann, bei der das vertrackte Wort am Ende wie eine exotische Frucht herauskommt. (»Bibbelothek«, oder »Bibbelotheken«, sage ich - kindisch.)
Umso komischer, dass meine erste Bibliothek nicht der Rede wert war. Es war die Gemeindebücherei des Örtchens First Sister in Vermont, ein gedrungener roter Klinkerbau an der Straße, in der auch meine Großeltern wohnten. Ich lebte bei ihnen in der River Street, bis ich fünfzehn war und meine Mutter wieder heiratete. Meinen Stiefvater hatte sie bei einer Theateraufführung kennengelernt.
Die örtliche Laienschauspieltruppe nannte sich die First Sister Players; soweit ich zurückdenken kann, habe ich alle Aufführungen im kleinen Theater unseres Städtchens gesehen. Meine Mutter war die Souffleuse: Wenn jemand seinen Text vergaß, sagte sie ihm vor. (Da es eine Laientruppe war, wurde eine Menge Text vergessen.) Lange glaubte ich, die Souffleuse sei auch Schauspielerin - eine, die geheimnisvollerweise nicht mit auf der Bühne stand und nicht kostümiert, aber für den reibungslosen Ablauf unentbehrlich war.
Als meine Mutter ihn kennenlernte, war mein Stiefvater ganz neu bei den First Sister Players. Er war gerade erst zugezogen, um in der Favorite River Academy zu unterrichten - der fast schon renommierten Privatschule, damals nur für Jungen. Schon als Kind, spätestens aber mit zehn oder elf, muss ich gewusst haben, dass ich irgendwann, wenn ich »groß genug« wäre, auf diese Schule gehen würde. Die Bibliothek der Academy war moderner und besser beleuchtet, aber die Gemeindebibliothek von First Sister war meine erste Bibliothek, und die dortige Bibliothekarin meine erste Bibliothekarin. (Übrigens hatte ich mit der Aussprache von »Bibliothekarin« noch nie Mühe.)
Natürlich war Miss Frost ein unvergesslicheres Erlebnis als die Bibliothek. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ihren Vornamen erst lange nach unserer ersten Begegnung erfuhr. Jeder nannte sie Miss Frost, und ich hatte den Eindruck, dass sie so alt wie meine Mutter oder etwas jünger war, als ich endlich meinen ersten Bibliotheksausweis aus ihren Händen empfing. Meine Tante, eine ausgesprochen herrische Person, hatte mir gesagt, Miss Frost habe »früher mal sehr gut ausgesehen«, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Miss Frost jemals besser ausgesehen hatte als zu dem Zeitpunkt unserer ersten Begegnung - obwohl sich bei mir auch als Kind schon das meiste nur in der Phantasie abspielte. Meine Tante behauptete, sämtliche heiratsfähigen Männer am Ort hätten sich früher beim Anblick von Miss Frost überschlagen. Wenn einer von ihnen den Mumm aufbrachte, sie anzusprechen - Miss Frost womöglich sogar seinen Namen zu nennen -, habe die damals schöne Bibliothekarin ihn nur kühl gemustert und mit eisiger Stimme gesagt: »Ich heiße Miss Frost, bin unverheiratet und werde es auch bleiben.«
Daher war Miss Frost immer noch ledig, als ich sie kennenlernte; die heiratsfähigen Männer in First Sister hatten - für mich unbegreiflich - längst aufgehört, sie anzusprechen.
Der entscheidende Roman von Charles Dickens - der mich dazu brachte, Schriftsteller werden zu wollen - war Große Erwartungen. Ich muss damals fünfzehn gewesen sein - sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Lektüre. Ich weiß, dass es vor meinem Wechsel an die weiterführende Schule war, weil ich mir das Buch aus der Stadtbücherei von First Sister holte - zweimal. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich dieses Buch erneut ausleihen wollte; nie zuvor hatte ich den Wunsch verspürt, einen ganzen Roman noch mal zu lesen.
Miss Frost sah mich mit durchdringendem Blick an. Damals reichte ich ihr nur knapp bis an die Schultern. »Miss Frost war früher mal, was man ›gutgebaut‹ nennt«, hatte meine Tante mir gesagt, als gehörten selbst Miss Frosts Statur und Figur der Vergangenheit an. (Für mich war sie ein Leben lang gut gebaut.)
Miss Frost war eine Frau mit aufrechter Haltung und breiten Schultern, mein Hauptaugenmerk allerdings galt ihren kleinen, aber wohlgeformten Brüsten. In scheinbarem Widerspruch zu ihrer mannhaften Größe und unübersehbaren körperlichen Stärke hatten Miss Frosts Brüste etwas überraschend Frisches, unwahrscheinlich Knospendes, Jungmädchenhaftes. Mir war schleierhaft, wie eine ältere Frau so aussehen konnte, doch ihre Brüste mussten die Phantasie jedes Knaben anregen, der ihr begegnete; jedenfalls bildete ich mir das ein, als ich sie - wann war das noch gleich? - 1955 kennenlernte. Damit nicht genug; man muss wissen, dass Miss Frost nie aufreizend gekleidet war, jedenfalls nicht in der vorschriftsmäßigen Stille der gottverlassenen Stadtbücherei von First Sister; ob morgens oder abends, ganz egal, zu welcher Tageszeit, Besucher gab es praktisch nie.
Meine herrische Tante hatte ich (zu meiner Mutter) sagen hören: »Miss Frost ist weit über das Alter hinaus, in dem Teenager-bhs ausreichen.« Mit dreizehn hatte ich das so verstanden, dass Miss Frosts Brüste - in der kritischen Sicht meiner Tante - überhaupt nicht zu ihren bhs passten, oder umgekehrt. Das fand ich gar nicht! Und während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, warum meine Tante und ich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf Miss Frosts Brüste fixiert waren, bedachte mich die imposante Bibliothekarin mit dem bewussten durchdringenden Blick.
Mit dreizehn hatte ich sie kennengelernt; in diesem einschüchternden Moment war ich fünfzehn, aber was die Intensität von Miss Frosts langem bohrenden Blick anging, hatte ich das Gefühl, als schaue sie so schon mindestens zwei Jahre. Schließlich beschied sie meinen Wunsch, die Großen Erwartungen noch mal zu lesen, mit: »Den Roman hast du schon gelesen, William.«
»Ja, ich fand ihn toll«, beteuerte ich - nur um nicht damit herauszuplatzen, wie toll ich sie fand. Sie war äußerst förmlich - der erste Mensch, der mich ausnahmslos mit William anredete. In der Familie und unter Freunden war ich nur Bill oder Billy.
