Indigo
Roman
Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Der junge...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Indigo “
Klappentext zu „Indigo “
Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz unterrichtet an dieser Schule und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden Kinder in eigenartigen Maskierungen in einem Auto mit unbekanntem Ziel davongefahren. Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch er kommt nicht weit; er wird aus dem Schuldienst entlassen. Fünfzehn Jahre später berichten die Zeitungen von einem aufsehenerregenden Strafprozess: Ein ehemaliger Mathematiklehrer wird vom Vorwurf freigesprochen, einen Tierquäler brutal ermordet zu haben. Und jetzt noch einmal von vorne. Vergessen Sie die Zusammenfassung einer Romanhandlung, die sich jeder Zusammenfassung entzieht, und lesen Sie das Buch. "Indigo" von Clemens J. Setz. Sein viertes insgesamt. Sie werden feststellen: Das "radikale Gegenprogramm zur hübsch verkasteten Literaturwerkstättenliteratur" ("Die Welt") geht weiter. Rasend spannend und so erholsam wie eine gute Massage. Hinterher spüren Sie jeden Muskel.
Lese-Probe zu „Indigo “
Indigo von Clemens J. SetzRaaba b. Graz, am 1 . November 2006
Lieber Clemens Setz,
... mehr
ich nehme an, Sie würden gerne erfahren, was alles passiert ist, nachdem Sie das Bewusstsein verloren haben. Zuerst haben wir versucht, Sie auf das Sofa zu legen.
Aber das Sofa war zu schmal, und unsere körperlichen Kräfte sind, wie Sie ja gesehen haben, sehr begrenzt, und so sind Sie uns zurück auf den Boden gerollt. Dabei haben Sie sich die Wunde über dem rechten Auge zugezogen. Natürlich haben wir sofort etwas auf die verletzte Stelle gelegt (Eis, eingewickelt in ein Geschirrtuch), aber trotzdem ist Ihre Stirn rasch angeschwollen. Wir hatten, ehrlich gesagt, nicht erwartet, dass Sie derart leicht vom Sofa rutschen würde. Äußerlich sieht man Ihnen gar nicht an, dass selbst in horizontaler Lage der Schwerpunkt Ihres Körpers irgendwo in der Nähe des Bauches liegt. Dabei sind Sie doch so ein zierlicher, ja fast zerbrechlich wirkender Mensch! Wie dem auch sei, wir haben, als wir die Schwellung über Ihrem Auge gesehen haben, sofort beschlossen, Sie aus der Zone und in ein anderes Zimmer zu bringen.
Sie haben mich und meinen Mann nach den Schwierigkeiten gefragt, mit denen wir seit unserer Entscheidung, Robert wieder nach Hause zu holen, zu kämpfen haben - und nun haben Sie diese Schwierigkeiten am eigenen Leib erfahren. Bitte seien Sie versichert, dass uns das sehr, sehr
leid tut, aber ich glaube, die Situation hat Ihnen viel-leicht auch einen Einblick verschafft, den Ihnen ein Gespräch allein bestimmt nicht vermittelt hätte. Als Lehrer im Institut waren Sie möglicherweise von solchen Erfahrungen abgeschnitten.
Wir haben Sie schnell aus dem Zimmer getragen, da die Schwellung wirklich besorgniserregend ausgesehen hat und Sie außerdem nicht auf unsere Wiederbelebungsversuche reagiert haben. In der Küche ging es damit eindeutig besser. Sie haben die Augen aufgemacht und sich von
uns auf einen Stuhl setzen lassen, aber dann sind Sie plötzlich wieder umgekippt und haben zu schwitzen begonnen, und Ihr linker Arm hat gekrampft, aber Gott sei Dank kannten wir das schon, es ist uns ja allen schon so ergangen. Eisberg - so nennen wir es. Dieses Gefühl, als wäre man unter Tonnen von Eis begraben . Da mussten wir alle mal durch. Klar, das sagt sich jetzt
relativ leicht, weil wir schon lange damit leben und eine gewisse Resistenz oder zumindest Erwartungshaltung entwickelt haben. Aber auf nüchternen Magen - so wie bei Ihnen - kann einen das natürlich schon umhauen.
Robert lässt Sie übrigens herzlich grüßen. Zumindest lege ich sein Verhalten in diese Richtung aus. Bei ihm weiß man ja nie. Er wird im nächsten Jahr wohl nicht mehr ins Institut zurückgehen.
