In seinen Händen
"Ein virtuos choreographierter Tanz um Schuld und Unschuld, Vergebung und Vergeltung."
PUBLISHERS WEEKLY
Die 17-jährige Haley McWaid, Vorzeigeschülerin und Liebling ihrer stolzen Eltern, verschwindet von einem Tag auf den...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „In seinen Händen “
"Ein virtuos choreographierter Tanz um Schuld und Unschuld, Vergebung und Vergeltung."
PUBLISHERS WEEKLY
Die 17-jährige Haley McWaid, Vorzeigeschülerin und Liebling ihrer stolzen Eltern, verschwindet von einem Tag auf den anderen spurlos. Eine verzweifelte Suche beginnt. Derweil feiert Fernsehreporterin Wendy Tynes mit ihrer Show Quotenerfolge: Vor laufender Kamera stellt sie mutmaßlichen Pädophilen eine Falle. Ihr neues Opfer ist Sozialarbeiter Dan Mercer, der bald auch mit Haleys Verschwinden in Verbindung gebracht wird. Doch es ist nichts so, wie es scheint, und Wendys Nachforschungen führen sie ganz nahe an den Abgrund.
HARLAN COBEN wurde 1962 in New Jersey geboren. Er studierte Politikwissenschaft und arbeitete dann in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seitdem hat er 17 Thriller veröffentlicht, die in 40 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Harlan Coben lebt mit Frau und vier Kindern in New Jersey.
Lese-Probe zu „In seinen Händen “
In seinen Händen von Harlan Coben Prolog
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Ich wusste, wenn ich die rote Tür öffnete, würde das mein Leben zerstören. Ich weiß, das klingt sehr melodramatisch und nach bösen Vorahnungen, dabei bin ich wirklich kein Freund solcher Sachen, und eigentlich hatte die rote Tür auch nichts Bedrohliches an sich. Es war eine vollkommen normale Tür, wie man sie in drei von vier Häusern in den Vororten findet: Holztäfelung, leicht ausgebleichte Farbe, ein Messingknauf und in Brusthöhe ein Klopfer, den nie jemand benutzte. Als ich aber im schwachen Licht einer fernen Straßenlaterne darauf zuging und die finstere Öffnung wie ein weit geöffneter Schlund darauf wartete, mich am Stück zu verschlingen, verstärkte sich das Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein. Jeder Schritt vorwärts kostete mich ungeheuer viel Kraft, als ob ich nicht einen etwas unebenen Weg entlanggehen, sondern durch noch nicht getrockneten Zement waten würde. Mein Körper zeigte alle klassischen Symptome einer bevorstehenden Katastrophe: Frösteln am Rückgrat? Vorhanden. Gänsehaut an den Armen? Yep. Kribbeln im Nacken? Ja. Kitzeln auf der Kopfhaut? Check. Das Haus lag vollkommen im Dunkeln, es war kein einziges Licht zu sehen. Darauf hatte Chynna mich schon vorbereitet. Doch das ganze Ensemble war fast schon zu typisch, entsprach fast zu sehr Schema Fund war fast zu unscheinbar. Aus irgendeinem Grund störte mich das. Außerdem lag es einsam und verlassen am Ende einer Sackgasse, kauerte da ganz hinten in der Dunkelheit, als wollte es sich vor Eindringlingen verstecken. Das gefiel mir nicht. Die ganze Sache gefiel mir nicht, aber das ist nun einmal mein Job. Als Chynna anrief, war das Spiel der E-Jugend- Basketballmannschaft, die ich im Stadtzentrum von Newark betreue, gerade vorbei. Mein Team, lauter Viertklässler, die, wie ich, als Waise aufgewachsen waren (wir nennen uns die NoRents, Abkürzung von No Parents, die Elternlosen - Galgenhumor), hatte es geschafft, eine Sechs-Punkte-Führung innerhalb der letzten zwei Minuten zu verspielen. Genau wie im richtigen Leben waren die NoRents auch auf dem Platz nicht besonders gut, wenn sie unter Druck gerieten. Chynna rief an, als ich meine jungen Korbjäger nach dem Spiel für die kurze Nachbesprechung um mich versammelt hatte, also die üblichen aufmunternden Worte beziehungsweise tiefschürfenden Lebensweisheiten wie »Guter Versuch«, »Beim nächsten Mal schaff en wir's« und »Denkt daran, dass wir nächsten Donnerstag wieder ein Spiel haben« von mir gebe, alle in der Mitte die Hände aufeinanderlegen, sie zusammen hochwerfen und »Defense« schreien, die wir vermutlich vor allem deshalb heraufbeschwören, weil wir die Verteidigung in unserem Spiel vollkommen vernachlässigen.
