"Isabelle", 5er-Package
"Isabelle", "Geliebte Isabelle", "Isabelle de Paradou", "Isabelle und der König", "Die Macht der Liebe"
5-mal Liebe, Tragik und Leidenschaft: Die schöne und temperamentvolle Isabelle, deren Herkunft im Dunkeln liegt, kommt an den französischen Königshof.
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Produktinformationen zu „"Isabelle", 5er-Package “
5-mal Liebe, Tragik und Leidenschaft: Die schöne und temperamentvolle Isabelle, deren Herkunft im Dunkeln liegt, kommt an den französischen Königshof.
- Isabelle: Isabelle, eine junge Zigeunerin, deren Geburt im Dunkeln liegt, lebt mit ihrer Mutter Mariette in den Bergen der Provence. Mariette besitzt geheimnisvolle Heilkräfte, und als der kranke König René davon hört, lässt er die Zigeunerin an seinen Hof kommen. Auch Isabelle sieht dabei zum ersten Mal die Stadt und den Königshof. Durch ihre Schönheit und Schüchternheit fällt sie dem jungen Adeligen Nicolas de Paradou auf und erweckt dadurch die Eifersucht von Genevieve, die ein Auge auf Nicolas geworfen hat.
- Geliebte Isabelle: Isabelle trägt Nicolas Kind unter dem Herzen. Es fällt ihr schwer, in dieser Zeit der Schwangerschaft so oft allein zu sein. Die Jagdleidenschaft ihres Mannes scheint in letzter Zeit zugenommen zu haben, und Isabelle fühlt eine gewisse Entfremdung zwischen sich und ihrem geliebten Gemahl. Wie kam es dazu, dass ihre grenzenlose Liebe so abkühlen konnte?
- Isabelle de Paradou: Isabelle hat in der Festungsstadt Les Baux, im Herzen der Provence, Zuflucht gefunden, nachdem ihr Mann endlich freigekommen ist. Gerade erst hat sie die Romanze mit Nicolas Stiefbruder beendet und beginnt wieder an ihr Glück zu glauben, da trifft sie erneut ein Schicksalsschlag: Nicolas stürzt vom Pferd und verletzt sich dabei tödlich. Isabelle ist geschockt und zieht sich ganz in sich selbst zurück.
- Isabelle und der König: Isabelle ist gegen ihren Willen zum Spielball der politischen Mächte geworden. Im Hafen von St. Tropez wartet sie vergeblich auf ihre Kinder. Die königliche Familie überlässt nichts dem Zufall und hat dafür gesorgt, dass sich auch ihre Kinder nicht auf die verwandtschaftlichen Bande mit dem Königshaus berufen können. Aber Isabelle glaubt nicht an den Tod ihrer Kinder. Verzweifelt kämpft sie um ihre Rückkehr – und ihre große und einzige Liebe.
- Die Macht der Liebe: Als sie dem Werben des Grafen Chartière nachgibt, glaubt Fleur de Paradou das Paradies auf Erden gefunden zu haben. Doch ihre Liebe schlägt in bitteren Hass um, als sie bemerkt, dass sie für diesen Mann nicht mehr als ein Abenteuer ist, eine Krämerstochter! Zutiefst gedemütigt schwört sie Rache, da greift der König von Frankreich in ihr Schicksal ein.
Lese-Probe zu „"Isabelle", 5er-Package “
Isabelle von Marie Cordonnier Prolog
Ein Jahr vor den Ereignissen
25. Mai 1479 Der Wind zerrte übermütig an den schweren Falten ihres einfachen, braunen Umhanges. Isabelle drückte sich fröstelnd enger in die Nische der mächtigen Mauer. Nach der bedrückenden Dunkelheit des Gotteshauses der zwei Marien, die sie nicht länger hatte ertragen können, schmerzte das klare, blendende Sonnenlicht in den Augen.
Der strahlende Maitag erstarrte unter dem Eishauch des Mistrals, der sich mit ungestümer Macht gegen die wuchtigen grauen Steine warf. Die fast fensterlose Festung, die zur Zeit der Arabereinfälle auch als letzter Zufluchtsort für die Leute von SaintesMaries- de-la-Mer gedient hatte, wirkte aus diesem Blickwinkel weniger denn je wie eine Kirche. Der Sturm pfiff um die burgähnlichen Pfeiler der leeren Wehrgänge und warf sich danach mit unverminderter Wucht über die geduckten, strohgedeckten Häuser und Hütten, die sich Schutz suchend zu Füßen des düsteren Klotzes zusammenkauerten.
In Isabelles Ohren dröhnte noch immer das gleichförmige, leiernde Gemurmel der flehenden Gebete und Gesänge. Vor dem barbarisch aufgeputzten Standbild der heiligen Sarah in der Krypta lagen die Zigeuner auf den Knien. Sie erflehten Gottes Segen und Barmherzigkeit für ihr Volk, wie sie es seit ewigen Zeiten zum Fest der Maria Jacobàa taten. Binnen Kürze würden sich die Männer zur Bittprozession formieren, um die in Flitter und Spitzen gehüllte schwarze Steinpuppe ans Meer zu tragen. Dorthin, wo die heilige Sarah angeblich vor vielen hundert Jahren den Boden der Provence zum ersten Male betreten hatte.
... mehr
Isabelle zog die frische, belebende Luft in tiefen Zügen ein. In der Kirche hatte eine Dunstwolke aus Schweiß, Moder und Weihrauch das Atmen erschwert. Sie ertappte sich dabei, dass sie Mitleid mit den Frauen und Männern hatte, deren selbstsicherer Stolz nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass sie unter dem Flickwerk ihrer schäbigen und fremdartigen Kleider in der ungewohnten Kälte zitterten.
Während die Frauen rings um sie her ihre ärmlichen Opfergaben zu Füßen der Heiligen aufgehäuft hatten, war Isabelles Herz stumm und ungerührt geblieben. Welche Bitte sollte sie schon an Sarah, die schwarze Dienerin der zwei Marien, richten? Ganz gewiss wünschte sie keinen der glutäugigen Burschen, die das schwere Heiligtum auf ihre Schultern wuchteten, zum Manne. Aber sie fand auch nicht die richtigen Worte, um die fremdartige Sehnsucht und Ruhelosigkeit zu beschreiben, die sie in den letzten Monaten immer stärker zu bedrücken begann. Neidvoll folgten ihre Blicke dem Flug der Möwen, die gleich weißen Pfeilen die gläserne Klarheit des weiten Himmels durchschnitten.
»Träumst du, Mädchen mit den Frühlingsaugen?«
Isabelle schrak auf, fühlte sich ertappt und raffte den schweren Mantel enger um die schmalen Schultern. Misstrauisch musterte sie die gebückte Gestalt, die scheinbar aus dem Nichts an ihrer Seite aufgetaucht war. Eine Bettlerin?
»Lass mich allein. Ich kann dir nichts geben, ich hab selber nichts ...«
Nur mühsam verbarg sie den Ekel, den ihr die schmutzstarrende, zusammengesunkene Alte einflößte. »Nichts?« Das höhnische Kichern schepperte unangenehm. »Du hast einen warmen Umhang, und meine alten Knochen frieren in diesem Teufelswind. «
Die Greisin schob sich noch näher. Isabelle wurde nun von ihren Ausdünstungen getroffen und rümpfte die Nase. Sie wich zurück, so weit es möglich war.
»Soll ich dir sagen, ob deine Träume in Erfüllung gehen, Mädchen mit den Frühlingsaugen? Dein Mantel gegen einen Blick in eine abenteuerliche Zukunft, du wirst diesen Tausch nicht bereuen! «
Klauenartige, eiskalte Finger zogen die zierliche Hand herab, die die braunen Stofffalten vor der Brust zusammenhielt.
»Du erlebst ein Schicksal, dessen Glanz dir Neid und Feinde, aber auch Leidenschaft und Glück bescheren wird.«
Zornig riss Isabelle ihre Hand zurück.
»Fasle keinen Unsinn! Ich bin Zigeunerin wie du, mir kannst du mit diesen Märchen nicht den Blick vernebeln. Mein Schicksal kenne ich nur zu gut. Irgendwann ein Mann, jedes Jahr ein heulendes Kind. Die Landstraße, der Hunger, Verzweiflung und Elend. Wage nicht, das Gegenteil zu behaupten. Die heilige Sarah straft die Lügner!«
Aber etwas zwang sie, trotz allem in die dunklen Augen zu sehen, die das alte, faltige Gesicht beherrschten. Sie schienen jede Einzelheit ihrer Erscheinung genau zu prüfen. Unter den schlichten, weiten Kleidern ließ sich ihre schlanke Gestalt nur erahnen. Dafür war das feine, bräunliche Antlitz mit den ebenmäßigen Zügen umso wirkungsvoller. Die gerade, kleine Nase, der vollendet geformte Mund und die übergroßen, grünen Augen unter der Fülle gelockter, dunkler Haare waren von auffälliger, ungewöhnlicher Schönheit. Das zierliche, ausgeprägte Kinn verriet jedoch Willensstärke und Entschlusskraft. Halb widerstrebend, halb fasziniert ließ Isabelle es zu, dass die Alte erneut nach ihrer Hand fasste.
»Zigeunerin - du irrst, mein Kind. Weder bist du eine der unseren, noch ist dir ein Zigeunerlos beschieden ...« Ein dürrer, ungewaschener Zeigefinger mit rissigem Nagel folgte den Linien auf Isabelles Handfläche.
»In deinen Adern fließt das Blut der Edlen dieses Landes. Du bist das Kind einer leidenschaftlichen Liebe, schon bei Geburt vom Tode bedroht. Unser Volk leiht dir seinen Schutz, bis das Schicksal deine Stunde bestimmt. Hüte dich vor dem Glanz der Macht, denn unter den Juwelen lauern Gift und Falschheit. Bekämpfe deinen Stolz, er lässt deiner Liebe keinen Raum.«
»Liebe ...« Isabelle lächelte ungläubig.
»Dein Herz wird einem Sohn des Südens gehören«, raunte die Zigeunerin mahnend, und Isabelle schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, ungesagt hinunter. Reglos wartete sie, dass die Alte weitersprach.
»Wenn ein Kranker die Krone trägt und das Geschlecht deiner Mutter erlischt, naht die Stunde deiner Rache. Wenn der flammende Horizont ertrinkt, kannst du im Tale des Lavendels dein Glück finden. Aber nur, falls es dir gelingt, deinen Stolz zu überwinden. «
Die Frau keuchte, rang nach Luft und hob endlich den Blick von Isabelles Hand.
»Möge die heilige Sarah dich auf deinen stürmischen Wegen beschützen, Mädchen mit den goldenen Haaren. Auch wenn deine Lippen heute das Gebet zu ihrer dunklen Heiligkeit scheuten. «
Isabelle kam taumelnd zu sich, während die letzten Nachzügler der Bittprozession singend an ihr vorbeimarschierten. Was war geschehen? Hatte sie geträumt? Sie fror erbärmlich. Der Wind peitschte den dünnen Wollrock klatschend um ihre Beine, und die grobe Leinenbluse hatte sich in einen scheuernden Eispanzer verwandelt. Wo war ihr Mantel? Hatte sie ihn freiwillig fortgegeben?
Sie vermochte nicht zu sagen, was geschehen war. Eines schien leider sicher: Die wirren Träume, die durch ihren Kopf spukten, waren ein schlechter Tausch für den Schutz und die Wärme eines Umhangs. Hinzu kam - wie sollte sie ihrer strengen und nüchternen Mutter diesen Verlust erklären?
Die Kräuter-Mariette, wie man die gedrungene, stämmige Zigeunerin in den Bergen rund um Les Baux nannte, war ihrer Tochter Isabelle eine eher unnachgiebige, denn liebevolle oder zärtliche Mutter.
In ihren Augen wäre die rätselhafte Prophezeiung der Greisin nichts als eine schreckliche Dummheit. Und, sinnierte Isabelle einsichtig, würde sie nicht Recht haben mit diesem Urteil? Sie zupfte unruhig eine Strähne ihres rabenschwarzen, dunklen Haares zurecht, das Mariette mit Kräuterspülungen und Pasten glänzend und lockig zu erhalten suchte.
Mädchen mit den goldenen Haaren? Bei allen Heiligen, die Alte war auch noch blind gewesen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Isabelle schämte sich. Sie konnte sich des dumpfen Gefühls nicht erwehren, der schwarzen Sarah zu diesem Frühlingsfest ihren Verstand geopfert zu haben.
Zur selben Stunde war der bezaubernde Garten im hohen Mauergeviert der Burg ein heimliches, verwunschenes Paradies über den Dächern der Stadt Tarascon. Die Sonne wärmte die Steinbänke und ließ die kräftigen Farben der verschwenderisch verstreuten Seidenkissen geheimnisvoll aufglühen.
Hier oben rannte sogar der Eiswind aus den Bergen vergeblich gegen die schützenden Balustraden und Mauern. Aus dieser Sicht war auch die mächtige Rhône nur ein spielerisch geschlungener, silberner Gürtel in einer Borte aus hellen Weidenbüschen. Die intensiven Töne verrieten noch die Kraft des Frühlings.
Der Mann, der eben das glitzernde Schauspiel im durchdringenden Licht des Mistrals bewunderte, wirkte in seiner völligen Reglosigkeit noch massiger und größer als sonst. Über einem prächtigen, rubinroten Untergewand trug er einen kostbaren, pelzgesäumten Mantel. Das kurze, störrische, eisgraue Haar wurde vom Wind gezaust, ohne dass er Anstalten machte, die runde schwarze Samtkappe wieder aufzusetzen, die er zuvor in nachdenklichem Schweigen abgenommen hatte.
Auf der kissenbedeckten Bank hinter ihm saß eine Frau, die soeben von ihrer zierlichen Stickerei aufsah. Kummervoll erkannte sie an den unmerklich vorgesunkenen Schultern, an der leichten Beugung des Rückens die fortschreitenden Zeichen der Krankheit ihres Gemahls. Er verleugnete es zu gerne, aber die Last der sieben Jahrzehnte, die auf ihm ruhte, hatte seine Kraft und seine Gesundheit untergraben. René, Herzog von Anjou, König der Provence, hatte sich hierher zurückgezogen, um seine letzten Jahre in wohlverdientem Frieden zuzubringen. Die Zeit der Kriege, der Intrigen und Eroberungen, der politischen Fehler, aber auch der schrecklichen Schicksalsschläge lag hinter ihm. Auch wenn es seine Ärzte nicht aussprachen, er wusste, dass die Zeit, die er noch zu leben hatte, längst absehbar und begrenzt war.
