Isch geh Schulhof
Unerhörtes aus dem Alltag eines Grundschullehrers
Aushilfslehrer? Ein lockerer Job, denkt Philipp Möller bis zur ersten Stunde in seiner neuen Klasse: Musikstunden erinnern an DSDS, hyperaktive Kids flippen aus, und zum Frühstück gibt es Fastfood vom...
lieferbar
versandkostenfrei
Buch
10.00 €
- Kauf auf Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Isch geh Schulhof “
Aushilfslehrer? Ein lockerer Job, denkt Philipp Möller bis zur ersten Stunde in seiner neuen Klasse: Musikstunden erinnern an DSDS, hyperaktive Kids flippen aus, und zum Frühstück gibt es Fastfood vom Vortag.
Möllers Geschichten aus dem deutschen Bildungschaos sind brisant und berührend und dabei immer urkomisch. Hier ein kleiner Auszug: "Heute ist Klassenausflug. Bowlen - damit die Kinder sich endlich mal so richtig austoben können. Als ich den Klassenraum betrete, stürmen die ersten schon auf mich zu. 'Herr Mülla, iebergeil!', ruft Ümit. 'Isch mache Strike, ja? Schwöre, schmache eine Strike!' Mit wilden Bowling-Trockenübungen steht er vor mir. Wenn er nachher tatsächlich so bowlt, nehme ich mir besser einen Helm mit."
"Man lacht, man erschrickt, man weint vielleicht sogar aufgrund der schon sehr harten Erlebnisse ... Aber auf alle Fälle lernt man eine Menge."
berliner-akzente.de
Klappentext zu „Isch geh Schulhof “
«Heute ist Klassenausflug. Bowlen - damit die Kinder sich endlich mal so richtig austoben können. Als ich den Klassenraum betrete, stürmen die ersten schon auf mich zu."Herr Mülla, iebergeil!", ruft Ümit. "Isch mache Strike, ja? Schwöre, schmache eine Strike!" Mit wilden Bowling-Trockenübungen steht er vor mir. Wenn er nachher tatsächlich so bowlt, nehme ich mir besser einen Helm mit. Aushilfslehrer? Ein lockerer Job, denkt Philipp Möller - bis zur ersten Stunde in seiner neuen Klasse: Musikstunden erinnern an DSDS, hyperaktive Kids flippen ohne ihre Tabletten aus und zum Frühstück gibt es Fastfood vom Vortag. Möllers Geschichten aus dem deutschen Bildungschaos sind brisant und berührend, und dabei immer wieder urkomisch.
Lese-Probe zu „Isch geh Schulhof “
ISCH GEH SCHULHOF von Philipp Möller1
ISCH GEH MIT U-BAHN
Der öffentliche Nahverkehr in Berlin ist immer eine Reise wert. Mit ein bisschen Glück kann man bei einer Fahrt mit den Verkehrsmitteln der Hauptstadt filmreife Szenen erleben. Als ich die U-Bahn betrete, bin ich mit meinen Gedanken jedoch bereits woanders - und zwar in der Schule. Denn heute trete ich meinen neuen Job als Grundschullehrer an.
Zwischen Musikanten, Verkäufern von Straßenmagazinen und Fahrgästen verschiedensten Umfangs, Alters und Milieus suche ich mir einen Sitzplatz und blicke erst wieder auf, als der Hauptdarsteller der nächsten Szene die Leinwand betritt - selbstverständlich mit einem Handy am Ohr.
»Hamoudi, was los? Was machst du?«, ruft er beim Betreten des Waggons lauthals in sein Mobiltelefon. Als er eine aufgebrezelte Blondine entdeckt, glotzt er ihr unverschämt ins Dekolleté und zwinkert ihr dann grinsend zu. Ihr demonstratives Desinteresse kommentiert er mit einem sehr unfeinen Wort und nimmt dann mir gegenüber Platz.
Na prima, denke ich, wieder einmal werde ich unfreiwilliger Zuschauer der endlosen Daily Soap Willkommen auf dem Planeten Hartz IV. Drehbuch und Regie: das Leben. Produzenten: die politische Sabotage an der deutschen Bildung, die noch immer andauernde Abwesenheit einer funktionierenden Integrationspolitik und der stetige Abbau unseres Sozialsystems.
... mehr
Während der Protagonist in voller Lautstärke mit seinem Kumpel quatscht, beobachte ich ihn unauffällig. Auf seinem mit reichlich Haarwachs eingefetteten, glänzenden Haupthaar sitzt ein viel zu eng geschnalltes Basecap, am rechten Handgelenk blitzt eine überdimensionale Proleten-Uhr hervor, und auch die schneeweißen Markenturnschuhe sind für jedermann sichtbar. Eine wenig dezente Goldkette und das passende Armband komplettieren sein Outfit - man muss schließlich zeigen, was man hat!
Das gilt offensichtlich auch für seine Kronjuwelen. Die richtige Körperhaltung ist deshalb von großer Bedeutung für seine Rolle. Um rivalisierenden Männchen und paarungsbereiten Weibchen die eigenen Vorzüge zu präsentieren, spreizt er die Beine beim Sitzen weit auseinander. Den Ellenbogen des Telefonarms stützt er auf dem Oberschenkel ab, mit der freien Hand untermalt unser Held die Konversation mit entschlossen wirkenden Gesten.
»Ja, Mann«, ruft er ins Handy und fuchtelt mit der linken Hand wild in der Luft he rum. »Hau ma rein! Sch'ruf sie an jetzt ...«
Er legt auf, dann bemerkt er meinen Blick.
»Was guckst du?«, pöbelt er mich an, doch ich schaue schnell weg. Er lässt seine Kieferknochen bedrohlich mahlen, dann widmet er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten.
Weil seine Oberarme wahrscheinlich zu muskulös sind, um das Handy für längere Zeit ans Ohr zu halten, und die Benutzung von Headsets vermutlich als schwul gilt, entscheidet er sich, das folgende Telefonat über den Lautsprecher zu führen. So kommt es also dazu, dass ich und das gesamte Zugabteil den Dialog zwischen Mr. Was-guckst-du und der Frau, die er vorübergehend zu seinem Eigentum erklärt hat, in voller Länge mitverfolgen dürfen. Ein solches Glück wird einem nicht oft zuteil.
»S'los?«, begrüßt sie ihn liebevoll, wo rauf hin er unvermittelt ins Gespräch einsteigt.
»S'machst du?«
Während die männlichen Vertreter seiner Stilrichtung mindestens eine Silbe ihrer kurzen Satzfragmente stark überbetonen, signalisieren die weiblichen durch Einsilbigkeit und Monotonie gern Desinteresse.
»Sch'bin Solarion«, antwortet sie brav.
»Mit wen bist du?«
»Alleine.«
»Warum gehst du?«
»Vallah, sch'seh aus wie Kartoffel, ieberhässlisch!«
Das scheint ihm zu gefallen. Lächelnd schiebt er den Inhalt seiner Unterhose zurecht.
»S'machst du später?«, will er dann wissen.
»Sch'geh Disco.«
»Was?!«
Diese Nachricht lässt seinen Adrenalinspiegel sichtbar nach oben schnellen. Wie kann sie die Frechheit besitzen, ihn davon erst jetzt in Kenntnis zu setzen?
»Mit wen gehst du?«, fragt er sie eindringlich.
»Züsch, sch'geh nur mit Mehtschin!«
»Seit wann weißt du, dass du gehst?«
Diese Frage scheint sie grammatikalisch zu überfordern, sie gerät ins Schleudern.
»Dings, so halt«, antwortet sie nach einem Moment der Stille.