Wir haben Sie mit unserem Wagen ins Krankenhaus gebracht. Sie waren ein wenig verwirrt, aber auch damit haben wir schon gerechnet, denn mein Vater, zum Beispiel, der uns kurz nach Roberts Geburt besuchte, konnte einen ganzen Tag lang nicht mehr richtig sprechen, er hatte einen schweren Zungenschlag und hat gelallt, und ihm war abwechselnd heiß und kalt, und er hatte Schwindelattacken. Zuerst haben wir befürchtet, er habe vielleicht vor Schreck einen Schlaganfall oder so etwas erlitten, immerhin hatte er darauf bestanden, Robert auf den Arm zu nehmen. Davon gibt es ein Foto, aufgenommen vom Garten aus durchs Fenster.
Alles nur eingebildet, Indigo-Blödsinn, hat mein Vater gesagt. Sie wissen ja, die Leute seiner Generation und die damalige Zeit, der geringe Aufklärungsgrad in der Bevölkerung generell, also ... Okay, wir wollten ja auch glauben, dass das alles nichts ist. Nichts Bleibendes, nichts, was wirklich mit unserem Kind zu tun hat . Nichts Reales . Kinder nimmt man an der Hand, man berührt sie, hat mein Vater damals gesagt, und ich hab ihm nur meinen Rücken gezeigt, die Schrammen, die ich mir geholt habe vom vielen Hinfallen in dieser Zeit, den Hautausschlag im Nacken, auch die geplatzte Ader in meinem linken Auge hab ich ihm gezeigt . Damals konnte ich mit dem Auge sogar noch etwas
sehen und bin dann natürlich erst zum Arzt gegangen, als es schon zu spät war, als die Sehkraft schon futsch war. Lieber Herr Setz, wir hoffen, dass es Ihnen inzwischen bessergeht. Und wir möchten Ihnen versichern, dass wir keinerlei Vorurteile gegen Sie hegen - was immer auch der Grund für die frühzeitige Beendigung Ihrer Arbeit am Institut gewesen sein mag, wir maßen uns da überhaupt kein Urteil an. Wenn Sie wollen, können wir unser Gespräch anderswo fortsetzen. Selbstverständlich steht unser Haus Ihnen auch weiterhin offen, und wir freuen uns über Ihren Besuch, aber mein Mann und ich hätten auch Verständnis, falls Sie sich dem, womit wir seit nun fast fünfzehn Jahren immer wieder zu tun haben, nicht mehr aussetzen möchten.
Mit den besten Grüßen,
Ihre
Marianne Tätzel
Landeskrankenhaus - Universitätsklinikum Graz Universitätsklinik für Unfallchirurgie
Unfallchirurgie Ambulanz
Patient: Setz, Clemens Johann Stationär
Geboren: 15.11.1982
ANAMNESE / PHYSIKAL. STATUS
Pat. kommt in Begleitung zweier angebl. Bekannter in die Notaufnahme.
Vigilanz: wach, klar, orientiert, verlangsamt. Laut Angaben der Begleiter Pat. nach versehentlichem Sturz etwa 10 Minuten bewusstlos auf dem Boden gelegen. Vorher habe Pat. ein helles Flimmem im rechten äußeren Gesichtsfeld erwähnt. Nach Kollaps sei keine Laien-CPR notwendig gewesen.
Zum Zeitpunkt der Aufnahme Pat. nicht vital bedroht, kardiorespiratorisch stabil. VLC frontal rechts, klaffende, blutende ROW okzipital. Mehrere kleine Hämatome am Oberkörper. Pupillen rund, mittelweit, isocor, keine Facialisparese oder Halbseitensymptomatik. Keine sonstigen neurol. Auffälligkeiten. Klopfschmerz an der Schädelkalotte. Keine Übelkeit, aber leichte Gleichgew.-Störungen. Keine weiteren äußeren Verletzungszeichen. Gelenke aktiv/passiv frei beweglich, keine Schmerzen.
THERAPEUTISCHE MASSNAHMEN
Wunde frontal: Reinigung mittels Octenisept, Steristrips. Versorgung der ROW okzipital mittels dreier Hautnähte. Tetanus Auffrischung. Schädel-CT veranlasst. Befund : Keine rezente Blutung, Fraktur, Raumforderung. kein Hinweis auf rezenten Territorialinfarkt. Pat. verlässt auf Revers die Klinik. Ober mögl. Komplikationen und Folgen bei Zustand nach Sturzgeschehen aufgeklärt. Bei Verschlechterung des Allgemeinzustands, Auftreten von Schmerzen etc., dringend Vorstellung in der Notaufnahme empfohlen.
