In Zeiten des abnehmenden Lichts
Roman einer Familie. Ausgezeichnet mit dem Aspekte-Literatur-Preis 2011 u. dem Deutschen Buchpreis 2011
Der Deutsche Buchpreis ging dieses Jahr an Eugen Ruges "lebensklugen Roman".
DIE ZEIT
Ein großer Familienroman, aber auch ein Deutschlandroman, der ein halbes Jahrhundert deutsche Geschichte erzählt. Von den 1950er Jahren...
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Produktinformationen zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
Der Deutsche Buchpreis ging dieses Jahr an Eugen Ruges "lebensklugen Roman".
DIE ZEIT
Ein großer Familienroman, aber auch ein Deutschlandroman, der ein halbes Jahrhundert deutsche Geschichte erzählt. Von den 1950er Jahren über die Wendezeit bis hinein ins neue Jahrtausend. Im Mittelpunkt stehen drei Generationen einer Familie: Die Großeltern, die noch überzeugte Kommunisten waren und aus dem mexikanischen Exil in die junge DDR heimkehren. Ihr Sohn, der nach Moskau emigiriert ist, Jahre später mit einer russischen Frau zurückkommt und noch glaubt, dass er politisch etwas verändern kann. Und der Enkel, dem die DDR bald zu eng wird und der in den Westen geht - und damit die politischen Ideale der Familie in den Schatten stellt, sozusagen ins abnehmende Licht.
Spiegel Bestseller Platz 1 (43/2011)!
"Überragend."
FAZ
Klappentext zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
International gefeiert, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis - ein halbes Jahrhundert gelebter Geschichte, ein Familienroman voller überraschender Wendungen: groß durch seine Reife, seinen Humor, seine Menschlichkeit.Die Großeltern haben noch für den Kommunismus gebrannt, als sie aus dem mexikanischen Exil kamen, um ein neues Deutschland aufzubauen. Der Sohn kehrte aus der Sowjetunion heim: mit einer russischen Frau, der Erinnerung ans Lager und doch in dem Glauben an die politische Idee. Dem Enkel bleibt nur ein Platz in der Realität der DDR, und er flieht - an eben dem Tag, an dem sich Familie, Freunde und Feinde versammeln, um den neunzigsten Geburtstag des Patriarchen zu begehen.
Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 1989 und darüber hinaus reicht diese wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR, führt über die Gipfel und durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts. So entsteht ein weites Panorama, ein großer Deutschlandroman, der, ungeheuer menschlich und komisch, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar macht.
2009 erhielt Eugen Ruge für In Zeiten des abnehmenden Lichts den Alfred-Döblin-Preis. 2011 wurde der Roman mit dem Aspekte-Literaturpreis und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Er verkaufte sich bisher in 28 Länder, stand mehr als 40 Wochen auf der Bestsellerliste und wurde von Matti Geschonneck nach einem Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase fürs Kino verfilmt.
Lese-Probe zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge2001
Zwei Tage lang hatte er wie tot auf seinem Büffelledersofa gelegen. Dann stand er auf, duschte ausgiebig, um auch den letzten Partikel Krankenhausluft von sich abzuwaschen, und fuhr nach Neuendorf.
Er fuhr die A 115, wie immer. Schaute hinaus in die Welt. Prüfte, ob sie sich verändert hatte. Und - hatte sie? Die Autos kamen ihm sauberer vor. Sauberer? Irgendwie bunter. Idiotischer.
Der Himmel war blau, was sonst.
Der Herbst hatte sich eingeschlichen, hinterrücks. Tupfte kleine gelbe Markierungen in die Bäume. Es war inzwischen September geworden. Und wenn er am Samstag entlassen worden war, musste heut Dienstag sein. Das Datum hatte er während der letzten Tage verloren.
Neuendorf besaß neuerdings eine eigene Autobahnabfahrt - «neuerdings» hieß für Alexander immer noch: nach der Wende. Man kam direkt auf die Thälmannstraße (hieß immer noch so). Die Straße war glatt asphaltiert, rote Fahrradstreifen zu beiden Seiten. Frisch renovierte Häuser, wärmegedämmt nach irgendeiner EU-Norm. Neubauten, die aussahen wie Schwimmhallen: Stadtvillen nannte man das.
Aber man brauchte nur einmal links abzubiegen und ein paar hundert Meter dem krummen Steinweg zu folgen, dann noch einmal links - hier schien die Zeit stillzustehen: eine schmale Straße mit Linden. Kopfsteingepflasterte Bürgersteige, von Wurzeln verbeult. Morsche Zäune und Feuerwanzen. Tief in den Gärten, hinter hohem Gras, die toten Fenster von Villen, über deren Rückübertragung in fernen Anwaltskanzleien gestritten wurde.
Eins der wenigen Häuser hier, die noch bewohnt waren: Am Fuchsbau sieben. Moos auf dem Dach. Risse in der Fassade. Die Holunderbüsche berührten schon die Veranda. Und der Apfelbaum, den Kurt immer eigenhändig beschnitten hatte, wuchs kreuz und quer in den Himmel, ein einziges
... mehr
Gewirr.
Das «Essen auf Rädern» stand schon in der ISO-Verpackung auf dem Zaunpfeiler. Dienstag, fand er auf der Packung bestätigt. Alexander nahm die Packung und ging hinein.
Obwohl er einen Schlüssel hatte, klingelte er. Testen, ob Kurt aufmachte - sinnlos. Ohnehin wusste er, dass Kurt nicht aufmachen würde. Aber dann hörte er das vertraute Quietschen der Flurtür, und als er durch das Fensterchen schaute, erschien Kurt - wie ein Geist - im Halbdunkel des Vorraums.
- Mach auf, rief Alexander.
Kurt kam näher, glotzte.
- Mach auf!
Aber Kurt rührte sich nicht.