Ich wollte Miss Frost mit nichts als ihrem bh am Leib sehen, der (nach Ansicht meiner sittenstrengen Tante) nicht genügend Halt bot. Doch anstatt mit solch einer Taktlosigkeit herauszuplatzen, sagte ich: »Ich will Große Erwartungen noch mal lesen.« (Kein Wort über meine Vorahnung, Miss Frost habe einen mindestens ebenso verhängnisvollen Eindruck auf mich gemacht wie Estella im Roman auf den armen Pip.)
»Jetzt schon?«, fragte Miss Frost. »Du hast den Roman doch erst vor einem Monat gelesen!«
»Ich kann's kaum erwarten, ihn noch mal zu lesen«, sagte ich.
»Charles Dickens hat viele Bücher geschrieben«, erklärte mir Miss Frost. »Du solltest es mal mit einem anderen versuchen, William.«
»Oh, das kommt noch«, versicherte ich ihr, »aber erst will ich das hier noch mal lesen.«
Miss Frosts zweites »William« hatte bei mir eine spontane Erektion ausgelöst - auch wenn ich mit fünfzehn einen kleinen Penis und einen lachhaft enttäuschenden Ständer hatte. (Dazu nur so viel: Es bestand keinerlei Gefahr, dass Miss Frost meine Erektion bemerkte.)
Meine besserwisserische Tante hatte meiner Mutter gesagt, ich sei ein Spätentwickler. Selbstredend hatte sie »Spätentwickler« in einem anderen (oder allgemeineren) Sinne gemeint; soweit ich wusste, hatte sie meinen Penis seit meiner frühen Kindheit nicht mehr gesehen - wenn überhaupt. Zum Wort Penis fällt mir bestimmt noch viel mehr ein. Hier muss genügen, dass mir die Aussprache von »Penis « größte Mühe bereitet; in meiner verquasten Diktion hört sich das »s« gelispelt an, wie »Penith« - wenn ich es überhaupt herausbringe -, genau wie ein englisches »th«. (Den Plural umschiffe ich weiträumig.)
Jedenfalls ahnte Miss Frost nichts von meinen sexuellen Nöten, als ich Große Erwartungen erneut auszuleihen versuchte. Stattdessen vermittelte sie mir den Eindruck, bei der stattlichen Anzahl von Büchern in der Bibliothek wäre es eine unmoralische Zeitverschwendung, auch nur eines davon noch mal zu lesen.
»Was ist so Besonderes an Große Erwartungen?«, fragte sie mich.
Sie war der erste Mensch, dem ich erzählte, dass ich »wegen « Große Erwartungen Schriftsteller werden wollte, während es in Wahrheit ihretwegen war.
»Schriftsteller willst du also werden!«, rief Miss Frost, was nicht sonderlich begeistert klang. (Jahre später sollte ich mich fragen, ob Miss Frost das Wort Homophiler wohl ebenso ungnädig quittiert hätte, wenn ich es ihr als meinen Berufswunsch genannt hätte.)
»Ja, Schriftsteller - glaub ich jedenfalls«, erwiderte ich.
»Du kannst unmöglich wissen, dass du mal Schriftsteller wirst!«, erklärte Miss Frost. »Diesen Beruf kann man sich nicht aussuchen.«
Wie recht sie damit doch hatte, auch wenn ich das damals noch nicht ahnen konnte. Ich legte mich nicht nur deshalb so ins Zeug, damit sie mich Große Erwartungen noch mal lesen ließ, sondern auch (während mir besonders gefiel, dass Miss Frost nach Luft schnappte), weil sie immer ungehaltener mit mir wurde - wobei ihre überraschend jungmädchenhaften Brüste auf und ab hüpften.
Jetzt, mit fünfzehn, stand es noch ganz genauso um mich wie zwei Jahre zuvor: Ich war bis über beide Ohren in sie verknallt. Was nicht ganz stimmt: Denn mittlerweile war ich noch viel mehr von ihr eingenommen als mit dreizehn, als ich nur davon phantasiert hatte, mit ihr Sex zu haben und Schriftsteller zu werden, während meine erotischen Phantasien jetzt ausgeklügelter, detaillierter und konkreter waren und ich schon ein paar Sätze verfasst hatte, auf die ich stolz war.
Natürlich war weder Sex mit Miss Frost noch der Schriftstellerberuf sehr wahrscheinlich - aber gab es nicht vielleicht doch irgendwo eine klitzekleine Chance? Seltsamerweise war ich hochmütig genug, das anzunehmen. Wo ich diese Anmaßung, diese Selbstüberschätzung wohl hernahm - tja, da konnte ich nur auf Vererbung tippen.
Und zwar nicht von meiner Mutter; ihre Rolle als Souffleuse hinter den Kulissen hatte für mich so gar nichts Anmaßendes. Schließlich verbrachte ich die meisten Abende mit ihr in dieser Heimstatt unterschiedlich (bis gar nicht) talentierter Mitglieder unseres städtischen Laienensembles. Die kleine Bühne war kein allzu stolzes, vor Selbstvertrauen strotzendes Unternehmen - daher die Souffleuse.
Falls mein Hochmut vererbt war, hatte ich ihn mit Sicherheit von meinem leiblichen Vater. Es hieß, ich sei ihm nie begegnet; alles, was ich von ihm kannte, war sein Ruf, und der klang nicht berauschend.
»Der Codeknacker« - wie mein Großvater ihn nannte - oder, selten, »der Sergeant«. Meine Mutter war wegen des Sergeants vom College abgegangen, sagte meine Großmutter. (»Sergeant«, stets abschätzig betont, gab sie den Vorzug vor »Codeknacker«.) Ob William Francis Dean direkt oder indirekt daran schuld war, dass meine Mutter ihr Studium abgebrochen hatte, wusste ich nicht. Stattdessen hatte sie eine Sekretärinnenschule besucht, aber erst, nachdem er sie mit mir geschwängert hatte. In der Folge hatte meine Mutter auch diese Ausbildung abgebrochen.