16.10.2008
Dr. Uhlheim
TEIL I
In a field
I am the absence of field.
Mark Strand
1 Das Wesen der Ferne
Am 21. Juni 1919 fand im britischen Flottenstützpunkt Scapa Flow, nahe der schottischen Küste, die Selbstversenkung der Kaiserlichen Deutschen Hochseeflotte statt. Der kurz zuvor von Deutschland unterzeichnete Vertrag von Versailles sah, neben der Rückgabe des Totenschädels des Häuptlings Mkwawa an die britische Regierung, auch vor, dass alle Schiffe unverzüglich übergeben werden sollten, aber der deutsche Admiral Ludwig von Reuter wollte seine Schiffe lieber versenken, als sie den Briten zu überlassen, die er für ein unkultiviertes Volk hielt . Seither liegen die Kriegsschiffe dort auf dem Meeresgrund, in etwa fünfzig Metern Tiefe. Und das ist ein Glück für die moderne Raumfahrt, denn aus den Wracks dieser seit nun fast hundert Jahren unter Wasser liegenden Kriegsschiffe wird auf Tauchgängen hochwertiger Stahl gewonnen, der beim Bau von Satelliten, Geigerzählern oder Ganzkörperscannern in Flughafen-Sicherheitsschleusen verwendet wird . Jeder andere Stahl auf der Welt ist - nach Hiroshima, Tschernobyl und den zahlreichen in der Erdatmosphäre durchgeführten Atombombentests - zu stark verstrahlt, um beim Bau solcher hochsensiblen Geräte verwendet zu werden . Hinreichend sauberen Stahl gibt es nur in Scapa Flow, in fünfzig Metern Tiefe.
Mit dieser Geschichte beginnt das bemerkenswerte, 2004 erschienene Buch Das Wesen der Ferne der Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret . An einem Samstag im Sommer des Jahres 2006 besuchte ich sie in ihrer Wohnung im villenreichen Grazer Bezirk Geidorf. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein halbjähriges Praktikum als Mathematik-Tutor am Helianau-Institut bereits abgebrochen. Der Leiter des Instituts, Dr. Rudolph, hatte mich davor gewarnt, jemals wieder einen Fuß auf das Grundstück zu setzen.
Ich suchte Frau Häusler-Zinnbret auf, um sie zu fragen, unter welchen Bedingungen Indigo-Kinder ihrer Meinung nach heute, zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihres einflussreichen Buches, das in seinen Anfangszeilen hoffnungsvolle Töne anschlägt, in Österreich leben . Und ob sie wisse, was es mit den so genannten Relokationen auf sich habe, deren verständnisloser Zeuge ich während meiner Praktikumszeit des Öfteren geworden war.
An der alten Haustür mit den drei Klingelknöpfen war auch ein ornamentaler Türklopfer angebracht, der aussah, als wäre er vielleicht einmal echt gewesen - aber dann, an einem heißen Tag, verschmolz er einfach mit dem dunkelgestrichenen Holz der Tür und wurde zu einer ohrmuschelartigen Zierde oberhalb der schweren, gusseisernen Klinke. In dem kleinen, von einem Messingzaun und einer von vielen Spinnennetzchen vernebelten Hecke umgebenen Gärtchen, das neben dem ungewöhnlich prächtigen Wohnhaus lag, standen ein paar stille Birken, wassergewächshaft und beinahe silbern, und vor einem ebenerdigen Fenster entdeckte ich eine einzelne Sonnenblume, die den Kopf aufmerksam, als hörte sie leise Musik, gereckt hielt, weil sie die Vormittagssonne schon um die nächste Ecke kommen fühlte . Es war ein warmer Tag, kurz vor zehn Uhr morgens. Die Tür stand offen. Im Treppenhaus war es kühl, und ein schwacher Geruch nach feuchtem Stein und alten Kartoffeln lag in der Luft.
Noch vor einem oder zwei Monaten wäre mir das alles nicht aufgefallen.
Bevor ich durchs Treppenhaus hinauf zur Praxis ging, kontrollierte ich meinen Puls. Er war unauffällig.