»Dan?« »Wer ist da?« »Hier ist Chynna. Kannst du bitte kommen?« Ihre Stimme zitterte, also hatte ich das Team verabschiedet, war in den Wagen gesprungen und gerade hier angekommen. Ich hatte nicht einmal Zeit zum Duschen gehabt. Und so vermischte sich jetzt der Schweißgeruch aus der Sporthalle mit dem der Angst. Ich verlangsamte meinen Schritt. Was war los mit mir? Na ja, wahrscheinlich hätte ich doch kurz duschen sollen. Ungeduscht funktioniere ich nicht richtig. Habe ich noch nie. Aber Chynna war sehr bestimmt gewesen. Sofort, hatte sie gefleht. Noch bevor jemand nach Hause käme. Also war ich gekommen, und das graue T-Shirt mit großen, dunklen Schweißflecken klebte mir auf der Brust, während ich auf die Tür zuging. Wie die meisten Jugendlichen, mit denen ich arbeite, kämpfte auch Chynna mit ernsthaften Problemen, und vielleicht läuteten deshalb jetzt meine Alarmglocken. Ihre Stimme hatte mir am Telefon ganz und gar nicht gefallen, genauso wenig wie jetzt hier diese ganze Situation. Ich atmete tief durch und sah mich um. In der Ferne waren ein paar Lebenszeichen im nächtlichen Vorort zu erkennen - beleuchtete Häuser, das Flackern eines Fernsehers oder Computer-Bildschirms im Fenster, ein geöffnetes Garagentor -, aber hier in dieser Sackgasse tat sich nichts, alles war still und bewegungslos, hier herrschte Stille im Dunkeln. Mein Handy vibrierte, worauf ich vor Schreck einen Satz machte. Ich dachte, es wäre Chynna, aber nein, es war Jenna, meine Exfrau. Ich drückte auf Annehmen und sagte: »Hey.« »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte sie. »Ich bin grade sehr beschäftigt.« »Ich brauche morgen Abend einen Babysitter. Wenn du willst, kannst du Shelly ruhig mitbringen.« »Shelly und ich, äh, wir haben ein paar Probleme«, sagte ich.»Schon wieder? Aber sie ist gut für dich.« »Ich habe Schwierigkeiten, gute Frauen bei mir zu behalten.« »Das kannst du laut sagen.«
Jenna, meine wunderbare Exfrau, ist seit acht Jahren wieder verheiratet. Ihr neuer Mann ist ein angesehener Chirurg namens Noel Wheeler. Noel hilft mir auch ehrenamtlich im Jugendzentrum. Ich mag Noel, und er mag mich. Er hat eine Tochter mit in die Ehe gebracht, dann ist noch die inzwischen sechsjährige Kari dazugekommen. Ich bin Karis Patenonkel, und beide Kinder nennen mich Onkel Dan. Wenn ein Babysitter gebraucht wird, bin ich die erste Wahl. Ich weiß, dass das alles furchtbar zivilisiert und naiv klingt - und das ist es wohl auch. Für mich mag es schiere Notwendigkeit sein. Ich habe sonst niemanden - weder Eltern noch Geschwister -, also ist meine Exfrau sozusagen die nächste Verwandte. Mein Leben sind die Kids, mit denen ich arbeite, denen ich Rechtsbeistand leiste, denen ich zu helfen und Schutz zu geben versuche. Wobei ich im Endeffekt nicht die geringste Ahnung habe, ob ich irgendetwas mit alledem erreiche. Jenna sagte: »Erde an Dan?« »Ich bin dann da«, sagte ich. »Halb sieben. Du bist der Beste.« Jenna machte ein Kussgeräusch in den Hörer und legte auf. Ich sah mein Handy einen Moment lang an und dachte an unsere Hochzeitsfeier. Für mich war die Ehe ein Fehler gewesen. Für mich war es generell ein Fehler, Menschen zu nahe zu kommen, und daran war nichts zu ändern. Jetzt wäre es wohl an der Zeit für ein paar Geigen, zu deren Aufschluchzen ich noch ein bisschen weiter vor mich hinphilosophieren könnte, dass es doch besser sei, wenn man geliebt und diese Liebe verloren hätte, als nie geliebt zu haben. Aber für mich triff t das einfach nicht zu. Leider liegt es in der Natur des Menschen, dieselben Fehler immer wieder zu machen, selbst wenn man es eigentlich besser wissen müsste. Hier stand ich also, der arme Waise, der sich ganz nach oben gekämpft hatte - bis an die Spitze seines Jahrgangs an einer Ivy-League-Universität - und der seine Vergangenheit trotzdem nie ganz abgelegt hatte. Auch wenn es schmalzig klingt, ich hätte eigentlich gern jemanden an meiner Seite. Leider ist das nicht meine Bestimmung. Ich bin ein Einzelgänger, geschaffen fürs Alleinsein. »Wir sind der Abfall der Evolution, Dan ...« Das hatte mir mein Lieblings-Pflegevater beigebracht. Er war Professor, der sich gerne in philosophischen Diskussionen erging. »Überleg doch mal, Dan. Was haben die Stärksten und Klügsten in der Geschichte der Menschheit von jeher getan? Sie sind in den Krieg gezogen. Erst im letzten Jahrhundert hat das aufgehört. Vorher haben wir unsere absolut besten Leute zum Kampf an die Front geschickt. Wer ist also zu Hause geblieben und hat sich vermehrt, während unsere Besten auf den Schlachtfeldern fielen? Die Lahmen, die Kranken, die Schwachen, die Krüppel, die Feiglinge - kurz gesagt, der Abfall. Und so sind wir dann entstanden, Dan - durch jahrtausendelanges Aussieben der Besten und die Fortpflanzung der Schwächlinge. Deshalb sind wir alle Abschaum - das Produkt jahrhunderte langer Fehlzucht.« Ich beachtete den Türklopfer nicht, sondern trommelte leicht mit den Fingerknöcheln gegen die Tür. Leise knarzend öffnete sie sich einen Spaltbreit. Ich hatte nicht gesehen, dass sie nur angelehnt war. Auch das gefiel mir nicht. Es gab hier eine ganze Menge, das mir nicht gefiel. Als Kind hatte ich mir viele Horrorfilme angeguckt, was ziemlich seltsam war, weil ich sie eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn mich irgendetwas aus der Dunkelheit ansprang und zu Tode erschreckte. Auch Filmblut konnte ich nicht ausstehen. Trotzdem hatte ich mir diese Filme angesehen und das idiotische Verhalten der Heldinnen in vollen Zügen genossen. Jetzt gingen mir genau diese Szenen durch den Kopf, die Szenen, in denen besagte idiotische Heldinnen an eine Tür klopften, die sich leicht öffnete, worauf man als Zuschauer schreien wollte: »Mach, dass du wegkommst, du spärlich bekleidete Tussi!« Aber sie ging völlig unverständlicherweise weiter ins Haus hinein, und kaum zwei Minuten später schlug der Killer ihr den Schädel ein und löffelte ihr das Hirn heraus. Eigentlich sollte ich sofort machen, dass ich wegkam. Und genau das wollte ich auch. Aber dann fiel mir Chynnas Anruf wieder an, ich dachte an ihre Worte und an das Zittern in ihrer Stimme. Ich seufzte, beugte mich vor und spähte durch den Spalt in den Flur. Dunkelheit. Schluss mit diesem Mantel-und-Degen-Kram. »Chynna?« Meine Stimme hallte durchs leere Haus. Ich rechnete nicht damit, eine Antwort zu bekommen. Keine Antwort. Das passte ins Gesamtbild. Ich stieß die Tür etwas weiter auf, trat vorsichtig einen Schritt vor ... »Dan? Ich bin hier hinten. Komm rein.« Die Stimme klang gedämpft und kam von ziemlich weit weg. Auch das gefiel mir nicht, aber jetzt würde ich auf keinen Fall zurückweichen. Zurückweichen hatte mich im Leben schon zu viel gekostet. Ich zögerte nicht mehr. Jetzt wusste ich, was zu tun war. Ich öffnete die Haustür, trat ein und schloss sie hinter mir. Andere hätten in meiner Lage eine Pistole oder irgendeine andere Waffe mitgebracht. Ich hatte darüber nachgedacht.