Sie erzählte mir, dass sie meinen Dad im April 1943 in Atlantic City, New Jersey, geheiratet hatte - ein bisschen spät für eine Mussheirat, weil ich in First Sister, Vermont, bereits im März 1942 zur Welt gekommen war. Ich war also ein Jahr alt, als sie ihn heiratete, und zur »Trauung« (eine rein standesamtliche Angelegenheit) war es vor allem auf Veranlassung meiner Großmutter gekommen - jedenfalls laut meiner Tante Muriel. Wie man mir zu verstehen gab, war William Francis Dean eher unfreiwillig in den Stand der Ehe getreten.
»Noch vor deinem zweiten Geburtstag waren wir geschieden «, hatte meine Mutter mir anvertraut. Weil ich die Heiratsurkunde gesehen hatte, erinnerte ich mich an den in meinen Augen exotischen, da weit von Vermont entfernten Ort Atlantic City; mein Vater war dort in der Grundausbildung gewesen. Die Scheidungspapiere zeigte mir niemand.
»Der Sergeant zeigte kein Interesse an Ehe und Kindern «, hatte meine Großmutter mir, sehr von oben herab, erklärt; schon damals war mir klar, dass meine Tante ihre Überheblichkeit von meiner Großmutter hatte.
Jedenfalls legitimierte mich aufgrund der Ereignisse in Atlantic City (auf wessen Veranlassung auch immer) diese Heiratsurkunde, wenn auch nachträglich. Ich wurde William Francis Dean jr. getauft, bekam also meines Vaters Namen, wenn schon nicht ihn persönlich. Und etwas von seinen Code knackergenen muss ich auch geerbt haben - das »Draufgängertum« des Sergeants, wie meine Mutter es nannte.
»Wie war er denn?«, hatte ich sie mindestens hundertmal gefragt. Darauf hatte sie immer so nette Antworten parat.
»Oh, er war ein sehr gutaussehender Mann - genau wie du später mal sein wirst«, versicherte sie mir dann lächelnd. »Und ein Mordsdraufgänger.« Als ich noch ein kleiner Junge war, ging meine Mutter sehr liebevoll mit mir um.
Ich weiß nicht, ob alle Knaben in der frühen Pubertät sich so wenig um Chronologie scheren wie ich damals, aber ich kam nie auf den Gedanken, die genaue zeitliche Abfolge zu untersuchen. Mein Vater muss meine Mutter im späten Mai oder frühen Juni 1941 geschwängert haben - gegen Ende seines ersten Studienjahres in Harvard. Trotzdem nannte ihn nie jemand - nicht einmal Tante Muriel mit ihren sarkastischen Bemerkungen - den Harvard-Knaben. Er wurde immer nur der Codeknacker (oder der Sergeant) genannt, obwohl meine Mutter auf seinen Bezug zu Harvard durchaus stolz war.
»Stell dir vor, mit fünfzehn in Harvard anzufangen!«, hatte ich sie mehr als einmal sagen hören.
Aber wenn mein Mordsdraufgänger-Vater in seinem ersten Harvard-Semester (im September 1940) fünfzehn gewesen war, musste er jünger als meine Mutter sein, die im April Geburtstag hatte. Im April 1940 war sie schon zwan- zig gewesen; einen Monat nach meiner Geburt im März 1942 wurde sie zweiundzwanzig.
Hatten sie etwa nicht geheiratet, als ihre Schwangerschaft feststand, weil mein Vater noch keine achtzehn war? Das wurde er erst im Oktober 1942.
Wie meine Mutter mir sagte: »Dank einer glücklichen Fügung wurde das Einberufungsalter so weit herabgesetzt.« (Erst später fiel mir auf, dass der Ausdruck glückliche Fügung aus dem üblichen Wortschatz meiner Mutter herausfiel; vielleicht sprach da der Harvard-Knabe aus ihr.)
»Dein Vater dachte, es wäre seiner militärischen Karriere förderlich, wenn er sich freiwillig meldete, und im Januar 1943 war es so weit«, erfuhr ich von meiner Mutter. (Die »militärische Karriere« klang auch nicht nach ihrem Wortschatz, sondern eindeutig nach dem des Harvard- Knaben.)
Mein Vater fuhr im März 1943 mit dem Bus nach Fort Devens, Massachusetts, wo er seine Grundausbildung begann. Damals war die Air Force als neue Einheit noch den Bodentruppen zugeteilt; ihm wurde das Spezialgebiet Verschlüsselungstechnik zugewiesen. Für ihre Grundausbildung hatte die Air Force ganz Atlantic City samt der umliegenden Dünen mit Beschlag belegt. Mein Vater und seine Mitrekruten bezogen Quartier in den Luxushotels und verwüsteten sie. Mit den Worten meines Großvaters: »In den Hotelbars wurde nie der Personalausweis verlangt. An den Wochenenden strömten die jungen Frauen - vor allem Regierungsangestellte aus Washington, d.c. - in die Stadt. Das war ein munteres Treiben, kannst du mir glauben - bis dahin, dass in den Dünen allerlei Waffen abgefeuert wurden. «
Meine Mutter sagte, sie habe meinen Vater »ein- oder zweimal« in Atlantic City besucht. (Als sie noch nicht verheiratet waren und ich ein Jahr alt war?)
Zu jener »Hochzeit« im April 1943 muss meine Mutter mit meinem Großvater angereist sein; und zwar kurz bevor mein Vater zur Kryptographenausbildung der Air Force in Pawling, New York, geschickt wurde - wo er den Umgang mit Codebüchern und Spruchschlüsseln lernte. Von dort kam mein Vater im Spätsommer 1943 nach Chanute Field in Rantoul, Illinois. »In Illinois hat er das Dechiffrieren von der Pike auf gelernt«, sagte meine Mutter. (»Von der Pike auf« gehörte ebenfalls nicht zum mütterlichen Grundwortschatz.)
»In Chanute Field hat dein Vater die elementare militärische Chiffriermaschine kennengelernt - im Grunde genommen ein Fernschreiber, mit einem Satz elektrischer Verschlüsselungswalzen dran«, erzählte mir mein Großvater. Ebenso gut hätte er Lateinisch reden können; höchstwahrscheinlich hätte nicht einmal mein abwesender Vater mir die Funktionsweise einer Chiffriermaschine verständlich machen können.