»Was ziehst du an, wenn du gehst?«
Es rauscht und klickt, die Verbindung ist beendet. Aufgeregt verliert der Held die Nerven und brüllt sein Handy an.
»Hallo? Hallo? Schon wieder keine Netz, vallah, irgendwann isch ficke diesem E-Plus!«
Dann flucht er laut, springt auf und drängelt sich zur Tür. Als der Zug quietschend zum Halten kommt, tritt er auf den Bahnsteig und bleibt dort erst einmal stehen, sodass sich alle anderen Fahrgäste umständlich an ihm vorbeischieben müssen. Mit den Händen in den Hosentaschen sieht er sich auf dem Bahnhof um. Die Bewegungen seiner Kaumuskeln demonstrieren Stärke und Entschlossenheit. Die Luft scheint rein, also setzt er sich in Bewegung und verlässt die Bühne.
Was für ein Auftritt.
Ja - das ist Berlin! Wer sich davon überzeugen möchte, dem seien der Erwerb einer Tageskarte und eine ausgedehnte Tour durch den westlichen Teil des Tarifbereichs B empfohlen. Der Besucher wird schnell feststellen, dass derlei Auftritte nicht nur denjenigen vorbehalten sind, denen Rechtspopulisten gern den Migrantenstempel aufdrücken, nein: Sie sind überall dort ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wo die gefährliche Mischung aus Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit für Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft sorgen. Die Schule, an der ich heute meinen neuen Job als Lehrer antrete, liegt in einer der größten Metropolen des geheimnisvollen Planeten Hartz IV - in einem der zahlreichen Berliner Kieze, die von dieser gefährlichen Mixtur betroffen sind.
Als ich die Bahn wenige Stationen später verlasse, beschleicht mich das Gefühl, die Geschichte mit Hamoudi und der Frau in Solarion könnte erst der Anfang gewesen sein. Noch habe ich nicht die leiseste Ahnung davon, wie es sein wird, Kinder zu unterrichten, deren Schicksale ich bisher hauptsächlich aus dem Fernsehen kenne. Von den vernichtenden Urteilen verschiedener Studien über deutsche Bildungseinrichtungen habe ich zwar gelesen, doch nun stehe ich kurz davor, die Gesichter hinten diesen trockenen Fakten live und in Farbe kennenzulernen.
Um halb neun verlasse ich den U-Bahnhof und trete ins grelle Tageslicht. Bühne frei, es ist so weit: Ich bin Lehrer!
Oder wie die Kids sagen würden: Isch geh Schule.
2
SCHMERZLICH WILLKOMMEN
Als ich durch das Schultor gehe, beschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl. Zum ersten Mal durchschreite ich diese Pforte nicht als Assistent der Schulleitung, sondern als Lehrer. Ab heute werde ich meine belegten Graubrote im Kreise meiner lieben Kollegen im Lehrerzimmer verspeisen, hinter dem Pult Prüfungen überwachen, die Tafel mit Zahlen und komplizierten Formeln vollkritzeln und als von allen Schülern geachtete Autoritätsperson in der Pause über den Hof flanieren.
Zumindest in meiner Vorstellung.
Bevor ich das Gebäude betrete, lasse ich meinen Blick noch einmal über die Betonwüste schweifen, die den Schülern hier als Schulhof zugemutet wird - die Achtziger lassen grüßen. Das Schulgebäude hingegen stammt aus einer Zeit, in der Schüler noch mit dem Rohrstock erzogen wurden. Ein frischer Märzwind weht mir ins Gesicht, und durch die nackten Äste der Bäume sehe ich ein Stück des grauen Himmels, der den Eindruck der gesamten Szenerie deprimierend vervollständigt.
Als ich die schwere Eingangstür der Grundschule öffne, schlägt mir der beißende Gestank von altem Urin entgegen. Da ran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Die Toilette befindet sich in der Eingangshalle, und so ist der Fäkalgeruch das Erste, was Schülern wie Lehrern jeden Morgen entgegenweht, wenn sie eine der wichtigsten Institutionen unserer Gesellschaft betreten. Zum Ambiente des Foyers passt dieser Morgengruß jedoch recht gut: Putz bröckelt von dringend renovierungsbedürftigen Wänden, und durch die verschmutzten Fenster fällt nur wenig Licht.
Der Klang meiner Schritte hallt durchs Treppenhaus. Weil die erste Stunde bereits begonnen hat, herrscht hier eine ungewöhnliche, fast unheimliche Stille. Auf der Hälfte der Treppe angekommen, empfängt mich das lebensgroße, von Kinderhand gemalte Bild eines Kampfhundes. Unweigerlich bleibe ich davor stehen und schaue dem Biest in die Augen. Auf dem Fußweg hierher habe ich wegen eines solchen Köters, der selbstverständlich ohne Leine und Maulkorb ausgeführt wurde, gerade noch die Straßenseite gewechselt.
Ein lauter Knall reißt mich aus den Gedanken, ich zucke zusammen. Die Glastür im ersten Stock wird aufgestoßen. Als ich mich umdrehe, sehe ich zwei Jungs die Treppe hinunterstürmen.
»Ey, du Opfer, wo gehst du?«, brüllt der hintere.
»Isch geh bei Klo, du Bastard«, antwortet der erste, ohne sich dabei umzudrehen.
Er bremst vor mir ab und rotzt mir unvermittelt vor die Füße.
»Was?«, fragt er dann und schaut mich angriffslustig an.
Nicht schlecht für jemanden, der ungefähr fünfzig Kilo leichter und zwei Köpfe kleiner ist als ich!
»Nichts, nichts«, versuche ich ihn zu beruhigen und weiche einen Schritt zurück.
Die Lehrerin der beiden, eine Dame mittleren Alters, betritt das Treppenhaus und ruft den Flüchtigen hinterher.
»Erhan und Raik, ihr kommt sofort ...«
»Mann, Frau Gärtner, sch'ab doch gesagt, wir gehen Klo«, entgegnet ihr der eine, während der andere die Tür zur stinkenden Toilette aufreißt.
Meine Kollegin schließt die Augen und seufzt. Dann macht sie sich auf den Weg, die beiden Ausreißer wieder einzufangen. Mit einem Blick auf die Tür, die sie leise hinter sich geschlossen hat, wird mir klar, dass ich das Schicksal dieser Frau ab heute teilen werde. Denn die beiden Jungs sind offenbar Schüler der 4e - und das ist eine meiner Matheklassen.
Bevor ich meine erste Stunde als Lehrer antrete, statte ich meinem alten und neuen Chef einen Besuch in seinem Büro ab. Es kommt im klassischen Behörden-Look daher: abgewetzter, moosgrüner Teppich zu beigefarbenen Wänden, ausgeblichene Gardinen in zeitlosem Orange und alte Möbel, die Stahl und Holz in charmanter Kombination miteinander verschmelzen lassen. Die Regale sind vollgestopft mit Leitz-Ordnern und pädagogischer Literatur aus Zeiten, in denen Hosen noch Schlag und Telefone noch Wählscheiben hatten. Das Waschbecken voller Kalkspuren weckt bei mir jedes Mal die Vorstellung, ich beträte den Untersuchungsraum des Amtsarztes. Ein bisschen riecht es auch so.
Mitten in diesem Raum sitzt Herr Friedrich am Schreibtisch. Unser Schulleiter ist in den Sechzigern und versucht, mit dem kranzartigen Überrest seines Haupthaars die unvermeidbare Platte zu verdecken. Der Farbton seines Anzugs bewegt sich irgendwo zwischen Sand und Senf und passt sich damit stimmungsvoll seiner Umgebung an - ein typischer Fall von Büro-Camouflage. Die Gesichtsfarbe meines Vorgesetzten weist dagegen eine leicht ungesunde Rötung auf. Kommt die von dem uralten Röhrenmonitor, der wie eine riesige Strahlenkanone auf seinem Schreibtisch steht?
