Inferno
Der Al-Kaida-Terrorist Faisal droht Großbritannien mit einem Anschlag. Will Jackson von der Elitetruppe SAS wird beauftragt, ihn zur Strecke zu bringen. Doch auf der Jagd nach Faisal wird ihm klar, wer dessen wahre Hintermänner sind. Ein tödliches Wissen.
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Produktinformationen zu „Inferno “
Der Al-Kaida-Terrorist Faisal droht Großbritannien mit einem Anschlag. Will Jackson von der Elitetruppe SAS wird beauftragt, ihn zur Strecke zu bringen. Doch auf der Jagd nach Faisal wird ihm klar, wer dessen wahre Hintermänner sind. Ein tödliches Wissen.
Lese-Probe zu „Inferno “
Inferno von Chris Ryan Prolog Rom, Mitte Dezember, 17 Uhr
Es war bereits dunkel, und vor der Moschea di Roma fiel Nieselregen. Trotz des nasskalten Wetters wurde es Abdul-Qahhar sofort warm, als er die einzige Moschee der italienischen Hauptstadt betrat, ein imposantes Gebäude mit einer riesigen weißen Kuppel. Die leisen Stimmen der Gläubigen beruhigten ihn, er fühlte sich geborgen. Es war die Zeit des Abendgebets, und in dem Innenraum knieten etliche fromme Muslime, die sich in Richtung Mekka verbeugten. Nach einiger Zeit, als sie ihr Gebet verrichtet hatten, erhoben sich die Männer. Sie schüttelten sich lächelnd die Hände und unterhielten sich mit ausgesuchter Höflichkeit.
»Darf ich Sie einladen, eine Tasse Tee mit uns zu trinken?«, fragte ein Mann, mit dem Abdul-Qahhar sich im Laufe der letzten Wochen einige Male unterhalten hatte.
»Vielen Dank, heute nicht«, antwortete Abdul-Qahhar. »Ich gehe lieber nach Hause. Allahu Akbar.
Der Mann zuckte die Achseln, und es änderte nichts an seiner Freundlichkeit, dass Abdul-Qahhar sein Angebot abgelehnt hatte. »Allahu Akbar«, antwortete er, bevor er sich lächelnd ein paar anderen Bekannten zuwandte, die in der Nähe standen.
... mehr
Abdul-Qahhar war noch nicht lange in Rom. Als er eintraf, war er nur einer von vielen ausländischen Studenten. Da er praktisch niemanden kannte, hatte er sich sofort nach der Moschee erkundigt, wo man ihn mit offenen Armen empfing. Die anderen Muslime waren Gleichgesinnte in einer fremden Welt.
In Abdul-Qahhars Leben nahm das Gebet einen wichtigen Platz ein. Es richtete ihn innerlich auf, und als er die Moschee verließ und die Stufen hinabstieg, machte ihm selbst der kalte Regen nichts mehr aus. Es waren nur ein paar Schritte bis zu seinem Einzimmerapartment, das er eben deshalb gemietet hatte, weil es in unmittelbarer Nähe der Moschee lag. Kurz darauf war er da, durchnässt, aber keineswegs niedergeschlagen. Als er gerade die Eingangstür des Mietshauses aufschließen wollte, wurde sie von innen von einer alten Dame geöffnet, die zwei Stockwerke unter ihm wohnte.
»Buona sera«, sagte er lächelnd, darum bemüht, die italienischen Worte verständlich auszusprechen.
Die alte Dame warf ihm einen aggressiven Blick zu und eilte an ihm vorbei, etwas Unverständliches vor sich hin murmelnd. Sie war noch nie freundlich gewesen, zumindest ihm gegenüber nicht. Es war nichts Ungewöhnliches, dass die Menschen hier sich so verhielten. Er mochte modische italienische Jeans tragen, doch das änderte nichts an seiner Hautfarbe, und in diesen schwierigen Zeiten gab es viele Menschen, die nichts anderes sahen. Viele seiner Landsleute machte das wütend, aber Abdul-Qahhar war ein umgänglicher Mensch. Seine Maxime war es, sich allen gegenüber höflich zu verhalten. Sei höflich, dann begreifen sie, dass sie von dir nichts zu befürchten haben.