Aber das ist einfach nicht mein Stil. Außerdem war es jetzt zu spät, mir darüber Gedanken zu machen. Chynna zufolge war ohnehin sonst niemand zu Hause. Und wenn doch, na ja, dann würde ich eben improvisieren. »Chynna?« »Geh schon mal ins Wohnzimmer. Ich komme sofort.« Die Stimme klang ... falsch. Am Ende des Flurs fiel etwas Licht durch die leicht geöffnete Tür, also ging ich darauf zu. Ich hörte etwas. Ich blieb stehen und horchte. Fließendes Wasser. Vielleicht eine Dusche. »Chynna?« »Ich zieh mich nur um. Komme sofort.« Ich ging ins schwach beleuchtete Wohnzimmer. An der Tür war so ein Dimmer-Lichtschalter, und ich überlegte, ob ich das Licht heller stellen sollte, ließ es dann aber. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das Halbdunkel. Die Decke war vertäfelt, das Material sah aber weniger nach Holz als vielmehr nach Vinyl aus. An den Wänden hingen zwei Bilder von traurigen Clowns mit riesigen Blumen am Revers - vielleicht hatte sie jemand beim Resteflohmarkt nach dem Umbau eines extrem billigen Motels erstanden. Im Regal stand eine große Flasche billiger Wodka. Ich meinte, jemanden flüstern zu hören.
»Chynna?«, rief ich. Keine Antwort. Ich stand auf und lauschte. Nichts. Ich ging nach hinten, in die Richtung, aus der ich die Dusche gehört hatte. »Ich komm gleich«, sagte die Stimme. Ich zuckte zusammen. Ein kalter Schauer erfasste mich, denn jetzt hatte ich die Stimme aus der Nähe gehört. Und eins fand ich äußerst seltsam: Sie klang überhaupt nicht nach Chynna. Drei widerstreitende Gefühle erfassten mich. Erstens: Panik. Das war nicht Chynna. Sieh zu, dass du aus dem Haus kommst. Zweitens: Neugier. Wenn das nicht Chynna war, wer war das dann, und was war hier los? Drittens: wieder Panik. Chynna hatte mich angerufen - was war mit ihr passiert? Ich konnte hier jetzt nicht einfach abhauen. Ich trat einen Schritt auf die Tür zu, durch die ich hereingekommen war, als es plötzlich geschah. Ein Scheinwerfer leuchtete mir direkt ins Gesicht. Ich taumelte zurück und hob die Hand. »Dan Mercer?« Ich blinzelte. Frauenstimme. Geschult. Volles Timbre. Kam mir seltsam bekannt vor. »Wer sind Sie?« Plötzlich erschienen noch mehr Menschen im Zimmer. Ein Mann mit einer Kamera. Ein anderer mit etwas, das wie ein Mikrofon-Galgen aussah. Und die Frau mit der bekannt klingenden Stimme. Sie war atemberaubend mit den rotbraunen Haaren und ihrem Kostüm. »Wendy Tynes, NTC News. Was tun Sie hier, Dan?« Ich öff nete den Mund, bekam aber nichts heraus. Ich kannte die Frau aus der Fernsehshow ... »Warum haben Sie sich auf anzügliche Weise mit einer Dreizehnjährigen unterhalten, Dan? Wir haben das Gespräch aufgezeichnet.« ... die Pädophile in die Falle lockt und vor laufender Kamera entlarvt, damit die ganze Welt sie sieht und Zeuge ihres schändlichen Tuns wird. »Sind Sie hergekommen, um Sex mit einem dreizehnjährigen Mädchen zu haben?« Die Wahrheit dessen, was hier ablief, traf mich wie ein Keulenschlag und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Weitere Personen strömten ins Zimmer. Noch ein Kameramann. Ein Polizist. Die Kameras kamen näher an mich heran. Das Licht wurde heller. Auf meinen Augenbrauen sammelten sich Schweißtropfen. Ich fi ng an zu stammeln, wollte meine Unschuld beteuern. Aber es war vorbei. Zwei Tage später gingen die Bilder über den Sender. Die ganze Welt sah sie. Und wie ich es irgendwie schon gewusst hatte, als ich auf die rote Haustür zuging, war das Leben Dan Mercers zerstört. Als Marcia McWaid das leere Bett ihrer Tochter sah, geriet sie nicht sofort in Panik. Das würde später kommen.