Mein Großvater verwendete »Codeknacker« und »Sergeant « nie abschätzig, und er berichtete mir begeistert von den Kriegserlebnissen meines Vaters. Als Laienschauspieler in den First Sister Players muss er sich das gute Gedächtnis antrainiert haben, das man braucht, um sich so spezielle und diffizile Fakten zu merken. Grandpa konnte mir haarklein schildern, was meinem Dad alles zugestoßen war - wobei die Kriegserlebnisse eines Kryptographen, das Ver- und Entschlüsseln von Geheimbotschaften, durchaus ihren Reiz für mich hatten.
Die u.s. 15th Air Force kam in Italien zum Einsatz, ihr Hauptquartier war in Bari. Das 760. Bombengeschwader, zu dem mein Vater gehörte, war im Armee-Flugstützpunkt von Spinazzola stationiert - auf dem Land, südlich von Bari.
Im Anschluss an die Landung der Alliierten in Italien bombardierte die 15th Air Force Süddeutschland, Österreich und den Balkan. Von November 1943 bis September 1945 verloren die usa in diesen Gefechten über tausend schwere B-24-Bomber. Aber Kryptographen flogen nicht. Mein Vater wird kaum je aus dem Coderaum auf dem Stützpunkt in Spinazzola herausgekommen sein; die verbleibenden zwei Kriegsjahre beschäftigte er sich mit seinen Codebüchern und dem geheimnisvollen Chiffrierapparat.
Während die Bomber Angriffe auf Nazifabriken in Österreich und Erdölfelder in Rumänien flogen, kam mein Vater nie über Bari hinaus - hauptsächlich, um dort seine Zigaretten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. (Sergeant William Francis Dean war Nichtraucher, hatte meine Mutter mir versichert; vom Verkauf seiner Zigaretten in Bari konnte er sich ein Auto leisten, als er nach Boston zurückkam - ein Chevrolet Coupé, Baujahr 1940.)
Die Demobilisierung meines Vaters ging relativ reibungslos vonstatten. Das Frühjahr 1945 verbrachte er in Neapel, das er als »bezaubernd, lebensfroh und bierselig« schilderte. (Wem schilderte er es? Wenn er sich von meiner Mutter scheiden ließ, bevor ich zwei war - wie hatte er das angestellt? -, warum schrieb er ihr dann noch, als ich schon drei war?)
Vielleicht schrieb er stattdessen meinem Großvater; Grandpa hatte mir erzählt, dass mein Vater in Neapel an Bord eines Transportschiffs der Navy gegangen war. Nach kurzem Aufenthalt in Trinidad wurde er mit einer C-47 zu einem Stützpunkt in Natal, Brasilien, geflogen, wo der Kaffee »sehr gut« war. Aus Brasilien flog ihn eine weitere - diesmal als »klapprig« bezeichnete - C-47 nach Miami. Ein Truppenzug Richtung Norden verteilte die heimkehrenden Soldaten auf ihre Garnisonen, von wo sie entlassen werden sollten; und so kam es, dass mein Vater sich in Fort Devens, Massachusetts, wiederfand.
Als er im Oktober 1945 entlassen wurde, konnte er sein Studium nicht sofort wiederaufnehmen; also erstand er mit seinem Schwarzmarktgeld den Chevy und nahm einen Aushilfsjob in der Spielzeugabteilung von Jordan Mash an, dem größten Kaufhaus in Boston. Im Herbst 1946 kehrte er nach Harvard zurück, mit Romanistik im Hauptfach; wie Grandpa mir erklärte, waren das die Sprachen und Literaturen von Frankreich, Spanien, Italien und Portugal. (»Na, halt zwei oder drei davon«, sagte Grandpa.)
»Dein Vater war ein Ass in Fremdsprachen«, sagte mir meine Mutter - daher vielleicht auch ein Ass in Kryptographie? Aber was interessierte meine Mutter oder meinen Großvater das Hauptfach meines durchgebrannten Vaters in Harvard? Wieso kannten sie diese Details überhaupt? Warum hatte man sie ihnen mitgeteilt?
Lange Jahre bekam ich von meinem Vater nur ein einziges Foto zu sehen. Darauf sieht er sehr jung und sehr dünn aus; es stammt aus dem späten Frühjahr oder Frühsommer 1945. Man sieht ihn eisschleckend auf dem Navy-Transportschiff, irgendwo zwischen der Küste Süditaliens und der Karibik, bevor sie in Trinidad anlegten.
Vermutlich beschäftigte vor allem der schwarze Panther auf der Fliegerjacke meines Vaters meine kindliche Phantasie; dieser finster dreinblickende Panther war das Symbol der 460. Bomberstaffel. (Obwohl Kryptographen nicht flogen, wurden auch an sie Fliegerjacken ausgegeben.)
Ich war von der übermächtigen fixen Idee besessen, etwas von dem Kriegshelden stecke in mir, auch wenn sich die Kriegsabenteuer meines Vaters genau genommen nicht sonderlich heldenhaft anhörten - nicht einmal für meine kindlichen Ohren. Aber mein Großvater war echter Zweiter-Weltkrieg-Fan - Sie wissen schon, so einer, der jede noch so winzige Kleinigkeit faszinierend findet -, weshalb ich ständig von ihm zu hören bekam: »Ich sehe den künftigen Helden in dir!«
Meine Großmutter hatte praktisch nichts Positives über William Francis Dean zu sagen, und meine Mutter beschrieb ihn immer nur als »sehr gutaussehend« oder »Mordsdraufgänger «, und mehr kam da nicht.
Nein, das stimmt nicht ganz. Als ich sie fragte, warum sie und mein Vater auseinandergegangen seien, sagte sie mir, sie habe meinen Dad eine andere Person küssen sehen. »Ich hab gesehen, wie er eine andere Person geküsst hat«, war ihr einziger Kommentar, so unbeteiligt, als souffliere sie einem Schauspieler, der die Formulierung andere Person vergessen hätte. Daraus konnte ich nur schließen, dass sie den Kuss beobachtet hatte, als sie schon mit mir schwanger war - möglicherweise sogar nach meiner Geburt -, und dass sie genug von der Mund-zu-Mund-Begegnung gesehen hatte, um zu wissen, dass es sich nicht um einen unschuldigen Kuss handelte.
Copyright © Diogenes Verlag AG www.diogenes.ch
Das Wort Kausalität versuche ich gar nicht erst auszusprechen, wohingegen ich mir durchaus eine halbwegs verständliche falsche Aussprache von Bibliothek oder Bibliotheken abringen kann, bei der das vertrackte Wort am Ende wie eine exotische Frucht herauskommt. (»Bibbelothek«, oder »Bibbelotheken«, sage ich - kindisch.)