»Buon Natale«, rief er der alten Frau nach. Frohe Weihnachten. Natürlich verband er selbst nichts damit, doch er kannte die Bedeutung des christlichen Festes, insbesondere für die Einwohner von Rom, die im Schatten des Vatikans lebten. Da das Fest unmittelbar vor der Tür stand, sah er keinen Grund, warum er den Italienern, die ihm Tag für Tag begegneten, nicht Frohe Weihnachten wünschen sollte. In der Regel waren die Römer angenehm überrascht.
Aber die alte Dame drehte sich nicht noch einmal um, und er schloss die Haustür und stieg die Stufen hinauf, ohne sich die Mühe zu machen, den Lichtschalter zu betätigen. Er wusste, dass die Treppenhausbeleuchtung nicht funktionierte, und deshalb musste er sich in der Dunkelheit an dem hölzernen Treppengeländer festhalten. Im ersten Stock roch es nach Essen, im vierten lief wie immer das Radio, aus dem um diese Jahreszeit Weihnachtsmusik plärrte. Seine Einzimmerwohnung lag im obersten Stock, und dort war es ruhig.
Das Apartment war spartanisch möbliert, aber Abdul-Qahhar war ein genügsamer Mensch. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Bücherregal, eine Kochplatte, mehr brauchte er nicht. Er zog die nassen Kleidungsstücke aus und hängte sie über den riesigen elektrischen Heizkörper, der trotz seines Alters überraschend gut funktionierte. Dann trat er vor den mager bestückten Kleiderschrank und nahm eine Jeans und ein T-Shirt heraus. Er fühlte sich seltsam in dieser Aufmachung, doch in Rom oder einer anderen westlichen Metropole konnte man schlecht in dem einteiligen arabischen Gewand herumlaufen, das er wesentlich bequemer fand. Ihm war klar, dass er sich an den fremden Kleidungsstil gewöhnen musste. Nachdem er schnell etwas gegessen hatte, setzte er sich im Schneidersitz auf das Bett, schlug seinen geliebten, schon etwas abgestoßenen Koran auf und vertiefte sich in den Text. Eigentlich hätte er für die Uni arbeiten müssen, doch manchmal sehnte er sich nach der beruhigenden Wirkung, die das Heilige Buch auf ihn hatte, und jetzt war einer dieser Augenblicke.
Während seine Augen von rechts nach links über den Text glitten, dessen poetische Qualitäten er so schätzte, verlor er jegliches Zeitgefühl. Als er schließlich auf den kleinen Wecker auf dem Nachttisch blickte, stellte er überrascht fest, dass es schon fast Mitternacht war. Mit leisem Bedauern klappte er das Buch zu, stellte es auf das Regal und ging zur Spüle, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Plötzlich blieb er stehen. Er hörte ein Geräusch, vermutlich aus dem Treppenhaus. Aber seine Wohnung war die einzige im obersten Stock. Vielleicht kam es von draußen. Ein Vogel. Oder der Regen. Er trat ans Fenster und zog die zerschlissenen Vorhänge auseinander, sah aber nur das Dach des gegenüberliegenden Mietshauses und Wolken, die sich vor den Halbmond schoben. Als er die Vorhänge wieder zuzog, sagte er sich, dass es nichts zu bedeuten hatte. In diesen alten Häusern kamen aus den Rohrleitungen manchmal seltsame Geräusche, die mitten in der Nacht unheimlich wirkten. Das musste es sein. Die Leitungen. Er trat an die Spüle, drehte den Wasserhahn auf, füllte ein Glas und trank nachdenklich.