Frau Häusler-Zinnbret ließ mich lange vor ihrer Tür warten. Ich hatte den Klingelknopf, unter dem ihre beiden Nachnamen standen, verbunden durch ein gewelltes ≈ anstatt durch einen Bindestrich, mehrere Male betätigt und mich, wie schon so oft in meinem Leben, darüber gewundert, dass Psychologinnen und Pädagoginnen immer Doppelnamen haben.
...
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
ich nehme an, Sie würden gerne erfahren, was alles passiert ist, nachdem Sie das Bewusstsein verloren haben. Zuerst haben wir versucht, Sie auf das Sofa zu legen.
Aber das Sofa war zu schmal, und unsere körperlichen Kräfte sind, wie Sie ja gesehen haben, sehr begrenzt, und so sind Sie uns zurück auf den Boden gerollt. Dabei haben Sie sich die Wunde über dem rechten Auge zugezogen. Natürlich haben wir sofort etwas auf die verletzte Stelle gelegt (Eis, eingewickelt in ein Geschirrtuch), aber trotzdem ist Ihre Stirn rasch angeschwollen. Wir hatten, ehrlich gesagt, nicht erwartet, dass Sie derart leicht vom Sofa rutschen würde. Äußerlich sieht man Ihnen gar nicht an, dass selbst in horizontaler Lage der Schwerpunkt Ihres Körpers irgendwo in der Nähe des Bauches liegt. Dabei sind Sie doch so ein zierlicher, ja fast zerbrechlich wirkender Mensch! Wie dem auch sei, wir haben, als wir die Schwellung über Ihrem Auge gesehen haben, sofort beschlossen, Sie aus der Zone und in ein anderes Zimmer zu bringen.
Sie haben mich und meinen Mann nach den Schwierigkeiten gefragt, mit denen wir seit unserer Entscheidung, Robert wieder nach Hause zu holen, zu kämpfen haben - und nun haben Sie diese Schwierigkeiten am eigenen Leib erfahren. Bitte seien Sie versichert, dass uns das sehr, sehr
leid tut, aber ich glaube, die Situation hat Ihnen viel-leicht auch einen Einblick verschafft, den Ihnen ein Gespräch allein bestimmt nicht vermittelt hätte. Als Lehrer im Institut waren Sie möglicherweise von solchen Erfahrungen abgeschnitten.
Wir haben Sie schnell aus dem Zimmer getragen, da die Schwellung wirklich besorgniserregend ausgesehen hat und Sie außerdem nicht auf unsere Wiederbelebungsversuche reagiert haben. In der Küche ging es damit eindeutig besser. Sie haben die Augen aufgemacht und sich von
uns auf einen Stuhl setzen lassen, aber dann sind Sie plötzlich wieder umgekippt und haben zu schwitzen begonnen, und Ihr linker Arm hat gekrampft, aber Gott sei Dank kannten wir das schon, es ist uns ja allen schon so ergangen. Eisberg - so nennen wir es. Dieses Gefühl, als wäre man unter Tonnen von Eis begraben . Da mussten wir alle mal durch. Klar, das sagt sich jetzt
relativ leicht, weil wir schon lange damit leben und eine gewisse Resistenz oder zumindest Erwartungshaltung entwickelt haben. Aber auf nüchternen Magen - so wie bei Ihnen - kann einen das natürlich schon umhauen.
Robert lässt Sie übrigens herzlich grüßen. Zumindest lege ich sein Verhalten in diese Richtung aus. Bei ihm weiß man ja nie. Er wird im nächsten Jahr wohl nicht mehr ins Institut zurückgehen.
Wir haben Sie mit unserem Wagen ins Krankenhaus gebracht. Sie waren ein wenig verwirrt, aber auch damit haben wir schon gerechnet, denn mein Vater, zum Beispiel, der uns kurz nach Roberts Geburt besuchte, konnte einen ganzen Tag lang nicht mehr richtig sprechen, er hatte einen schweren Zungenschlag und hat gelallt, und ihm war abwechselnd heiß und kalt, und er hatte Schwindelattacken. Zuerst haben wir befürchtet, er habe vielleicht vor Schreck einen Schlaganfall oder so etwas erlitten, immerhin hatte er darauf bestanden, Robert auf den Arm zu nehmen. Davon gibt es ein Foto, aufgenommen vom Garten aus durchs Fenster.