Umso komischer, dass meine erste Bibliothek nicht der Rede wert war. Es war die Gemeindebücherei des Örtchens First Sister in Vermont, ein gedrungener roter Klinkerbau an der Straße, in der auch meine Großeltern wohnten. Ich lebte bei ihnen in der River Street, bis ich fünfzehn war und meine Mutter wieder heiratete. Meinen Stiefvater hatte sie bei einer Theateraufführung kennengelernt.
Die örtliche Laienschauspieltruppe nannte sich die First Sister Players; soweit ich zurückdenken kann, habe ich alle Aufführungen im kleinen Theater unseres Städtchens gesehen. Meine Mutter war die Souffleuse: Wenn jemand seinen Text vergaß, sagte sie ihm vor. (Da es eine Laientruppe war, wurde eine Menge Text vergessen.) Lange glaubte ich, die Souffleuse sei auch Schauspielerin - eine, die geheimnisvollerweise nicht mit auf der Bühne stand und nicht kostümiert, aber für den reibungslosen Ablauf unentbehrlich war.
Als meine Mutter ihn kennenlernte, war mein Stiefvater ganz neu bei den First Sister Players. Er war gerade erst zugezogen, um in der Favorite River Academy zu unterrichten - der fast schon renommierten Privatschule, damals nur für Jungen. Schon als Kind, spätestens aber mit zehn oder elf, muss ich gewusst haben, dass ich irgendwann, wenn ich »groß genug« wäre, auf diese Schule gehen würde. Die Bibliothek der Academy war moderner und besser beleuchtet, aber die Gemeindebibliothek von First Sister war meine erste Bibliothek, und die dortige Bibliothekarin meine erste Bibliothekarin. (Übrigens hatte ich mit der Aussprache von »Bibliothekarin« noch nie Mühe.)
Natürlich war Miss Frost ein unvergesslicheres Erlebnis als die Bibliothek. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ihren Vornamen erst lange nach unserer ersten Begegnung erfuhr. Jeder nannte sie Miss Frost, und ich hatte den Eindruck, dass sie so alt wie meine Mutter oder etwas jünger war, als ich endlich meinen ersten Bibliotheksausweis aus ihren Händen empfing. Meine Tante, eine ausgesprochen herrische Person, hatte mir gesagt, Miss Frost habe »früher mal sehr gut ausgesehen«, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Miss Frost jemals besser ausgesehen hatte als zu dem Zeitpunkt unserer ersten Begegnung - obwohl sich bei mir auch als Kind schon das meiste nur in der Phantasie abspielte. Meine Tante behauptete, sämtliche heiratsfähigen Männer am Ort hätten sich früher beim Anblick von Miss Frost überschlagen. Wenn einer von ihnen den Mumm aufbrachte, sie anzusprechen - Miss Frost womöglich sogar seinen Namen zu nennen -, habe die damals schöne Bibliothekarin ihn nur kühl gemustert und mit eisiger Stimme gesagt: »Ich heiße Miss Frost, bin unverheiratet und werde es auch bleiben.«
Daher war Miss Frost immer noch ledig, als ich sie kennenlernte; die heiratsfähigen Männer in First Sister hatten - für mich unbegreiflich - längst aufgehört, sie anzusprechen.
Der entscheidende Roman von Charles Dickens - der mich dazu brachte, Schriftsteller werden zu wollen - war Große Erwartungen. Ich muss damals fünfzehn gewesen sein - sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Lektüre. Ich weiß, dass es vor meinem Wechsel an die weiterführende Schule war, weil ich mir das Buch aus der Stadtbücherei von First Sister holte - zweimal. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich dieses Buch erneut ausleihen wollte; nie zuvor hatte ich den Wunsch verspürt, einen ganzen Roman noch mal zu lesen.
Miss Frost sah mich mit durchdringendem Blick an. Damals reichte ich ihr nur knapp bis an die Schultern. »Miss Frost war früher mal, was man ›gutgebaut‹ nennt«, hatte meine Tante mir gesagt, als gehörten selbst Miss Frosts Statur und Figur der Vergangenheit an. (Für mich war sie ein Leben lang gut gebaut.)
Miss Frost war eine Frau mit aufrechter Haltung und breiten Schultern, mein Hauptaugenmerk allerdings galt ihren kleinen, aber wohlgeformten Brüsten. In scheinbarem Widerspruch zu ihrer mannhaften Größe und unübersehbaren körperlichen Stärke hatten Miss Frosts Brüste etwas überraschend Frisches, unwahrscheinlich Knospendes, Jungmädchenhaftes. Mir war schleierhaft, wie eine ältere Frau so aussehen konnte, doch ihre Brüste mussten die Phantasie jedes Knaben anregen, der ihr begegnete; jedenfalls bildete ich mir das ein, als ich sie - wann war das noch gleich? - 1955 kennenlernte. Damit nicht genug; man muss wissen, dass Miss Frost nie aufreizend gekleidet war, jedenfalls nicht in der vorschriftsmäßigen Stille der gottverlassenen Stadtbücherei von First Sister; ob morgens oder abends, ganz egal, zu welcher Tageszeit, Besucher gab es praktisch nie.
Meine herrische Tante hatte ich (zu meiner Mutter) sagen hören: »Miss Frost ist weit über das Alter hinaus, in dem Teenager-bhs ausreichen.« Mit dreizehn hatte ich das so verstanden, dass Miss Frosts Brüste - in der kritischen Sicht meiner Tante - überhaupt nicht zu ihren bhs passten, oder umgekehrt. Das fand ich gar nicht! Und während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, warum meine Tante und ich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf Miss Frosts Brüste fixiert waren, bedachte mich die imposante Bibliothekarin mit dem bewussten durchdringenden Blick.
Mit dreizehn hatte ich sie kennengelernt; in diesem einschüchternden Moment war ich fünfzehn, aber was die Intensität von Miss Frosts langem bohrenden Blick anging, hatte ich das Gefühl, als schaue sie so schon mindestens zwei Jahre. Schließlich beschied sie meinen Wunsch, die Großen Erwartungen noch mal zu lesen, mit: »Den Roman hast du schon gelesen, William.«
»Ja, ich fand ihn toll«, beteuerte ich - nur um nicht damit herauszuplatzen, wie toll ich sie fand. Sie war äußerst förmlich - der erste Mensch, der mich ausnahmslos mit William anredete. In der Familie und unter Freunden war ich nur Bill oder Billy.