Auf dem Rückweg zum Bett hörte er ein anderes Geräusch. Schnell drehte er sich zur Tür um. Diesmal schien es wirklich aus dem Treppenhaus gekommen zu sein, und es war weder von einem Vogel, dem Regen oder den Rohrleitungen verursacht worden. Für ihn hatte es sich so angehört, als wäre jemand direkt vor seiner Wohnungstür.
Das Blut gefror ihm in den Adern.
»Chi e?«, rief er. Dann, weil er sich seines Italienischs nicht sicher war, stellte er die Frage erneut, diesmal auf Englisch. Diese Sprache beherrschte er besser, und sie wurde von deutlich mehr Menschen verstanden als seine Muttersprache Arabisch. »Wer ist da?«
Nichts. Stille. Und dann, völlig überraschend, wurde er von zwei Seiten attackiert.
Die Tür flog auf, und er sah gerade noch drei schwarz gekleidete, maskierte Männer, bevor sein Kopf herumfuhr, weil hinter ihm das Fenster zersplitterte und zwei weitere Eindringlinge dicht vor ihm auf dem Boden seines Zimmers landeten. Und alle fünf richteten Waffen auf ihn.
»Auf den Boden«, schrie einer der Männer, dem Akzent nach ein Amerikaner. »Los, hinlegen. Wird's bald?«
Abdul-Qahhar spürte, wie ihm jemand brutal in die Kniekehle schlug. Seine Beine gaben nach, und er stürzte.
»Hände auf den Rücken«, befahl der Amerikaner, als er ihm den Lauf seiner Waffe an die Schläfe setzte. Abdul-Qahhar gehorchte. Seine Hände wurden auf dem Rücken gefesselt, vermutlich mit Handschellen aus Kunststoff. Er spürte, dass der Stoff seiner Jeans an den Oberschenkeln feucht war.
»Er hat sich in die Hose gepisst«, sagte einer der Männer, die durch das Fenster gekommen waren. Er schien Engländer zu sein, und die Worte klangen nicht angeekelt, sondern wie eine kühle Feststellung. Überrascht wirkte er nicht.
»Los, die Kapuze«, befahl der Amerikaner, und Abdul-Qahhar spürte sofort einen kratzigen Stoff auf seiner Gesichtshaut. Als die Kapuze unten fest zugebunden wurde, bekam er nur noch mit Mühe Luft.
Er war zu verängstigt, um auch nur ein Wort herauszubringen, und die Männer rissen ihn unsanft hoch und stießen ihn erst durch die Tür und dann die Stufen hinab. Im Treppenhaus sagte keiner von ihnen etwas. Als sie vor die Tür traten, regnete es in Strömen, doch neben dem Prasseln des Regens hörte Abdul-Qahhar noch ein anderes Geräusch, das Brummen eines laufenden Motors. Türen wurden aufgerissen, man stieß ihn brutal auf die Ladefläche eines Fahrzeugs. Sein Kopf schlug auf den Stahlboden, und er schrie vor Schmerz auf.
»Ruhe dahinten«, befahl eine Stimmer, als die Türen zugeschlagen wurden und der Wagen sich in Bewegung setzte.
Der Stoff der durchnässten Jeans fühlte sich klamm und kalt an auf seiner Haut, doch zugleich stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und er versuchte tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Vor seinem geistigen Auge sah er die Waffen seiner Entführer, und er spürte noch genau, wo ihm einer von ihnen den Lauf seines Gewehres in die Schläfe gebohrt hatte. Er schloss unter der Kapuze die Lider und murmelte leise jene Gebete vor sich hin, die er noch vor ein paar Stunden in der Moschee gesprochen hatte. »Allahu Akbar min kulli shay, Gott ist groß ... « Und dann versetzte ihm plötzlich jemand einen brutalen Tritt in den Unterleib.»Ruhe!«
Abdul-Qahhar gehorchte. Vielleicht, dachte er, ist dieser Albtraum gleich vorbei. Du wirst aufwachen, auf deinem Bett, und feststellen, dass du über dem Koran eingenickt bist.