Weit nach vorn gebeugt starrt er mit zusammengekniffenen Augen durch seine Siebzigerjahre-Brille auf den Bildschirm und hackt dabei auf ein und dieselbe Taste der Tastatur. Bing, bing, bing, kommentiert das der Rechner: Fehlermeldung.
»Hach, das ist aber auch was hier! Immer diese ...« Friedrich bemerkt mich und blickt auf. »Ach, unser neuer Kollege«, sagt er dann, steht in seiner typisch ungelenken Art, die mir von meinem alten Job noch sehr vertraut ist, auf und streckt mir die Hand entgegen. »Und, schon aufgeregt?«
Ich nicke. Kein Wunder, denn in ungefähr zwei Stunden werde ich als Mathelehrer vor einer vierten Klasse stehen - ohne auch nur eine Minute Unterrichtserfahrung zu haben!
Herr Friedrich klopft mir mit schlecht gespielter Lässigkeit auf die Schulter.
»Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon«, sagt er. »Immerhin kennen Sie die Schule ja schon.«
Das ist ja das Prob lem! In dem knappen halben Jahr, in dem ich als sein Assistent an der Ludwig Feuerbach- Schule war, habe ich hin und wieder auch mal bei der Hausaufgabenbetreuung geholfen.
Ich weiß daher, was mich erwartet: Kinder aus deprimierenden Familienverhältnissen, die sich kaum konzentrieren können und deren Schimpfwörter selbst mir als abgehärtetem Berliner die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen.
Eigentlich war ich damals ganz froh, dass sich der Assistenzjob, der mir eine Weile die Miete finanziert hat, seinem Ende zuneigte. Doch dann bot mir Herr Friedrich vollkommen unerwartet eine Stelle als Lehrer an. Zu meiner Verwunderung erklärte er mir vor den Winterferien, dass er mich gerne als Quereinsteiger verpflichten wolle. Das Modell, das fachfremden Personen ermöglicht, die pädagogische Verantwortung für Schulkinder zu übernehmen, trägt den sperrigen Namen Personalkostenbudgetierung, kurz PKB. Ich zögerte, das Angebot anzunehmen. Sollte ich etwa doch Grundschullehrer werden, nachdem ich mich jahrelang erfolgreich dagegen gewehrt hatte, in die Fußstapfen meiner Eltern zu treten? Mit gemischten Gefühlen unterzeichnete ich schließlich den Arbeitsvertrag, der mich bis zu den kommenden Sommerferien, also etwas mehr als drei Monate lang, zum Lehrer machen würde.
Friedrich hatte mir damals versichert, dass mich eine erfahrene Lehrkraft in die Geheimnisse des Unterrichtens einführen werde.
»Frau Dremel wartet bereits im Lehrerzimmer auf Sie«, erklärt er mir nun. »Sie wird dann alles Weitere mit Ihnen besprechen.«
Frau Dremel hat die beiden Klassen, denen ich ab heute Mathematik beibringen soll, bislang vertretungsweise unterrichtet. Ab jetzt - mit der Übergabe des pädagogischen Staffelstabs an meine Wenigkeit - kann sie sich wieder verstärkt ihren eigentlichen Aufgaben als Klassenlehrerin widmen.
Die Tür zu Friedrichs Büro wird plötzlich aufgerissen, und zwei Schüler platzen he rein.
»Herr Friedrisch«, pöbelt der eine, »er hat misch Hurensohn gesagt!«
»Was redet er, jaaaa? Dein Mutta is eine ...«
»Wie oft hab ich euch schon gesagt«, unterbricht der Schulleiter die zwei Jungs ungeduldig, »dass ihr anklopfen sollt?«
»Viermal«, antwortet der kleinere Junge, dessen Jeans an den Knien aufgerissen sind. Seine dunklen Haare sind zu einer wilden Stachelfrisur hochgegelt. Das sprachliche Mittel der rhetorischen Frage kennen die Jungs wohl noch nicht.
»Was?«, fragt Friedrich verdutzt.
»Viermal du hast uns schon gesagt, wir sollen klopfen «, erklärt der Junge.
»Sie! Haben Sie uns schon gesagt«, verbessert der Schulleiter mit gequälter Stimme.
»Hä?«
Die Jungs gucken sich ratlos an.
»Na los, raus jetzt! Ich hab hier ...«
Die beiden verkrümeln sich lachend. Streit geschlichtet - wenn auch eher aus Versehen. Warum die beiden außerhalb der Unterrichtszeit auf den Fluren he rumtoben, scheint Herrn Friedrich nicht weiter zu interessieren.
»Also, wo waren wir?«, fragt er zerstreut.
»Frau Dremel?«
»Richtig! Sie wird Ihnen zeigen, wie weit sie mit den beiden Matheklassen ist. Viel Erfolg.«
Er kehrt mir den Rücken zu, die Audienz ist offensichtlich beendet. Super. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann wartet auf mich eine Schulung, die den vielversprechenden Titel Mathelehrer in neunzig Minuten tragen könnte. Ich mache mich also auf den Weg, um mir ein paar Patentrezepte einer erfahrenen Frontkämpferin abzuholen - und doch beschleichen mich erste Zweifel. Was andere im Rahmen eines mehrjährigen Studiums lernen, wird mir die gute Dame wohl kaum in wenigen Minuten vermitteln können - oder?
Als ich die Tür zum Lehrerzimmer öffne, sitzt Frau Dremel am großen Konferenztisch und starrt aus dem Fenster. Nach meiner Berüßung nimmt sie noch einen großen Schluck Kaffee und kramt dann zwei Mathebücher hervor.
»Hast du denn schon oft Mathe unterrichtet?«, fragt sie, während sie die richtige Seite he raussucht.
»Nein, noch nie.«
»Ach so?« Sie wirkt verständlicherweise etwas überrascht. »Was sind denn deine Fächer?«
»Gar keins, ich bin gar kein Lehrer.«
Vor Schreck klappt sie das Buch zu und guckt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Hätte ich ihr das vielleicht schonender beibringen sollen?
»Wie jetzt?«, fragt sie und sieht mich an, als hätte ich ihr gerade erklärt, ich würde die nächsten Ferien bei meinen Verwandten auf dem Mond verbringen.
»Ich habe Erwachsenenbildung studiert und arbeite bis zu den Sommerferien als Vertretungslehrer. «
»Ist ja verrückt«, sagt sie und kratzt sich am Kopf.
Noch verrückter ist, dass ich in etwa fünfundsiebzig Minuten meine erste Doppelstunde in Mathe halten soll. Hoffentlich kann mir Frau Dremel bis dahin noch etwas beibringen ...
»Also, pass auf«, sagt sie gewichtig, »mit der 4e bin ich auf Seite zweiunddreißig. Am Ende spiele ich mit denen oft Vier-Ecken-Rechnen. Bei der 5b sind wir auf Seite neunundzwanzig, und die hassen Vier-Ecken-Rechnen.«
Es entsteht eine kurze Gesprächspause.
»Hast du sonst noch Fragen?«, will sie dann wissen.
Ob ich sonst noch Fragen habe?
Meine Freundin Sarah, die Sprichwörter gern durcheinanderwürfelt, würde jetzt sagen: Ich glaub mich tritt ein Storch - natürlich hab ich noch Fragen! Vor allem die hier: Was soll ich im Unterricht mit den Schülern machen? Wie geht das, Lehrersein? Was mache ich hier eigentlich? Und wie komme ich wieder raus?!