Jeanne de Laval, seine zweite Gattin, war eine stille, kluge Frau, die ihren Gemahl besser kannte, als es ihm manchmal lieb war. Sie ahnte, dass seine Gedanken der Frau, den Kindern und den Enkeln galten, die längst vor ihm ihren Frieden in Gott gefunden hatten. Er war allein, der Letzte seines Hauses - und auch die zweite, späte Ehe hatte ihm nicht mehr den so sehnlich erwünschten Erben geschenkt.
Kein Vorwurf war je über seine Lippen gekommen, obwohl eine stattliche Anzahl illegitimer Kinder sowohl bewies, dass die Schuld nicht bei René von Anjou lag, wie auch, dass seine Vorliebe für schöne Frauen die Zeiten überdauert hatte. Jeanne de Laval seufzte lautlos. Sie schätzte den König auf ihre ruhige, zurückhaltende Art. Sie hätte alles gegeben, ihm Kummer zu ersparen.
»War das nicht der Seigneur von Turenne, den ich heute aus Eurem Jagdzimmer kommen sah, Sire?«, lenkte sie ihn und sich selbst von düsteren Gedanken ab.
René von Anjou setzte mit einer heftigen Bewegung endlich die Kappe wieder auf. Er brummte etwas Unverständliches, wandte sich um und nickte.
»Ihr habt Euch nicht getäuscht, meine Liebe. Und Ihr werdet nicht fassen, zu welchem Zweck er in die Höhle des Löwen kam.«
Die Feindschaft zwischen dem König und André de Turenne war ein offenes Geheimnis. Sein Besuch konnte nur eines bedeuten.
»Ärger?«
»Noch viel unglaublicher«, schnaubte René. »Er war sich nicht zu schade, mir das Loblied seines Sohnes zu singen. Es muss ihn hart angekommen sein, mir schön zu tun.«
Die Königin rief sich das Bild des erwähnten Edelmannes vor Augen.
»Raimond de Turenne? Ein charmanter Junge, wenn ich dem Urteil meiner jüngeren Ehrendamen trauen darf. Hat sein Vater eine Heirat im Sinn?«
Der König lachte hart.
»Viel unglaublicher - oder stellt Ihr Euch wieder einmal harmloser, als Ihr es seid, Jeanne? Solltet Ihr als Einzige die Augen vor Turennes ehrgeizigen Plänen verschließen? Er versäumte es nicht einmal, mich darauf hinzuweisen, dass die Herren von Les Baux einst Könige des heiligen Jerusalems waren!«
Jeanne rückte etwas zur Seite, und René von Anjou ließ sich neben ihr schwer auf die Bank fallen. Dass der Streit um die Nachfolge des Königs schon zu seinen Lebzeiten ausbrechen würde, war zu erwarten gewesen. Der Adel des Südens fand sich nicht leicht damit ab, möglicherweise einem fernen König in Paris die Reverenz erweisen zu müssen. Die stolzen Herren kämpften um ihre Selbstständigkeit. Mit einer Kopfbewegung ermunterte sie ihren Gemahl, in seinem Bericht fortzufahren.
»André de Turenne ließ keinen Zweifel daran, dass es meine Aufgabe ist, für einen Erben zu sorgen. Da meine eigenen Söhne tot sind und auch deren Kinder verstorben, bleibt in seinen Augen nur eine Möglichkeit: Ich soll einen würdigen Nachfolger an Sohnes statt annehmen.«
»Meint er damit etwa Raimond?«
Die Königin war sehr wohl im Stande, den verschlungenen Gedankengängen Turennes zu folgen. Empört wandte sie sich so heftig zur Seite, dass sich die zarte Wolke des duftigen Musselinschleiers, der von ihrem spitzen Kopfputz wallte, in den Dornen der knospenden Rosen verfing. Heute hatte sie keinen Blick für die Schönheit der Blüten, sie zerrte nur ungeduldig an dem Stoff.
»Einen Nachfahren des Bastards Turenne! Habt Ihr vergessen, dass er seine Feinde über die Felsen von Les Baux in die Tiefe zu stürzen pflegte? Nicht umsonst nennt ihn das Volk mit Schrecken die Geißel der Provence. Wer garantiert Euch, dass in Raimonds Adern nicht jenes verfluchte Blut die Überhand gewinnt?«
René schwieg. Auch ohne diese triftigen Gründe konnte er keinen Gefallen an dem Vorschlag finden. Das Feuer geheimen Hasses wog schwer zwischen ihm und dem hageren, ehrgeizigen Turenne. Nicht einmal Jeanne ahnte, dass André in Renés Augen ein gewissenloser Mörder war.
Aus den Schatten der Vergangenheit tauchte vor ihm die blumenzarte Gestalt Florence de Turennes auf. Das edle Oval ihres Gesichtes mit den grünen Augen, die das Versprechen von Frühling und Liebe gegeben hatten. Die Pracht ihres goldschimmernden Feenhaares, offen, nur von juwelenverzierten Bändern gehalten. Konnte es schon zwanzig Jahre her sein, dass sie verschwunden war und von einem Tag auf den anderen das Licht, die Wärme und das Entzücken aus seinem Leben genommen hatte? Der schneidende Schmerz der Enttäuschung war gelindert, aber nicht verschwunden. Er wusste, dass nur der Tod sie aus seinen Armen gerissen haben konnte. Der Tod in Gestalt von André Turenne; auch wenn er es nicht beweisen konnte, er wusste es.
»Wie lautete Eure Antwort, Sire?«
Jeannes Stimme riss ihn aus dumpfem Grübeln. Es geschah in letzter Zeit zu oft, dass er glaubte, jene zu sehen, die längst die Erde deckte. Er straffte die müden Schultern.
»Ich werde Raimond de Turenne prüfen. Ich bin es dem Hause Anjou und meiner Provence schuldig, persönliche Gefühle außer Acht zu lassen.«
Besiegt senkte die Königin den Kopf. Täuschte sie sich, oder lag plötzlich ein Schatten vor der Sonne dieses leuchtenden Maitages?
Es war kein Zufall, dass an diesem Tage auch weit entfernt, am Hofe König Ludwigs XI., in Plessiz-les-Tours, das ungewisse Schicksal der Provence Hauptthema eines Gesprächs war.
Der Kanzler sah von den Pergamentrollen auf, die den großen geschnitzten Tisch dicht an dicht bedeckten. Seine kratzende Feder, das einzige Geräusch in dem kleinen, aber behaglich eingerichteten Raume, hielt inne. Der junge Mann, der bisher versunken die kriegerischen Szenen auf einem der Wandteppiche anvisiert hatte, begegnete seinen Augen gelassen.
Philippe de Commynes, Kanzler des Königs von Frankreich, gönnte sich eines seiner seltenen, sparsamen Lächeln. Kein Zweifel, sein Patensohn Nicolas de Paradou begegnete ihm mit Respekt, aber seiner Haltung fehlte jene kriecherische Unterwürfigkeit, die alle Besucher auszeichnete, die in diesem Kabinett mit dem mächtigsten Diener Ludwigs zu tun hatten.
Der Kanzler fühlte sich als einziges Sprachrohr des zornigen, düsteren und machthungrigen Monarchen, der davon träumte, auch noch die letzten selbstständigen Herzogtümer des Landes in ein geeintes Frankreich zu führen. Ein mächtiges Königreich, das endlich allen Bedrohungen von außen gewachsen wäre.
Commynes hatte es gelernt, in den Mienen seiner Mitmenschen zu lesen.
»Nun, Nicolas, du kehrst also endlich in deinen geliebten Süden zurück.«
Eine rein rhetorische Frage, die der Jüngere nur mit einem knappen Nicken beantwortete.
»Wirst du die Tage an diesem Hof nicht vermissen? Ich hatte das Gefühl, dass dich weder die Unterhaltung noch die Aufmerksamkeit der schönen Damen langweilen?«
»Erwartet Ihr jetzt eine ehrliche oder eine politische Antwort von mir, mein Pate?«
Die dunkle, melodische Stimme bebte in verhaltenem Spott, und der Kanzler verzog anerkennend die Mundwinkel. Nicolas de Paradou war ein Edelmann nach seinem Herzen. Mit 26 Jahren zeichneten ihn nicht nur seine Selbstständigkeit und sein Mut aus, er verfügte auch über eine bestechende Intelligenz und eine - in Commynes' Augen beklagenswerte - Neigung zur Unabhängigkeit. Der Ältere zögerte nicht, ihn in Gedanken einen störrischen Maulesel zu nennen.
Er erinnerte sich nur ungern an seine fehlgeschlagenen Versuche, dieses Prachtexemplar zu verheiraten. Nicolas war jeder Falle geschickt ausgewichen. Er hatte sich vergnügt, ohne ein einziges Mal in die Klemme zu geraten. Während sein Pate die schönsten Damen des Hofes vor ihm paradieren ließ, überzeugte er indessen den unzugänglichen König davon, dass er wie kein anderer dazu geschaffen war, den neuesten französischen Gesandten an den provenzalischen Hof zu René von Anjou zu begleiten.
Als Provenzale billigte der junge Mann die Politik des Königs nicht. Trotzdem sagte ihm seine Vernunft, dass die Ära der selbstständigen Fürsten und Kleinstaaten ihrem Ende entgegengehen musste.
»Ich lasse dich ungern ziehen, Nicolas.« Endlich kam der Kanzler zur Sache.
»Aber wie jedes Ding hat auch dein Entschluss, in die Heimat zurückzukehren, eine gute Seite. Froissart, den der König nach Tarascon schickt, ist klug, aber er spricht weder die Sprache des Südens, noch begreift er, was in euren allzu eigensinnigen Köpfen vorgeht. René, dieser alte Fuchs, wird ihn ausspielen, ehe er begreift, was passiert ist. Was ich brauche, das ist ein unbestechlicher Beobachter. Ein Mann, der keines anderen Partei ergreift, der mir aber klar und ohne Beschönigung sagt, was in der Provence geschieht.«
Nicolas begriff das Angebot recht gut.
»Ich bin zwar Euer Patensohn, aber ich bin kein Spion.«
Commynes verbarg seinen Ärger.
»Nein, das bist du natürlich nicht. Aber du hast die Regeln der Diplomatie von mir gelernt. Du gehörst nicht mehr zu jener engstirnigen Generation von Rittern, die Konflikte mit Schwert und Blutvergießen lösen möchten. Du weißt, dass deine Heimat in Gefahr ist. Charles du Maine, dem René seine Macht hinterlässt, ist nicht nur schwach, seine Krankheiten werden ihm auch kein langes Leben gönnen.«
Nicolas lauschte. Er musste sich nicht lange fragen, warum sein Pate diese Nachhilfestunde über die allgemeine politische Lage abhielt.
»Ich habe sichere Informationen darüber, dass der Adel René drängt, einen Erben zu adoptieren. Man will, dass er noch zu Lebzeiten den Vertrag bricht, den er mit König Ludwig von Frankreich geschlossen hat. Du weißt, dass nach du Maines Tod Anjou und die Provence an Ludwig fallen. Dabei muss es bleiben ...«
»Was macht Euch glauben, dass ich bei diesem Pakt hilfreich sein könnte, Pate? Denkt Ihr, dass mich die Aussicht auf eine abhängige Provence beglückt?«
»Beglückt! Pah, sei nicht albern. Wer redet vom Glück, wenn es um schlichte Gebote der Vernunft geht. Willst du, dass sich Frankreich noch einmal in sinnlosen Erbstreitigkeiten zerfleischt? Es bedurfte eines hundertjährigen Krieges und des Todes der Jungfrau von Orleans in den Flammen eines Scheiterhaufens, um die Engländer aus unserem Land zu entfernen. Es ist noch nicht so lange her! Frankreich braucht den Frieden. Nur im Frieden können Wunden geheilt werden, kann die Macht sich festigen. Die Macht eines einzigen Königs, der den Ehrgeiz der Feudalherren in Grenzen hält. Geh nach Tarascon, Nicolas, ich bitte dich darum. Ich will Informationen, keinen Verrat, der dein Gewissen belasten könnte.« Das Schweigen dauerte, aber der Kanzler beging nicht den Fehler, Nicolas in seinen Überlegungen zu stören. Der junge Mann würde den Auftrag annehmen. Er war zu klug, um sich Illusionen zu machen. Er hatte lange genug am Hofe König Ludwigs gelebt, um zu wissen, dass in Plessiz-les- Tours und in Paris die zukunftsweisenden Entscheidungen getroffen wurden.
Auch hatte Philippe de Commynes keinerlei Bedenken, dass Nicolas am Hofe König Renés nicht willkommen wäre. Zwar war Giselle de Paradou, seine verwitwete Mutter, eine entfernte Verwandte des Kanzlers, aber Nicolas' Vater war ein Waffenkamerad des Königs gewesen und an seiner Seite gefallen. Die Gräfin Paradou war eine enge Freundin von Renés zweiter Gattin und somit eine genaue Kennerin der Verhältnisse.
Hinzu kam, dass schon allein Nicolas' Erscheinung eine Bereicherung für jeden Hof darstellte. Die hochgewachsene Gestalt, die nachtschwarzen Haare, die dunklen feurigen Augen und die klassisch-edlen Gesichtszüge machten ihn zum Urbild jener Römer, die den Reichtum und die Macht der Provence begründet hatten. Endlich schlug Nicolas in die dargereichte Hand ein.
»Ich werde tun, was Ihr verlangt, Pate.«
1. Kapitel März 1480
Die bewundernd eindeutigen Blicke der Soldaten jagten eine flüchtige Röte in Isabelles Wangen. Sie versuchte, sich weder ihre Furcht noch ihre Empörung anmerken zu lassen. Nur die weißen Fingerknöchel, die bewiesen, dass sie den Henkel des kräutergefüllten Weidenkorbes mit aller Kraft umklammerten, hätten einem geübten Beobachter verraten, wie es um sie stand.
Den Männern von Königin Jeanne fehlte dieser Scharf blick. Sie führten einen Befehl aus, mehr nicht. Was sie aber nicht daran hinderte, die junge Zigeunerin mit den wallenden schwarzen Haaren und der goldenen Haut anzustarren, als stände sie ohne jedes Kleidungsstück vor ihnen. Nicht einmal das unförmige, sackartige Gewand, das ein schmaler Gürtel um die Hüften hielt, konnte verbergen, dass darunter eine biegsame, schlanke Gestalt steckte. Ein wohlgerundeter Busen wölbte das Oberteil, und die nicht sehr sauberen Füße waren zierlich und klein.
Der Befehl der Königin war es auch, der das wütende Gezeter der Kräuter-Mariette augenblicklich zum Verstummen gebracht hatte. König René war schwer krank, und die Ratlosigkeit seiner Ärzte führte dazu, dass Jeanne de Laval jeden Heilkundigen des Landes an sein Bett befahl. Woher sie Kunde von Mariette hatte, konnte Isabelle nur vermuten.