Ich wollte Miss Frost mit nichts als ihrem bh am Leib sehen, der (nach Ansicht meiner sittenstrengen Tante) nicht genügend Halt bot. Doch anstatt mit solch einer Taktlosigkeit herauszuplatzen, sagte ich: »Ich will Große Erwartungen noch mal lesen.« (Kein Wort über meine Vorahnung, Miss Frost habe einen mindestens ebenso verhängnisvollen Eindruck auf mich gemacht wie Estella im Roman auf den armen Pip.)
»Jetzt schon?«, fragte Miss Frost. »Du hast den Roman doch erst vor einem Monat gelesen!«
»Ich kann's kaum erwarten, ihn noch mal zu lesen«, sagte ich.
»Charles Dickens hat viele Bücher geschrieben«, erklärte mir Miss Frost. »Du solltest es mal mit einem anderen versuchen, William.«
»Oh, das kommt noch«, versicherte ich ihr, »aber erst will ich das hier noch mal lesen.«
Miss Frosts zweites »William« hatte bei mir eine spontane Erektion ausgelöst - auch wenn ich mit fünfzehn einen kleinen Penis und einen lachhaft enttäuschenden Ständer hatte. (Dazu nur so viel: Es bestand keinerlei Gefahr, dass Miss Frost meine Erektion bemerkte.)
Meine besserwisserische Tante hatte meiner Mutter gesagt, ich sei ein Spätentwickler. Selbstredend hatte sie »Spätentwickler« in einem anderen (oder allgemeineren) Sinne gemeint; soweit ich wusste, hatte sie meinen Penis seit meiner frühen Kindheit nicht mehr gesehen - wenn überhaupt. Zum Wort Penis fällt mir bestimmt noch viel mehr ein. Hier muss genügen, dass mir die Aussprache von »Penis « größte Mühe bereitet; in meiner verquasten Diktion hört sich das »s« gelispelt an, wie »Penith« - wenn ich es überhaupt herausbringe -, genau wie ein englisches »th«. (Den Plural umschiffe ich weiträumig.)
Jedenfalls ahnte Miss Frost nichts von meinen sexuellen Nöten, als ich Große Erwartungen erneut auszuleihen versuchte. Stattdessen vermittelte sie mir den Eindruck, bei der stattlichen Anzahl von Büchern in der Bibliothek wäre es eine unmoralische Zeitverschwendung, auch nur eines davon noch mal zu lesen.
»Was ist so Besonderes an Große Erwartungen?«, fragte sie mich.
Sie war der erste Mensch, dem ich erzählte, dass ich »wegen « Große Erwartungen Schriftsteller werden wollte, während es in Wahrheit ihretwegen war.
»Schriftsteller willst du also werden!«, rief Miss Frost, was nicht sonderlich begeistert klang. (Jahre später sollte ich mich fragen, ob Miss Frost das Wort Homophiler wohl ebenso ungnädig quittiert hätte, wenn ich es ihr als meinen Berufswunsch genannt hätte.)
»Ja, Schriftsteller - glaub ich jedenfalls«, erwiderte ich.
»Du kannst unmöglich wissen, dass du mal Schriftsteller wirst!«, erklärte Miss Frost. »Diesen Beruf kann man sich nicht aussuchen.«
Wie recht sie damit doch hatte, auch wenn ich das damals noch nicht ahnen konnte. Ich legte mich nicht nur deshalb so ins Zeug, damit sie mich Große Erwartungen noch mal lesen ließ, sondern auch (während mir besonders gefiel, dass Miss Frost nach Luft schnappte), weil sie immer ungehaltener mit mir wurde - wobei ihre überraschend jungmädchenhaften Brüste auf und ab hüpften.
Jetzt, mit fünfzehn, stand es noch ganz genauso um mich wie zwei Jahre zuvor: Ich war bis über beide Ohren in sie verknallt. Was nicht ganz stimmt: Denn mittlerweile war ich noch viel mehr von ihr eingenommen als mit dreizehn, als ich nur davon phantasiert hatte, mit ihr Sex zu haben und Schriftsteller zu werden, während meine erotischen Phantasien jetzt ausgeklügelter, detaillierter und konkreter waren und ich schon ein paar Sätze verfasst hatte, auf die ich stolz war.
Natürlich war weder Sex mit Miss Frost noch der Schriftstellerberuf sehr wahrscheinlich - aber gab es nicht vielleicht doch irgendwo eine klitzekleine Chance? Seltsamerweise war ich hochmütig genug, das anzunehmen. Wo ich diese Anmaßung, diese Selbstüberschätzung wohl hernahm - tja, da konnte ich nur auf Vererbung tippen.
Und zwar nicht von meiner Mutter; ihre Rolle als Souffleuse hinter den Kulissen hatte für mich so gar nichts Anmaßendes. Schließlich verbrachte ich die meisten Abende mit ihr in dieser Heimstatt unterschiedlich (bis gar nicht) talentierter Mitglieder unseres städtischen Laienensembles. Die kleine Bühne war kein allzu stolzes, vor Selbstvertrauen strotzendes Unternehmen - daher die Souffleuse.
Falls mein Hochmut vererbt war, hatte ich ihn mit Sicherheit von meinem leiblichen Vater. Es hieß, ich sei ihm nie begegnet; alles, was ich von ihm kannte, war sein Ruf, und der klang nicht berauschend.
»Der Codeknacker« - wie mein Großvater ihn nannte - oder, selten, »der Sergeant«. Meine Mutter war wegen des Sergeants vom College abgegangen, sagte meine Großmutter. (»Sergeant«, stets abschätzig betont, gab sie den Vorzug vor »Codeknacker«.) Ob William Francis Dean direkt oder indirekt daran schuld war, dass meine Mutter ihr Studium abgebrochen hatte, wusste ich nicht. Stattdessen hatte sie eine Sekretärinnenschule besucht, aber erst, nachdem er sie mit mir geschwängert hatte. In der Folge hatte meine Mutter auch diese Ausbildung abgebrochen.