Während mir tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schießen, wird mir klar, dass wir das alles wohl kaum innerhalb der nächsten Stunde besprechen können.
»Ach, eigentlich nicht«, lüge ich Frau Dremel daher an. »Den Rest werd ich schon mitbekommen.«
Sie sieht erleichtert aus, als sie aufsteht und nach ihrer braunen Ledertasche und ihrem Mantel greift.
»Viel Glück«, ruft sie, dann fällt die Tür hinter ihr zu, und ich bin allein.
Die restliche Zeit bis zur großen Pause nutze ich, um mir die Unterrichtsinhalte noch einmal anzuschauen. Als die Pausenglocke klingelt, klappe ich das Buch zu und tröste mich mit der Erkenntnis, dass ich in den ersten Stunden inhaltlich wahrscheinlich sowieso nicht viel schaffen werde. Viel wichtiger ist, dass die Schüler und ich uns erst einmal kennenlernen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das Verhältnis zwischen denen und mir extrem wichtig für den Verlauf und die Qualität des Unterrichts ist. Diese These habe ich vor ein paar Jahren während eines Jobs als Computertrainer für Grundschulkinder schon mal belegt.
Damals hatte ich so gut wie gar keine Ahnung von Unterrichtsgestaltung - kein Wunder, dass mein erster Versuch in eine Katastrophe ausartete. Mit dem Wunsch, eine entspannte Unterrichtsatmosphäre herzustellen, gab ich mich locker und cool. Wie ich schnell merkte, ist das eine grandiose Art, sich ohne Umwege ins Abseits zu katapultieren. Die Kids legten es mir nämlich als Schwäche aus, dass sie mich duzen durften, und tanzten mir während des Unterrichts gnadenlos auf der Nase he rum. Nachdem ich den Schülern das Versenden von E-Mails beigebracht hatte und zum Dank von zwei Sechstklässlerinnen schriftlich gefragt wurde, ob ich schwul sei und schon mal »mit ein Mann gefickt« hätte, versuchte ich die Situation zu retten, indem ich so tat, als würde mich die Frechheit nicht stören - was die Sache nur noch schlimmer machte.
Ich nahm mir vor, es bei meinem nächsten Einsatz besser zu machen. In der zweiten Schule, an die ich als Computertrainer geschickt wurde, ging ich vollkommen anders an die Sache he ran. Ich stellte mich als Herr Möller vor und machte der Klasse von Anfang an klar, wer in diesem Computerkurs der Boss war: ich. Diese autoritäre Art fiel mir anfangs überhaupt nicht leicht, aber ich war erstaunt, was sie bewirkte. Zwischen den Schülern und mir entstand ein respektvolles Verhältnis. Vor den Fragen meldeten sie sich ruhig, und schon bald erhielt ich positive Rückmeldungen von den Eltern der Kinder, genauso wie von meinen Vorgesetzten in der Computerschule.
Ob das auch klappt, wenn ich neunzig Minuten lang alleine mit siebenundzwanzig Viertklässlern in einen Raum eingepfercht bin?, denke ich, während ich mein Equipment zusammenpacke und mich auf den Weg zum Klassenzimmer mache.
Los geht's, Möller!, spreche ich mir Mut zu. Du kannst das!
»Guten Morgen«, sage ich laut und deutlich, als ich exakt mit dem Stundenklingeln den Klassenraum betrete. Auf dem grauen und schmutzigen Linoleumboden stehen ungeordnet ein paar Tische und Stühle he rum. Aus den Regalen an den Wänden quellen Materialien, Wände und Fenster sind unbeholfen mit den Gemälden der Kids geschmückt. Der Klassenraum der 4e steht der Hässlichkeit des restlichen Schulgebäudes in nichts nach. Im Raum herrscht absolute Anarchie: Fast alle Kids springen wild he rum, sitzen oder stehen auf Tischen, essen Süßigkeiten, tauschen Monster-Karten aus, beschimpfen sich oder malen auf der Tafel he rum.
»Hä? Was machst du hier, Herr Müller?«, fragt eine Schülerin, die ich aus der Hausaufgabenbetreuung kenne, als sie mich erblickt.
»Ich bin euer neuer Mathelehrer«, erkläre ich ihr, trete hinter den Lehrertisch und stelle meine Tasche da rauf ab. Plötzlich habe ich die ganze Aufmerksamkeit der Kids.
»Vallah, Herr Mülla is unser neuer Mathelehrer!«
»Iebergeil, sch'wöre!«
»Endlisch mal eine Mann!«
Ich freue mich zwar über die Begeisterung, aber einige Schüler scheinen jeden Moment auszuflippen - ich muss also eingreifen.
»Wer bei drei nicht sitzt ...«, fange ich an, frage mich aber bereits beim He run terzählen, wie ich den Satz vollenden würde, wenn ich müsste.
Glücklicherweise scheinen die Kids da rüber nicht nachzudenken, sondern drängeln sich zu ihren Plätzen durch. Als alle sitzen, stelle ich mich vor die Klasse und warte noch einen kleinen Moment, bis es wirklich leise ist.
»Guten Morgen, liebe Klasse 4e«, sage ich dann feierlich.
»Guten Morgen, Herr Mülla!«, antworten sie im Chor.
Das lief schon mal sehr gut. Doch eines stört mich: Ich heiße Möller und nicht Mülla, also schreibe ich meinen Namen in großen Druckbuchstaben an die Tafel und bitte ein Mädchen, den Namen vorzulesen.
»Herr Mülla«, sagt sie klar und deutlich.
Ich gehe zur Tafel, unterstreiche das Ö und fordere sie auf, es noch einmal zu probieren.
»Herr Mülla«, wiederholt sie unverändert.
»Ach so«, sage ich und deute auf das Ö. »Das hier ist also ein Ü?«
Die anderen fangen an zu kichern, aber weil ich die junge Dame nicht vorführen möchte, wende ich mich wieder der gesamten Klasse zu.
»Ihr seid doch schon in der vierten Klasse und kennt das Alphabet, oder?«
Eifriges Nicken.
»Also du«, ich zeige auf einen Jungen in der zweiten Reihe. »Wie heiße ich?«
Er zögert, sodass ich mich dazu entschließe, ihm eine Hilfestellung zu geben.
»Das hier ist ein Ö, wie in dem Wort Döner«, sage ich deutlich. Aber dieses Beispiel war wohl nicht so klug.
»Herr Mööö-ler?«, fragt er vorsichtig, wo rauf hin die ganze Klasse laut lacht.
»Nein«, sage ich mit fester Stimme, »mit kurzem Ö. Meinen Nachnamen spricht man: Möller!«
Dabei betone ich das kurze Ö. Eine Schülerin meldet sich.
»Können wir jetzt endlich Mathe machen, Herr Möller?«, fragt sie mit gelangweilter Stimme.
»Erst, wenn alle meinen Namen aussprechen können «, entgegne ich ruhig. »Also, jetzt sagen bitte alle gleichzeitig: Möller. Eins, zwei, drei ...«
»Möller!«, ruft die ganze Klasse, einige der Jungs brüllen sogar.
»Gut, dann kennt ihr ja jetzt meinen Namen. Damit ich eure Namen möglichst schnell lerne, basteln sich jetzt bitte alle ein Namensschild.«
Noch bevor ich ausgesprochen habe, springen die Kids auf und drängeln sich an ihre Fächer im hinteren Teil der Klasse. Meinen nachgeschobenen Satz »Ihr habt genau eine Minute Zeit!« hört fast niemand mehr.