Der Anführer des Trupps, ein mürrischer, älterer Hauptmann, hatte nur eines im Sinn, die einsame Hütte in den Bergen schnellstens wieder zu verlassen. Es war keine Zeit für überflüssiges Getändel mit einem Mädchen, und sei es noch so hübsch. Barsch wandte er sich an Mariette.
»Macht voran, Frau. Bei Einbruch der Dunkelheit müssen wir in Tarascon sein.«
Mariette hob die Schultern und brummte etwas Unverständliches. Erstaunt stellte Isabelle fest, dass auch in ihrem Gesicht die Angst stand. War es nicht eine Ehre, dem König helfen zu dürfen? Warum wirkte die Mutter so zornig und erbittert, wie sie jetzt die graugesträhnten, dunklen Haare mit einer einfachen Leinenhaube bedeckte und ihrem Bündel mehrere geheimnisvolle Säckchen und Tonschalen beifügte.
»Mach deine Arbeit, wie ich es dich gelehrt habe, wenn ich fort bin«, wies sie Isabelle heiser an. »Bleib in den Bergen, und verlasse nie die Sicherheit dieser Hütte. Verstanden? Wann werde ich zurück sein?«
Die letzte Frage galt dem Hauptmann. Sichtlich widerwillig gab er Antwort.
»Weiß ich's? Wenn du unserem guten König helfen kannst, bald. Wenn nicht, dann bitte den Schöpfer, dass dich der Zorn der Königin verschont. Sie ist verzweifelt, weil niemand ein Mittel findet, das die Schmerzen ihres Gemahls lindert. Nur diese Verzweiflung erklärt, dass sie Gesindel wie Zigeuner und Hexen um Rat bittet.«
Die hörbare Verachtung in seiner Stimme war mehr, als Isabelle ertragen konnte.
»Meine Mutter ist keine Hexe! Die Kräuter der Natur sind ein Geschenk des Himmels, und jeder kann sich ihrer bedienen!«
Der bullige Bewaffnete schenkte ihr nicht mehr Aufmerksamkeit als den goldgefleckten Eidechsen, die sich neben ihm auf dem Brunnenrand sonnten.
»Sagt mir, wohin Ihr meine Mutter bringt und wann sie wieder nach Hause kommt!«
Erregt setzte sie den Korb ab und packte den Mann am weiten Ärmel seiner Uniform. Er befreite sich fast nachlässig mit einem brutalen Schlag auf ihre Finger. Isabelle unterdrückte einen Schmerzensschrei, aber ihre tränenfeuchten grünen Augen veranlassten ihn endlich doch zu einem freundlicheren Bescheid.
»Nun kratz nicht gleich, kleine Katze. Die Herzogin-Königin Jeanne hat eben gehört, dass deine Mutter eine heilkundige Frau sein soll. Kann sie die Krankheit des Königs heilen, wird sie reich belohnt zu dir zurückkehren. Möglich, dass sie meine Männer sogar begleiten und hoffen, dass du dem einen oder anderen von ihnen freundlich gesinnt bist.«
Das dröhnende Gelächter, mit dem die anderen diesen billigen Scherz aufnahmen, begleitete die heftige Umarmung der beiden Frauen.
»Habe Geduld und warte auf mich«, flüsterte Mariette dem Mädchen zu. »Du hörst, wie gefährlich es ist, wenn Kerle wie diese unterwegs sind. Verbirg dich, wenn sich Fremde nähern.«
Isabelle nickte ergeben.
»Ja, Mutter. Lebe wohl, Mutter ...«
Allein zurückbleibend sah sie der grotesk schwankenden Gestalt ihrer Mutter nach, die einfach hinter einem der Bewaffneten aufs Pferd gesetzt worden war. Sie konnte nicht reiten, und so kämpfte sie vergeblich um Halt und wurde von den Stößen des galoppierenden Tieres auf und ab gehoben. Um nicht zu fallen, musste sie sich an die kräftige Gestalt des Soldaten vor ihr im Sattel klammern, ein erneuter Anlass für schmutzige Witze.
Die plötzliche Stille, nachdem der Trupp endlich außer Sichtweite war, hatte etwas ungewohnt Bedrückendes. Einen Atemzug lang schien sogar das ewig zirpende Konzert der Zikaden verstummt. Das Haus, eine geduckte Steinhütte im Schatten von drei mächtigen, alten Eichen, wirkte vor der Kette der schroff aufragenden Felsen der Alpilles abweisend und fremd. Es war das einzige Heim, das Isabelle kannte, und sie hasste die vier Mauern unter dem kühlen Ziegeldach mit aller Leidenschaft, deren sie fähig war. Nie würde sie begreifen, warum sich ihre Mutter so hartnäckig an diesen schäbigen Unterschlupf klammerte.
Das monotone Einerlei der Jahreszeiten in den Bergen, der ewig gleiche Alltag und die wortkarge Mutter bedeuteten eine täglich wiederkehrende Prüfung für Isabelles stürmisches Temperament. Indes, Mariette ließ nicht zu, dass sie in einem der Dörfer rund um Les Baux Abwechslung und Freunde suchte.
»Mit diesem Volk hast du nichts gemein«, pflegte sie zu sagen und Isabelle auf die jährliche Wallfahrt zur schwarzen Sarah nach Saintes-Maries zu vertrösten. Dabei waren die Bittgesänge und Gebete nicht gerade die richtige Nahrung für Isabelles rastlosen Geist.
Immerhin, das vergangene Jahr war vom altgewohnten Muster abgewichen. Mariettes gerechte Empörung über den erstaunlichen Verlust ihres Mantels hatte mehr als nur Gesprächsstoff geliefert. In zornigen Worten zankte die Mutter während des gesamten Heimweges, und Isabelle wagte nicht einmal, Näheres über den Inhalt jener geheimnisvollen Prophezeiung zu verraten. Der abenteuerliche Blick in die Zukunft blieb ihr Geheimnis, der Traum, den sie fast gegen ihren Willen träumte, wenn die Winterwinde kühl durch die Steinritzen des Hauses zogen und sie sich fröstelnd nach ihrem Mantel sehnte.
Immer wieder schwirrten die Worte der alten Zigeunerin wie Schwalben durch ihren Kopf, während sie die wilden Ziegen molk, das Brot buk oder die Kräuter sammelte, die ihre Mutter für die Aufgüsse und Salben benötigte, die die Bewohner der umliegenden Dörfer bei der Kräuter-Mariette gegen ein paar Münzen oder einige Nahrungsmittel eintauschten.
Sie hatte genügend Zeit für ihre Gedanken, denn jedes Mal, sobald einer der Besucher auftauchte, wurde sie mit einem Auftrag in die Berge geschickt. Das galt besonders für die Visiten jener verzweifelten jungen Frauen, die stets einen ganz besonderen Kräutertrunk forderten.
Isabelle lächelte über die Vorsicht. Sie wusste längst, dass manches Goldstück in Mariettes verstecktem Beutel von einer leichtsinnigen Bäuerin stammte, deren Abenteuer dank dieser Hilfe ohne Folgen geblieben waren. Konnte es wahr sein, dass der Ruf dieser Mixtur sogar bis zu den Hofdamen in Tarascon gedrungen war? Es wäre eine Erklärung für Mariettes Furcht, denn es war bekannt, dass Königin Jeanne Hilfen dieser Art auf das Schärfste verdammte.
In den nächsten Tagen genoss Isabelle zum ersten Male die Einsamkeit. Sie erledigte ihre üblichen Pflichten rein mechanisch und verträumte die Stunden reglos im Schatten der mächtigen Eichen. Es war schön, einmal nicht ständig ermahnt, gescholten und angetrieben zu werden. Sie wusste nicht, wie andere Mütter zu ihren Töchtern standen, aber dass die ihre sie nicht liebte, hatte sie bereits in sehr jungen Jahren begriff en.
Konnte diese Abneigung etwas mit der Person ihres Vaters zu tun haben, über den Mariette hartnäckig schwieg? Alle Fragen Isabelles hatte sie mit unwirschen Worten abgetan.
»Du weißt, was du wissen musst, und alles andere geht dich nichts an!«
Mariettes ständige Antwort auf jedes Problem, das Isabelle beschäftigte. Sie hatte gelernt, in ihrer Mutter eine Frau zu respektieren, die ausschließlich Wert auf Äußerlichkeiten legte. Sie bestand unter anderem darauf, dass Isabelle ihre Haut einmal in der Woche in übel riechenden Kräuterbädern pflegte, und sie massierte selbst die klebrigen Pasten in die dunklen Haare, die Glanz und Kraft bringen sollten.
Es lag eine gehörige Portion Trotz in der Art, wie Isabelle jetzt diese gewohnte Pflege absichtlich vernachlässigte. Was zählte schon die Pracht der Haare und die Makellosigkeit der Haut, wenn beides ewig unter hässlichen Hauben und unförmigen Kleidern versteckt werden musste? Da war es vernünftiger, sich ins struppige Gras zu legen, die Sonne auf den nackten Armen zu fühlen und mit dem Duft des Rosmarins und des Lavendels in die Welt der Träume hinüberzugleiten.
Sie war allein auf der Welt. Eine eigenständige Persönlichkeit, nicht das lästige Anhängsel einer ständig besorgten, unwirschen Mutter. Es war nur noch ein kleiner Schritt bis zum tatsächlichen Auf begehren gegen Mariettes Befehle.
»Warum soll ich hierbleiben, wenn sie die Abenteuer des Hofes in Tarascon genießt?«, fragte sie sich selbst. »Es ist ungerecht. Ich werde niemals auch nur den Hauch eines Abenteuers erleben, wenn ich nur mit Eidechsen und Ziegen spreche. Ganz zu schweigen von der Liebe ...«
Isabelle hatte nur vage Vorstellungen von diesem Gefühl. Es musste etwas mit Zärtlichkeit, mit vollkommener Harmonie und schwerelosem Wohlbefinden zu tun haben. Würde es ihr je vergönnt sein, diesen Zustand kennen zu lernen?
Ausgeruht und frisch erwachte sie am nächsten Morgen, noch ehe die Sonne die verwitterten Ziegel des alten Hüttendaches berührte. Mit dem eisig kalten Wasser aus dem tiefen Ziehbrunnen neben der Türe erfrischte sie Gesicht und Hände. Den letzten Rest, der noch im Ledereimer war, goss sie über die glimmenden Glutstücke im Kamin. In aufzischendem Qualm erlosch das Herdfeuer, und der Gestank kalter Asche reizte ihre Lungen.
Sie nahm nicht viel mit. Die wenigen Kleidungsstücke, die sie ihr Eigen nannte, ergaben nur ein handliches Bündel, dem sie jetzt ihre klobigen Holzschuhe, einen Rest Brot und die letzte Kugel Ziegenkäse beifügte. Ohne Bedauern sah sie sich um. Woher wusste sie nur, dass sie all dieses zum letzten Male erblickte?
Der rohe Holztisch, auf dem die Mutter ihre Kräuter sortierte, auf dem sie gegessen und gearbeitet hatte, stand, blank gescheuert und grob, beherrschend im Raum. Leise raschelnd bewegten sich die getrockneten Kräuterbündel unter dem Dachfirst in der ersten Morgenbrise. Die tönernen Töpfe und Schalen hinterließ sie sauber auf den Kaminsims geschichtet. Eine Bank, ein Hocker, eine schmucklose Truhe mit den Habseligkeiten Mariettes, mehr bot das gemeinsame Heim nicht.
Isabelle bekreuzigte sich vor dem Holzkreuz im Winkel, dann warf sie die Tür hinter sich zu und legte den Balken vor. Ohne sich ein einziges Mal umzusehen, lief sie den grasigen Hang hinunter. Erst nach geraumer Zeit mäßigte sie das Tempo und hüpfte vergnügt, mit nackten Sohlen, von einem Stein zum anderen. Es war ein ganz privater Tanz, mit dem sie dem kaum sichtbaren Pfad der wilden Bergziegen hinunter ins Tal folgte.
»Frei! Ich bin frei! Endlich frei!«, jubelte sie im Überschwang ihrer Gefühle und genoss die wärmer werdenden Strahlen der Sonne, die soeben die Spitzen der Berge erreichten. Nie, solange sie denken konnte, hatte sie sich so unbeschwert und glücklich gefühlt. Was würde sie in Tarascon am Ufer der mächtigen Rhône erwarten? Das Schicksal? Die Liebe? Einerlei, wenn ihr Leben nur endlich wert wurde, gelebt zu werden!
»Willkommen in der Stadt Tarascon unseres guten Königs René, Mädchen. Möge Gott unserem gnädigen Herrn seine Gesundheit erhalten und ihm ein langes Leben gewähren.«
Isabelle warf dem gebückten Fuhrknecht, der diese Worte fast andächtig herunterbetete, unter gesenkten Wimpern einen verblüfften Blick zu. Bisher hatte er, in Schweigen gehüllt, seine Ochsen mit dem schweren Holzfuhrwerk über den Staub der Landstraße gelenkt. Auch das Brummen, mit dem er die einsame Wanderin aufforderte mitzukommen, war zwar freundlich, aber kaum verständlich gewesen. Doch nun hatte er, kaum dass sie die dunkle Schlucht des bewachten Stadttores passiert hatten, offensichtlich im hellen Licht der Gassen auch seine Sprache wieder gefunden.
Steif und mit schmerzenden Knochen stieg Isabelle vom Fuhrwagen, der sie Stunde um Stunde durchgerüttelt hatte, sodass sie nun, im Glanz der Mittagssonne, meinte, in viele einzelne Teile auseinanderzufallen. Es widerstrebte ihr ein bisschen, in das verwirrende Gewimmel der Menschen und Tiere einzutauchen, das sie umgab. Der Mann schien ihre Ratlosigkeit zu erahnen und lächelte gutmütig von der Höhe seines Holzgefährtes herab.
»Sei froh, dass heute kein Markttag ist«, tröstete er sie. »Du bist das erste Mal in der Stadt, stimmt's?«
Sie nickte und bekämpfte den übermächtigen Wunsch, auf der Stelle wieder umzukehren. Da sie dem Manne erklärt hatte, auf dem Wege zu ihrer Mutter zu sein, die in Diensten des königlichen Hofes stand, wies er ihr jetzt ungefragt die Richtung.
»Geh zum Fluss, Kleine, dort findest du, gegenüber unserer Kirche zur heiligen Martha, die Burg des Königs. Und nun gehab dich wohl, die Mönche vom Kloster warten auf mein Brennholz, und ich muss mich sputen.«
Isabelle schenkte ihm ein dankbares Lächeln, dann musterte sie ihre Umgebung, das kleine Bündel fest an ihre Brust gepresst. Unter ihren Füßen spürte sie die warmen Pflastersteine, über die sich knirschend die eisenbeschlagenen Räder der Wagen drehten. Sänftenträger und Reiter drängten sich rücksichtslos durch die Menge, und sie wich an eine Mauer zurück, um nicht umgestoßen zu werden.