Sie war um sechs Uhr aufgewacht, ziemlich früh für einen Samstagmorgen, und hatte sich fantastisch gefühlt. Ted, ihr Ehemann, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet war, schlief neben ihr im Bett. Er lag auf dem Bauch und hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt. Ted schlief am liebsten mit Hemd und ohne Hose. Ganz ohne. Von der Hüfte abwärts nackt. »Lässt einem Mann da unten ein bisschen Raum und Freiheit«, sagte er grinsend, wenn sie ihn darauf ansprach. Und Marcia antwortete im Singsang-Ton ihrer Teenager-Tochter: »T-M-I - Too Much Information. So genau wollte ich's gar nicht wissen.« Marcia befreite sich aus seiner Umarmung und ging in die Küche. Sie machte sich mit der neuen Keurig-Kapsel-Maschine eine Tasse Kaff ee. Ted liebte jede Art von technischen Geräten - Männerspielzeug -, aber dieses war wirklich ganz sinnvoll. Man nahm diese Kapsel, steckte sie in die Maschine, schon hatte man Kaffee. Kein Video-Display, kein Touch-Pad, keine drahtlose Netzverbindung. Marcia liebte es. Sie hatten vor Kurzem den Anbau fertiggestellt - ein zusätzliches Schlafzimmer, ein Bad und eine verglaste Nische in der Küche. Die Küchennische bot reichlich Morgensonne und war sofort zu dem Platz im Haus geworden, an dem Marcia am liebsten saß. Sie nahm die Kaffeetasse und die Zeitung, legte einen Fuß auf den Stuhl und setzte sich darauf. Ein kleines Stück vom Himmel. Sie las die Zeitung und schlürfte den Kaffee. In ein paar Minuten würde sie auf den Tagesplan gucken müssen. Ryan, ihr Drittklässler, musste um acht zu einem Basketballspiel erscheinen. Ted trainierte die Mannschaft. Sie hatte seit über einem Jahr kein Spiel mehr gewonnen. »Warum gewinnen deine Mannschaften nie?«, hatte Marcia ihn gefragt. »Ich suche die Kids nach zwei Kriterien aus.« »Die wären?« »Wie nett der Vater ist - und wie scharf die Mutter.«
Sie hatte ihm einen leichten Klaps gegeben, und vielleicht wäre Marcia tatsächlich ein bisschen besorgt gewesen, wenn sie nicht die Mütter am Spielfeld gesehen hätte und seitdem hundertprozentig sicher war, dass er einen Witz gemacht hatte. Tatsächlich war Ted ein wunderbarer Trainer, allerdings nicht in Hinsicht auf Taktik oder Spielstärke seiner Mannschaft, sondern was den Umgang mit den Kindern betraf. Alle liebten ihn, und weil er die Kinder nicht gegeneinander ausspielte, kamen selbst die untalentiertesten Spieler, die normalerweise schnell entmutigt waren und schon während der Saison aufhörten, jede Woche wieder. Ted hatte sogar einen Song von Bon Jovi genommen und ihn umgedreht: »You give losing a good name« - bei euch bekommt das Verlieren einen guten Ruf. Die Kids lachten und feierten jeden Korb, und genau so musste das bei Drittklässlern auch sein. Marcias vierzehnjährige Tochter Patricia musste zur Pro be der Highschool-Theatergruppe, die eine gekürzte Fassung des Musicals Les Misérables auff ührte. Sie spielte mehrere kleine Rollen und hatte damit offenbar reichlich zu tun. Und ihre Älteste, Haley, die kurz vor ihrem Highschool-Abschluss stand, leitete einen »Captains-Kursus« für ihre Mädchen im Lacrosse-Team. Ein »Captains-Kursus« zählte offiziell nicht als Training, bot aber eine Möglichkeit, im Rahmen der für den Highschool-Sport geltenden Richtlinien noch ein paar Zusatzeinheiten zu absolvieren. Kurz gesagt: kein Trainer, nichts Offizielles, nur ein lockeres Treff en oder eben ein Trainingsspiel mit etwas hochtrabendem Namen, das von den Mannschaftsführerinnen geleitet wurde. Wie die meisten Eltern in den Vororten empfand Marcia eine Art Hassliebe für den Sport. Einerseits wusste sie, wie unbedeutend das ganze Brimborium auf lange Sicht war, trotzdem ließ sie sich immer wieder davon mitreißen. Eine ruhige halbe Stunde als Tagesauftakt. Mehr brauchte sie nicht. Sie trank die erste Tasse Kaffee aus, machte sich eine zweite, nahm den »Lebensart«-Teil der Zeitung. Es war immer noch still im Haus. Sie stapfte die Treppe hinauf und sah nach ihren Schützlingen. Ryan schlief auf der Seite, das Gesicht praktischerweise der Tür zugewandt, sodass seine Mutter die Ähnlichkeit zu seinem Vater sah. Daneben war Patricias Zimmer. Auch sie schlief tief und fest. »Schatz?« Patricia bewegte sich, gab womöglich sogar ein Geräusch von sich. Genau wie in Ryans Zimmer sah es auch hier aus, als ob jemand strategisch geschickt ein paar Dynamitstangen in den Schubladen verteilt und diese dann gezündet hätte, worauf ein paar der Kleidungsstücke tot auf dem Boden zurückgeblieben waren. Andere hatten sich verwundet noch ein Stück weitergeschleppt und klammerten sich jetzt an die Schränke wie die Gefallenen der Französischen Revolution an die Barrikaden. »Patricia? In einer Stunde ist deine Probe.« »Ich bin schon wach«, stöhnte ihre Tochter mit einer Stimme, die genau das Gegenteil besagte. Marcia ging zum nächsten Zimmer, Haleys, und sah kurz hinein. Das Bett war leer. Es war auch gemacht, was Marcia allerdings nicht überraschte. Im Gegensatz zu den Rumpelkammern ihrer Geschwister war dieses Zimmer ordentlich, sauber und perfekt aufgeräumt. Es hätte ein Ausstellungsraum in einem Möbelgeschäft sein können. Es lagen keine Kleidungsstücke auf dem Fußboden, und sämtliche Schubladen waren ordentlich
geschlossen. Die Pokale - und davon gab es reichlich - standen sauber aufgereiht auf vier Regalbrettern.