In der Finsternis verlor die Zeit ihre Bedeutung. Er hätte nicht sagen können, wie lange die Fahrt gedauert hatte, als das Fahrzeug stehen blieb und man ihn von der Ladefläche zerrte. Der Regen hatte aufgehört, doch es schien entsetzlich windig zu sein, und er hörte ein ohrenbetäubendes Geräusch, das er nicht identifizieren konnte.
»Nimm ihm das Ding ab«, hörte er jemanden sagen. Kurz darauf wurde ihm die Kapuze über den Kopf gezogen, und er kniff die Augen zusammen, weil ihn grelles Licht blendete. Als er sie langsam öffnete, erkannte er, woher der Lärm und der Wind kamen. Vor sich sah er einen großen, zum Abheben bereiten Helikopter.
Einer der maskierten Männer trat mit gezückter Waffe auf ihn zu. »Es liegt an Ihnen, wie's jetzt weitergeht«, schrie er, um den Lärm der Rotoren zu übertönen. »Sie können in den Helikopter steigen, ohne sich zu wehren und Theater zu machen. Machen Sie dagegen Ärger, sind die Konsequenzen schmerzhaft.«
Abdul-Qahhar spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann. »Bitte«, bettelte er. »Ich habe große Flugangst. Bitte. Sie machen einen schrecklichen Fehler. Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder warum Sie mich mitnehmen wollen, aber es muss einen fürchterlichen Irrtum ... «
Er konnte den Satz nicht beenden, weil ihm einer der Männer brutal den Kolben seines Gewehres in den Unterleib schlug. Noch während er vom Schmerz gepeinigt vornübergebeugt dastand, wurde er von hinten gepackt und in Richtung des Helikopters gezerrt. Der Lärm der Rotoren, ein ohrenbetäubendes, schrilles Heulen, wurde immer lauter, und der Abwind hätte ihn fast von den Beinen geholt. Er wurde erneut von Panik übermannt und begann sich zu wehren. »Bitte!«' schrie er. »Es muss ein Irrtum sein!« Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen und wegzulaufen.
Es war sinnlos. Sofort packte einer der Männer brutal seine Kehle, ein anderer zog ihm erneut die Kapuze über den Kopf. »Nein!«, brüllte er. »Bitte, das nicht! Ich komme ja mit!« Doch noch während er sprach, wurde die Kapuze an seinem Hals wieder zugezogen, und er merkte, wie er weiter in Richtung Helikopter gezerrt wurde.
Dann spürte er unter den Füßen eine Gangway, und der Lärm der Rotoren schien seine Trommelfelle platzen zu lassen. Es war zu viel, seine Flugangst überwältigte ihn. Er stieß einen verängstigten Schrei aus und machte einen letzten verzweifelten Versuch, seinen Entführern zu entkommen.
Er hatte keine Chance. Jemand schlug ihm brutal mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf. Einen Moment war ihm schwindlig, Übelkeit überkam ihn. Dann stürzte er, doch glücklicherweise spürte er nichts mehr, weil er bereits das Bewusstsein verloren hatte.
Copyright © Chris Ryan, 2008
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Übersetzung: Bernhard Liesen
In Abdul-Qahhars Leben nahm das Gebet einen wichtigen Platz ein. Es richtete ihn innerlich auf, und als er die Moschee verließ und die Stufen hinabstieg, machte ihm selbst der kalte Regen nichts mehr aus. Es waren nur ein paar Schritte bis zu seinem Einzimmerapartment, das er eben deshalb gemietet hatte, weil es in unmittelbarer Nähe der Moschee lag. Kurz darauf war er da, durchnässt, aber keineswegs niedergeschlagen. Als er gerade die Eingangstür des Mietshauses aufschließen wollte, wurde sie von innen von einer alten Dame geöffnet, die zwei Stockwerke unter ihm wohnte.