Alexander schloss auf, umarmte seinen Vater, obwohl ihm die Umarmung seit langem unangenehm war. Kurt roch. Es war der Geruch des Alters. Er saß tief in den Zellen. Kurt roch auch gewaschen und zähnegeputzt.
- Erkennst du mich, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Sein Mund war mit Pflaumenmus verschmiert, der Morgendienst hatte es wieder mal eilig gehabt. Seine Strickjacke war schief geknöpft, er trug nur einen Hausschuh. Alexander machte Kurts Essen warm. Mikrowelle, Sicherung einschalten. Kurt stand interessiert daneben.
- Hast du Hunger, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
- Du hast immer Hunger.
- Ja, sagte Kurt.
Es gab Gulasch mit Rotkohl (seit Kurt sich an einem Stück Rindfleisch einmal fast tödlich verschluckt hatte, wurde nur noch Kleinteiliges bestellt). Alexander brühte sich einen Kaffee. Dann nahm er Kurts Gulasch aus der Mikrowelle, stellte es auf die Igelit-Decke.
- Guten Appetit, sagte er.
- Ja, sagte Kurt.
Begann zu essen. Eine Weile war nur Kurts konzentriertes Schniefen zu hören. Alexander nippte an seinem noch viel zu heißen Kaffee. Sah zu, wie Kurt aß.
- Du hast die Gabel falsch herum, sagte er nach einer Weile.
Kurt hielt einen Augenblick inne, schien nachzudenken. Aß dann aber weiter: Versuchte, das Stück Gulasch mit dem Gabelstiel auf die Messerspitze zu schieben.
- Du hast die Gabel falsch herum, wiederholte Alexander.
Er sprach ohne Betonung, ohne mahnenden Unterton, um die Wirkung der reinen Begriffe auf Kurt zu testen. Keine Wirkung. Null. Was ging in diesem Kopf vor? In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt. Was fühlte, was dachte Kurt, wenn er im Zimmer umhertapste?
Wenn er vormittags an seinem Schreibtisch saß und, wie die Pflegerinnen berichteten, stundenlang in die Zeitung starrte. Was dachte er? Dachte er überhaupt? Wie dachte man ohne Worte?
Kurt hatte endlich das Gulaschstück auf die Messerspitze geladen, balancierte es jetzt, schon zitternd vor Gier, zum Mund. Absturz. Zweiter Versuch.
Eigentlich ein Witz, dachte Alexander, dass Kurts Verfall ausgerechnet mit der Sprache begonnen hatte. Kurt, der Redner. Der große Erzähler. Wie er dagesessen hatte in seinem berühmten Sessel - Kurts Sessel! Wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichtchen erzählte, der Herr Professor. Seine Anekdoten. Komisch aber auch: In Kurts Mund verwandelte sich alles in eine Anekdote. Egal, was Kurt erzählte - selbst wenn er davon erzählte, wie er im Lager beinahe krepiert wäre -, immer hatte es eine Pointe, immer hatte es Witz. Hatte gehabt. Fernste Vergangenheit. Der letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können, war: Ich habe die Sprache verloren. Auch nicht schlecht. Verglichen mit seinem heutigen Repertoire eine Glanznummer. Doch das war zwei Jahre her: Ich habe die Sprache verloren. Und die Leute hatten wirklich gedacht, sieh mal an, er hat die Sprache verloren, aber sonst ... Sonst schien er noch einigermaßen beisammen zu sein. Lächelte, nickte. Zog Grimassen, die irgendwie passten. Verstellte sich schlau. Nur hin und wieder unterlief ihm Sonderbares: dass er den Rotwein in seine Kaffeetasse goss. Oder auf einmal ratlos mit einem Korken dastand - und ihn schließlich ins Bücherregal steckte.
Miserable Quote: Ein Stückchen Gulasch hatte Kurt bisher geschafft. Jetzt griff er zu: mit den Fingern. Schaute schräg von unten zu Alexander herauf, wie ein Kind, das die Reaktion seiner Eltern prüft. Stopfte das Stück in den Mund. Und noch eins. Und kaute.
Und während er kaute, hielt er seine beschmierten Finger hoch wie zum Schwur.
- Wenn du wüsstest, sagte Alexander.
Kurt reagierte nicht. Hatte endlich eine Methode gefunden: die Lösung des Gulaschproblems. Stopfte, kaute. Die Soße rann in einer schmalen Spur über sein Kinn. Kurt konnte nichts mehr. Konnte nicht sprechen, sich nicht mehr die Zähne putzen. Nicht einmal den Arsch abwischen konnte er sich, man musste froh sein, wenn er sich zum Scheißen aufs Klo setzte. Das Einzige, dachte Alexander, was Kurt noch konnte, was er aus eigenem Antrieb noch tat, wofür er sich wirklich interessierte und worauf er sein letztes bisschen Schlauheit verwendete, war essen. Nahrung aufnehmen. Kurt aß nicht mit Genuss. Kurt aß nicht etwa, weil es ihm schmeckte (seine Geschmacksnerven, davon war Alexander überzeugt, waren durch das jahrzehntelange Pfeiferauchen vollständig ruiniert). Kurt aß, um zu leben.
Essen = Leben, diese Formel, dachte Alexander, hatte er im Arbeitslager gelernt, und zwar gründlich. Ein für alle Mal. Die Gier, mit der Kurt aß, mit der er sich Gulaschstückchen in den Mund stopfte, war nichts anderes als Überlebenswille. Das war das Letzte, was von Kurt übrig geblieben war. Was ihn über Wasser hielt, was diesen Körper weiter funktionieren ließ, eine außer Rand und Band geratene Herz-Kreislauf- Maschine, die sich selbst in Betrieb hielt - und sich wohl, so war zu befürchten, noch eine Weile in Betrieb halten würde. Kurt hatte alle überlebt. Er hatte Irina überlebt. Und nun bestand die reale Chance, dass er auch ihn, Alexander, überleben würde.