Sie erzählte mir, dass sie meinen Dad im April 1943 in Atlantic City, New Jersey, geheiratet hatte - ein bisschen spät für eine Mussheirat, weil ich in First Sister, Vermont, bereits im März 1942 zur Welt gekommen war. Ich war also ein Jahr alt, als sie ihn heiratete, und zur »Trauung« (eine rein standesamtliche Angelegenheit) war es vor allem auf Veranlassung meiner Großmutter gekommen - jedenfalls laut meiner Tante Muriel. Wie man mir zu verstehen gab, war William Francis Dean eher unfreiwillig in den Stand der Ehe getreten.
»Noch vor deinem zweiten Geburtstag waren wir geschieden «, hatte meine Mutter mir anvertraut. Weil ich die Heiratsurkunde gesehen hatte, erinnerte ich mich an den in meinen Augen exotischen, da weit von Vermont entfernten Ort Atlantic City; mein Vater war dort in der Grundausbildung gewesen. Die Scheidungspapiere zeigte mir niemand.
»Der Sergeant zeigte kein Interesse an Ehe und Kindern «, hatte meine Großmutter mir, sehr von oben herab, erklärt; schon damals war mir klar, dass meine Tante ihre Überheblichkeit von meiner Großmutter hatte.
Jedenfalls legitimierte mich aufgrund der Ereignisse in Atlantic City (auf wessen Veranlassung auch immer) diese Heiratsurkunde, wenn auch nachträglich. Ich wurde William Francis Dean jr. getauft, bekam also meines Vaters Namen, wenn schon nicht ihn persönlich. Und etwas von seinen Code knackergenen muss ich auch geerbt haben - das »Draufgängertum« des Sergeants, wie meine Mutter es nannte.
»Wie war er denn?«, hatte ich sie mindestens hundertmal gefragt. Darauf hatte sie immer so nette Antworten parat.
»Oh, er war ein sehr gutaussehender Mann - genau wie du später mal sein wirst«, versicherte sie mir dann lächelnd. »Und ein Mordsdraufgänger.« Als ich noch ein kleiner Junge war, ging meine Mutter sehr liebevoll mit mir um.
Ich weiß nicht, ob alle Knaben in der frühen Pubertät sich so wenig um Chronologie scheren wie ich damals, aber ich kam nie auf den Gedanken, die genaue zeitliche Abfolge zu untersuchen. Mein Vater muss meine Mutter im späten Mai oder frühen Juni 1941 geschwängert haben - gegen Ende seines ersten Studienjahres in Harvard. Trotzdem nannte ihn nie jemand - nicht einmal Tante Muriel mit ihren sarkastischen Bemerkungen - den Harvard-Knaben. Er wurde immer nur der Codeknacker (oder der Sergeant) genannt, obwohl meine Mutter auf seinen Bezug zu Harvard durchaus stolz war.
»Stell dir vor, mit fünfzehn in Harvard anzufangen!«, hatte ich sie mehr als einmal sagen hören.
Aber wenn mein Mordsdraufgänger-Vater in seinem ersten Harvard-Semester (im September 1940) fünfzehn gewesen war, musste er jünger als meine Mutter sein, die im April Geburtstag hatte. Im April 1940 war sie schon zwan- zig gewesen; einen Monat nach meiner Geburt im März 1942 wurde sie zweiundzwanzig.
Hatten sie etwa nicht geheiratet, als ihre Schwangerschaft feststand, weil mein Vater noch keine achtzehn war? Das wurde er erst im Oktober 1942.
Wie meine Mutter mir sagte: »Dank einer glücklichen Fügung wurde das Einberufungsalter so weit herabgesetzt.« (Erst später fiel mir auf, dass der Ausdruck glückliche Fügung aus dem üblichen Wortschatz meiner Mutter herausfiel; vielleicht sprach da der Harvard-Knabe aus ihr.)
»Dein Vater dachte, es wäre seiner militärischen Karriere förderlich, wenn er sich freiwillig meldete, und im Januar 1943 war es so weit«, erfuhr ich von meiner Mutter. (Die »militärische Karriere« klang auch nicht nach ihrem Wortschatz, sondern eindeutig nach dem des Harvard- Knaben.)
Mein Vater fuhr im März 1943 mit dem Bus nach Fort Devens, Massachusetts, wo er seine Grundausbildung begann. Damals war die Air Force als neue Einheit noch den Bodentruppen zugeteilt; ihm wurde das Spezialgebiet Verschlüsselungstechnik zugewiesen. Für ihre Grundausbildung hatte die Air Force ganz Atlantic City samt der umliegenden Dünen mit Beschlag belegt. Mein Vater und seine Mitrekruten bezogen Quartier in den Luxushotels und verwüsteten sie. Mit den Worten meines Großvaters: »In den Hotelbars wurde nie der Personalausweis verlangt. An den Wochenenden strömten die jungen Frauen - vor allem Regierungsangestellte aus Washington, d.c. - in die Stadt. Das war ein munteres Treiben, kannst du mir glauben - bis dahin, dass in den Dünen allerlei Waffen abgefeuert wurden. «
Meine Mutter sagte, sie habe meinen Vater »ein- oder zweimal« in Atlantic City besucht. (Als sie noch nicht verheiratet waren und ich ein Jahr alt war?)
Zu jener »Hochzeit« im April 1943 muss meine Mutter mit meinem Großvater angereist sein; und zwar kurz bevor mein Vater zur Kryptographenausbildung der Air Force in Pawling, New York, geschickt wurde - wo er den Umgang mit Codebüchern und Spruchschlüsseln lernte. Von dort kam mein Vater im Spätsommer 1943 nach Chanute Field in Rantoul, Illinois. »In Illinois hat er das Dechiffrieren von der Pike auf gelernt«, sagte meine Mutter. (»Von der Pike auf« gehörte ebenfalls nicht zum mütterlichen Grundwortschatz.)
»In Chanute Field hat dein Vater die elementare militärische Chiffriermaschine kennengelernt - im Grunde genommen ein Fernschreiber, mit einem Satz elektrischer Verschlüsselungswalzen dran«, erzählte mir mein Großvater. Ebenso gut hätte er Lateinisch reden können; höchstwahrscheinlich hätte nicht einmal mein abwesender Vater mir die Funktionsweise einer Chiffriermaschine verständlich machen können.
Mein Großvater verwendete »Codeknacker« und »Sergeant « nie abschätzig, und er berichtete mir begeistert von den Kriegserlebnissen meines Vaters. Als Laienschauspieler in den First Sister Players muss er sich das gute Gedächtnis antrainiert haben, das man braucht, um sich so spezielle und diffizile Fakten zu merken. Grandpa konnte mir haarklein schildern, was meinem Dad alles zugestoßen war - wobei die Kriegserlebnisse eines Kryptographen, das Ver- und Entschlüsseln von Geheimbotschaften, durchaus ihren Reiz für mich hatten.