Jedermann schien geschäftig einem unbekannten Ziel zuzueilen. Eine dunstige Wolke aus Staub und Lärm raubte Isabelle Atem und Mut. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Nie war es möglich, in diesem Gewühl einen einzigen Menschen aufzuspüren. Und dann erst die Häuser. Isabelles Augen glitten über die kunstvoll verzierten Simse, Fassaden und Fensterstöcke, eine derartige Pracht hatte sie noch nie erblickt.
Sie wusste nicht, wie lange sie dagestanden hatte, aber der Anblick der sauber gekleideten Bürgerinnen von Tarascon in ihren gestärkten, schneeweißen Hauben brachte sie wieder zur Besinnung. Mit wohlgefüllten Körben voller Gemüse oder Brot, mit geheimnisvollen Paketen oder einfach mit hübsch gebundenen Gebetsbüchern in der Hand, fanden sie sogar in diesem Höllen- tanz unbeschwert Zeit für ein gemächliches Schwätzchen.
Isabelle bewunderte die präzise gefältelten Mieder, die bänderverzierten Röcke, über denen die meisten von ihnen einen leichten ärmellosen Mantel trugen. Selbst die einfachsten Dienerinnen hatten Schuhe und balancierten gelassen haarscharf an Hindernissen und Schmutzrinnen vorbei. Nicht einmal die geringste unter ihnen beachtete das staubige, faszinierte Mädchen.
Vorsichtig wagte sich Isabelle aus dem schützenden Bereich des Stadttores in die Menge. Fast jedes der Bürgerhäuser prunkte mit bleiverglasten Fensterscheiben und prächtigen Vorhängen. Hier und da erhaschte sie durch einen offen stehenden Laden den Schimmer polierter, geschnitzter Möbel, sah glänzendes Zinngeschirr und samtige Portieren. Wie herrlich musste es sein, von so schönen Dingen umgeben zu wohnen.
Erst mit zunehmender Mittagshitze merkte sie, dass in diesen Mauern nicht der Hauch jenes frischen Lüftchens wehte, das auf der Landstraße die Wärme des Tages erträglich gemacht hatte. Schweiß rann ihr in unangenehmen Rinnsalen den Rücken hinunter, und der einzige gute Rock, den sie besaß, aus schwerer brauner Wolle, hing in erstickenden Falten um ihre bloßen Beine. Sie hätte alles für einen Schluck klaren Wassers gegeben. Als sie endlich den großen Platz vor der mächtigen, zinnenbewehrten Burg am Rhôneufer erreicht hatte, war sie so erschöpft und verstört, dass sie nahe daran war, über ihre eigene Torheit in Tränen auszubrechen.
Zwischen der Residenz König Renés und der Kirche der heiligen Martha war ganz Tarascon auf den Beinen. Händler, Bettler, Bauern, Bewaffnete, Mönche, Frauen und Kinder wimmelten zwischen den Häusern. Zwar war das Burgtor weit und einladend geöffnet, doch die Wachen zu beiden Seiten der eisenbeschlagenen Torflügel bewiesen, dass ungebetene Gäste nicht erwünscht waren.
Mehr und mehr wurde sich Isabelle eines unangenehm ziehenden Schmerzes in der Magengegend bewusst. Sie hatte entsetzlichen Hunger. Der Käse und das Brot in ihrem Bündel hatten nicht weit gereicht, und die wenigen staubigen Beeren, die sie am Wegrand gefunden hatte, gaben nicht viel vor. Ein Straßenhändler, der mit schrillen Rufen fetttriefendes, knusprig braunes Gebäck anbot, zog sie wie magisch an. Sie wollte gerade die Hand ausstrecken, als sie die schmutzigen Finger eines kleinen Buben sah, die dem Mann eine Münze hinstreckten. Geld! Du lieber Himmel, sie besaß nicht die kleinste Münze! Wie hatte sie nur so dumm sein können, Mariettes Geldversteck zu vergessen? Hatte sie nicht ebenfalls gearbeitet, um dieses winzige Vermögen zu ersparen?
Sie war so mit sich und ihrem nagenden Hunger beschäftigt, dass sie nicht einmal bemerkte, wie die Menschen rund um sie her zurückwichen. Ein prachtvoller, großer Reitertrupp bahnte sich seinen Weg rücksichtslos über den Platz. Eine fremde Faust stieß Isabelle grob zur Seite, sonst wäre sie unter die Hufe der Pferde geraten. Sie taumelte, versuchte sich wieder aufzurichten und fand sich in einem festen Tross aus Dienern, Bewaffneten, Jägern, Karren und Hunden eingekeilt. Eine Jagdgesellschaft kehrte vom vormittäglichen Vergnügen ermüdet in die Burg zurück. Unter den grünen Zweigen, die die Wagen bedeckten, sah Isabelle die Felle der erlegten Tiere blitzen.
Niemand nahm Notiz von ihr, und so lief sie, wie vom Sog eines kräftigen Flusses gezogen, einfach inmitten der lachenden und fröhlichen Gemeinschaft in den Burghof. Die Wächter traten zur Seite, erwiderten gutmütig die Scherze der Heimkommenden und übersahen das zierliche Mädchen mit den wirren Locken.
Im inneren Burghof kam eine geheimnisvolle Ordnung in den Trubel. Isabelle drückte sich geistesgegenwärtig zur Seite. Sie dankte ihrem Glück für die klobige Steinsäule, hinter der sie sich verbergen konnte, ohne einem der zahllosen Diener und Knechte aufzufallen. Von allen Seiten liefen jetzt Livrierte herbei, um die nervösen, tänzelnden Pferde der Edelleute am Zügel zu nehmen, die in der plötzlichen Enge scheuten und hochstiegen.
Der Lärm übertraf alles, was Isabelle jemals gehört hatte. Das Wiehern der Reittiere, das Bellen der Jagdhunde, Hörnerklang, Stimmengewirr und Gelächter untermalten das farbenprächtige Bild vor ihren Augen. Natürlich erregten die Edeldamen ihre besondere Neugier. Gelassen und beherrscht thronten sie in ihren kostbaren Sätteln und warteten, bis man ihnen herabhalf. Die zartfarbigen Gewänder, die Spitzen, die Stickereien und Juwelen ließen die saubere Einfachheit der Bürgerinnen, die Isabelle noch eben so bewundert hatte, plötzlich schlicht und bedeutungslos erscheinen.
Eine der jungen Frauen erschien ihr wie das Sinnbild dieser Herrlichkeit. Sie konnte nicht viel älter als sie selbst sein. Ihr verschwenderisches Übergewand aus hellgrün-mattem Samt war unter dem Busen mit einem edelsteinbesetzten Gürtel gerafft. An Säumen und Ausschnitten bauschte sich silberfarbiger Pelzbesatz, und in raffinierten Schlitzen war ein hauchzartes, silberbesticktes Unterkleid zu sehen. Das helle Haar verschwand fast unter einem perlengeschmückten, hörnerartigen Kopfputz, von dessen Spitzen ein duftiger Schleier über das ganze Mädchen wehte. Das edel geschnittene Gesicht, fein und blass, mit herausfordernd roten Lippen, kam Isabelle seltsamerweise vertraut vor.
»Sei nicht albern«, rief sie sich selbst zur Ordnung und bestaunte doch die Selbstsicherheit, mit der diese junge Frau die Zügel ihrer mattweißen Stute hielt, ohne dass der Jagdfalke auf ihrer Linken auch nur bebte. Wieso glaubte sie zu wissen, dass hinter dem märchenhaften Bild unbeugsamer Stolz und eiskalte Härte verborgen waren? Was konnte sie, ein Zigeunermädchen, schon mit dieser Dame zu schaffen haben? Nichts. Vermutlich war es nur der Hunger, der ihren Verstand verwirrte und sie zu abenteuerlichen Träumen und Hirngespinsten verleitete.
Endlich legte sich die Aufregung, die Pferde verschwanden in den Ställen, die Jagdbeute wurde zur Küche gefahren, und die Damen und Herren verschwanden durch das Portal des Hauptgebäudes. Erschreckt kam Isabelle ihre Lage zu Bewusstsein. Bei Gott, was tat sie hier? Jeden Moment würde sie die Aufmerksamkeit der Wachen erregen. Gehetzt sah sie um sich, nicht genau wissend, was sie suchte. Ein Versteck? Eine Fluchtmöglichkeit? Schon halb in der Bewegung wurde sie von einer kräftigen Hand zurückgerissen.
»Nicht so flink, kleiner Schmutzfink! Was suchst du hier?«
Starr vor Schreck starrte Isabelle in das bartlose Gesicht eines jungen Mannes, der in einer bestrickenden Mischung aus Spott und Charme auf sie herablächelte. Nach den leuchtenden Farben der höfischen Kostüme, die sie eben geblendet hatten, fand sie sein dunkles, stumpfes Wams enttäuschend nichts sagend. Aber das schöne Gesicht mit den tiefschwarzen Augen fand ein Echo in ihrem Herzen, das sie angestrengt nach Luft ringen ließ.
Mühsam zwang sie sich, seinen Blick zu meiden. Erst jetzt erkannte sie, dass im matten Dunkel seiner Kleidung bei jeder Bewegung goldviolette Lichter auf blitzten und dass die kurze Tunika seinen muskulösen Oberkörper und die langen schlanken Beine in den beängstigend engen Beinkleidern erst richtig zur Wirkung brachte. Verlegen sah sie wieder nach oben.
Aus der einfachen, gefältelten Halskrause hob sich der Kopf mit den gelockten, blauschwarzen Haaren wie aus einem Rahmen, der die Schönheit des Bildes noch unterstrich. Noch nie, nicht in ihren kühnsten Träumen, hatte sie einen derart gut aussehenden Mann gesehen. Das schmale, goldgetönte Antlitz, beherrscht von einer geraden Römernase, die feinen, vollen Lippen - konnte das Wirklichkeit sein? Ihre Knie zitterten, und eine ungewohnte Schwäche, die diesmal nichts mit dem Hunger zu tun hatte, ließ sie erbeben.
»Nun, verfügst du auch über eine Stimme? Ich möchte wetten, dass du unter dieser Dreckschicht ganz bezaubernd aussiehst. Aber nachdem unsere Königin Jeanne Schmutz und Schlampigkeit hasst, kannst du wohl kaum in ihren Diensten stehen, mein staubiges Kind?!«
Eine warme, dunkle Stimme, deren Spott deutlich war. Isabelle biss die Zähne zusammen, dass es knirschte. Die Überheblichkeit, mit der er sie in die Reihen der zweifelhaften Jungfern warf, tat weh, wie der unverhoffte Stich mit einem Messer. In ihrer wütenden Antwort lag herrisch aufflammender Stolz. Ein Jähzorn, der in dieser Situation nicht angemessen war.
»Ich möchte nicht wissen, wie Euer feiner Rock aussieht, wenn Ihr über die Landstraßen zieht, Seigneur.« Er lachte amüsiert auf.
»Das Kätzchen verfügt über Krallen. Ein kleines Grünauge aus den Dörfern, das die Wunder unseres guten Königs René bestaunen will, hm? Nun, Kleines, du hast dein Schauspiel gehabt, nun verschwinde. Es wäre schade, wenn dich einer jener tapferen Jäger in die Badestube steckt und dich leicht beschädigt zu deinem Liebsten aufs Land zurückschickt. Das hier ist kein Pfl aster für tugendsame Bräute.«
Unbeherrscht stampfte Isabelle mit dem Fuß auf. Der hochmütige Schwung, mit dem sie die lockigen Haare nach hinten warf, und die zum steilen Bogen gehobenen Brauen ließen das Lächeln aus dem Gesicht des Fremden verschwinden. Er gab ihren Arm frei und trat einen Schritt zurück.
Wütend knetete sie das Bündel zwischen ihren Fäusten.
»Beurteilt Ihr die Menschen nur nach Äußerlichkeiten, Seigneur? «, fauchte sie, tief enttäuscht darüber, dass auch er die Fehler hatte, die sie an ihrer Mutter hasste. »Ich bin nicht zum Gaff en in diesen Mauern. Ich suche meine Mutter. Sie ist bei der Königin im Dienst, und ich habe seit langem keine Nachricht von ihr.«
Woher sie so schnell diese Ausrede für ihr leichtsinniges Abenteuer nahm, konnte sie selbst nicht sagen. Im Geheimen bat sie die Heiligen um Verzeihung für die Lüge.
Der junge Mann runzelte überlegend die Stirn.
»Du sprichst nicht wie die Mädchen aus den Dörfern, woher kommst du?«
Diesmal blieb Isabelle bei der Wahrheit, so weit sie es für zuträglich hielt.
»Wir sind Zigeuner, meine Mutter und ich. Unsere Hütte steht in den Bergen bei Les Baux, da die Vorfahren meiner Mutter ihr Wanderleben aufgegeben haben.«
Sie hielt seinem endlosen Blick stand, ohne die Augen zu senken. Wollte er ihr helfen? Spontan legte sie ihre nicht sehr saubere Hand auf seinen makellosen Ärmel.
»Gehört Ihr zum Hof, Seigneur? Könnt Ihr mich zur Königin führen? Wer weiß, vielleicht nimmt sie mich unter ihren Mägden auf. Ihr könnt es nicht verstehen, aber alles ist besser, als zurück in die Berge zu gehen.«
Er fixierte die zierlichen, aber schmutzigen Finger und verzog schmerzvoll das Gesicht.
»Ich muss es wohl tun, wenn ich nicht Gefahr laufen will, dass du mein Gewand ruinierst. Wer sagt mir, dass du die Wahrheit erzählst?«
Gekränkt wandte sie sich ab, während er unsichtbaren Staub von seinem Ärmel schüttelte und die Knitterfalten glatt strich. Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. »Ich lüge nie.«
Dunkle Augen prüften klare, lichtgrüne Augen. Endlich nickte er, zu einem Entschluss kommend.
»Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube dir. Folge mir, ich werde mir das Vergnügen machen, die Reaktion unserer hübschen Damen auf eine wilde, schwarze Rose zu beobachten. Und, willst du mir einen Gefallen tun?« Sie nickte voreilig.
»Fass mich nicht mehr an, ja?«
Gedemütigt und verbittert presste Isabelle die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Gewiss, sie hatte geschwitzt, und sie konnte sich nicht mit den prächtigen Edeldamen messen, aber war sie deswegen wirklich so viel weniger wert? Schlagartig begriff sie, dass der Zufall einer Geburt auch das Gefängnis für ein ganzes Leben zu sein vermochte. Welch ungewohnte Gedanken heute durch ihren Kopf gingen.