Ein dicker Soßetropfen bildete sich an Kurts Kinn. Alexander überkam der starke Drang, Kurt wehzutun: ein Stück Küchenkrepp abzureißen und ihm die Soße grob aus dem Gesicht zu wischen.
Der Tropfen zitterte, stürzte ab.
War es gestern gewesen? Oder heute? Irgendwann während dieser zwei Tage, als er auf dem Büffelledersofa lag (reglos und aus irgendeinem Grunde immer bemüht, nicht mit der bloßen Haut an das Leder zu kommen), irgendwann war ihm der Gedanke gekommen: Kurt umzubringen. Mehr als nur der Gedanke. Er hatte Varianten durchgespielt: Kurt mit dem Kissen ersticken oder - der perfekte Mord - Kurt ein zähes Rindersteak servieren. So wie das Steak, an dem er beinahe erstickt war. Und hätte Alexander ihn, als er schon blau anlief und auf die Straße taumelte und dort bewusstlos umfiel - hätte Alexander ihn damals nicht instinktiv in die stabile Seitenlage gedreht und wäre nicht infolgedessen, zusammen mit Kurts Gebiss, auch der beinahe kugelrunde, durch endloses Kauen zusammengepappte Fleischkloß aus Kurts Rachen gerollt, dann wäre Kurt vermutlich schon nicht mehr am Leben, und diese Niederlage (wenigstens diese) wäre Alexander erspart geblieben.
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht da war?
Kurt war jetzt beim Rotkohl - seit einiger Zeit hatte er die infantile Angewohnheit angenommen, die Abteilungen nacheinander zu leeren: zuerst das Fleisch, dann das Gemüse, dann die Kartoffeln. Erstaunlicherweise hatte er jetzt die Gabel wieder in der Hand - sogar richtig herum. Schaufelte Rotkohl.
Alexander wiederholte seine Frage:
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht hier war?
- Ja, sagte Kurt.
- Das hast du also bemerkt. Wie lange denn: eine Woche oder ein Jahr?
- Ja, sagte Kurt. Oder sagte er: Jahr?
- Ein Jahr also, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Alexander lachte. Dabei kam es ihm tatsächlich vor wie ein Jahr. Wie ein anderes Leben - nachdem das Leben davor mit einem einzigen, mit einem banalen Satz beendet worden war:
- Ich schicke Sie mal in die Fröbelstraße. So hieß der Satz.
- Fröbelstraße?
- Klinikum.
Erst draußen war er auf die Idee gekommen, die Schwester zu fragen: ob das heiße, dass er Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und die Schwester war nochmal ins Sprechzimmer gegangen und hatte gefragt, ob das heiße, dass der Patient Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und der Arzt hatte gesagt, der Patient solle Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen. Und das war's. Vier Wochen. Siebenundzwanzig Ärzte (er hatte nachgezählt). Moderne Medizin.
Der Assistenzarzt, der wie ein Abiturient aussah und ihm - in einem irrwitzigen Aufnahmesaal, wo hinter Paravents irgendwelche Schwerkranken stöhnten - die Grundsätze der Diagnostik erklärt hatte. Der Pferdeschwanz-Arzt, der gesagt hatte: Marathonläufer haben keine gefährlichen Krankheiten (sehr sympathischer Mann). Die Radiologin, die ihn gefragt hatte, ob er in seinem Alter etwa noch Kinder zeugen wolle. Der Chirurg mit dem Namen Fleischhauer. Und natürlich der pockennarbige Karajan: Oberarzt Dr. Kaufmann.
Und noch zweiundzwanzig andere.
Und wahrscheinlich noch zwei Dutzend Laboranten, die das ihm abgezapfte Blut in Reagenzgläser gefüllt, seinen Urin durchleuchtet, sein Gewebe unter irgendwelchen Mikroskopen betrachtet oder in irgendwelche Zentrifugen gesteckt hatten. Und das alles mit dem erbärmlichen, mit dem geradezu unverschämten Ergebnis, das Dr. Kaufmann in zwei Worte gefasst hatte:
- Nicht operabel.
Hatte Dr. Kaufmann gesagt. Mit seiner knarzigen Stimme. Mit seinen Pockennarben. Seiner Karajan-Frisur. Nicht operabel, hatte er gesagt und sich auf seinem Drehstuhl hin und her gewiegt, und die Gläser seiner Brille hatten geblitzt im Rhythmus seiner Bewegung.
Kurt hatte jetzt auch das Rotkohlfach geleert. Machte sich an die Kartoffeln: trocken. Alexander wusste schon, was jetzt kam (falls er Kurt nicht sofort ein Glas Wasser hinstellte). Nämlich dass die trockenen Kartoffeln Kurt im Hals stecken blieben, dass er einen brüllenden Schluckauf bekam, sodass man glaubte, der Magen würde gleich mit herauskommen. Wahrscheinlich konnte man Kurt auch mit trockenen Kartoffeln ersticken.
Alexander stand auf und füllte ein Glas mit Wasser. Kurt, komischerweise, war operabel: Kurt hatte man drei Viertel des Magens herausoperiert. Und er aß mit seinem Rest Magen, als hätte man ihm noch drei Viertel Magen dazugegeben. Egal, was es gab: Kurt aß immer den Teller leer.
Er hatte auch früher immer den Teller leer gegessen, dachte Alexander. Egal, was Irina ihm vorgesetzt hatte. Er hatte es aufgegessen und gelobt - ausgezeichnet! Immer dasselbe Lob, immer dasselbe «Danke» und «Ausgezeichnet», und erst Jahre später, nach Irinas Tod, als es gelegentlich dazu kam, dass Alexander kochte - erst da hatte Alexander begriffen, wie zermürbend, wie demütigend dieses ewige «Danke!» und «Ausgezeichnet!» für seine Mutter gewesen sein mussten. Man konnte Kurt nichts vorwerfen. Tatsächlich hatte er nie etwas verlangt, noch nicht einmal von Irina. Wenn keiner kochte, ging er ins Restaurant oder aß eine Butterstulle. Und wenn jemand für ihn kochte, bedankte er sich artig. Dann machte er seinen Mittagsschlaf. Dann seinen Spaziergang.