Memo an mich: Keine Anweisungen geben, die Chaos verursachen könnten!
Ich nehme am Lehrertisch Platz und warte. Dabei kann ich beobachten, dass die Kids meine Anwesenheit ziemlich schnell zu vergessen scheinen. Sie fangen an, sich zu beschimpfen, sich gegenseitig die Stifte wegzunehmen und andere zu schubsen. Offensichtlich muss ich sie kurz an mich erinnern.
»Noch dreißig Sekunden«, rufe ich in die Menge, wo rauf hin sich das Arbeitstempo etwas erhöht. »Wer fertig ist, setzt sich bitte auf seinen Platz.«
Da ich keine Uhr trage, werfe ich heimlich einen Blick auf mein Handy und stelle fest, dass schon ein Drittel der ersten Stunde vergangen ist. Als alle mit den Namensschildern fertig sind, setze ich endlich den Unterricht fort.
»Nachdem wir nun unsere Namen kennen, können wir ja mit Mathe anfangen.«
Ich schaue das zickige Mädchen an, das vorhin so erpicht da rauf war, mit dem Unterricht zu beginnen. Auf dem Schild vor ihr prangt der Name Nina. Ihre blonden Haare sind zu einem strengen Zopf gebunden. Den Kopf hat sie leicht in den Nacken gelegt. Sie hat eine betont aufrechte Körperhaltung und drückt sich gewählt aus. Ihre Lippen presst sie, wenn sie nicht spricht, aufeinander. Ein ganz klarer Fall: Nina ist ein Alphatier. Ihr Outfit scheint den allgemeinen Kleidungsstil in der Klasse vorzugeben. Die mit Plastiksteinchen besetzten Blümchenmuster auf ihrer Jeans und ihrem Oberteil kann ich bei fast allen anderen Mädchen wiederfinden. Mal sehen, was von ihrem Arbeitseifer von eben noch übrig ist.
»Wollen wir dann anfangen, Nina?«
»Hä?« Meine Frage hat sie aus einem Gespräch mit ihrer Banknachbarin gerissen.
»Das heißt: Wie bitte?«, sage ich und ärgere mich noch im selben Moment über diesen Spießerspruch.
Nina verdreht die Augen. »Ist ja gut!«
Hier wird wieder klar, was ich bereits in der Uni gelernt habe: Die Persönlichkeit eines Menschen bildet sich ziemlich früh aus. Mir schwant, dass das auch für die kleine Diva hier gilt - und das wird vermutlich anstrengend.
»Gut, dann holt mal bitte eure Bücher raus«, gebe ich die nächste Anweisung und verursache damit erneutes Chaos, denn die Bücher befinden sich auch in den Fächern am anderen Ende des Klassenraums.
»Okay, das hat jetzt wieder zwei Minuten gedauert «, sage ich, als alle wieder sitzen. »Damit das nicht jede Stunde passiert, erwarte ich, dass ihr beim nächsten Mal eure Bücher am Platz habt, bevor die Stunde losgeht. Können wir dann anfangen?«
Die kleine Fatima meldet sich. Sie trägt ein rosafarbenes Kinderkopftuch, und ihre Körpersprache lässt auf eine sehr aktive Persönlichkeit schließen. »Herr Mülla?«
»Möller! Ja, was gibt's denn?«
»Dieser Kevin, er hat misch Fotze gesagt«, sagt sie und zeigt auf ihren Sitznachbarn.
»Wie bitte? Stimmt das, Kevin?«, frage ich ihn streng.
Er schaut mich traurig an. »Ja, aber sie hat misch Wichser gesagt.«
»Ich möchte hier keine Schimpfworte hören! Von niemandem, klar?«
Die beiden nicken.
»Gut, dann können wir ja jetzt endlich ... «
»Noch nicht!«, ruft ein Schüler aus der letzten Reihe, den ich erst jetzt als den Jungen erkenne, der mir heute früh vor die Füße gespuckt hat. »Sie haben mich noch gar nicht richtig kennengelernt. Ich bin Raik, und ich bin der Schlimmste von allen.«
In der Tat: Raik sieht so frech aus, dass ich eine Steinschleuder in seiner hinteren Hosentasche vermute. Die blonden Haare über dem feisten Gesicht stehen zu Berge, er schaut mich grinsend an, und seine Beine bewegen sich unruhig unterm Tisch. Ich halte seinem Blick einen Moment stand und überlege, wie ich auf seine Provokation am besten reagiere.
»Das ist ja interessant«, stelle ich betont unbeeindruckt fest. »Was ist denn so schlimm an dir?«
»Also, ich stör immer den Unterricht, mache nie Hausaufgaben, ich verprügel andere Kinder - auch im Unterricht -, und ich verspreche dir, dass ich dich noch zum Ausrasten bringe!«
»Na, da bin ich aber mal gespannt«, sage ich und will mit dem Unterricht fortfahren.
»Kannst du auch, du Arschloch!«, meint er.
Ich halte inne.
Mit einer plötzlichen Handbewegung schiebt Raik all seine Sachen vom Tisch. Dann legt er die Füße auf seinen Tisch, verschränkt die Arme hinterm Kopf und lächelt mich entspannt an.
»Ist der immer so?«, frage ich in die Klasse.
Einige der Kids nicken so heftig, dass ich Angst habe, sie verrenken sich dabei die Halswirbelsäule.
»Ich hab Frau Dremel schon öfter zum Heulen gebracht. Cool, wa?« Freude macht sich auf Raiks Gesicht breit.
»Geht so«, sage ich, trete langsam zu ihm he ran, stütze mich auf seinen Tisch und beuge mich zu ihm herunter. »Was hältst du denn davon, wenn wir dich mal in eine andere Klasse setzen?«
Er erklärt mir, dass das nicht ginge, weil er bereits aus einer anderen Klasse komme. Auf meinen Vorschlag, ihn vom Unterricht auszuschließen, reagiert er ebenfalls lässig: Er freue sich jetzt schon aufs Computerspielen. Seine Mutter, erklärt er mir, würde ständig wegen ihm heulen, und seinen Vater kenne er nicht. Seine Tadel zählt er schon lange nicht mehr.
»Dann hilft vielleicht nur noch ein Schulwechsel«, greife ich zu meiner letzten Waffe.
Doch auf diese Aussage hat Raik offenbar nur gewartet. »Ich hab schon alle Grundschulen im Bezirk durch. Mich nimmt keiner mehr!«
Ich setze mich mit einer Pobacke auf seinen Tisch, verschränke die Arme und schaue ihn einen Moment lang an. Vielleicht drehe ich den Spieß einfach mal um?
»Weißt du was? Ich find dich eigentlich ganz cool. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen.«
»Ach ja?«
Seine Augen funkeln. Er kippelt mit seinem Stuhl, stößt sich ohne Vorwarnung vom Tisch ab, fällt rückwärts auf den Boden, springt auf und rennt zum Tafeleimer. Mit einem Fuß auf dem Rand des gefüllten Tafeleimers, in dem siffige, von der Tafelkreide verfärbte Schwämme treiben, sieht er mich mit blitzenden Augen an.
»Und?«, will er von mir wissen. »Findest du mich jetzt immer noch cool?«
»Nein«, brüllen einige der anderen, »nicht schon wieder, Raik!«
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Während der Protagonist in voller Lautstärke mit seinem Kumpel quatscht, beobachte ich ihn unauffällig. Auf seinem mit reichlich Haarwachs eingefetteten, glänzenden Haupthaar sitzt ein viel zu eng geschnalltes Basecap, am rechten Handgelenk blitzt eine überdimensionale Proleten-Uhr hervor, und auch die schneeweißen Markenturnschuhe sind für jedermann sichtbar. Eine wenig dezente Goldkette und das passende Armband komplettieren sein Outfit - man muss schließlich zeigen, was man hat!