© 2010 by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Übersetzung: Gunnar Kwisinski
Ich wusste, wenn ich die rote Tür öffnete, würde das mein Leben zerstören. Ich weiß, das klingt sehr melodramatisch und nach bösen Vorahnungen, dabei bin ich wirklich kein Freund solcher Sachen, und eigentlich hatte die rote Tür auch nichts Bedrohliches an sich. Es war eine vollkommen normale Tür, wie man sie in drei von vier Häusern in den Vororten findet: Holztäfelung, leicht ausgebleichte Farbe, ein Messingknauf und in Brusthöhe ein Klopfer, den nie jemand benutzte. Als ich aber im schwachen Licht einer fernen Straßenlaterne darauf zuging und die finstere Öffnung wie ein weit geöffneter Schlund darauf wartete, mich am Stück zu verschlingen, verstärkte sich das Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein. Jeder Schritt vorwärts kostete mich ungeheuer viel Kraft, als ob ich nicht einen etwas unebenen Weg entlanggehen, sondern durch noch nicht getrockneten Zement waten würde. Mein Körper zeigte alle klassischen Symptome einer bevorstehenden Katastrophe: Frösteln am Rückgrat? Vorhanden. Gänsehaut an den Armen? Yep. Kribbeln im Nacken? Ja. Kitzeln auf der Kopfhaut? Check. Das Haus lag vollkommen im Dunkeln, es war kein einziges Licht zu sehen. Darauf hatte Chynna mich schon vorbereitet. Doch das ganze Ensemble war fast schon zu typisch, entsprach fast zu sehr Schema Fund war fast zu unscheinbar. Aus irgendeinem Grund störte mich das. Außerdem lag es einsam und verlassen am Ende einer Sackgasse, kauerte da ganz hinten in der Dunkelheit, als wollte es sich vor Eindringlingen verstecken. Das gefiel mir nicht. Die ganze Sache gefiel mir nicht, aber das ist nun einmal mein Job. Als Chynna anrief, war das Spiel der E-Jugend- Basketballmannschaft, die ich im Stadtzentrum von Newark betreue, gerade vorbei. Mein Team, lauter Viertklässler, die, wie ich, als Waise aufgewachsen waren (wir nennen uns die NoRents, Abkürzung von No Parents, die Elternlosen - Galgenhumor), hatte es geschafft, eine Sechs-Punkte-Führung innerhalb der letzten zwei Minuten zu verspielen. Genau wie im richtigen Leben waren die NoRents auch auf dem Platz nicht besonders gut, wenn sie unter Druck gerieten. Chynna rief an, als ich meine jungen Korbjäger nach dem Spiel für die kurze Nachbesprechung um mich versammelt hatte, also die üblichen aufmunternden Worte beziehungsweise tiefschürfenden Lebensweisheiten wie »Guter Versuch«, »Beim nächsten Mal schaff en wir's« und »Denkt daran, dass wir nächsten Donnerstag wieder ein Spiel haben« von mir gebe, alle in der Mitte die Hände aufeinanderlegen, sie zusammen hochwerfen und »Defense« schreien, die wir vermutlich vor allem deshalb heraufbeschwören, weil wir die Verteidigung in unserem Spiel vollkommen vernachlässigen.
»Dan?« »Wer ist da?« »Hier ist Chynna. Kannst du bitte kommen?« Ihre Stimme zitterte, also hatte ich das Team verabschiedet, war in den Wagen gesprungen und gerade hier angekommen. Ich hatte nicht einmal Zeit zum Duschen gehabt. Und so vermischte sich jetzt der Schweißgeruch aus der Sporthalle mit dem der Angst. Ich verlangsamte meinen Schritt. Was war los mit mir? Na ja, wahrscheinlich hätte ich doch kurz duschen sollen. Ungeduscht funktioniere ich nicht richtig. Habe ich noch nie. Aber Chynna war sehr bestimmt gewesen. Sofort, hatte sie gefleht. Noch bevor jemand nach Hause käme. Also war ich gekommen, und das graue T-Shirt mit großen, dunklen Schweißflecken klebte mir auf der Brust, während ich auf die Tür zuging. Wie die meisten Jugendlichen, mit denen ich arbeite, kämpfte auch Chynna mit ernsthaften Problemen, und vielleicht läuteten deshalb jetzt meine Alarmglocken. Ihre Stimme hatte mir am Telefon ganz und gar nicht gefallen, genauso wenig wie jetzt hier diese ganze Situation. Ich atmete tief durch und sah mich um. In der Ferne waren ein paar Lebenszeichen im nächtlichen Vorort zu erkennen - beleuchtete Häuser, das Flackern eines Fernsehers oder Computer-Bildschirms im Fenster, ein geöffnetes Garagentor -, aber hier in dieser Sackgasse tat sich nichts, alles war still und bewegungslos, hier herrschte Stille im Dunkeln. Mein Handy vibrierte, worauf ich vor Schreck einen Satz machte. Ich dachte, es wäre Chynna, aber nein, es war Jenna, meine Exfrau. Ich drückte auf Annehmen und sagte: »Hey.« »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte sie. »Ich bin grade sehr beschäftigt.« »Ich brauche morgen Abend einen Babysitter. Wenn du willst, kannst du Shelly ruhig mitbringen.« »Shelly und ich, äh, wir haben ein paar Probleme«, sagte ich.»Schon wieder? Aber sie ist gut für dich.« »Ich habe Schwierigkeiten, gute Frauen bei mir zu behalten.« »Das kannst du laut sagen.«