Dann erledigte er seine Post. Was war dagegen zu sagen?
Nichts. Das war es ja gerade.
Kurt tupfte mit den Fingerspitzen die letzten Kartoffelkrümel auf. Alexander reichte ihm eine Serviette. Kurt wischte sich tatsächlich den Mund, faltete die Serviette wieder ordentlich zusammen und legte sie neben den Teller.
- Hör zu, Vater, sagte Alexander. Ich war im Krankenhaus. Kurt schüttelte den Kopf. Alexander fasste ihn am Unterarm und versuchte es noch einmal mit Nachdruck.
- Ich - er zeigte auf sich - war im Kran-ken-haus! Verstehst du?
- Ja, sagte Kurt und stand auf.
- Ich bin noch nicht fertig, sagte Alexander. Aber Kurt reagierte nicht. Tapste ins Schlafzimmer, noch immer mit nur einem Hausschuh, zog seine Hosen aus. Sah Alexander erwartungsvoll an.
- Mittagsschlaf?
- Ja, sagte Kurt.
- Na, dann wechseln wir mal die Windel. Kurt tapste ins Bad, Alexander glaubte schon, dass er verstanden hätte, aber im Bad zog Kurt die Windelhose ein Stück herunter und pisste in hohem Bogen auf den Fußboden.
- Was machst du denn da! Kurt sah erschrocken auf. Konnte aber nicht mehr aufhören zu pissen.
Nachdem Alexander seinen Vater geduscht, ins Bett gebracht und den Badfußboden gewischt hatte, war sein Kaffee kalt. Er schaute auf die Uhr: um zwei. Der Abenddienst würde frühestens um sieben kommen. Kurz überlegte er, ob er jetzt die siebenundzwanzigtausend Mark aus dem Wandsafe nehmen und einfach verschwinden sollte. Beschloss aber zu warten. Er wollte es vor den Augen seines Vaters tun. Wollte ihm die Sache erklären, auch wenn es sinnlos war. Wollte, dass Kurt Ja dazu sagte - auch wenn Ja das einzige Wort war, das er noch beherrschte.
Alexander ging mit seinem Kaffee ins Wohnzimmer. Was nun? Was anfangen mit der verlorenen Zeit? Wieder ärgerte er sich darüber, dass er sich Kurts Rhythmus unterworfen hatte, und der Ärger darüber verband sich unwillkürlich mit dem schon notorisch gewordenen Ärger über das Zimmer.
Nur dass es ihm jetzt, nachdem er vier Wochen nicht hier gewesen war, noch schlimmer vorkam: blaue Gardinen, blaue Tapeten, alles blau. Weil Blau die Lieblingsfarbe seiner letzten Angebeteten gewesen war ... Idiotisch, mit achtundsiebzig. Kaum dass Irina ein halbes Jahr unter der Erde gelegen hatte ... Sogar die Servietten, die Kerzen: blau!
Ein Jahr lang hatten die beiden sich aufgeführt wie Pennäler. Hatten einander Herzchenpostkarten geschickt und ihre gegenseitigen Liebesgeschenke in blaues Papier eingewickelt, dann hatte die Angebetete wohl bemerkt, dass Kurt zu verblöden begann - und war verschwunden. Zurück blieb der blaue Sarg, so nannte es Alexander. Eine kalte blaue Welt, die nun von niemandem mehr bewohnt wurde.
Nur die Essecke war noch wie früher. Obwohl, auch das nicht ... Kurt hatte zwar die Furniertapete nicht angerührt - Irinas Stolz: echte Furniertapete! Sogar das sogenannte Sammelsirium (Irina-Deutsch) war noch da - aber wie! Kurt hatte diese wildgewachsene Sammlung abstrusester Mitbringsel und Erinnerungsstücke, die die Furniertapete mit den Jahren überwuchert hatte, im Zuge seiner Renovierung komplett abgenommen, entstaubt, das «Wichtigste» (oder was Kurt dafür hielt) ausgewählt und in «lockerer Ordnung» (oder was Kurt dafür hielt) wieder an der Furniertapete platziert. Wobei er versucht hatte, schon vorhandene Nagellöcher «zweckmäßigerweise» zu nutzen. Kurts Kompromissästhetik. So sah es auch aus.
Wo war der kleine Krummdolch, den der Schauspieler Gojkovic - Häuptling aller DEFA-Indianerfilme, immerhin! - Irina einmal geschenkt hatte. Und wo war der Kuba-Teller, den die Genossen aus dem Karl-Marx-Werk Wilhelm zum neunzigsten Geburtstag überreicht hatten, und Wilhelm, so wurde erzählt, hatte die Brieftasche gezückt und einen Hunderter auf den Teller geknallt - weil er glaubte, er werde um eine Spende für die Volkssolidarität gebeten ... Egal. Gegenstände, dachte Alexander ... Einfach bloß Gegenstände. Für den, der nach ihm kam, ohnehin bloß ein Haufen Sperrmüll.