Das gilt offensichtlich auch für seine Kronjuwelen. Die richtige Körperhaltung ist deshalb von großer Bedeutung für seine Rolle. Um rivalisierenden Männchen und paarungsbereiten Weibchen die eigenen Vorzüge zu präsentieren, spreizt er die Beine beim Sitzen weit auseinander. Den Ellenbogen des Telefonarms stützt er auf dem Oberschenkel ab, mit der freien Hand untermalt unser Held die Konversation mit entschlossen wirkenden Gesten.
»Ja, Mann«, ruft er ins Handy und fuchtelt mit der linken Hand wild in der Luft he rum. »Hau ma rein! Sch'ruf sie an jetzt ...«
Er legt auf, dann bemerkt er meinen Blick.
»Was guckst du?«, pöbelt er mich an, doch ich schaue schnell weg. Er lässt seine Kieferknochen bedrohlich mahlen, dann widmet er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten.
Weil seine Oberarme wahrscheinlich zu muskulös sind, um das Handy für längere Zeit ans Ohr zu halten, und die Benutzung von Headsets vermutlich als schwul gilt, entscheidet er sich, das folgende Telefonat über den Lautsprecher zu führen. So kommt es also dazu, dass ich und das gesamte Zugabteil den Dialog zwischen Mr. Was-guckst-du und der Frau, die er vorübergehend zu seinem Eigentum erklärt hat, in voller Länge mitverfolgen dürfen. Ein solches Glück wird einem nicht oft zuteil.
»S'los?«, begrüßt sie ihn liebevoll, wo rauf hin er unvermittelt ins Gespräch einsteigt.
»S'machst du?«
Während die männlichen Vertreter seiner Stilrichtung mindestens eine Silbe ihrer kurzen Satzfragmente stark überbetonen, signalisieren die weiblichen durch Einsilbigkeit und Monotonie gern Desinteresse.
»Sch'bin Solarion«, antwortet sie brav.
»Mit wen bist du?«
»Alleine.«
»Warum gehst du?«
»Vallah, sch'seh aus wie Kartoffel, ieberhässlisch!«
Das scheint ihm zu gefallen. Lächelnd schiebt er den Inhalt seiner Unterhose zurecht.
»S'machst du später?«, will er dann wissen.
»Sch'geh Disco.«
»Was?!«
Diese Nachricht lässt seinen Adrenalinspiegel sichtbar nach oben schnellen. Wie kann sie die Frechheit besitzen, ihn davon erst jetzt in Kenntnis zu setzen?
»Mit wen gehst du?«, fragt er sie eindringlich.
»Züsch, sch'geh nur mit Mehtschin!«
»Seit wann weißt du, dass du gehst?«
Diese Frage scheint sie grammatikalisch zu überfordern, sie gerät ins Schleudern.
»Dings, so halt«, antwortet sie nach einem Moment der Stille.
»Was ziehst du an, wenn du gehst?«
Es rauscht und klickt, die Verbindung ist beendet. Aufgeregt verliert der Held die Nerven und brüllt sein Handy an.
»Hallo? Hallo? Schon wieder keine Netz, vallah, irgendwann isch ficke diesem E-Plus!«
Dann flucht er laut, springt auf und drängelt sich zur Tür. Als der Zug quietschend zum Halten kommt, tritt er auf den Bahnsteig und bleibt dort erst einmal stehen, sodass sich alle anderen Fahrgäste umständlich an ihm vorbeischieben müssen. Mit den Händen in den Hosentaschen sieht er sich auf dem Bahnhof um. Die Bewegungen seiner Kaumuskeln demonstrieren Stärke und Entschlossenheit. Die Luft scheint rein, also setzt er sich in Bewegung und verlässt die Bühne.
Was für ein Auftritt.
Ja - das ist Berlin! Wer sich davon überzeugen möchte, dem seien der Erwerb einer Tageskarte und eine ausgedehnte Tour durch den westlichen Teil des Tarifbereichs B empfohlen. Der Besucher wird schnell feststellen, dass derlei Auftritte nicht nur denjenigen vorbehalten sind, denen Rechtspopulisten gern den Migrantenstempel aufdrücken, nein: Sie sind überall dort ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wo die gefährliche Mischung aus Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit für Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft sorgen. Die Schule, an der ich heute meinen neuen Job als Lehrer antrete, liegt in einer der größten Metropolen des geheimnisvollen Planeten Hartz IV - in einem der zahlreichen Berliner Kieze, die von dieser gefährlichen Mixtur betroffen sind.
Als ich die Bahn wenige Stationen später verlasse, beschleicht mich das Gefühl, die Geschichte mit Hamoudi und der Frau in Solarion könnte erst der Anfang gewesen sein. Noch habe ich nicht die leiseste Ahnung davon, wie es sein wird, Kinder zu unterrichten, deren Schicksale ich bisher hauptsächlich aus dem Fernsehen kenne. Von den vernichtenden Urteilen verschiedener Studien über deutsche Bildungseinrichtungen habe ich zwar gelesen, doch nun stehe ich kurz davor, die Gesichter hinten diesen trockenen Fakten live und in Farbe kennenzulernen.
Um halb neun verlasse ich den U-Bahnhof und trete ins grelle Tageslicht. Bühne frei, es ist so weit: Ich bin Lehrer!
Oder wie die Kids sagen würden: Isch geh Schule.
2
SCHMERZLICH WILLKOMMEN
Als ich durch das Schultor gehe, beschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl. Zum ersten Mal durchschreite ich diese Pforte nicht als Assistent der Schulleitung, sondern als Lehrer. Ab heute werde ich meine belegten Graubrote im Kreise meiner lieben Kollegen im Lehrerzimmer verspeisen, hinter dem Pult Prüfungen überwachen, die Tafel mit Zahlen und komplizierten Formeln vollkritzeln und als von allen Schülern geachtete Autoritätsperson in der Pause über den Hof flanieren.
Zumindest in meiner Vorstellung.
Bevor ich das Gebäude betrete, lasse ich meinen Blick noch einmal über die Betonwüste schweifen, die den Schülern hier als Schulhof zugemutet wird - die Achtziger lassen grüßen. Das Schulgebäude hingegen stammt aus einer Zeit, in der Schüler noch mit dem Rohrstock erzogen wurden. Ein frischer Märzwind weht mir ins Gesicht, und durch die nackten Äste der Bäume sehe ich ein Stück des grauen Himmels, der den Eindruck der gesamten Szenerie deprimierend vervollständigt.
Als ich die schwere Eingangstür der Grundschule öffne, schlägt mir der beißende Gestank von altem Urin entgegen. Da ran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Die Toilette befindet sich in der Eingangshalle, und so ist der Fäkalgeruch das Erste, was Schülern wie Lehrern jeden Morgen entgegenweht, wenn sie eine der wichtigsten Institutionen unserer Gesellschaft betreten. Zum Ambiente des Foyers passt dieser Morgengruß jedoch recht gut: Putz bröckelt von dringend renovierungsbedürftigen Wänden, und durch die verschmutzten Fenster fällt nur wenig Licht.