»Buona sera«, sagte er lächelnd, darum bemüht, die italienischen Worte verständlich auszusprechen.
Die alte Dame warf ihm einen aggressiven Blick zu und eilte an ihm vorbei, etwas Unverständliches vor sich hin murmelnd. Sie war noch nie freundlich gewesen, zumindest ihm gegenüber nicht. Es war nichts Ungewöhnliches, dass die Menschen hier sich so verhielten. Er mochte modische italienische Jeans tragen, doch das änderte nichts an seiner Hautfarbe, und in diesen schwierigen Zeiten gab es viele Menschen, die nichts anderes sahen. Viele seiner Landsleute machte das wütend, aber Abdul-Qahhar war ein umgänglicher Mensch. Seine Maxime war es, sich allen gegenüber höflich zu verhalten. Sei höflich, dann begreifen sie, dass sie von dir nichts zu befürchten haben.
»Buon Natale«, rief er der alten Frau nach. Frohe Weihnachten. Natürlich verband er selbst nichts damit, doch er kannte die Bedeutung des christlichen Festes, insbesondere für die Einwohner von Rom, die im Schatten des Vatikans lebten. Da das Fest unmittelbar vor der Tür stand, sah er keinen Grund, warum er den Italienern, die ihm Tag für Tag begegneten, nicht Frohe Weihnachten wünschen sollte. In der Regel waren die Römer angenehm überrascht.
Aber die alte Dame drehte sich nicht noch einmal um, und er schloss die Haustür und stieg die Stufen hinauf, ohne sich die Mühe zu machen, den Lichtschalter zu betätigen. Er wusste, dass die Treppenhausbeleuchtung nicht funktionierte, und deshalb musste er sich in der Dunkelheit an dem hölzernen Treppengeländer festhalten. Im ersten Stock roch es nach Essen, im vierten lief wie immer das Radio, aus dem um diese Jahreszeit Weihnachtsmusik plärrte. Seine Einzimmerwohnung lag im obersten Stock, und dort war es ruhig.
Das Apartment war spartanisch möbliert, aber Abdul-Qahhar war ein genügsamer Mensch. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Bücherregal, eine Kochplatte, mehr brauchte er nicht. Er zog die nassen Kleidungsstücke aus und hängte sie über den riesigen elektrischen Heizkörper, der trotz seines Alters überraschend gut funktionierte. Dann trat er vor den mager bestückten Kleiderschrank und nahm eine Jeans und ein T-Shirt heraus. Er fühlte sich seltsam in dieser Aufmachung, doch in Rom oder einer anderen westlichen Metropole konnte man schlecht in dem einteiligen arabischen Gewand herumlaufen, das er wesentlich bequemer fand. Ihm war klar, dass er sich an den fremden Kleidungsstil gewöhnen musste. Nachdem er schnell etwas gegessen hatte, setzte er sich im Schneidersitz auf das Bett, schlug seinen geliebten, schon etwas abgestoßenen Koran auf und vertiefte sich in den Text. Eigentlich hätte er für die Uni arbeiten müssen, doch manchmal sehnte er sich nach der beruhigenden Wirkung, die das Heilige Buch auf ihn hatte, und jetzt war einer dieser Augenblicke.
Während seine Augen von rechts nach links über den Text glitten, dessen poetische Qualitäten er so schätzte, verlor er jegliches Zeitgefühl. Als er schließlich auf den kleinen Wecker auf dem Nachttisch blickte, stellte er überrascht fest, dass es schon fast Mitternacht war. Mit leisem Bedauern klappte er das Buch zu, stellte es auf das Regal und ging zur Spüle, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Plötzlich blieb er stehen. Er hörte ein Geräusch, vermutlich aus dem Treppenhaus. Aber seine Wohnung war die einzige im obersten Stock. Vielleicht kam es von draußen. Ein Vogel. Oder der Regen. Er trat ans Fenster und zog die zerschlissenen Vorhänge auseinander, sah aber nur das Dach des gegenüberliegenden Mietshauses und Wolken, die sich vor den Halbmond schoben. Als er die Vorhänge wieder zuzog, sagte er sich, dass es nichts zu bedeuten hatte. In diesen alten Häusern kamen aus den Rohrleitungen manchmal seltsame Geräusche, die mitten in der Nacht unheimlich wirkten. Das musste es sein. Die Leitungen. Er trat an die Spüle, drehte den Wasserhahn auf, füllte ein Glas und trank nachdenklich.