Er ging hinüber in Kurts Arbeitszimmer, das auf der anderen (wie Alexander fand: schöneren) Seite lag. Ganz im Gegensatz zum Wohnzimmer, wo Kurt alles umgekrempelt hatte - auch Irinas Möbel hatte er ausgetauscht, die schöne alte Vitrine gegen irgendein grässliches Möbel aus MDF-Platten; selbst Irinas wunderbares, zeitlebens wackliges Telefontischchen hatte Kurt abgeschafft; und, was Alexander ihm besonders übelgenommen hatte, sogar die Wanduhr: die freundliche alte Uhr, deren Mechanik zu jeder halben und vollen Stunde zu schnurren pflegte, zum Zeichen, dass sie noch immer ihren Dienst versah, obwohl das Gehäuse für den Gong fehlte, ursprünglich war es nämlich eine Standuhr gewesen, Irina hatte sie, einer Mode folgend, aus dem Kasten genommen und an die Wand gehängt, und Alexander konnte sich bis heute daran erinnern, wie Irina und er die Uhr geholt hatten und dass Irina es nicht fertiggebracht hatte, der alten Dame, die sich von der Uhr trennte, mitzuteilen, dass der Uhrkasten eigentlich überflüssig war; wie sie extra einen Nachbarn hatten bitten müssen, beim Verladen des kompletten Uhrkastens zu helfen, und wie der riesige Kasten, den sie nur zum Schein abtransportierten, aus dem Kofferraum des kleinen Trabbi herausgeragt hatte, sodass das Auto vorn fast die Bodenhaftung verlor - im Gegensatz zum totalrenovierten Wohnzimmer war in Kurts Zimmer noch alles, und zwar auf gespenstische Weise, beim Alten:
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Das «Essen auf Rädern» stand schon in der ISO-Verpackung auf dem Zaunpfeiler. Dienstag, fand er auf der Packung bestätigt. Alexander nahm die Packung und ging hinein.
Obwohl er einen Schlüssel hatte, klingelte er. Testen, ob Kurt aufmachte - sinnlos. Ohnehin wusste er, dass Kurt nicht aufmachen würde. Aber dann hörte er das vertraute Quietschen der Flurtür, und als er durch das Fensterchen schaute, erschien Kurt - wie ein Geist - im Halbdunkel des Vorraums.
- Mach auf, rief Alexander.
Kurt kam näher, glotzte.
- Mach auf!
Aber Kurt rührte sich nicht.
Alexander schloss auf, umarmte seinen Vater, obwohl ihm die Umarmung seit langem unangenehm war. Kurt roch. Es war der Geruch des Alters. Er saß tief in den Zellen. Kurt roch auch gewaschen und zähnegeputzt.
- Erkennst du mich, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Sein Mund war mit Pflaumenmus verschmiert, der Morgendienst hatte es wieder mal eilig gehabt. Seine Strickjacke war schief geknöpft, er trug nur einen Hausschuh. Alexander machte Kurts Essen warm. Mikrowelle, Sicherung einschalten. Kurt stand interessiert daneben.
- Hast du Hunger, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
- Du hast immer Hunger.
- Ja, sagte Kurt.
Es gab Gulasch mit Rotkohl (seit Kurt sich an einem Stück Rindfleisch einmal fast tödlich verschluckt hatte, wurde nur noch Kleinteiliges bestellt). Alexander brühte sich einen Kaffee. Dann nahm er Kurts Gulasch aus der Mikrowelle, stellte es auf die Igelit-Decke.
- Guten Appetit, sagte er.
- Ja, sagte Kurt.
Begann zu essen. Eine Weile war nur Kurts konzentriertes Schniefen zu hören. Alexander nippte an seinem noch viel zu heißen Kaffee. Sah zu, wie Kurt aß.
- Du hast die Gabel falsch herum, sagte er nach einer Weile.
Kurt hielt einen Augenblick inne, schien nachzudenken. Aß dann aber weiter: Versuchte, das Stück Gulasch mit dem Gabelstiel auf die Messerspitze zu schieben.
- Du hast die Gabel falsch herum, wiederholte Alexander.
Er sprach ohne Betonung, ohne mahnenden Unterton, um die Wirkung der reinen Begriffe auf Kurt zu testen. Keine Wirkung. Null. Was ging in diesem Kopf vor? In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt. Was fühlte, was dachte Kurt, wenn er im Zimmer umhertapste?
Wenn er vormittags an seinem Schreibtisch saß und, wie die Pflegerinnen berichteten, stundenlang in die Zeitung starrte. Was dachte er? Dachte er überhaupt? Wie dachte man ohne Worte?
Kurt hatte endlich das Gulaschstück auf die Messerspitze geladen, balancierte es jetzt, schon zitternd vor Gier, zum Mund. Absturz. Zweiter Versuch.
Eigentlich ein Witz, dachte Alexander, dass Kurts Verfall ausgerechnet mit der Sprache begonnen hatte. Kurt, der Redner. Der große Erzähler. Wie er dagesessen hatte in seinem berühmten Sessel - Kurts Sessel! Wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichtchen erzählte, der Herr Professor. Seine Anekdoten. Komisch aber auch: In Kurts Mund verwandelte sich alles in eine Anekdote. Egal, was Kurt erzählte - selbst wenn er davon erzählte, wie er im Lager beinahe krepiert wäre -, immer hatte es eine Pointe, immer hatte es Witz. Hatte gehabt. Fernste Vergangenheit. Der letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können, war: Ich habe die Sprache verloren. Auch nicht schlecht. Verglichen mit seinem heutigen Repertoire eine Glanznummer. Doch das war zwei Jahre her: Ich habe die Sprache verloren. Und die Leute hatten wirklich gedacht, sieh mal an, er hat die Sprache verloren, aber sonst ... Sonst schien er noch einigermaßen beisammen zu sein. Lächelte, nickte. Zog Grimassen, die irgendwie passten. Verstellte sich schlau. Nur hin und wieder unterlief ihm Sonderbares: dass er den Rotwein in seine Kaffeetasse goss. Oder auf einmal ratlos mit einem Korken dastand - und ihn schließlich ins Bücherregal steckte.
Miserable Quote: Ein Stückchen Gulasch hatte Kurt bisher geschafft. Jetzt griff er zu: mit den Fingern. Schaute schräg von unten zu Alexander herauf, wie ein Kind, das die Reaktion seiner Eltern prüft. Stopfte das Stück in den Mund. Und noch eins. Und kaute.