Der Klang meiner Schritte hallt durchs Treppenhaus. Weil die erste Stunde bereits begonnen hat, herrscht hier eine ungewöhnliche, fast unheimliche Stille. Auf der Hälfte der Treppe angekommen, empfängt mich das lebensgroße, von Kinderhand gemalte Bild eines Kampfhundes. Unweigerlich bleibe ich davor stehen und schaue dem Biest in die Augen. Auf dem Fußweg hierher habe ich wegen eines solchen Köters, der selbstverständlich ohne Leine und Maulkorb ausgeführt wurde, gerade noch die Straßenseite gewechselt.
Ein lauter Knall reißt mich aus den Gedanken, ich zucke zusammen. Die Glastür im ersten Stock wird aufgestoßen. Als ich mich umdrehe, sehe ich zwei Jungs die Treppe hinunterstürmen.
»Ey, du Opfer, wo gehst du?«, brüllt der hintere.
»Isch geh bei Klo, du Bastard«, antwortet der erste, ohne sich dabei umzudrehen.
Er bremst vor mir ab und rotzt mir unvermittelt vor die Füße.
»Was?«, fragt er dann und schaut mich angriffslustig an.
Nicht schlecht für jemanden, der ungefähr fünfzig Kilo leichter und zwei Köpfe kleiner ist als ich!
»Nichts, nichts«, versuche ich ihn zu beruhigen und weiche einen Schritt zurück.
Die Lehrerin der beiden, eine Dame mittleren Alters, betritt das Treppenhaus und ruft den Flüchtigen hinterher.
»Erhan und Raik, ihr kommt sofort ...«
»Mann, Frau Gärtner, sch'ab doch gesagt, wir gehen Klo«, entgegnet ihr der eine, während der andere die Tür zur stinkenden Toilette aufreißt.
Meine Kollegin schließt die Augen und seufzt. Dann macht sie sich auf den Weg, die beiden Ausreißer wieder einzufangen. Mit einem Blick auf die Tür, die sie leise hinter sich geschlossen hat, wird mir klar, dass ich das Schicksal dieser Frau ab heute teilen werde. Denn die beiden Jungs sind offenbar Schüler der 4e - und das ist eine meiner Matheklassen.
Bevor ich meine erste Stunde als Lehrer antrete, statte ich meinem alten und neuen Chef einen Besuch in seinem Büro ab. Es kommt im klassischen Behörden-Look daher: abgewetzter, moosgrüner Teppich zu beigefarbenen Wänden, ausgeblichene Gardinen in zeitlosem Orange und alte Möbel, die Stahl und Holz in charmanter Kombination miteinander verschmelzen lassen. Die Regale sind vollgestopft mit Leitz-Ordnern und pädagogischer Literatur aus Zeiten, in denen Hosen noch Schlag und Telefone noch Wählscheiben hatten. Das Waschbecken voller Kalkspuren weckt bei mir jedes Mal die Vorstellung, ich beträte den Untersuchungsraum des Amtsarztes. Ein bisschen riecht es auch so.
Mitten in diesem Raum sitzt Herr Friedrich am Schreibtisch. Unser Schulleiter ist in den Sechzigern und versucht, mit dem kranzartigen Überrest seines Haupthaars die unvermeidbare Platte zu verdecken. Der Farbton seines Anzugs bewegt sich irgendwo zwischen Sand und Senf und passt sich damit stimmungsvoll seiner Umgebung an - ein typischer Fall von Büro-Camouflage. Die Gesichtsfarbe meines Vorgesetzten weist dagegen eine leicht ungesunde Rötung auf. Kommt die von dem uralten Röhrenmonitor, der wie eine riesige Strahlenkanone auf seinem Schreibtisch steht?
Weit nach vorn gebeugt starrt er mit zusammengekniffenen Augen durch seine Siebzigerjahre-Brille auf den Bildschirm und hackt dabei auf ein und dieselbe Taste der Tastatur. Bing, bing, bing, kommentiert das der Rechner: Fehlermeldung.
»Hach, das ist aber auch was hier! Immer diese ...« Friedrich bemerkt mich und blickt auf. »Ach, unser neuer Kollege«, sagt er dann, steht in seiner typisch ungelenken Art, die mir von meinem alten Job noch sehr vertraut ist, auf und streckt mir die Hand entgegen. »Und, schon aufgeregt?«
Ich nicke. Kein Wunder, denn in ungefähr zwei Stunden werde ich als Mathelehrer vor einer vierten Klasse stehen - ohne auch nur eine Minute Unterrichtserfahrung zu haben!
Herr Friedrich klopft mir mit schlecht gespielter Lässigkeit auf die Schulter.
»Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon«, sagt er. »Immerhin kennen Sie die Schule ja schon.«
Das ist ja das Prob lem! In dem knappen halben Jahr, in dem ich als sein Assistent an der Ludwig Feuerbach- Schule war, habe ich hin und wieder auch mal bei der Hausaufgabenbetreuung geholfen.
Ich weiß daher, was mich erwartet: Kinder aus deprimierenden Familienverhältnissen, die sich kaum konzentrieren können und deren Schimpfwörter selbst mir als abgehärtetem Berliner die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen.
Eigentlich war ich damals ganz froh, dass sich der Assistenzjob, der mir eine Weile die Miete finanziert hat, seinem Ende zuneigte. Doch dann bot mir Herr Friedrich vollkommen unerwartet eine Stelle als Lehrer an. Zu meiner Verwunderung erklärte er mir vor den Winterferien, dass er mich gerne als Quereinsteiger verpflichten wolle. Das Modell, das fachfremden Personen ermöglicht, die pädagogische Verantwortung für Schulkinder zu übernehmen, trägt den sperrigen Namen Personalkostenbudgetierung, kurz PKB. Ich zögerte, das Angebot anzunehmen. Sollte ich etwa doch Grundschullehrer werden, nachdem ich mich jahrelang erfolgreich dagegen gewehrt hatte, in die Fußstapfen meiner Eltern zu treten? Mit gemischten Gefühlen unterzeichnete ich schließlich den Arbeitsvertrag, der mich bis zu den kommenden Sommerferien, also etwas mehr als drei Monate lang, zum Lehrer machen würde.
Friedrich hatte mir damals versichert, dass mich eine erfahrene Lehrkraft in die Geheimnisse des Unterrichtens einführen werde.
»Frau Dremel wartet bereits im Lehrerzimmer auf Sie«, erklärt er mir nun. »Sie wird dann alles Weitere mit Ihnen besprechen.«
Frau Dremel hat die beiden Klassen, denen ich ab heute Mathematik beibringen soll, bislang vertretungsweise unterrichtet. Ab jetzt - mit der Übergabe des pädagogischen Staffelstabs an meine Wenigkeit - kann sie sich wieder verstärkt ihren eigentlichen Aufgaben als Klassenlehrerin widmen.
Die Tür zu Friedrichs Büro wird plötzlich aufgerissen, und zwei Schüler platzen he rein.
»Herr Friedrisch«, pöbelt der eine, »er hat misch Hurensohn gesagt!«
»Was redet er, jaaaa? Dein Mutta is eine ...«
»Wie oft hab ich euch schon gesagt«, unterbricht der Schulleiter die zwei Jungs ungeduldig, »dass ihr anklopfen sollt?«
»Viermal«, antwortet der kleinere Junge, dessen Jeans an den Knien aufgerissen sind. Seine dunklen Haare sind zu einer wilden Stachelfrisur hochgegelt. Das sprachliche Mittel der rhetorischen Frage kennen die Jungs wohl noch nicht.
»Was?«, fragt Friedrich verdutzt.
»Viermal du hast uns schon gesagt, wir sollen klopfen «, erklärt der Junge.
»Sie! Haben Sie uns schon gesagt«, verbessert der Schulleiter mit gequälter Stimme.
»Hä?«
Die Jungs gucken sich ratlos an.