Jenna, meine wunderbare Exfrau, ist seit acht Jahren wieder verheiratet. Ihr neuer Mann ist ein angesehener Chirurg namens Noel Wheeler. Noel hilft mir auch ehrenamtlich im Jugendzentrum. Ich mag Noel, und er mag mich. Er hat eine Tochter mit in die Ehe gebracht, dann ist noch die inzwischen sechsjährige Kari dazugekommen. Ich bin Karis Patenonkel, und beide Kinder nennen mich Onkel Dan. Wenn ein Babysitter gebraucht wird, bin ich die erste Wahl. Ich weiß, dass das alles furchtbar zivilisiert und naiv klingt - und das ist es wohl auch. Für mich mag es schiere Notwendigkeit sein. Ich habe sonst niemanden - weder Eltern noch Geschwister -, also ist meine Exfrau sozusagen die nächste Verwandte. Mein Leben sind die Kids, mit denen ich arbeite, denen ich Rechtsbeistand leiste, denen ich zu helfen und Schutz zu geben versuche. Wobei ich im Endeffekt nicht die geringste Ahnung habe, ob ich irgendetwas mit alledem erreiche. Jenna sagte: »Erde an Dan?« »Ich bin dann da«, sagte ich. »Halb sieben. Du bist der Beste.« Jenna machte ein Kussgeräusch in den Hörer und legte auf. Ich sah mein Handy einen Moment lang an und dachte an unsere Hochzeitsfeier. Für mich war die Ehe ein Fehler gewesen. Für mich war es generell ein Fehler, Menschen zu nahe zu kommen, und daran war nichts zu ändern. Jetzt wäre es wohl an der Zeit für ein paar Geigen, zu deren Aufschluchzen ich noch ein bisschen weiter vor mich hinphilosophieren könnte, dass es doch besser sei, wenn man geliebt und diese Liebe verloren hätte, als nie geliebt zu haben. Aber für mich triff t das einfach nicht zu. Leider liegt es in der Natur des Menschen, dieselben Fehler immer wieder zu machen, selbst wenn man es eigentlich besser wissen müsste. Hier stand ich also, der arme Waise, der sich ganz nach oben gekämpft hatte - bis an die Spitze seines Jahrgangs an einer Ivy-League-Universität - und der seine Vergangenheit trotzdem nie ganz abgelegt hatte. Auch wenn es schmalzig klingt, ich hätte eigentlich gern jemanden an meiner Seite. Leider ist das nicht meine Bestimmung. Ich bin ein Einzelgänger, geschaffen fürs Alleinsein. »Wir sind der Abfall der Evolution, Dan ...« Das hatte mir mein Lieblings-Pflegevater beigebracht. Er war Professor, der sich gerne in philosophischen Diskussionen erging. »Überleg doch mal, Dan. Was haben die Stärksten und Klügsten in der Geschichte der Menschheit von jeher getan? Sie sind in den Krieg gezogen. Erst im letzten Jahrhundert hat das aufgehört. Vorher haben wir unsere absolut besten Leute zum Kampf an die Front geschickt. Wer ist also zu Hause geblieben und hat sich vermehrt, während unsere Besten auf den Schlachtfeldern fielen? Die Lahmen, die Kranken, die Schwachen, die Krüppel, die Feiglinge - kurz gesagt, der Abfall. Und so sind wir dann entstanden, Dan - durch jahrtausendelanges Aussieben der Besten und die Fortpflanzung der Schwächlinge. Deshalb sind wir alle Abschaum - das Produkt jahrhunderte langer Fehlzucht.« Ich beachtete den Türklopfer nicht, sondern trommelte leicht mit den Fingerknöcheln gegen die Tür. Leise knarzend öffnete sie sich einen Spaltbreit. Ich hatte nicht gesehen, dass sie nur angelehnt war. Auch das gefiel mir nicht. Es gab hier eine ganze Menge, das mir nicht gefiel. Als Kind hatte ich mir viele Horrorfilme angeguckt, was ziemlich seltsam war, weil ich sie eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn mich irgendetwas aus der Dunkelheit ansprang und zu Tode erschreckte. Auch Filmblut konnte ich nicht ausstehen. Trotzdem hatte ich mir diese Filme angesehen und das idiotische Verhalten der Heldinnen in vollen Zügen genossen. Jetzt gingen mir genau diese Szenen durch den Kopf, die Szenen, in denen besagte idiotische Heldinnen an eine Tür klopften, die sich leicht öffnete, worauf man als Zuschauer schreien wollte: »Mach, dass du wegkommst, du spärlich bekleidete Tussi!« Aber sie ging völlig unverständlicherweise weiter ins Haus hinein, und kaum zwei Minuten später schlug der Killer ihr den Schädel ein und löffelte ihr das Hirn heraus. Eigentlich sollte ich sofort machen, dass ich wegkam. Und genau das wollte ich auch. Aber dann fiel mir Chynnas Anruf wieder an, ich dachte an ihre Worte und an das Zittern in ihrer Stimme. Ich seufzte, beugte mich vor und spähte durch den Spalt in den Flur. Dunkelheit. Schluss mit diesem Mantel-und-Degen-Kram. »Chynna?« Meine Stimme hallte durchs leere Haus. Ich rechnete nicht damit, eine Antwort zu bekommen. Keine Antwort. Das passte ins Gesamtbild. Ich stieß die Tür etwas weiter auf, trat vorsichtig einen Schritt vor ... »Dan? Ich bin hier hinten. Komm rein.« Die Stimme klang gedämpft und kam von ziemlich weit weg. Auch das gefiel mir nicht, aber jetzt würde ich auf keinen Fall zurückweichen. Zurückweichen hatte mich im Leben schon zu viel gekostet. Ich zögerte nicht mehr. Jetzt wusste ich, was zu tun war. Ich öffnete die Haustür, trat ein und schloss sie hinter mir. Andere hätten in meiner Lage eine Pistole oder irgendeine andere Waffe mitgebracht. Ich hatte darüber nachgedacht.