Und während er kaute, hielt er seine beschmierten Finger hoch wie zum Schwur.
- Wenn du wüsstest, sagte Alexander.
Kurt reagierte nicht. Hatte endlich eine Methode gefunden: die Lösung des Gulaschproblems. Stopfte, kaute. Die Soße rann in einer schmalen Spur über sein Kinn. Kurt konnte nichts mehr. Konnte nicht sprechen, sich nicht mehr die Zähne putzen. Nicht einmal den Arsch abwischen konnte er sich, man musste froh sein, wenn er sich zum Scheißen aufs Klo setzte. Das Einzige, dachte Alexander, was Kurt noch konnte, was er aus eigenem Antrieb noch tat, wofür er sich wirklich interessierte und worauf er sein letztes bisschen Schlauheit verwendete, war essen. Nahrung aufnehmen. Kurt aß nicht mit Genuss. Kurt aß nicht etwa, weil es ihm schmeckte (seine Geschmacksnerven, davon war Alexander überzeugt, waren durch das jahrzehntelange Pfeiferauchen vollständig ruiniert). Kurt aß, um zu leben.
Essen = Leben, diese Formel, dachte Alexander, hatte er im Arbeitslager gelernt, und zwar gründlich. Ein für alle Mal. Die Gier, mit der Kurt aß, mit der er sich Gulaschstückchen in den Mund stopfte, war nichts anderes als Überlebenswille. Das war das Letzte, was von Kurt übrig geblieben war. Was ihn über Wasser hielt, was diesen Körper weiter funktionieren ließ, eine außer Rand und Band geratene Herz-Kreislauf- Maschine, die sich selbst in Betrieb hielt - und sich wohl, so war zu befürchten, noch eine Weile in Betrieb halten würde. Kurt hatte alle überlebt. Er hatte Irina überlebt. Und nun bestand die reale Chance, dass er auch ihn, Alexander, überleben würde.
Ein dicker Soßetropfen bildete sich an Kurts Kinn. Alexander überkam der starke Drang, Kurt wehzutun: ein Stück Küchenkrepp abzureißen und ihm die Soße grob aus dem Gesicht zu wischen.
Der Tropfen zitterte, stürzte ab.
War es gestern gewesen? Oder heute? Irgendwann während dieser zwei Tage, als er auf dem Büffelledersofa lag (reglos und aus irgendeinem Grunde immer bemüht, nicht mit der bloßen Haut an das Leder zu kommen), irgendwann war ihm der Gedanke gekommen: Kurt umzubringen. Mehr als nur der Gedanke. Er hatte Varianten durchgespielt: Kurt mit dem Kissen ersticken oder - der perfekte Mord - Kurt ein zähes Rindersteak servieren. So wie das Steak, an dem er beinahe erstickt war. Und hätte Alexander ihn, als er schon blau anlief und auf die Straße taumelte und dort bewusstlos umfiel - hätte Alexander ihn damals nicht instinktiv in die stabile Seitenlage gedreht und wäre nicht infolgedessen, zusammen mit Kurts Gebiss, auch der beinahe kugelrunde, durch endloses Kauen zusammengepappte Fleischkloß aus Kurts Rachen gerollt, dann wäre Kurt vermutlich schon nicht mehr am Leben, und diese Niederlage (wenigstens diese) wäre Alexander erspart geblieben.
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht da war?
Kurt war jetzt beim Rotkohl - seit einiger Zeit hatte er die infantile Angewohnheit angenommen, die Abteilungen nacheinander zu leeren: zuerst das Fleisch, dann das Gemüse, dann die Kartoffeln. Erstaunlicherweise hatte er jetzt die Gabel wieder in der Hand - sogar richtig herum. Schaufelte Rotkohl.
Alexander wiederholte seine Frage:
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht hier war?
- Ja, sagte Kurt.
- Das hast du also bemerkt. Wie lange denn: eine Woche oder ein Jahr?
- Ja, sagte Kurt. Oder sagte er: Jahr?
- Ein Jahr also, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Alexander lachte. Dabei kam es ihm tatsächlich vor wie ein Jahr. Wie ein anderes Leben - nachdem das Leben davor mit einem einzigen, mit einem banalen Satz beendet worden war:
- Ich schicke Sie mal in die Fröbelstraße. So hieß der Satz.
- Fröbelstraße?
- Klinikum.
Erst draußen war er auf die Idee gekommen, die Schwester zu fragen: ob das heiße, dass er Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und die Schwester war nochmal ins Sprechzimmer gegangen und hatte gefragt, ob das heiße, dass der Patient Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und der Arzt hatte gesagt, der Patient solle Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen. Und das war's. Vier Wochen. Siebenundzwanzig Ärzte (er hatte nachgezählt). Moderne Medizin.
Der Assistenzarzt, der wie ein Abiturient aussah und ihm - in einem irrwitzigen Aufnahmesaal, wo hinter Paravents irgendwelche Schwerkranken stöhnten - die Grundsätze der Diagnostik erklärt hatte. Der Pferdeschwanz-Arzt, der gesagt hatte: Marathonläufer haben keine gefährlichen Krankheiten (sehr sympathischer Mann). Die Radiologin, die ihn gefragt hatte, ob er in seinem Alter etwa noch Kinder zeugen wolle. Der Chirurg mit dem Namen Fleischhauer. Und natürlich der pockennarbige Karajan: Oberarzt Dr. Kaufmann.
Und noch zweiundzwanzig andere.
Und wahrscheinlich noch zwei Dutzend Laboranten, die das ihm abgezapfte Blut in Reagenzgläser gefüllt, seinen Urin durchleuchtet, sein Gewebe unter irgendwelchen Mikroskopen betrachtet oder in irgendwelche Zentrifugen gesteckt hatten. Und das alles mit dem erbärmlichen, mit dem geradezu unverschämten Ergebnis, das Dr. Kaufmann in zwei Worte gefasst hatte:
- Nicht operabel.