Sie unterdrückte einen Seufzer und bewunderte wider Willen heimlich die Gestalt an ihrer Seite. Wie hatte sie dieses Gewand nur schmucklos nennen können? Die Reihe der geschliffenen Knöpfe im Vorderteil bestand aus kostbar funkelnden Amethysten und die Halskrause aus steifer, schwarzer Spitze. An der männlichen Hand mit den gepflegten, polierten Nägeln glänzte ein schwerer goldener Ring mit einem großen Rubin. Die Zeichen des Reichtums waren unverkennbar, sogar für ein ahnungsloses Landmädchen.
Ohne den Wachen, die, mit Hellebarden bewaffnet, den Eingang flankierten, einen Blick zu schenken, führte er sie nach drinnen. Die hohe Halle, in der die Tische noch die Reste eines Mahles trugen, hatte kolossale Ausmaße. Und dann erst das Licht! Ein Meer von brennenden Kerzen tauchte die gestickten Teppiche und Wandbehänge, die das rohe Mauerwerk deckten, in blendende Helligkeit. Die gewaltige Tafel war verschwenderisch mit kostbarem Geschirr und verzierten Bechern gedeckt. Isabelle wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte.
In einer Ecke des Raumes, genau vor der breiten Treppe, die zu den übrigen Gemächern führte, hatte sich die Jagdgesellschaft zu einem Imbiss niedergelassen. Die Damen naschten kleine, verführerisch aussehende Pastetchen, die die Diener auf großen Platten herumreichten, die Herren bevorzugten den schweren Rotwein aus silbernen Kannen. Gegen ihren schönen, dunklen Führer kamen sie Isabelle nun wie eine Herde greller, keckernder Goldfasane vor.
Auch jene Edeldame, deren Erscheinung sie hoch zu Pferde so bewundert hatte, war bei der Gruppe. Ihr gelangweiltes Gesicht belebte sich, und angeregte Röte stieg in ihre Wangen. Sie machte eine erstaunte Bewegung, und auch ihr Begleiter entdeckte nun das merkwürdige Paar.
»Heilige Martha, sollte das Eure neueste Eroberung sein, Nicolas? «, rief er lachend aus, und Isabelle wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken. Er musste der Bruder der jungen Frau sein, denn die Ähnlichkeit der beiden sprang ins Auge. Gut einen Kopf größer als das Mädchen, wirkten bei ihm die Züge härter, schärfer, adlerartiger, aber die vollen Lippen, die schmale Nase und die betonten Wangenknochen waren dieselben. Silberblonde Haare lagen wie ein Helm glatt und halblang um seinen Kopf.
Seine Schwester biss elegant in ein Gebäckstück und lächelte betont süß.
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Isabelle zog die frische, belebende Luft in tiefen Zügen ein. In der Kirche hatte eine Dunstwolke aus Schweiß, Moder und Weihrauch das Atmen erschwert. Sie ertappte sich dabei, dass sie Mitleid mit den Frauen und Männern hatte, deren selbstsicherer Stolz nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass sie unter dem Flickwerk ihrer schäbigen und fremdartigen Kleider in der ungewohnten Kälte zitterten.
Während die Frauen rings um sie her ihre ärmlichen Opfergaben zu Füßen der Heiligen aufgehäuft hatten, war Isabelles Herz stumm und ungerührt geblieben. Welche Bitte sollte sie schon an Sarah, die schwarze Dienerin der zwei Marien, richten? Ganz gewiss wünschte sie keinen der glutäugigen Burschen, die das schwere Heiligtum auf ihre Schultern wuchteten, zum Manne. Aber sie fand auch nicht die richtigen Worte, um die fremdartige Sehnsucht und Ruhelosigkeit zu beschreiben, die sie in den letzten Monaten immer stärker zu bedrücken begann. Neidvoll folgten ihre Blicke dem Flug der Möwen, die gleich weißen Pfeilen die gläserne Klarheit des weiten Himmels durchschnitten.
»Träumst du, Mädchen mit den Frühlingsaugen?«
Isabelle schrak auf, fühlte sich ertappt und raffte den schweren Mantel enger um die schmalen Schultern. Misstrauisch musterte sie die gebückte Gestalt, die scheinbar aus dem Nichts an ihrer Seite aufgetaucht war. Eine Bettlerin?
»Lass mich allein. Ich kann dir nichts geben, ich hab selber nichts ...«
Nur mühsam verbarg sie den Ekel, den ihr die schmutzstarrende, zusammengesunkene Alte einflößte. »Nichts?« Das höhnische Kichern schepperte unangenehm. »Du hast einen warmen Umhang, und meine alten Knochen frieren in diesem Teufelswind. «
Die Greisin schob sich noch näher. Isabelle wurde nun von ihren Ausdünstungen getroffen und rümpfte die Nase. Sie wich zurück, so weit es möglich war.
»Soll ich dir sagen, ob deine Träume in Erfüllung gehen, Mädchen mit den Frühlingsaugen? Dein Mantel gegen einen Blick in eine abenteuerliche Zukunft, du wirst diesen Tausch nicht bereuen! «
Klauenartige, eiskalte Finger zogen die zierliche Hand herab, die die braunen Stofffalten vor der Brust zusammenhielt.
»Du erlebst ein Schicksal, dessen Glanz dir Neid und Feinde, aber auch Leidenschaft und Glück bescheren wird.«
Zornig riss Isabelle ihre Hand zurück.
»Fasle keinen Unsinn! Ich bin Zigeunerin wie du, mir kannst du mit diesen Märchen nicht den Blick vernebeln. Mein Schicksal kenne ich nur zu gut. Irgendwann ein Mann, jedes Jahr ein heulendes Kind. Die Landstraße, der Hunger, Verzweiflung und Elend. Wage nicht, das Gegenteil zu behaupten. Die heilige Sarah straft die Lügner!«
Aber etwas zwang sie, trotz allem in die dunklen Augen zu sehen, die das alte, faltige Gesicht beherrschten. Sie schienen jede Einzelheit ihrer Erscheinung genau zu prüfen. Unter den schlichten, weiten Kleidern ließ sich ihre schlanke Gestalt nur erahnen. Dafür war das feine, bräunliche Antlitz mit den ebenmäßigen Zügen umso wirkungsvoller. Die gerade, kleine Nase, der vollendet geformte Mund und die übergroßen, grünen Augen unter der Fülle gelockter, dunkler Haare waren von auffälliger, ungewöhnlicher Schönheit. Das zierliche, ausgeprägte Kinn verriet jedoch Willensstärke und Entschlusskraft. Halb widerstrebend, halb fasziniert ließ Isabelle es zu, dass die Alte erneut nach ihrer Hand fasste.
»Zigeunerin - du irrst, mein Kind. Weder bist du eine der unseren, noch ist dir ein Zigeunerlos beschieden ...« Ein dürrer, ungewaschener Zeigefinger mit rissigem Nagel folgte den Linien auf Isabelles Handfläche.
»In deinen Adern fließt das Blut der Edlen dieses Landes. Du bist das Kind einer leidenschaftlichen Liebe, schon bei Geburt vom Tode bedroht. Unser Volk leiht dir seinen Schutz, bis das Schicksal deine Stunde bestimmt. Hüte dich vor dem Glanz der Macht, denn unter den Juwelen lauern Gift und Falschheit. Bekämpfe deinen Stolz, er lässt deiner Liebe keinen Raum.«
»Liebe ...« Isabelle lächelte ungläubig.
»Dein Herz wird einem Sohn des Südens gehören«, raunte die Zigeunerin mahnend, und Isabelle schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, ungesagt hinunter. Reglos wartete sie, dass die Alte weitersprach.
»Wenn ein Kranker die Krone trägt und das Geschlecht deiner Mutter erlischt, naht die Stunde deiner Rache. Wenn der flammende Horizont ertrinkt, kannst du im Tale des Lavendels dein Glück finden. Aber nur, falls es dir gelingt, deinen Stolz zu überwinden. «
Die Frau keuchte, rang nach Luft und hob endlich den Blick von Isabelles Hand.
»Möge die heilige Sarah dich auf deinen stürmischen Wegen beschützen, Mädchen mit den goldenen Haaren. Auch wenn deine Lippen heute das Gebet zu ihrer dunklen Heiligkeit scheuten. «
Isabelle kam taumelnd zu sich, während die letzten Nachzügler der Bittprozession singend an ihr vorbeimarschierten. Was war geschehen? Hatte sie geträumt? Sie fror erbärmlich. Der Wind peitschte den dünnen Wollrock klatschend um ihre Beine, und die grobe Leinenbluse hatte sich in einen scheuernden Eispanzer verwandelt. Wo war ihr Mantel? Hatte sie ihn freiwillig fortgegeben?
Sie vermochte nicht zu sagen, was geschehen war. Eines schien leider sicher: Die wirren Träume, die durch ihren Kopf spukten, waren ein schlechter Tausch für den Schutz und die Wärme eines Umhangs. Hinzu kam - wie sollte sie ihrer strengen und nüchternen Mutter diesen Verlust erklären?
Die Kräuter-Mariette, wie man die gedrungene, stämmige Zigeunerin in den Bergen rund um Les Baux nannte, war ihrer Tochter Isabelle eine eher unnachgiebige, denn liebevolle oder zärtliche Mutter.
In ihren Augen wäre die rätselhafte Prophezeiung der Greisin nichts als eine schreckliche Dummheit. Und, sinnierte Isabelle einsichtig, würde sie nicht Recht haben mit diesem Urteil? Sie zupfte unruhig eine Strähne ihres rabenschwarzen, dunklen Haares zurecht, das Mariette mit Kräuterspülungen und Pasten glänzend und lockig zu erhalten suchte.
Mädchen mit den goldenen Haaren? Bei allen Heiligen, die Alte war auch noch blind gewesen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Isabelle schämte sich. Sie konnte sich des dumpfen Gefühls nicht erwehren, der schwarzen Sarah zu diesem Frühlingsfest ihren Verstand geopfert zu haben.
Zur selben Stunde war der bezaubernde Garten im hohen Mauergeviert der Burg ein heimliches, verwunschenes Paradies über den Dächern der Stadt Tarascon. Die Sonne wärmte die Steinbänke und ließ die kräftigen Farben der verschwenderisch verstreuten Seidenkissen geheimnisvoll aufglühen.
Hier oben rannte sogar der Eiswind aus den Bergen vergeblich gegen die schützenden Balustraden und Mauern. Aus dieser Sicht war auch die mächtige Rhône nur ein spielerisch geschlungener, silberner Gürtel in einer Borte aus hellen Weidenbüschen. Die intensiven Töne verrieten noch die Kraft des Frühlings.
Der Mann, der eben das glitzernde Schauspiel im durchdringenden Licht des Mistrals bewunderte, wirkte in seiner völligen Reglosigkeit noch massiger und größer als sonst. Über einem prächtigen, rubinroten Untergewand trug er einen kostbaren, pelzgesäumten Mantel. Das kurze, störrische, eisgraue Haar wurde vom Wind gezaust, ohne dass er Anstalten machte, die runde schwarze Samtkappe wieder aufzusetzen, die er zuvor in nachdenklichem Schweigen abgenommen hatte.
Auf der kissenbedeckten Bank hinter ihm saß eine Frau, die soeben von ihrer zierlichen Stickerei aufsah. Kummervoll erkannte sie an den unmerklich vorgesunkenen Schultern, an der leichten Beugung des Rückens die fortschreitenden Zeichen der Krankheit ihres Gemahls. Er verleugnete es zu gerne, aber die Last der sieben Jahrzehnte, die auf ihm ruhte, hatte seine Kraft und seine Gesundheit untergraben. René, Herzog von Anjou, König der Provence, hatte sich hierher zurückgezogen, um seine letzten Jahre in wohlverdientem Frieden zuzubringen. Die Zeit der Kriege, der Intrigen und Eroberungen, der politischen Fehler, aber auch der schrecklichen Schicksalsschläge lag hinter ihm. Auch wenn es seine Ärzte nicht aussprachen, er wusste, dass die Zeit, die er noch zu leben hatte, längst absehbar und begrenzt war.
Jeanne de Laval, seine zweite Gattin, war eine stille, kluge Frau, die ihren Gemahl besser kannte, als es ihm manchmal lieb war. Sie ahnte, dass seine Gedanken der Frau, den Kindern und den Enkeln galten, die längst vor ihm ihren Frieden in Gott gefunden hatten. Er war allein, der Letzte seines Hauses - und auch die zweite, späte Ehe hatte ihm nicht mehr den so sehnlich erwünschten Erben geschenkt.
Kein Vorwurf war je über seine Lippen gekommen, obwohl eine stattliche Anzahl illegitimer Kinder sowohl bewies, dass die Schuld nicht bei René von Anjou lag, wie auch, dass seine Vorliebe für schöne Frauen die Zeiten überdauert hatte. Jeanne de Laval seufzte lautlos. Sie schätzte den König auf ihre ruhige, zurückhaltende Art. Sie hätte alles gegeben, ihm Kummer zu ersparen.
»War das nicht der Seigneur von Turenne, den ich heute aus Eurem Jagdzimmer kommen sah, Sire?«, lenkte sie ihn und sich selbst von düsteren Gedanken ab.
René von Anjou setzte mit einer heftigen Bewegung endlich die Kappe wieder auf. Er brummte etwas Unverständliches, wandte sich um und nickte.
»Ihr habt Euch nicht getäuscht, meine Liebe. Und Ihr werdet nicht fassen, zu welchem Zweck er in die Höhle des Löwen kam.«
Die Feindschaft zwischen dem König und André de Turenne war ein offenes Geheimnis. Sein Besuch konnte nur eines bedeuten.
»Ärger?«
»Noch viel unglaublicher«, schnaubte René. »Er war sich nicht zu schade, mir das Loblied seines Sohnes zu singen. Es muss ihn hart angekommen sein, mir schön zu tun.«
Die Königin rief sich das Bild des erwähnten Edelmannes vor Augen.
»Raimond de Turenne? Ein charmanter Junge, wenn ich dem Urteil meiner jüngeren Ehrendamen trauen darf. Hat sein Vater eine Heirat im Sinn?«
Der König lachte hart.
»Viel unglaublicher - oder stellt Ihr Euch wieder einmal harmloser, als Ihr es seid, Jeanne? Solltet Ihr als Einzige die Augen vor Turennes ehrgeizigen Plänen verschließen? Er versäumte es nicht einmal, mich darauf hinzuweisen, dass die Herren von Les Baux einst Könige des heiligen Jerusalems waren!«
Jeanne rückte etwas zur Seite, und René von Anjou ließ sich neben ihr schwer auf die Bank fallen. Dass der Streit um die Nachfolge des Königs schon zu seinen Lebzeiten ausbrechen würde, war zu erwarten gewesen. Der Adel des Südens fand sich nicht leicht damit ab, möglicherweise einem fernen König in Paris die Reverenz erweisen zu müssen. Die stolzen Herren kämpften um ihre Selbstständigkeit. Mit einer Kopfbewegung ermunterte sie ihren Gemahl, in seinem Bericht fortzufahren.