Aber das ist einfach nicht mein Stil. Außerdem war es jetzt zu spät, mir darüber Gedanken zu machen. Chynna zufolge war ohnehin sonst niemand zu Hause. Und wenn doch, na ja, dann würde ich eben improvisieren. »Chynna?« »Geh schon mal ins Wohnzimmer. Ich komme sofort.« Die Stimme klang ... falsch. Am Ende des Flurs fiel etwas Licht durch die leicht geöffnete Tür, also ging ich darauf zu. Ich hörte etwas. Ich blieb stehen und horchte. Fließendes Wasser. Vielleicht eine Dusche. »Chynna?« »Ich zieh mich nur um. Komme sofort.« Ich ging ins schwach beleuchtete Wohnzimmer. An der Tür war so ein Dimmer-Lichtschalter, und ich überlegte, ob ich das Licht heller stellen sollte, ließ es dann aber. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das Halbdunkel. Die Decke war vertäfelt, das Material sah aber weniger nach Holz als vielmehr nach Vinyl aus. An den Wänden hingen zwei Bilder von traurigen Clowns mit riesigen Blumen am Revers - vielleicht hatte sie jemand beim Resteflohmarkt nach dem Umbau eines extrem billigen Motels erstanden. Im Regal stand eine große Flasche billiger Wodka. Ich meinte, jemanden flüstern zu hören.
»Chynna?«, rief ich. Keine Antwort. Ich stand auf und lauschte. Nichts. Ich ging nach hinten, in die Richtung, aus der ich die Dusche gehört hatte. »Ich komm gleich«, sagte die Stimme. Ich zuckte zusammen. Ein kalter Schauer erfasste mich, denn jetzt hatte ich die Stimme aus der Nähe gehört. Und eins fand ich äußerst seltsam: Sie klang überhaupt nicht nach Chynna. Drei widerstreitende Gefühle erfassten mich. Erstens: Panik. Das war nicht Chynna. Sieh zu, dass du aus dem Haus kommst. Zweitens: Neugier. Wenn das nicht Chynna war, wer war das dann, und was war hier los? Drittens: wieder Panik. Chynna hatte mich angerufen - was war mit ihr passiert? Ich konnte hier jetzt nicht einfach abhauen. Ich trat einen Schritt auf die Tür zu, durch die ich hereingekommen war, als es plötzlich geschah. Ein Scheinwerfer leuchtete mir direkt ins Gesicht. Ich taumelte zurück und hob die Hand. »Dan Mercer?« Ich blinzelte. Frauenstimme. Geschult. Volles Timbre. Kam mir seltsam bekannt vor. »Wer sind Sie?« Plötzlich erschienen noch mehr Menschen im Zimmer. Ein Mann mit einer Kamera. Ein anderer mit etwas, das wie ein Mikrofon-Galgen aussah. Und die Frau mit der bekannt klingenden Stimme. Sie war atemberaubend mit den rotbraunen Haaren und ihrem Kostüm. »Wendy Tynes, NTC News. Was tun Sie hier, Dan?« Ich öff nete den Mund, bekam aber nichts heraus. Ich kannte die Frau aus der Fernsehshow ... »Warum haben Sie sich auf anzügliche Weise mit einer Dreizehnjährigen unterhalten, Dan? Wir haben das Gespräch aufgezeichnet.« ... die Pädophile in die Falle lockt und vor laufender Kamera entlarvt, damit die ganze Welt sie sieht und Zeuge ihres schändlichen Tuns wird. »Sind Sie hergekommen, um Sex mit einem dreizehnjährigen Mädchen zu haben?« Die Wahrheit dessen, was hier ablief, traf mich wie ein Keulenschlag und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Weitere Personen strömten ins Zimmer. Noch ein Kameramann. Ein Polizist. Die Kameras kamen näher an mich heran. Das Licht wurde heller. Auf meinen Augenbrauen sammelten sich Schweißtropfen. Ich fi ng an zu stammeln, wollte meine Unschuld beteuern. Aber es war vorbei. Zwei Tage später gingen die Bilder über den Sender. Die ganze Welt sah sie. Und wie ich es irgendwie schon gewusst hatte, als ich auf die rote Haustür zuging, war das Leben Dan Mercers zerstört. Als Marcia McWaid das leere Bett ihrer Tochter sah, geriet sie nicht sofort in Panik. Das würde später kommen.