Hatte Dr. Kaufmann gesagt. Mit seiner knarzigen Stimme. Mit seinen Pockennarben. Seiner Karajan-Frisur. Nicht operabel, hatte er gesagt und sich auf seinem Drehstuhl hin und her gewiegt, und die Gläser seiner Brille hatten geblitzt im Rhythmus seiner Bewegung.
Kurt hatte jetzt auch das Rotkohlfach geleert. Machte sich an die Kartoffeln: trocken. Alexander wusste schon, was jetzt kam (falls er Kurt nicht sofort ein Glas Wasser hinstellte). Nämlich dass die trockenen Kartoffeln Kurt im Hals stecken blieben, dass er einen brüllenden Schluckauf bekam, sodass man glaubte, der Magen würde gleich mit herauskommen. Wahrscheinlich konnte man Kurt auch mit trockenen Kartoffeln ersticken.
Alexander stand auf und füllte ein Glas mit Wasser. Kurt, komischerweise, war operabel: Kurt hatte man drei Viertel des Magens herausoperiert. Und er aß mit seinem Rest Magen, als hätte man ihm noch drei Viertel Magen dazugegeben. Egal, was es gab: Kurt aß immer den Teller leer.
Er hatte auch früher immer den Teller leer gegessen, dachte Alexander. Egal, was Irina ihm vorgesetzt hatte. Er hatte es aufgegessen und gelobt - ausgezeichnet! Immer dasselbe Lob, immer dasselbe «Danke» und «Ausgezeichnet», und erst Jahre später, nach Irinas Tod, als es gelegentlich dazu kam, dass Alexander kochte - erst da hatte Alexander begriffen, wie zermürbend, wie demütigend dieses ewige «Danke!» und «Ausgezeichnet!» für seine Mutter gewesen sein mussten. Man konnte Kurt nichts vorwerfen. Tatsächlich hatte er nie etwas verlangt, noch nicht einmal von Irina. Wenn keiner kochte, ging er ins Restaurant oder aß eine Butterstulle. Und wenn jemand für ihn kochte, bedankte er sich artig. Dann machte er seinen Mittagsschlaf. Dann seinen Spaziergang.
Dann erledigte er seine Post. Was war dagegen zu sagen?
Nichts. Das war es ja gerade.
Kurt tupfte mit den Fingerspitzen die letzten Kartoffelkrümel auf. Alexander reichte ihm eine Serviette. Kurt wischte sich tatsächlich den Mund, faltete die Serviette wieder ordentlich zusammen und legte sie neben den Teller.
- Hör zu, Vater, sagte Alexander. Ich war im Krankenhaus. Kurt schüttelte den Kopf. Alexander fasste ihn am Unterarm und versuchte es noch einmal mit Nachdruck.
- Ich - er zeigte auf sich - war im Kran-ken-haus! Verstehst du?
- Ja, sagte Kurt und stand auf.
- Ich bin noch nicht fertig, sagte Alexander. Aber Kurt reagierte nicht. Tapste ins Schlafzimmer, noch immer mit nur einem Hausschuh, zog seine Hosen aus. Sah Alexander erwartungsvoll an.
- Mittagsschlaf?
- Ja, sagte Kurt.
- Na, dann wechseln wir mal die Windel. Kurt tapste ins Bad, Alexander glaubte schon, dass er verstanden hätte, aber im Bad zog Kurt die Windelhose ein Stück herunter und pisste in hohem Bogen auf den Fußboden.
- Was machst du denn da! Kurt sah erschrocken auf. Konnte aber nicht mehr aufhören zu pissen.
Nachdem Alexander seinen Vater geduscht, ins Bett gebracht und den Badfußboden gewischt hatte, war sein Kaffee kalt. Er schaute auf die Uhr: um zwei. Der Abenddienst würde frühestens um sieben kommen. Kurz überlegte er, ob er jetzt die siebenundzwanzigtausend Mark aus dem Wandsafe nehmen und einfach verschwinden sollte. Beschloss aber zu warten. Er wollte es vor den Augen seines Vaters tun. Wollte ihm die Sache erklären, auch wenn es sinnlos war. Wollte, dass Kurt Ja dazu sagte - auch wenn Ja das einzige Wort war, das er noch beherrschte.
Alexander ging mit seinem Kaffee ins Wohnzimmer. Was nun? Was anfangen mit der verlorenen Zeit? Wieder ärgerte er sich darüber, dass er sich Kurts Rhythmus unterworfen hatte, und der Ärger darüber verband sich unwillkürlich mit dem schon notorisch gewordenen Ärger über das Zimmer.
Nur dass es ihm jetzt, nachdem er vier Wochen nicht hier gewesen war, noch schlimmer vorkam: blaue Gardinen, blaue Tapeten, alles blau. Weil Blau die Lieblingsfarbe seiner letzten Angebeteten gewesen war ... Idiotisch, mit achtundsiebzig. Kaum dass Irina ein halbes Jahr unter der Erde gelegen hatte ... Sogar die Servietten, die Kerzen: blau!
Ein Jahr lang hatten die beiden sich aufgeführt wie Pennäler. Hatten einander Herzchenpostkarten geschickt und ihre gegenseitigen Liebesgeschenke in blaues Papier eingewickelt, dann hatte die Angebetete wohl bemerkt, dass Kurt zu verblöden begann - und war verschwunden. Zurück blieb der blaue Sarg, so nannte es Alexander. Eine kalte blaue Welt, die nun von niemandem mehr bewohnt wurde.