»André de Turenne ließ keinen Zweifel daran, dass es meine Aufgabe ist, für einen Erben zu sorgen. Da meine eigenen Söhne tot sind und auch deren Kinder verstorben, bleibt in seinen Augen nur eine Möglichkeit: Ich soll einen würdigen Nachfolger an Sohnes statt annehmen.«
»Meint er damit etwa Raimond?«
Die Königin war sehr wohl im Stande, den verschlungenen Gedankengängen Turennes zu folgen. Empört wandte sie sich so heftig zur Seite, dass sich die zarte Wolke des duftigen Musselinschleiers, der von ihrem spitzen Kopfputz wallte, in den Dornen der knospenden Rosen verfing. Heute hatte sie keinen Blick für die Schönheit der Blüten, sie zerrte nur ungeduldig an dem Stoff.
»Einen Nachfahren des Bastards Turenne! Habt Ihr vergessen, dass er seine Feinde über die Felsen von Les Baux in die Tiefe zu stürzen pflegte? Nicht umsonst nennt ihn das Volk mit Schrecken die Geißel der Provence. Wer garantiert Euch, dass in Raimonds Adern nicht jenes verfluchte Blut die Überhand gewinnt?«
René schwieg. Auch ohne diese triftigen Gründe konnte er keinen Gefallen an dem Vorschlag finden. Das Feuer geheimen Hasses wog schwer zwischen ihm und dem hageren, ehrgeizigen Turenne. Nicht einmal Jeanne ahnte, dass André in Renés Augen ein gewissenloser Mörder war.
Aus den Schatten der Vergangenheit tauchte vor ihm die blumenzarte Gestalt Florence de Turennes auf. Das edle Oval ihres Gesichtes mit den grünen Augen, die das Versprechen von Frühling und Liebe gegeben hatten. Die Pracht ihres goldschimmernden Feenhaares, offen, nur von juwelenverzierten Bändern gehalten. Konnte es schon zwanzig Jahre her sein, dass sie verschwunden war und von einem Tag auf den anderen das Licht, die Wärme und das Entzücken aus seinem Leben genommen hatte? Der schneidende Schmerz der Enttäuschung war gelindert, aber nicht verschwunden. Er wusste, dass nur der Tod sie aus seinen Armen gerissen haben konnte. Der Tod in Gestalt von André Turenne; auch wenn er es nicht beweisen konnte, er wusste es.
»Wie lautete Eure Antwort, Sire?«
Jeannes Stimme riss ihn aus dumpfem Grübeln. Es geschah in letzter Zeit zu oft, dass er glaubte, jene zu sehen, die längst die Erde deckte. Er straffte die müden Schultern.
»Ich werde Raimond de Turenne prüfen. Ich bin es dem Hause Anjou und meiner Provence schuldig, persönliche Gefühle außer Acht zu lassen.«
Besiegt senkte die Königin den Kopf. Täuschte sie sich, oder lag plötzlich ein Schatten vor der Sonne dieses leuchtenden Maitages?
Es war kein Zufall, dass an diesem Tage auch weit entfernt, am Hofe König Ludwigs XI., in Plessiz-les-Tours, das ungewisse Schicksal der Provence Hauptthema eines Gesprächs war.
Der Kanzler sah von den Pergamentrollen auf, die den großen geschnitzten Tisch dicht an dicht bedeckten. Seine kratzende Feder, das einzige Geräusch in dem kleinen, aber behaglich eingerichteten Raume, hielt inne. Der junge Mann, der bisher versunken die kriegerischen Szenen auf einem der Wandteppiche anvisiert hatte, begegnete seinen Augen gelassen.
Philippe de Commynes, Kanzler des Königs von Frankreich, gönnte sich eines seiner seltenen, sparsamen Lächeln. Kein Zweifel, sein Patensohn Nicolas de Paradou begegnete ihm mit Respekt, aber seiner Haltung fehlte jene kriecherische Unterwürfigkeit, die alle Besucher auszeichnete, die in diesem Kabinett mit dem mächtigsten Diener Ludwigs zu tun hatten.
Der Kanzler fühlte sich als einziges Sprachrohr des zornigen, düsteren und machthungrigen Monarchen, der davon träumte, auch noch die letzten selbstständigen Herzogtümer des Landes in ein geeintes Frankreich zu führen. Ein mächtiges Königreich, das endlich allen Bedrohungen von außen gewachsen wäre.
Commynes hatte es gelernt, in den Mienen seiner Mitmenschen zu lesen.
»Nun, Nicolas, du kehrst also endlich in deinen geliebten Süden zurück.«
Eine rein rhetorische Frage, die der Jüngere nur mit einem knappen Nicken beantwortete.
»Wirst du die Tage an diesem Hof nicht vermissen? Ich hatte das Gefühl, dass dich weder die Unterhaltung noch die Aufmerksamkeit der schönen Damen langweilen?«
»Erwartet Ihr jetzt eine ehrliche oder eine politische Antwort von mir, mein Pate?«
Die dunkle, melodische Stimme bebte in verhaltenem Spott, und der Kanzler verzog anerkennend die Mundwinkel. Nicolas de Paradou war ein Edelmann nach seinem Herzen. Mit 26 Jahren zeichneten ihn nicht nur seine Selbstständigkeit und sein Mut aus, er verfügte auch über eine bestechende Intelligenz und eine - in Commynes' Augen beklagenswerte - Neigung zur Unabhängigkeit. Der Ältere zögerte nicht, ihn in Gedanken einen störrischen Maulesel zu nennen.
Er erinnerte sich nur ungern an seine fehlgeschlagenen Versuche, dieses Prachtexemplar zu verheiraten. Nicolas war jeder Falle geschickt ausgewichen. Er hatte sich vergnügt, ohne ein einziges Mal in die Klemme zu geraten. Während sein Pate die schönsten Damen des Hofes vor ihm paradieren ließ, überzeugte er indessen den unzugänglichen König davon, dass er wie kein anderer dazu geschaffen war, den neuesten französischen Gesandten an den provenzalischen Hof zu René von Anjou zu begleiten.
Als Provenzale billigte der junge Mann die Politik des Königs nicht. Trotzdem sagte ihm seine Vernunft, dass die Ära der selbstständigen Fürsten und Kleinstaaten ihrem Ende entgegengehen musste.
»Ich lasse dich ungern ziehen, Nicolas.« Endlich kam der Kanzler zur Sache.
»Aber wie jedes Ding hat auch dein Entschluss, in die Heimat zurückzukehren, eine gute Seite. Froissart, den der König nach Tarascon schickt, ist klug, aber er spricht weder die Sprache des Südens, noch begreift er, was in euren allzu eigensinnigen Köpfen vorgeht. René, dieser alte Fuchs, wird ihn ausspielen, ehe er begreift, was passiert ist. Was ich brauche, das ist ein unbestechlicher Beobachter. Ein Mann, der keines anderen Partei ergreift, der mir aber klar und ohne Beschönigung sagt, was in der Provence geschieht.«
Nicolas begriff das Angebot recht gut.
»Ich bin zwar Euer Patensohn, aber ich bin kein Spion.«
Commynes verbarg seinen Ärger.
»Nein, das bist du natürlich nicht. Aber du hast die Regeln der Diplomatie von mir gelernt. Du gehörst nicht mehr zu jener engstirnigen Generation von Rittern, die Konflikte mit Schwert und Blutvergießen lösen möchten. Du weißt, dass deine Heimat in Gefahr ist. Charles du Maine, dem René seine Macht hinterlässt, ist nicht nur schwach, seine Krankheiten werden ihm auch kein langes Leben gönnen.«
Nicolas lauschte. Er musste sich nicht lange fragen, warum sein Pate diese Nachhilfestunde über die allgemeine politische Lage abhielt.
»Ich habe sichere Informationen darüber, dass der Adel René drängt, einen Erben zu adoptieren. Man will, dass er noch zu Lebzeiten den Vertrag bricht, den er mit König Ludwig von Frankreich geschlossen hat. Du weißt, dass nach du Maines Tod Anjou und die Provence an Ludwig fallen. Dabei muss es bleiben ...«
»Was macht Euch glauben, dass ich bei diesem Pakt hilfreich sein könnte, Pate? Denkt Ihr, dass mich die Aussicht auf eine abhängige Provence beglückt?«
»Beglückt! Pah, sei nicht albern. Wer redet vom Glück, wenn es um schlichte Gebote der Vernunft geht. Willst du, dass sich Frankreich noch einmal in sinnlosen Erbstreitigkeiten zerfleischt? Es bedurfte eines hundertjährigen Krieges und des Todes der Jungfrau von Orleans in den Flammen eines Scheiterhaufens, um die Engländer aus unserem Land zu entfernen. Es ist noch nicht so lange her! Frankreich braucht den Frieden. Nur im Frieden können Wunden geheilt werden, kann die Macht sich festigen. Die Macht eines einzigen Königs, der den Ehrgeiz der Feudalherren in Grenzen hält. Geh nach Tarascon, Nicolas, ich bitte dich darum. Ich will Informationen, keinen Verrat, der dein Gewissen belasten könnte.« Das Schweigen dauerte, aber der Kanzler beging nicht den Fehler, Nicolas in seinen Überlegungen zu stören. Der junge Mann würde den Auftrag annehmen. Er war zu klug, um sich Illusionen zu machen. Er hatte lange genug am Hofe König Ludwigs gelebt, um zu wissen, dass in Plessiz-les- Tours und in Paris die zukunftsweisenden Entscheidungen getroffen wurden.
Auch hatte Philippe de Commynes keinerlei Bedenken, dass Nicolas am Hofe König Renés nicht willkommen wäre. Zwar war Giselle de Paradou, seine verwitwete Mutter, eine entfernte Verwandte des Kanzlers, aber Nicolas' Vater war ein Waffenkamerad des Königs gewesen und an seiner Seite gefallen. Die Gräfin Paradou war eine enge Freundin von Renés zweiter Gattin und somit eine genaue Kennerin der Verhältnisse.
Hinzu kam, dass schon allein Nicolas' Erscheinung eine Bereicherung für jeden Hof darstellte. Die hochgewachsene Gestalt, die nachtschwarzen Haare, die dunklen feurigen Augen und die klassisch-edlen Gesichtszüge machten ihn zum Urbild jener Römer, die den Reichtum und die Macht der Provence begründet hatten. Endlich schlug Nicolas in die dargereichte Hand ein.
»Ich werde tun, was Ihr verlangt, Pate.«
1. Kapitel März 1480
Die bewundernd eindeutigen Blicke der Soldaten jagten eine flüchtige Röte in Isabelles Wangen. Sie versuchte, sich weder ihre Furcht noch ihre Empörung anmerken zu lassen. Nur die weißen Fingerknöchel, die bewiesen, dass sie den Henkel des kräutergefüllten Weidenkorbes mit aller Kraft umklammerten, hätten einem geübten Beobachter verraten, wie es um sie stand.
Den Männern von Königin Jeanne fehlte dieser Scharf blick. Sie führten einen Befehl aus, mehr nicht. Was sie aber nicht daran hinderte, die junge Zigeunerin mit den wallenden schwarzen Haaren und der goldenen Haut anzustarren, als stände sie ohne jedes Kleidungsstück vor ihnen. Nicht einmal das unförmige, sackartige Gewand, das ein schmaler Gürtel um die Hüften hielt, konnte verbergen, dass darunter eine biegsame, schlanke Gestalt steckte. Ein wohlgerundeter Busen wölbte das Oberteil, und die nicht sehr sauberen Füße waren zierlich und klein.
Der Befehl der Königin war es auch, der das wütende Gezeter der Kräuter-Mariette augenblicklich zum Verstummen gebracht hatte. König René war schwer krank, und die Ratlosigkeit seiner Ärzte führte dazu, dass Jeanne de Laval jeden Heilkundigen des Landes an sein Bett befahl. Woher sie Kunde von Mariette hatte, konnte Isabelle nur vermuten.
Der Anführer des Trupps, ein mürrischer, älterer Hauptmann, hatte nur eines im Sinn, die einsame Hütte in den Bergen schnellstens wieder zu verlassen. Es war keine Zeit für überflüssiges Getändel mit einem Mädchen, und sei es noch so hübsch. Barsch wandte er sich an Mariette.
»Macht voran, Frau. Bei Einbruch der Dunkelheit müssen wir in Tarascon sein.«
Mariette hob die Schultern und brummte etwas Unverständliches. Erstaunt stellte Isabelle fest, dass auch in ihrem Gesicht die Angst stand. War es nicht eine Ehre, dem König helfen zu dürfen? Warum wirkte die Mutter so zornig und erbittert, wie sie jetzt die graugesträhnten, dunklen Haare mit einer einfachen Leinenhaube bedeckte und ihrem Bündel mehrere geheimnisvolle Säckchen und Tonschalen beifügte.
»Mach deine Arbeit, wie ich es dich gelehrt habe, wenn ich fort bin«, wies sie Isabelle heiser an. »Bleib in den Bergen, und verlasse nie die Sicherheit dieser Hütte. Verstanden? Wann werde ich zurück sein?«
Die letzte Frage galt dem Hauptmann. Sichtlich widerwillig gab er Antwort.
»Weiß ich's? Wenn du unserem guten König helfen kannst, bald. Wenn nicht, dann bitte den Schöpfer, dass dich der Zorn der Königin verschont. Sie ist verzweifelt, weil niemand ein Mittel findet, das die Schmerzen ihres Gemahls lindert. Nur diese Verzweiflung erklärt, dass sie Gesindel wie Zigeuner und Hexen um Rat bittet.«
Die hörbare Verachtung in seiner Stimme war mehr, als Isabelle ertragen konnte.
»Meine Mutter ist keine Hexe! Die Kräuter der Natur sind ein Geschenk des Himmels, und jeder kann sich ihrer bedienen!«
Der bullige Bewaffnete schenkte ihr nicht mehr Aufmerksamkeit als den goldgefleckten Eidechsen, die sich neben ihm auf dem Brunnenrand sonnten.
»Sagt mir, wohin Ihr meine Mutter bringt und wann sie wieder nach Hause kommt!«
Erregt setzte sie den Korb ab und packte den Mann am weiten Ärmel seiner Uniform. Er befreite sich fast nachlässig mit einem brutalen Schlag auf ihre Finger. Isabelle unterdrückte einen Schmerzensschrei, aber ihre tränenfeuchten grünen Augen veranlassten ihn endlich doch zu einem freundlicheren Bescheid.