Die u.s. 15th Air Force kam in Italien zum Einsatz, ihr Hauptquartier war in Bari. Das 760. Bombengeschwader, zu dem mein Vater gehörte, war im Armee-Flugstützpunkt von Spinazzola stationiert - auf dem Land, südlich von Bari.
Im Anschluss an die Landung der Alliierten in Italien bombardierte die 15th Air Force Süddeutschland, Österreich und den Balkan. Von November 1943 bis September 1945 verloren die usa in diesen Gefechten über tausend schwere B-24-Bomber. Aber Kryptographen flogen nicht. Mein Vater wird kaum je aus dem Coderaum auf dem Stützpunkt in Spinazzola herausgekommen sein; die verbleibenden zwei Kriegsjahre beschäftigte er sich mit seinen Codebüchern und dem geheimnisvollen Chiffrierapparat.
Während die Bomber Angriffe auf Nazifabriken in Österreich und Erdölfelder in Rumänien flogen, kam mein Vater nie über Bari hinaus - hauptsächlich, um dort seine Zigaretten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. (Sergeant William Francis Dean war Nichtraucher, hatte meine Mutter mir versichert; vom Verkauf seiner Zigaretten in Bari konnte er sich ein Auto leisten, als er nach Boston zurückkam - ein Chevrolet Coupé, Baujahr 1940.)
Die Demobilisierung meines Vaters ging relativ reibungslos vonstatten. Das Frühjahr 1945 verbrachte er in Neapel, das er als »bezaubernd, lebensfroh und bierselig« schilderte. (Wem schilderte er es? Wenn er sich von meiner Mutter scheiden ließ, bevor ich zwei war - wie hatte er das angestellt? -, warum schrieb er ihr dann noch, als ich schon drei war?)
Vielleicht schrieb er stattdessen meinem Großvater; Grandpa hatte mir erzählt, dass mein Vater in Neapel an Bord eines Transportschiffs der Navy gegangen war. Nach kurzem Aufenthalt in Trinidad wurde er mit einer C-47 zu einem Stützpunkt in Natal, Brasilien, geflogen, wo der Kaffee »sehr gut« war. Aus Brasilien flog ihn eine weitere - diesmal als »klapprig« bezeichnete - C-47 nach Miami. Ein Truppenzug Richtung Norden verteilte die heimkehrenden Soldaten auf ihre Garnisonen, von wo sie entlassen werden sollten; und so kam es, dass mein Vater sich in Fort Devens, Massachusetts, wiederfand.
Als er im Oktober 1945 entlassen wurde, konnte er sein Studium nicht sofort wiederaufnehmen; also erstand er mit seinem Schwarzmarktgeld den Chevy und nahm einen Aushilfsjob in der Spielzeugabteilung von Jordan Mash an, dem größten Kaufhaus in Boston. Im Herbst 1946 kehrte er nach Harvard zurück, mit Romanistik im Hauptfach; wie Grandpa mir erklärte, waren das die Sprachen und Literaturen von Frankreich, Spanien, Italien und Portugal. (»Na, halt zwei oder drei davon«, sagte Grandpa.)
»Dein Vater war ein Ass in Fremdsprachen«, sagte mir meine Mutter - daher vielleicht auch ein Ass in Kryptographie? Aber was interessierte meine Mutter oder meinen Großvater das Hauptfach meines durchgebrannten Vaters in Harvard? Wieso kannten sie diese Details überhaupt? Warum hatte man sie ihnen mitgeteilt?
Lange Jahre bekam ich von meinem Vater nur ein einziges Foto zu sehen. Darauf sieht er sehr jung und sehr dünn aus; es stammt aus dem späten Frühjahr oder Frühsommer 1945. Man sieht ihn eisschleckend auf dem Navy-Transportschiff, irgendwo zwischen der Küste Süditaliens und der Karibik, bevor sie in Trinidad anlegten.
Vermutlich beschäftigte vor allem der schwarze Panther auf der Fliegerjacke meines Vaters meine kindliche Phantasie; dieser finster dreinblickende Panther war das Symbol der 460. Bomberstaffel. (Obwohl Kryptographen nicht flogen, wurden auch an sie Fliegerjacken ausgegeben.)
Ich war von der übermächtigen fixen Idee besessen, etwas von dem Kriegshelden stecke in mir, auch wenn sich die Kriegsabenteuer meines Vaters genau genommen nicht sonderlich heldenhaft anhörten - nicht einmal für meine kindlichen Ohren. Aber mein Großvater war echter Zweiter-Weltkrieg-Fan - Sie wissen schon, so einer, der jede noch so winzige Kleinigkeit faszinierend findet -, weshalb ich ständig von ihm zu hören bekam: »Ich sehe den künftigen Helden in dir!«
Meine Großmutter hatte praktisch nichts Positives über William Francis Dean zu sagen, und meine Mutter beschrieb ihn immer nur als »sehr gutaussehend« oder »Mordsdraufgänger «, und mehr kam da nicht.
Nein, das stimmt nicht ganz. Als ich sie fragte, warum sie und mein Vater auseinandergegangen seien, sagte sie mir, sie habe meinen Dad eine andere Person küssen sehen. »Ich hab gesehen, wie er eine andere Person geküsst hat«, war ihr einziger Kommentar, so unbeteiligt, als souffliere sie einem Schauspieler, der die Formulierung andere Person vergessen hätte. Daraus konnte ich nur schließen, dass sie den Kuss beobachtet hatte, als sie schon mit mir schwanger war - möglicherweise sogar nach meiner Geburt -, und dass sie genug von der Mund-zu-Mund-Begegnung gesehen hatte, um zu wissen, dass es sich nicht um einen unschuldigen Kuss handelte.
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Autoren-Porträt von John Irving
John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 14 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans 'Gottes Werk und Teufels Beitrag'.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Irving
- 2013, 04. Aufl., 736 Seiten, Maße: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Hans M. Herzog, Astrid Arz
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257242700
- ISBN-13: 9783257242706
- Erscheinungsdatum: 22.11.2013
Pressezitat
»Ein wirklich großer Geschichtenerzähler.« Thomas David / Neue Zürcher Zeitung Neue Zürcher Zeitung
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