Nur die Essecke war noch wie früher. Obwohl, auch das nicht ... Kurt hatte zwar die Furniertapete nicht angerührt - Irinas Stolz: echte Furniertapete! Sogar das sogenannte Sammelsirium (Irina-Deutsch) war noch da - aber wie! Kurt hatte diese wildgewachsene Sammlung abstrusester Mitbringsel und Erinnerungsstücke, die die Furniertapete mit den Jahren überwuchert hatte, im Zuge seiner Renovierung komplett abgenommen, entstaubt, das «Wichtigste» (oder was Kurt dafür hielt) ausgewählt und in «lockerer Ordnung» (oder was Kurt dafür hielt) wieder an der Furniertapete platziert. Wobei er versucht hatte, schon vorhandene Nagellöcher «zweckmäßigerweise» zu nutzen. Kurts Kompromissästhetik. So sah es auch aus.
Wo war der kleine Krummdolch, den der Schauspieler Gojkovic - Häuptling aller DEFA-Indianerfilme, immerhin! - Irina einmal geschenkt hatte. Und wo war der Kuba-Teller, den die Genossen aus dem Karl-Marx-Werk Wilhelm zum neunzigsten Geburtstag überreicht hatten, und Wilhelm, so wurde erzählt, hatte die Brieftasche gezückt und einen Hunderter auf den Teller geknallt - weil er glaubte, er werde um eine Spende für die Volkssolidarität gebeten ... Egal. Gegenstände, dachte Alexander ... Einfach bloß Gegenstände. Für den, der nach ihm kam, ohnehin bloß ein Haufen Sperrmüll.
Er ging hinüber in Kurts Arbeitszimmer, das auf der anderen (wie Alexander fand: schöneren) Seite lag. Ganz im Gegensatz zum Wohnzimmer, wo Kurt alles umgekrempelt hatte - auch Irinas Möbel hatte er ausgetauscht, die schöne alte Vitrine gegen irgendein grässliches Möbel aus MDF-Platten; selbst Irinas wunderbares, zeitlebens wackliges Telefontischchen hatte Kurt abgeschafft; und, was Alexander ihm besonders übelgenommen hatte, sogar die Wanduhr: die freundliche alte Uhr, deren Mechanik zu jeder halben und vollen Stunde zu schnurren pflegte, zum Zeichen, dass sie noch immer ihren Dienst versah, obwohl das Gehäuse für den Gong fehlte, ursprünglich war es nämlich eine Standuhr gewesen, Irina hatte sie, einer Mode folgend, aus dem Kasten genommen und an die Wand gehängt, und Alexander konnte sich bis heute daran erinnern, wie Irina und er die Uhr geholt hatten und dass Irina es nicht fertiggebracht hatte, der alten Dame, die sich von der Uhr trennte, mitzuteilen, dass der Uhrkasten eigentlich überflüssig war; wie sie extra einen Nachbarn hatten bitten müssen, beim Verladen des kompletten Uhrkastens zu helfen, und wie der riesige Kasten, den sie nur zum Schein abtransportierten, aus dem Kofferraum des kleinen Trabbi herausgeragt hatte, sodass das Auto vorn fast die Bodenhaftung verlor - im Gegensatz zum totalrenovierten Wohnzimmer war in Kurts Zimmer noch alles, und zwar auf gespenstische Weise, beim Alten:
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Autoren-Porträt von Eugen Ruge
Was für ein Debüt! Im September 2011 erschien Eugen Ruges erster Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts" bei Rowohlt. Im Oktober bekam er dafür den Deutschen Buchpreis 2011 - mit 57 Jahren. Ja, Eugen Ruge hat lange gewartet mit dem Schreiben dieser ostdeutschen Familiengeschichte über vier Generationen hinweg. Doch das Schreiben begleitete ihn schon lange, auch wenn der studierte Mathematiker jahrelang am Zentralinstitut für Physik der Erde der Humboldt Universität gearbeitet hat. Als er 1988 vom Osten in den Westen flieht, will er sich bald nur noch dem Schreiben widmen, verfasst Theaterstücke, schreibt für den Rundfunk und arbeitet als Übersetzer. Eugen Ruges Vater, Wolfgang Ruge, war ein bekannter linker Historiker. Dass Eugen Ruge 1954 im Nordural geboren wurde lag daran, dass Wolfgang Ruge auf Befehl der sowjetischen Führung in das Lager 239 (Nordural) deportiert wurde. Erst 1958 kehrte die Familie zurück nach Ost-Berlin. Vielleicht ist es so, dass Eugen Ruge dieses Buch erst nach dem Tod seines Vaters 2006 schreiben konnte. Er vermutet es jedenfalls - denn auch wenn es kein autobiografisches Buch ist, in dem Roman gibt es viele Parallelen zur Familiengeschichte der Ruges. Und sicher hat auch die Diagnose einer Krankheit bei ihm ausgelöst, Dinge anzugehen, anzupacken. Eugen Ruge ist vierfacher Vater, lebt in Berlin und auf Rügen und nimmt mit sympathischer Gelassenheit den neuen Rummel um seine Person wahr. Für das Preisgeld überlegt die Familie, sich vielleicht eine Wohnung zu kaufen. Was für ihn wichtig ist? Nun, die Diagnose „Krebs" hat sich nicht bewahrheitet. Eugen Ruge ist gesund und das ist natürlich wunderbar. Schon 2009 konnte er mit dem Alfred-Döblin-Preisgeld für das Prosamanuskript seines Romans das Familienhäuschen auf Rügen vor dem Verkauf retten und was das Schreiben angeht, da sagte Eugen Ruge in einem Gespräch mit dem
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„Spiegel": „Wenn man in meinem Roman durch die Maske hindurch die Menschen sieht, wäre mein Ziel erreicht."
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Bibliographische Angaben
- Autor: Eugen Ruge
- 2011, 10. Aufl., 432 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498057863
- ISBN-13: 9783498057862
- Erscheinungsdatum: 30.08.2011
Rezension zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
Die Bögen wie von Thomas Mann, aber sehr viel komischer. The Sunday Telegraph
Pressezitat
Die Bögen wie von Thomas Mann, aber sehr viel komischer. The Sunday Telegraph
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