Alles nur eingebildet, Indigo-Blödsinn, hat mein Vater gesagt. Sie wissen ja, die Leute seiner Generation und die damalige Zeit, der geringe Aufklärungsgrad in der Bevölkerung generell, also ... Okay, wir wollten ja auch glauben, dass das alles nichts ist. Nichts Bleibendes, nichts, was wirklich mit unserem Kind zu tun hat . Nichts Reales . Kinder nimmt man an der Hand, man berührt sie, hat mein Vater damals gesagt, und ich hab ihm nur meinen Rücken gezeigt, die Schrammen, die ich mir geholt habe vom vielen Hinfallen in dieser Zeit, den Hautausschlag im Nacken, auch die geplatzte Ader in meinem linken Auge hab ich ihm gezeigt . Damals konnte ich mit dem Auge sogar noch etwas
sehen und bin dann natürlich erst zum Arzt gegangen, als es schon zu spät war, als die Sehkraft schon futsch war. Lieber Herr Setz, wir hoffen, dass es Ihnen inzwischen bessergeht. Und wir möchten Ihnen versichern, dass wir keinerlei Vorurteile gegen Sie hegen - was immer auch der Grund für die frühzeitige Beendigung Ihrer Arbeit am Institut gewesen sein mag, wir maßen uns da überhaupt kein Urteil an. Wenn Sie wollen, können wir unser Gespräch anderswo fortsetzen. Selbstverständlich steht unser Haus Ihnen auch weiterhin offen, und wir freuen uns über Ihren Besuch, aber mein Mann und ich hätten auch Verständnis, falls Sie sich dem, womit wir seit nun fast fünfzehn Jahren immer wieder zu tun haben, nicht mehr aussetzen möchten.
Mit den besten Grüßen,
Ihre
Marianne Tätzel
Landeskrankenhaus - Universitätsklinikum Graz Universitätsklinik für Unfallchirurgie
Unfallchirurgie Ambulanz
Patient: Setz, Clemens Johann Stationär
Geboren: 15.11.1982
ANAMNESE / PHYSIKAL. STATUS
Pat. kommt in Begleitung zweier angebl. Bekannter in die Notaufnahme.
Vigilanz: wach, klar, orientiert, verlangsamt. Laut Angaben der Begleiter Pat. nach versehentlichem Sturz etwa 10 Minuten bewusstlos auf dem Boden gelegen. Vorher habe Pat. ein helles Flimmem im rechten äußeren Gesichtsfeld erwähnt. Nach Kollaps sei keine Laien-CPR notwendig gewesen.
Zum Zeitpunkt der Aufnahme Pat. nicht vital bedroht, kardiorespiratorisch stabil. VLC frontal rechts, klaffende, blutende ROW okzipital. Mehrere kleine Hämatome am Oberkörper. Pupillen rund, mittelweit, isocor, keine Facialisparese oder Halbseitensymptomatik. Keine sonstigen neurol. Auffälligkeiten. Klopfschmerz an der Schädelkalotte. Keine Übelkeit, aber leichte Gleichgew.-Störungen. Keine weiteren äußeren Verletzungszeichen. Gelenke aktiv/passiv frei beweglich, keine Schmerzen.
THERAPEUTISCHE MASSNAHMEN
Wunde frontal: Reinigung mittels Octenisept, Steristrips. Versorgung der ROW okzipital mittels dreier Hautnähte. Tetanus Auffrischung. Schädel-CT veranlasst. Befund : Keine rezente Blutung, Fraktur, Raumforderung. kein Hinweis auf rezenten Territorialinfarkt. Pat. verlässt auf Revers die Klinik. Ober mögl. Komplikationen und Folgen bei Zustand nach Sturzgeschehen aufgeklärt. Bei Verschlechterung des Allgemeinzustands, Auftreten von Schmerzen etc., dringend Vorstellung in der Notaufnahme empfohlen.
16.10.2008
Dr. Uhlheim
TEIL I
In a field
I am the absence of field.