»Nun kratz nicht gleich, kleine Katze. Die Herzogin-Königin Jeanne hat eben gehört, dass deine Mutter eine heilkundige Frau sein soll. Kann sie die Krankheit des Königs heilen, wird sie reich belohnt zu dir zurückkehren. Möglich, dass sie meine Männer sogar begleiten und hoffen, dass du dem einen oder anderen von ihnen freundlich gesinnt bist.«
Das dröhnende Gelächter, mit dem die anderen diesen billigen Scherz aufnahmen, begleitete die heftige Umarmung der beiden Frauen.
»Habe Geduld und warte auf mich«, flüsterte Mariette dem Mädchen zu. »Du hörst, wie gefährlich es ist, wenn Kerle wie diese unterwegs sind. Verbirg dich, wenn sich Fremde nähern.«
Isabelle nickte ergeben.
»Ja, Mutter. Lebe wohl, Mutter ...«
Allein zurückbleibend sah sie der grotesk schwankenden Gestalt ihrer Mutter nach, die einfach hinter einem der Bewaffneten aufs Pferd gesetzt worden war. Sie konnte nicht reiten, und so kämpfte sie vergeblich um Halt und wurde von den Stößen des galoppierenden Tieres auf und ab gehoben. Um nicht zu fallen, musste sie sich an die kräftige Gestalt des Soldaten vor ihr im Sattel klammern, ein erneuter Anlass für schmutzige Witze.
Die plötzliche Stille, nachdem der Trupp endlich außer Sichtweite war, hatte etwas ungewohnt Bedrückendes. Einen Atemzug lang schien sogar das ewig zirpende Konzert der Zikaden verstummt. Das Haus, eine geduckte Steinhütte im Schatten von drei mächtigen, alten Eichen, wirkte vor der Kette der schroff aufragenden Felsen der Alpilles abweisend und fremd. Es war das einzige Heim, das Isabelle kannte, und sie hasste die vier Mauern unter dem kühlen Ziegeldach mit aller Leidenschaft, deren sie fähig war. Nie würde sie begreifen, warum sich ihre Mutter so hartnäckig an diesen schäbigen Unterschlupf klammerte.
Das monotone Einerlei der Jahreszeiten in den Bergen, der ewig gleiche Alltag und die wortkarge Mutter bedeuteten eine täglich wiederkehrende Prüfung für Isabelles stürmisches Temperament. Indes, Mariette ließ nicht zu, dass sie in einem der Dörfer rund um Les Baux Abwechslung und Freunde suchte.
»Mit diesem Volk hast du nichts gemein«, pflegte sie zu sagen und Isabelle auf die jährliche Wallfahrt zur schwarzen Sarah nach Saintes-Maries zu vertrösten. Dabei waren die Bittgesänge und Gebete nicht gerade die richtige Nahrung für Isabelles rastlosen Geist.
Immerhin, das vergangene Jahr war vom altgewohnten Muster abgewichen. Mariettes gerechte Empörung über den erstaunlichen Verlust ihres Mantels hatte mehr als nur Gesprächsstoff geliefert. In zornigen Worten zankte die Mutter während des gesamten Heimweges, und Isabelle wagte nicht einmal, Näheres über den Inhalt jener geheimnisvollen Prophezeiung zu verraten. Der abenteuerliche Blick in die Zukunft blieb ihr Geheimnis, der Traum, den sie fast gegen ihren Willen träumte, wenn die Winterwinde kühl durch die Steinritzen des Hauses zogen und sie sich fröstelnd nach ihrem Mantel sehnte.
Immer wieder schwirrten die Worte der alten Zigeunerin wie Schwalben durch ihren Kopf, während sie die wilden Ziegen molk, das Brot buk oder die Kräuter sammelte, die ihre Mutter für die Aufgüsse und Salben benötigte, die die Bewohner der umliegenden Dörfer bei der Kräuter-Mariette gegen ein paar Münzen oder einige Nahrungsmittel eintauschten.
Sie hatte genügend Zeit für ihre Gedanken, denn jedes Mal, sobald einer der Besucher auftauchte, wurde sie mit einem Auftrag in die Berge geschickt. Das galt besonders für die Visiten jener verzweifelten jungen Frauen, die stets einen ganz besonderen Kräutertrunk forderten.
Isabelle lächelte über die Vorsicht. Sie wusste längst, dass manches Goldstück in Mariettes verstecktem Beutel von einer leichtsinnigen Bäuerin stammte, deren Abenteuer dank dieser Hilfe ohne Folgen geblieben waren. Konnte es wahr sein, dass der Ruf dieser Mixtur sogar bis zu den Hofdamen in Tarascon gedrungen war? Es wäre eine Erklärung für Mariettes Furcht, denn es war bekannt, dass Königin Jeanne Hilfen dieser Art auf das Schärfste verdammte.
In den nächsten Tagen genoss Isabelle zum ersten Male die Einsamkeit. Sie erledigte ihre üblichen Pflichten rein mechanisch und verträumte die Stunden reglos im Schatten der mächtigen Eichen. Es war schön, einmal nicht ständig ermahnt, gescholten und angetrieben zu werden. Sie wusste nicht, wie andere Mütter zu ihren Töchtern standen, aber dass die ihre sie nicht liebte, hatte sie bereits in sehr jungen Jahren begriff en.
Konnte diese Abneigung etwas mit der Person ihres Vaters zu tun haben, über den Mariette hartnäckig schwieg? Alle Fragen Isabelles hatte sie mit unwirschen Worten abgetan.
»Du weißt, was du wissen musst, und alles andere geht dich nichts an!«
Mariettes ständige Antwort auf jedes Problem, das Isabelle beschäftigte. Sie hatte gelernt, in ihrer Mutter eine Frau zu respektieren, die ausschließlich Wert auf Äußerlichkeiten legte. Sie bestand unter anderem darauf, dass Isabelle ihre Haut einmal in der Woche in übel riechenden Kräuterbädern pflegte, und sie massierte selbst die klebrigen Pasten in die dunklen Haare, die Glanz und Kraft bringen sollten.
Es lag eine gehörige Portion Trotz in der Art, wie Isabelle jetzt diese gewohnte Pflege absichtlich vernachlässigte. Was zählte schon die Pracht der Haare und die Makellosigkeit der Haut, wenn beides ewig unter hässlichen Hauben und unförmigen Kleidern versteckt werden musste? Da war es vernünftiger, sich ins struppige Gras zu legen, die Sonne auf den nackten Armen zu fühlen und mit dem Duft des Rosmarins und des Lavendels in die Welt der Träume hinüberzugleiten.
Sie war allein auf der Welt. Eine eigenständige Persönlichkeit, nicht das lästige Anhängsel einer ständig besorgten, unwirschen Mutter. Es war nur noch ein kleiner Schritt bis zum tatsächlichen Auf begehren gegen Mariettes Befehle.
»Warum soll ich hierbleiben, wenn sie die Abenteuer des Hofes in Tarascon genießt?«, fragte sie sich selbst. »Es ist ungerecht. Ich werde niemals auch nur den Hauch eines Abenteuers erleben, wenn ich nur mit Eidechsen und Ziegen spreche. Ganz zu schweigen von der Liebe ...«
Isabelle hatte nur vage Vorstellungen von diesem Gefühl. Es musste etwas mit Zärtlichkeit, mit vollkommener Harmonie und schwerelosem Wohlbefinden zu tun haben. Würde es ihr je vergönnt sein, diesen Zustand kennen zu lernen?
Ausgeruht und frisch erwachte sie am nächsten Morgen, noch ehe die Sonne die verwitterten Ziegel des alten Hüttendaches berührte. Mit dem eisig kalten Wasser aus dem tiefen Ziehbrunnen neben der Türe erfrischte sie Gesicht und Hände. Den letzten Rest, der noch im Ledereimer war, goss sie über die glimmenden Glutstücke im Kamin. In aufzischendem Qualm erlosch das Herdfeuer, und der Gestank kalter Asche reizte ihre Lungen.
Sie nahm nicht viel mit. Die wenigen Kleidungsstücke, die sie ihr Eigen nannte, ergaben nur ein handliches Bündel, dem sie jetzt ihre klobigen Holzschuhe, einen Rest Brot und die letzte Kugel Ziegenkäse beifügte. Ohne Bedauern sah sie sich um. Woher wusste sie nur, dass sie all dieses zum letzten Male erblickte?
Der rohe Holztisch, auf dem die Mutter ihre Kräuter sortierte, auf dem sie gegessen und gearbeitet hatte, stand, blank gescheuert und grob, beherrschend im Raum. Leise raschelnd bewegten sich die getrockneten Kräuterbündel unter dem Dachfirst in der ersten Morgenbrise. Die tönernen Töpfe und Schalen hinterließ sie sauber auf den Kaminsims geschichtet. Eine Bank, ein Hocker, eine schmucklose Truhe mit den Habseligkeiten Mariettes, mehr bot das gemeinsame Heim nicht.
Isabelle bekreuzigte sich vor dem Holzkreuz im Winkel, dann warf sie die Tür hinter sich zu und legte den Balken vor. Ohne sich ein einziges Mal umzusehen, lief sie den grasigen Hang hinunter. Erst nach geraumer Zeit mäßigte sie das Tempo und hüpfte vergnügt, mit nackten Sohlen, von einem Stein zum anderen. Es war ein ganz privater Tanz, mit dem sie dem kaum sichtbaren Pfad der wilden Bergziegen hinunter ins Tal folgte.
»Frei! Ich bin frei! Endlich frei!«, jubelte sie im Überschwang ihrer Gefühle und genoss die wärmer werdenden Strahlen der Sonne, die soeben die Spitzen der Berge erreichten. Nie, solange sie denken konnte, hatte sie sich so unbeschwert und glücklich gefühlt. Was würde sie in Tarascon am Ufer der mächtigen Rhône erwarten? Das Schicksal? Die Liebe? Einerlei, wenn ihr Leben nur endlich wert wurde, gelebt zu werden!
»Willkommen in der Stadt Tarascon unseres guten Königs René, Mädchen. Möge Gott unserem gnädigen Herrn seine Gesundheit erhalten und ihm ein langes Leben gewähren.«
Isabelle warf dem gebückten Fuhrknecht, der diese Worte fast andächtig herunterbetete, unter gesenkten Wimpern einen verblüfften Blick zu. Bisher hatte er, in Schweigen gehüllt, seine Ochsen mit dem schweren Holzfuhrwerk über den Staub der Landstraße gelenkt. Auch das Brummen, mit dem er die einsame Wanderin aufforderte mitzukommen, war zwar freundlich, aber kaum verständlich gewesen. Doch nun hatte er, kaum dass sie die dunkle Schlucht des bewachten Stadttores passiert hatten, offensichtlich im hellen Licht der Gassen auch seine Sprache wieder gefunden.
Steif und mit schmerzenden Knochen stieg Isabelle vom Fuhrwagen, der sie Stunde um Stunde durchgerüttelt hatte, sodass sie nun, im Glanz der Mittagssonne, meinte, in viele einzelne Teile auseinanderzufallen. Es widerstrebte ihr ein bisschen, in das verwirrende Gewimmel der Menschen und Tiere einzutauchen, das sie umgab. Der Mann schien ihre Ratlosigkeit zu erahnen und lächelte gutmütig von der Höhe seines Holzgefährtes herab.
»Sei froh, dass heute kein Markttag ist«, tröstete er sie. »Du bist das erste Mal in der Stadt, stimmt's?«
Sie nickte und bekämpfte den übermächtigen Wunsch, auf der Stelle wieder umzukehren. Da sie dem Manne erklärt hatte, auf dem Wege zu ihrer Mutter zu sein, die in Diensten des königlichen Hofes stand, wies er ihr jetzt ungefragt die Richtung.
»Geh zum Fluss, Kleine, dort findest du, gegenüber unserer Kirche zur heiligen Martha, die Burg des Königs. Und nun gehab dich wohl, die Mönche vom Kloster warten auf mein Brennholz, und ich muss mich sputen.«
Isabelle schenkte ihm ein dankbares Lächeln, dann musterte sie ihre Umgebung, das kleine Bündel fest an ihre Brust gepresst. Unter ihren Füßen spürte sie die warmen Pflastersteine, über die sich knirschend die eisenbeschlagenen Räder der Wagen drehten. Sänftenträger und Reiter drängten sich rücksichtslos durch die Menge, und sie wich an eine Mauer zurück, um nicht umgestoßen zu werden.
Jedermann schien geschäftig einem unbekannten Ziel zuzueilen. Eine dunstige Wolke aus Staub und Lärm raubte Isabelle Atem und Mut. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Nie war es möglich, in diesem Gewühl einen einzigen Menschen aufzuspüren. Und dann erst die Häuser. Isabelles Augen glitten über die kunstvoll verzierten Simse, Fassaden und Fensterstöcke, eine derartige Pracht hatte sie noch nie erblickt.
Sie wusste nicht, wie lange sie dagestanden hatte, aber der Anblick der sauber gekleideten Bürgerinnen von Tarascon in ihren gestärkten, schneeweißen Hauben brachte sie wieder zur Besinnung. Mit wohlgefüllten Körben voller Gemüse oder Brot, mit geheimnisvollen Paketen oder einfach mit hübsch gebundenen Gebetsbüchern in der Hand, fanden sie sogar in diesem Höllen- tanz unbeschwert Zeit für ein gemächliches Schwätzchen.
Isabelle bewunderte die präzise gefältelten Mieder, die bänderverzierten Röcke, über denen die meisten von ihnen einen leichten ärmellosen Mantel trugen. Selbst die einfachsten Dienerinnen hatten Schuhe und balancierten gelassen haarscharf an Hindernissen und Schmutzrinnen vorbei. Nicht einmal die geringste unter ihnen beachtete das staubige, faszinierte Mädchen.
Vorsichtig wagte sich Isabelle aus dem schützenden Bereich des Stadttores in die Menge. Fast jedes der Bürgerhäuser prunkte mit bleiverglasten Fensterscheiben und prächtigen Vorhängen. Hier und da erhaschte sie durch einen offen stehenden Laden den Schimmer polierter, geschnitzter Möbel, sah glänzendes Zinngeschirr und samtige Portieren. Wie herrlich musste es sein, von so schönen Dingen umgeben zu wohnen.
Erst mit zunehmender Mittagshitze merkte sie, dass in diesen Mauern nicht der Hauch jenes frischen Lüftchens wehte, das auf der Landstraße die Wärme des Tages erträglich gemacht hatte. Schweiß rann ihr in unangenehmen Rinnsalen den Rücken hinunter, und der einzige gute Rock, den sie besaß, aus schwerer brauner Wolle, hing in erstickenden Falten um ihre bloßen Beine. Sie hätte alles für einen Schluck klaren Wassers gegeben. Als sie endlich den großen Platz vor der mächtigen, zinnenbewehrten Burg am Rhôneufer erreicht hatte, war sie so erschöpft und verstört, dass sie nahe daran war, über ihre eigene Torheit in Tränen auszubrechen.