Auf dem Rückweg zum Bett hörte er ein anderes Geräusch. Schnell drehte er sich zur Tür um. Diesmal schien es wirklich aus dem Treppenhaus gekommen zu sein, und es war weder von einem Vogel, dem Regen oder den Rohrleitungen verursacht worden. Für ihn hatte es sich so angehört, als wäre jemand direkt vor seiner Wohnungstür.
Das Blut gefror ihm in den Adern.
»Chi e?«, rief er. Dann, weil er sich seines Italienischs nicht sicher war, stellte er die Frage erneut, diesmal auf Englisch. Diese Sprache beherrschte er besser, und sie wurde von deutlich mehr Menschen verstanden als seine Muttersprache Arabisch. »Wer ist da?«
Nichts. Stille. Und dann, völlig überraschend, wurde er von zwei Seiten attackiert.
Die Tür flog auf, und er sah gerade noch drei schwarz gekleidete, maskierte Männer, bevor sein Kopf herumfuhr, weil hinter ihm das Fenster zersplitterte und zwei weitere Eindringlinge dicht vor ihm auf dem Boden seines Zimmers landeten. Und alle fünf richteten Waffen auf ihn.
»Auf den Boden«, schrie einer der Männer, dem Akzent nach ein Amerikaner. »Los, hinlegen. Wird's bald?«
Abdul-Qahhar spürte, wie ihm jemand brutal in die Kniekehle schlug. Seine Beine gaben nach, und er stürzte.
»Hände auf den Rücken«, befahl der Amerikaner, als er ihm den Lauf seiner Waffe an die Schläfe setzte. Abdul-Qahhar gehorchte. Seine Hände wurden auf dem Rücken gefesselt, vermutlich mit Handschellen aus Kunststoff. Er spürte, dass der Stoff seiner Jeans an den Oberschenkeln feucht war.
»Er hat sich in die Hose gepisst«, sagte einer der Männer, die durch das Fenster gekommen waren. Er schien Engländer zu sein, und die Worte klangen nicht angeekelt, sondern wie eine kühle Feststellung. Überrascht wirkte er nicht.
»Los, die Kapuze«, befahl der Amerikaner, und Abdul-Qahhar spürte sofort einen kratzigen Stoff auf seiner Gesichtshaut. Als die Kapuze unten fest zugebunden wurde, bekam er nur noch mit Mühe Luft.
Er war zu verängstigt, um auch nur ein Wort herauszubringen, und die Männer rissen ihn unsanft hoch und stießen ihn erst durch die Tür und dann die Stufen hinab. Im Treppenhaus sagte keiner von ihnen etwas. Als sie vor die Tür traten, regnete es in Strömen, doch neben dem Prasseln des Regens hörte Abdul-Qahhar noch ein anderes Geräusch, das Brummen eines laufenden Motors. Türen wurden aufgerissen, man stieß ihn brutal auf die Ladefläche eines Fahrzeugs. Sein Kopf schlug auf den Stahlboden, und er schrie vor Schmerz auf.
»Ruhe dahinten«, befahl eine Stimmer, als die Türen zugeschlagen wurden und der Wagen sich in Bewegung setzte.