Mark Strand
1 Das Wesen der Ferne
Am 21. Juni 1919 fand im britischen Flottenstützpunkt Scapa Flow, nahe der schottischen Küste, die Selbstversenkung der Kaiserlichen Deutschen Hochseeflotte statt. Der kurz zuvor von Deutschland unterzeichnete Vertrag von Versailles sah, neben der Rückgabe des Totenschädels des Häuptlings Mkwawa an die britische Regierung, auch vor, dass alle Schiffe unverzüglich übergeben werden sollten, aber der deutsche Admiral Ludwig von Reuter wollte seine Schiffe lieber versenken, als sie den Briten zu überlassen, die er für ein unkultiviertes Volk hielt . Seither liegen die Kriegsschiffe dort auf dem Meeresgrund, in etwa fünfzig Metern Tiefe. Und das ist ein Glück für die moderne Raumfahrt, denn aus den Wracks dieser seit nun fast hundert Jahren unter Wasser liegenden Kriegsschiffe wird auf Tauchgängen hochwertiger Stahl gewonnen, der beim Bau von Satelliten, Geigerzählern oder Ganzkörperscannern in Flughafen-Sicherheitsschleusen verwendet wird . Jeder andere Stahl auf der Welt ist - nach Hiroshima, Tschernobyl und den zahlreichen in der Erdatmosphäre durchgeführten Atombombentests - zu stark verstrahlt, um beim Bau solcher hochsensiblen Geräte verwendet zu werden . Hinreichend sauberen Stahl gibt es nur in Scapa Flow, in fünfzig Metern Tiefe.
Mit dieser Geschichte beginnt das bemerkenswerte, 2004 erschienene Buch Das Wesen der Ferne der Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret . An einem Samstag im Sommer des Jahres 2006 besuchte ich sie in ihrer Wohnung im villenreichen Grazer Bezirk Geidorf. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein halbjähriges Praktikum als Mathematik-Tutor am Helianau-Institut bereits abgebrochen. Der Leiter des Instituts, Dr. Rudolph, hatte mich davor gewarnt, jemals wieder einen Fuß auf das Grundstück zu setzen.
Ich suchte Frau Häusler-Zinnbret auf, um sie zu fragen, unter welchen Bedingungen Indigo-Kinder ihrer Meinung nach heute, zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihres einflussreichen Buches, das in seinen Anfangszeilen hoffnungsvolle Töne anschlägt, in Österreich leben . Und ob sie wisse, was es mit den so genannten Relokationen auf sich habe, deren verständnisloser Zeuge ich während meiner Praktikumszeit des Öfteren geworden war.
An der alten Haustür mit den drei Klingelknöpfen war auch ein ornamentaler Türklopfer angebracht, der aussah, als wäre er vielleicht einmal echt gewesen - aber dann, an einem heißen Tag, verschmolz er einfach mit dem dunkelgestrichenen Holz der Tür und wurde zu einer ohrmuschelartigen Zierde oberhalb der schweren, gusseisernen Klinke. In dem kleinen, von einem Messingzaun und einer von vielen Spinnennetzchen vernebelten Hecke umgebenen Gärtchen, das neben dem ungewöhnlich prächtigen Wohnhaus lag, standen ein paar stille Birken, wassergewächshaft und beinahe silbern, und vor einem ebenerdigen Fenster entdeckte ich eine einzelne Sonnenblume, die den Kopf aufmerksam, als hörte sie leise Musik, gereckt hielt, weil sie die Vormittagssonne schon um die nächste Ecke kommen fühlte . Es war ein warmer Tag, kurz vor zehn Uhr morgens. Die Tür stand offen. Im Treppenhaus war es kühl, und ein schwacher Geruch nach feuchtem Stein und alten Kartoffeln lag in der Luft.
Noch vor einem oder zwei Monaten wäre mir das alles nicht aufgefallen.
Bevor ich durchs Treppenhaus hinauf zur Praxis ging, kontrollierte ich meinen Puls. Er war unauffällig.
Frau Häusler-Zinnbret ließ mich lange vor ihrer Tür warten. Ich hatte den Klingelknopf, unter dem ihre beiden Nachnamen standen, verbunden durch ein gewelltes ≈ anstatt durch einen Bindestrich, mehrere Male betätigt und mich, wie schon so oft in meinem Leben, darüber gewundert, dass Psychologinnen und Pädagoginnen immer Doppelnamen haben.
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© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Autoren-Porträt von Clemens J. Setz
Setz, Clemens J.Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik sowie Germanistik studierte und heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015.
Bibliographische Angaben
- Autor: Clemens J. Setz
- 2012, 3, 475 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 351842324X
- ISBN-13: 9783518423240
- Erscheinungsdatum: 09.09.2012
Rezension zu „Indigo “
"Man kommt nicht heil davon weg. Es herrscht Suchtgefahr."Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.08.2012
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