Zwischen der Residenz König Renés und der Kirche der heiligen Martha war ganz Tarascon auf den Beinen. Händler, Bettler, Bauern, Bewaffnete, Mönche, Frauen und Kinder wimmelten zwischen den Häusern. Zwar war das Burgtor weit und einladend geöffnet, doch die Wachen zu beiden Seiten der eisenbeschlagenen Torflügel bewiesen, dass ungebetene Gäste nicht erwünscht waren.
Mehr und mehr wurde sich Isabelle eines unangenehm ziehenden Schmerzes in der Magengegend bewusst. Sie hatte entsetzlichen Hunger. Der Käse und das Brot in ihrem Bündel hatten nicht weit gereicht, und die wenigen staubigen Beeren, die sie am Wegrand gefunden hatte, gaben nicht viel vor. Ein Straßenhändler, der mit schrillen Rufen fetttriefendes, knusprig braunes Gebäck anbot, zog sie wie magisch an. Sie wollte gerade die Hand ausstrecken, als sie die schmutzigen Finger eines kleinen Buben sah, die dem Mann eine Münze hinstreckten. Geld! Du lieber Himmel, sie besaß nicht die kleinste Münze! Wie hatte sie nur so dumm sein können, Mariettes Geldversteck zu vergessen? Hatte sie nicht ebenfalls gearbeitet, um dieses winzige Vermögen zu ersparen?
Sie war so mit sich und ihrem nagenden Hunger beschäftigt, dass sie nicht einmal bemerkte, wie die Menschen rund um sie her zurückwichen. Ein prachtvoller, großer Reitertrupp bahnte sich seinen Weg rücksichtslos über den Platz. Eine fremde Faust stieß Isabelle grob zur Seite, sonst wäre sie unter die Hufe der Pferde geraten. Sie taumelte, versuchte sich wieder aufzurichten und fand sich in einem festen Tross aus Dienern, Bewaffneten, Jägern, Karren und Hunden eingekeilt. Eine Jagdgesellschaft kehrte vom vormittäglichen Vergnügen ermüdet in die Burg zurück. Unter den grünen Zweigen, die die Wagen bedeckten, sah Isabelle die Felle der erlegten Tiere blitzen.
Niemand nahm Notiz von ihr, und so lief sie, wie vom Sog eines kräftigen Flusses gezogen, einfach inmitten der lachenden und fröhlichen Gemeinschaft in den Burghof. Die Wächter traten zur Seite, erwiderten gutmütig die Scherze der Heimkommenden und übersahen das zierliche Mädchen mit den wirren Locken.
Im inneren Burghof kam eine geheimnisvolle Ordnung in den Trubel. Isabelle drückte sich geistesgegenwärtig zur Seite. Sie dankte ihrem Glück für die klobige Steinsäule, hinter der sie sich verbergen konnte, ohne einem der zahllosen Diener und Knechte aufzufallen. Von allen Seiten liefen jetzt Livrierte herbei, um die nervösen, tänzelnden Pferde der Edelleute am Zügel zu nehmen, die in der plötzlichen Enge scheuten und hochstiegen.
Der Lärm übertraf alles, was Isabelle jemals gehört hatte. Das Wiehern der Reittiere, das Bellen der Jagdhunde, Hörnerklang, Stimmengewirr und Gelächter untermalten das farbenprächtige Bild vor ihren Augen. Natürlich erregten die Edeldamen ihre besondere Neugier. Gelassen und beherrscht thronten sie in ihren kostbaren Sätteln und warteten, bis man ihnen herabhalf. Die zartfarbigen Gewänder, die Spitzen, die Stickereien und Juwelen ließen die saubere Einfachheit der Bürgerinnen, die Isabelle noch eben so bewundert hatte, plötzlich schlicht und bedeutungslos erscheinen.
Eine der jungen Frauen erschien ihr wie das Sinnbild dieser Herrlichkeit. Sie konnte nicht viel älter als sie selbst sein. Ihr verschwenderisches Übergewand aus hellgrün-mattem Samt war unter dem Busen mit einem edelsteinbesetzten Gürtel gerafft. An Säumen und Ausschnitten bauschte sich silberfarbiger Pelzbesatz, und in raffinierten Schlitzen war ein hauchzartes, silberbesticktes Unterkleid zu sehen. Das helle Haar verschwand fast unter einem perlengeschmückten, hörnerartigen Kopfputz, von dessen Spitzen ein duftiger Schleier über das ganze Mädchen wehte. Das edel geschnittene Gesicht, fein und blass, mit herausfordernd roten Lippen, kam Isabelle seltsamerweise vertraut vor.
»Sei nicht albern«, rief sie sich selbst zur Ordnung und bestaunte doch die Selbstsicherheit, mit der diese junge Frau die Zügel ihrer mattweißen Stute hielt, ohne dass der Jagdfalke auf ihrer Linken auch nur bebte. Wieso glaubte sie zu wissen, dass hinter dem märchenhaften Bild unbeugsamer Stolz und eiskalte Härte verborgen waren? Was konnte sie, ein Zigeunermädchen, schon mit dieser Dame zu schaffen haben? Nichts. Vermutlich war es nur der Hunger, der ihren Verstand verwirrte und sie zu abenteuerlichen Träumen und Hirngespinsten verleitete.
Endlich legte sich die Aufregung, die Pferde verschwanden in den Ställen, die Jagdbeute wurde zur Küche gefahren, und die Damen und Herren verschwanden durch das Portal des Hauptgebäudes. Erschreckt kam Isabelle ihre Lage zu Bewusstsein. Bei Gott, was tat sie hier? Jeden Moment würde sie die Aufmerksamkeit der Wachen erregen. Gehetzt sah sie um sich, nicht genau wissend, was sie suchte. Ein Versteck? Eine Fluchtmöglichkeit? Schon halb in der Bewegung wurde sie von einer kräftigen Hand zurückgerissen.
»Nicht so flink, kleiner Schmutzfink! Was suchst du hier?«
Starr vor Schreck starrte Isabelle in das bartlose Gesicht eines jungen Mannes, der in einer bestrickenden Mischung aus Spott und Charme auf sie herablächelte. Nach den leuchtenden Farben der höfischen Kostüme, die sie eben geblendet hatten, fand sie sein dunkles, stumpfes Wams enttäuschend nichts sagend. Aber das schöne Gesicht mit den tiefschwarzen Augen fand ein Echo in ihrem Herzen, das sie angestrengt nach Luft ringen ließ.
Mühsam zwang sie sich, seinen Blick zu meiden. Erst jetzt erkannte sie, dass im matten Dunkel seiner Kleidung bei jeder Bewegung goldviolette Lichter auf blitzten und dass die kurze Tunika seinen muskulösen Oberkörper und die langen schlanken Beine in den beängstigend engen Beinkleidern erst richtig zur Wirkung brachte. Verlegen sah sie wieder nach oben.
Aus der einfachen, gefältelten Halskrause hob sich der Kopf mit den gelockten, blauschwarzen Haaren wie aus einem Rahmen, der die Schönheit des Bildes noch unterstrich. Noch nie, nicht in ihren kühnsten Träumen, hatte sie einen derart gut aussehenden Mann gesehen. Das schmale, goldgetönte Antlitz, beherrscht von einer geraden Römernase, die feinen, vollen Lippen - konnte das Wirklichkeit sein? Ihre Knie zitterten, und eine ungewohnte Schwäche, die diesmal nichts mit dem Hunger zu tun hatte, ließ sie erbeben.
»Nun, verfügst du auch über eine Stimme? Ich möchte wetten, dass du unter dieser Dreckschicht ganz bezaubernd aussiehst. Aber nachdem unsere Königin Jeanne Schmutz und Schlampigkeit hasst, kannst du wohl kaum in ihren Diensten stehen, mein staubiges Kind?!«
Eine warme, dunkle Stimme, deren Spott deutlich war. Isabelle biss die Zähne zusammen, dass es knirschte. Die Überheblichkeit, mit der er sie in die Reihen der zweifelhaften Jungfern warf, tat weh, wie der unverhoffte Stich mit einem Messer. In ihrer wütenden Antwort lag herrisch aufflammender Stolz. Ein Jähzorn, der in dieser Situation nicht angemessen war.
»Ich möchte nicht wissen, wie Euer feiner Rock aussieht, wenn Ihr über die Landstraßen zieht, Seigneur.« Er lachte amüsiert auf.
»Das Kätzchen verfügt über Krallen. Ein kleines Grünauge aus den Dörfern, das die Wunder unseres guten Königs René bestaunen will, hm? Nun, Kleines, du hast dein Schauspiel gehabt, nun verschwinde. Es wäre schade, wenn dich einer jener tapferen Jäger in die Badestube steckt und dich leicht beschädigt zu deinem Liebsten aufs Land zurückschickt. Das hier ist kein Pfl aster für tugendsame Bräute.«
Unbeherrscht stampfte Isabelle mit dem Fuß auf. Der hochmütige Schwung, mit dem sie die lockigen Haare nach hinten warf, und die zum steilen Bogen gehobenen Brauen ließen das Lächeln aus dem Gesicht des Fremden verschwinden. Er gab ihren Arm frei und trat einen Schritt zurück.
Wütend knetete sie das Bündel zwischen ihren Fäusten.
»Beurteilt Ihr die Menschen nur nach Äußerlichkeiten, Seigneur? «, fauchte sie, tief enttäuscht darüber, dass auch er die Fehler hatte, die sie an ihrer Mutter hasste. »Ich bin nicht zum Gaff en in diesen Mauern. Ich suche meine Mutter. Sie ist bei der Königin im Dienst, und ich habe seit langem keine Nachricht von ihr.«
Woher sie so schnell diese Ausrede für ihr leichtsinniges Abenteuer nahm, konnte sie selbst nicht sagen. Im Geheimen bat sie die Heiligen um Verzeihung für die Lüge.
Der junge Mann runzelte überlegend die Stirn.
»Du sprichst nicht wie die Mädchen aus den Dörfern, woher kommst du?«
Diesmal blieb Isabelle bei der Wahrheit, so weit sie es für zuträglich hielt.
»Wir sind Zigeuner, meine Mutter und ich. Unsere Hütte steht in den Bergen bei Les Baux, da die Vorfahren meiner Mutter ihr Wanderleben aufgegeben haben.«
Sie hielt seinem endlosen Blick stand, ohne die Augen zu senken. Wollte er ihr helfen? Spontan legte sie ihre nicht sehr saubere Hand auf seinen makellosen Ärmel.
»Gehört Ihr zum Hof, Seigneur? Könnt Ihr mich zur Königin führen? Wer weiß, vielleicht nimmt sie mich unter ihren Mägden auf. Ihr könnt es nicht verstehen, aber alles ist besser, als zurück in die Berge zu gehen.«
Er fixierte die zierlichen, aber schmutzigen Finger und verzog schmerzvoll das Gesicht.
»Ich muss es wohl tun, wenn ich nicht Gefahr laufen will, dass du mein Gewand ruinierst. Wer sagt mir, dass du die Wahrheit erzählst?«
Gekränkt wandte sie sich ab, während er unsichtbaren Staub von seinem Ärmel schüttelte und die Knitterfalten glatt strich. Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. »Ich lüge nie.«
Dunkle Augen prüften klare, lichtgrüne Augen. Endlich nickte er, zu einem Entschluss kommend.
»Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube dir. Folge mir, ich werde mir das Vergnügen machen, die Reaktion unserer hübschen Damen auf eine wilde, schwarze Rose zu beobachten. Und, willst du mir einen Gefallen tun?« Sie nickte voreilig.
»Fass mich nicht mehr an, ja?«
Gedemütigt und verbittert presste Isabelle die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Gewiss, sie hatte geschwitzt, und sie konnte sich nicht mit den prächtigen Edeldamen messen, aber war sie deswegen wirklich so viel weniger wert? Schlagartig begriff sie, dass der Zufall einer Geburt auch das Gefängnis für ein ganzes Leben zu sein vermochte. Welch ungewohnte Gedanken heute durch ihren Kopf gingen.
Sie unterdrückte einen Seufzer und bewunderte wider Willen heimlich die Gestalt an ihrer Seite. Wie hatte sie dieses Gewand nur schmucklos nennen können? Die Reihe der geschliffenen Knöpfe im Vorderteil bestand aus kostbar funkelnden Amethysten und die Halskrause aus steifer, schwarzer Spitze. An der männlichen Hand mit den gepflegten, polierten Nägeln glänzte ein schwerer goldener Ring mit einem großen Rubin. Die Zeichen des Reichtums waren unverkennbar, sogar für ein ahnungsloses Landmädchen.
Ohne den Wachen, die, mit Hellebarden bewaffnet, den Eingang flankierten, einen Blick zu schenken, führte er sie nach drinnen. Die hohe Halle, in der die Tische noch die Reste eines Mahles trugen, hatte kolossale Ausmaße. Und dann erst das Licht! Ein Meer von brennenden Kerzen tauchte die gestickten Teppiche und Wandbehänge, die das rohe Mauerwerk deckten, in blendende Helligkeit. Die gewaltige Tafel war verschwenderisch mit kostbarem Geschirr und verzierten Bechern gedeckt. Isabelle wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte.
In einer Ecke des Raumes, genau vor der breiten Treppe, die zu den übrigen Gemächern führte, hatte sich die Jagdgesellschaft zu einem Imbiss niedergelassen. Die Damen naschten kleine, verführerisch aussehende Pastetchen, die die Diener auf großen Platten herumreichten, die Herren bevorzugten den schweren Rotwein aus silbernen Kannen. Gegen ihren schönen, dunklen Führer kamen sie Isabelle nun wie eine Herde greller, keckernder Goldfasane vor.
Auch jene Edeldame, deren Erscheinung sie hoch zu Pferde so bewundert hatte, war bei der Gruppe. Ihr gelangweiltes Gesicht belebte sich, und angeregte Röte stieg in ihre Wangen. Sie machte eine erstaunte Bewegung, und auch ihr Begleiter entdeckte nun das merkwürdige Paar.
»Heilige Martha, sollte das Eure neueste Eroberung sein, Nicolas? «, rief er lachend aus, und Isabelle wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken. Er musste der Bruder der jungen Frau sein, denn die Ähnlichkeit der beiden sprang ins Auge. Gut einen Kopf größer als das Mädchen, wirkten bei ihm die Züge härter, schärfer, adlerartiger, aber die vollen Lippen, die schmale Nase und die betonten Wangenknochen waren dieselben. Silberblonde Haare lagen wie ein Helm glatt und halblang um seinen Kopf.
Seine Schwester biss elegant in ein Gebäckstück und lächelte betont süß.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Marie Cordonnier
- 2012, 1, 1200 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650964
- ISBN-13: 9783863650964
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