Der Stoff der durchnässten Jeans fühlte sich klamm und kalt an auf seiner Haut, doch zugleich stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und er versuchte tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Vor seinem geistigen Auge sah er die Waffen seiner Entführer, und er spürte noch genau, wo ihm einer von ihnen den Lauf seines Gewehres in die Schläfe gebohrt hatte. Er schloss unter der Kapuze die Lider und murmelte leise jene Gebete vor sich hin, die er noch vor ein paar Stunden in der Moschee gesprochen hatte. »Allahu Akbar min kulli shay, Gott ist groß ... « Und dann versetzte ihm plötzlich jemand einen brutalen Tritt in den Unterleib.»Ruhe!«
Abdul-Qahhar gehorchte. Vielleicht, dachte er, ist dieser Albtraum gleich vorbei. Du wirst aufwachen, auf deinem Bett, und feststellen, dass du über dem Koran eingenickt bist.
In der Finsternis verlor die Zeit ihre Bedeutung. Er hätte nicht sagen können, wie lange die Fahrt gedauert hatte, als das Fahrzeug stehen blieb und man ihn von der Ladefläche zerrte. Der Regen hatte aufgehört, doch es schien entsetzlich windig zu sein, und er hörte ein ohrenbetäubendes Geräusch, das er nicht identifizieren konnte.
»Nimm ihm das Ding ab«, hörte er jemanden sagen. Kurz darauf wurde ihm die Kapuze über den Kopf gezogen, und er kniff die Augen zusammen, weil ihn grelles Licht blendete. Als er sie langsam öffnete, erkannte er, woher der Lärm und der Wind kamen. Vor sich sah er einen großen, zum Abheben bereiten Helikopter.
Einer der maskierten Männer trat mit gezückter Waffe auf ihn zu. »Es liegt an Ihnen, wie's jetzt weitergeht«, schrie er, um den Lärm der Rotoren zu übertönen. »Sie können in den Helikopter steigen, ohne sich zu wehren und Theater zu machen. Machen Sie dagegen Ärger, sind die Konsequenzen schmerzhaft.«
Abdul-Qahhar spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann. »Bitte«, bettelte er. »Ich habe große Flugangst. Bitte. Sie machen einen schrecklichen Fehler. Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder warum Sie mich mitnehmen wollen, aber es muss einen fürchterlichen Irrtum ... «
Er konnte den Satz nicht beenden, weil ihm einer der Männer brutal den Kolben seines Gewehres in den Unterleib schlug. Noch während er vom Schmerz gepeinigt vornübergebeugt dastand, wurde er von hinten gepackt und in Richtung des Helikopters gezerrt. Der Lärm der Rotoren, ein ohrenbetäubendes, schrilles Heulen, wurde immer lauter, und der Abwind hätte ihn fast von den Beinen geholt. Er wurde erneut von Panik übermannt und begann sich zu wehren. »Bitte!«' schrie er. »Es muss ein Irrtum sein!« Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen und wegzulaufen.
Es war sinnlos. Sofort packte einer der Männer brutal seine Kehle, ein anderer zog ihm erneut die Kapuze über den Kopf. »Nein!«, brüllte er. »Bitte, das nicht! Ich komme ja mit!« Doch noch während er sprach, wurde die Kapuze an seinem Hals wieder zugezogen, und er merkte, wie er weiter in Richtung Helikopter gezerrt wurde.
Dann spürte er unter den Füßen eine Gangway, und der Lärm der Rotoren schien seine Trommelfelle platzen zu lassen. Es war zu viel, seine Flugangst überwältigte ihn. Er stieß einen verängstigten Schrei aus und machte einen letzten verzweifelten Versuch, seinen Entführern zu entkommen.
Er hatte keine Chance. Jemand schlug ihm brutal mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf. Einen Moment war ihm schwindlig, Übelkeit überkam ihn. Dann stürzte er, doch glücklicherweise spürte er nichts mehr, weil er bereits das Bewusstsein verloren hatte.
Copyright © Chris Ryan, 2008
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Übersetzung: Bernhard Liesen
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Bibliographische Angaben
- Autor: Chris Ryan
- 2009, 1, 365 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Kartoniert (TB)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800193X
- ISBN-13: 9783868001938
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