Sie war um sechs Uhr aufgewacht, ziemlich früh für einen Samstagmorgen, und hatte sich fantastisch gefühlt. Ted, ihr Ehemann, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet war, schlief neben ihr im Bett. Er lag auf dem Bauch und hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt. Ted schlief am liebsten mit Hemd und ohne Hose. Ganz ohne. Von der Hüfte abwärts nackt. »Lässt einem Mann da unten ein bisschen Raum und Freiheit«, sagte er grinsend, wenn sie ihn darauf ansprach. Und Marcia antwortete im Singsang-Ton ihrer Teenager-Tochter: »T-M-I - Too Much Information. So genau wollte ich's gar nicht wissen.« Marcia befreite sich aus seiner Umarmung und ging in die Küche. Sie machte sich mit der neuen Keurig-Kapsel-Maschine eine Tasse Kaff ee. Ted liebte jede Art von technischen Geräten - Männerspielzeug -, aber dieses war wirklich ganz sinnvoll. Man nahm diese Kapsel, steckte sie in die Maschine, schon hatte man Kaffee. Kein Video-Display, kein Touch-Pad, keine drahtlose Netzverbindung. Marcia liebte es. Sie hatten vor Kurzem den Anbau fertiggestellt - ein zusätzliches Schlafzimmer, ein Bad und eine verglaste Nische in der Küche. Die Küchennische bot reichlich Morgensonne und war sofort zu dem Platz im Haus geworden, an dem Marcia am liebsten saß. Sie nahm die Kaffeetasse und die Zeitung, legte einen Fuß auf den Stuhl und setzte sich darauf. Ein kleines Stück vom Himmel. Sie las die Zeitung und schlürfte den Kaffee. In ein paar Minuten würde sie auf den Tagesplan gucken müssen. Ryan, ihr Drittklässler, musste um acht zu einem Basketballspiel erscheinen. Ted trainierte die Mannschaft. Sie hatte seit über einem Jahr kein Spiel mehr gewonnen. »Warum gewinnen deine Mannschaften nie?«, hatte Marcia ihn gefragt. »Ich suche die Kids nach zwei Kriterien aus.« »Die wären?« »Wie nett der Vater ist - und wie scharf die Mutter.«
Sie hatte ihm einen leichten Klaps gegeben, und vielleicht wäre Marcia tatsächlich ein bisschen besorgt gewesen, wenn sie nicht die Mütter am Spielfeld gesehen hätte und seitdem hundertprozentig sicher war, dass er einen Witz gemacht hatte. Tatsächlich war Ted ein wunderbarer Trainer, allerdings nicht in Hinsicht auf Taktik oder Spielstärke seiner Mannschaft, sondern was den Umgang mit den Kindern betraf. Alle liebten ihn, und weil er die Kinder nicht gegeneinander ausspielte, kamen selbst die untalentiertesten Spieler, die normalerweise schnell entmutigt waren und schon während der Saison aufhörten, jede Woche wieder. Ted hatte sogar einen Song von Bon Jovi genommen und ihn umgedreht: »You give losing a good name« - bei euch bekommt das Verlieren einen guten Ruf. Die Kids lachten und feierten jeden Korb, und genau so musste das bei Drittklässlern auch sein. Marcias vierzehnjährige Tochter Patricia musste zur Pro be der Highschool-Theatergruppe, die eine gekürzte Fassung des Musicals Les Misérables auff ührte. Sie spielte mehrere kleine Rollen und hatte damit offenbar reichlich zu tun. Und ihre Älteste, Haley, die kurz vor ihrem Highschool-Abschluss stand, leitete einen »Captains-Kursus« für ihre Mädchen im Lacrosse-Team. Ein »Captains-Kursus« zählte offiziell nicht als Training, bot aber eine Möglichkeit, im Rahmen der für den Highschool-Sport geltenden Richtlinien noch ein paar Zusatzeinheiten zu absolvieren. Kurz gesagt: kein Trainer, nichts Offizielles, nur ein lockeres Treff en oder eben ein Trainingsspiel mit etwas hochtrabendem Namen, das von den Mannschaftsführerinnen geleitet wurde. Wie die meisten Eltern in den Vororten empfand Marcia eine Art Hassliebe für den Sport. Einerseits wusste sie, wie unbedeutend das ganze Brimborium auf lange Sicht war, trotzdem ließ sie sich immer wieder davon mitreißen. Eine ruhige halbe Stunde als Tagesauftakt. Mehr brauchte sie nicht. Sie trank die erste Tasse Kaffee aus, machte sich eine zweite, nahm den »Lebensart«-Teil der Zeitung. Es war immer noch still im Haus. Sie stapfte die Treppe hinauf und sah nach ihren Schützlingen. Ryan schlief auf der Seite, das Gesicht praktischerweise der Tür zugewandt, sodass seine Mutter die Ähnlichkeit zu seinem Vater sah. Daneben war Patricias Zimmer. Auch sie schlief tief und fest. »Schatz?« Patricia bewegte sich, gab womöglich sogar ein Geräusch von sich. Genau wie in Ryans Zimmer sah es auch hier aus, als ob jemand strategisch geschickt ein paar Dynamitstangen in den Schubladen verteilt und diese dann gezündet hätte, worauf ein paar der Kleidungsstücke tot auf dem Boden zurückgeblieben waren. Andere hatten sich verwundet noch ein Stück weitergeschleppt und klammerten sich jetzt an die Schränke wie die Gefallenen der Französischen Revolution an die Barrikaden. »Patricia? In einer Stunde ist deine Probe.« »Ich bin schon wach«, stöhnte ihre Tochter mit einer Stimme, die genau das Gegenteil besagte. Marcia ging zum nächsten Zimmer, Haleys, und sah kurz hinein. Das Bett war leer. Es war auch gemacht, was Marcia allerdings nicht überraschte. Im Gegensatz zu den Rumpelkammern ihrer Geschwister war dieses Zimmer ordentlich, sauber und perfekt aufgeräumt. Es hätte ein Ausstellungsraum in einem Möbelgeschäft sein können. Es lagen keine Kleidungsstücke auf dem Fußboden, und sämtliche Schubladen waren ordentlich
geschlossen. Die Pokale - und davon gab es reichlich - standen sauber aufgereiht auf vier Regalbrettern.
© 2010 by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Übersetzung: Gunnar Kwisinski
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Autoren-Porträt von Harlan Coben
Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nachdem er zunächst Politikwissenschaft studiert hatte, arbeitete er später in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er hat mehrere Thriller geschrieben, die in über zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Harlan Coben wurde als erster Autor mit den drei wichtigsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet, dem "Edgar Award", dem "Shamus Award" und dem "Anthony Award". Harlan Coben gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Harlan Coben
- 2012, 1, 448 Seiten, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009965
- ISBN-13: 9783868009965
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