»Na los, raus jetzt! Ich hab hier ...«
Die beiden verkrümeln sich lachend. Streit geschlichtet - wenn auch eher aus Versehen. Warum die beiden außerhalb der Unterrichtszeit auf den Fluren he rumtoben, scheint Herrn Friedrich nicht weiter zu interessieren.
»Also, wo waren wir?«, fragt er zerstreut.
»Frau Dremel?«
»Richtig! Sie wird Ihnen zeigen, wie weit sie mit den beiden Matheklassen ist. Viel Erfolg.«
Er kehrt mir den Rücken zu, die Audienz ist offensichtlich beendet. Super. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann wartet auf mich eine Schulung, die den vielversprechenden Titel Mathelehrer in neunzig Minuten tragen könnte. Ich mache mich also auf den Weg, um mir ein paar Patentrezepte einer erfahrenen Frontkämpferin abzuholen - und doch beschleichen mich erste Zweifel. Was andere im Rahmen eines mehrjährigen Studiums lernen, wird mir die gute Dame wohl kaum in wenigen Minuten vermitteln können - oder?
Als ich die Tür zum Lehrerzimmer öffne, sitzt Frau Dremel am großen Konferenztisch und starrt aus dem Fenster. Nach meiner Berüßung nimmt sie noch einen großen Schluck Kaffee und kramt dann zwei Mathebücher hervor.
»Hast du denn schon oft Mathe unterrichtet?«, fragt sie, während sie die richtige Seite he raussucht.
»Nein, noch nie.«
»Ach so?« Sie wirkt verständlicherweise etwas überrascht. »Was sind denn deine Fächer?«
»Gar keins, ich bin gar kein Lehrer.«
Vor Schreck klappt sie das Buch zu und guckt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Hätte ich ihr das vielleicht schonender beibringen sollen?
»Wie jetzt?«, fragt sie und sieht mich an, als hätte ich ihr gerade erklärt, ich würde die nächsten Ferien bei meinen Verwandten auf dem Mond verbringen.
»Ich habe Erwachsenenbildung studiert und arbeite bis zu den Sommerferien als Vertretungslehrer. «
»Ist ja verrückt«, sagt sie und kratzt sich am Kopf.
Noch verrückter ist, dass ich in etwa fünfundsiebzig Minuten meine erste Doppelstunde in Mathe halten soll. Hoffentlich kann mir Frau Dremel bis dahin noch etwas beibringen ...
»Also, pass auf«, sagt sie gewichtig, »mit der 4e bin ich auf Seite zweiunddreißig. Am Ende spiele ich mit denen oft Vier-Ecken-Rechnen. Bei der 5b sind wir auf Seite neunundzwanzig, und die hassen Vier-Ecken-Rechnen.«
Es entsteht eine kurze Gesprächspause.
»Hast du sonst noch Fragen?«, will sie dann wissen.
Ob ich sonst noch Fragen habe?
Meine Freundin Sarah, die Sprichwörter gern durcheinanderwürfelt, würde jetzt sagen: Ich glaub mich tritt ein Storch - natürlich hab ich noch Fragen! Vor allem die hier: Was soll ich im Unterricht mit den Schülern machen? Wie geht das, Lehrersein? Was mache ich hier eigentlich? Und wie komme ich wieder raus?!
Während mir tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schießen, wird mir klar, dass wir das alles wohl kaum innerhalb der nächsten Stunde besprechen können.
»Ach, eigentlich nicht«, lüge ich Frau Dremel daher an. »Den Rest werd ich schon mitbekommen.«
Sie sieht erleichtert aus, als sie aufsteht und nach ihrer braunen Ledertasche und ihrem Mantel greift.
»Viel Glück«, ruft sie, dann fällt die Tür hinter ihr zu, und ich bin allein.
Die restliche Zeit bis zur großen Pause nutze ich, um mir die Unterrichtsinhalte noch einmal anzuschauen. Als die Pausenglocke klingelt, klappe ich das Buch zu und tröste mich mit der Erkenntnis, dass ich in den ersten Stunden inhaltlich wahrscheinlich sowieso nicht viel schaffen werde. Viel wichtiger ist, dass die Schüler und ich uns erst einmal kennenlernen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das Verhältnis zwischen denen und mir extrem wichtig für den Verlauf und die Qualität des Unterrichts ist. Diese These habe ich vor ein paar Jahren während eines Jobs als Computertrainer für Grundschulkinder schon mal belegt.
Damals hatte ich so gut wie gar keine Ahnung von Unterrichtsgestaltung - kein Wunder, dass mein erster Versuch in eine Katastrophe ausartete. Mit dem Wunsch, eine entspannte Unterrichtsatmosphäre herzustellen, gab ich mich locker und cool. Wie ich schnell merkte, ist das eine grandiose Art, sich ohne Umwege ins Abseits zu katapultieren. Die Kids legten es mir nämlich als Schwäche aus, dass sie mich duzen durften, und tanzten mir während des Unterrichts gnadenlos auf der Nase he rum. Nachdem ich den Schülern das Versenden von E-Mails beigebracht hatte und zum Dank von zwei Sechstklässlerinnen schriftlich gefragt wurde, ob ich schwul sei und schon mal »mit ein Mann gefickt« hätte, versuchte ich die Situation zu retten, indem ich so tat, als würde mich die Frechheit nicht stören - was die Sache nur noch schlimmer machte.
Ich nahm mir vor, es bei meinem nächsten Einsatz besser zu machen. In der zweiten Schule, an die ich als Computertrainer geschickt wurde, ging ich vollkommen anders an die Sache he ran. Ich stellte mich als Herr Möller vor und machte der Klasse von Anfang an klar, wer in diesem Computerkurs der Boss war: ich. Diese autoritäre Art fiel mir anfangs überhaupt nicht leicht, aber ich war erstaunt, was sie bewirkte. Zwischen den Schülern und mir entstand ein respektvolles Verhältnis. Vor den Fragen meldeten sie sich ruhig, und schon bald erhielt ich positive Rückmeldungen von den Eltern der Kinder, genauso wie von meinen Vorgesetzten in der Computerschule.
Ob das auch klappt, wenn ich neunzig Minuten lang alleine mit siebenundzwanzig Viertklässlern in einen Raum eingepfercht bin?, denke ich, während ich mein Equipment zusammenpacke und mich auf den Weg zum Klassenzimmer mache.
Los geht's, Möller!, spreche ich mir Mut zu. Du kannst das!
»Guten Morgen«, sage ich laut und deutlich, als ich exakt mit dem Stundenklingeln den Klassenraum betrete. Auf dem grauen und schmutzigen Linoleumboden stehen ungeordnet ein paar Tische und Stühle he rum. Aus den Regalen an den Wänden quellen Materialien, Wände und Fenster sind unbeholfen mit den Gemälden der Kids geschmückt. Der Klassenraum der 4e steht der Hässlichkeit des restlichen Schulgebäudes in nichts nach. Im Raum herrscht absolute Anarchie: Fast alle Kids springen wild he rum, sitzen oder stehen auf Tischen, essen Süßigkeiten, tauschen Monster-Karten aus, beschimpfen sich oder malen auf der Tafel he rum.
»Hä? Was machst du hier, Herr Müller?«, fragt eine Schülerin, die ich aus der Hausaufgabenbetreuung kenne, als sie mich erblickt.
»Ich bin euer neuer Mathelehrer«, erkläre ich ihr, trete hinter den Lehrertisch und stelle meine Tasche da rauf ab. Plötzlich habe ich die ganze Aufmerksamkeit der Kids.
»Vallah, Herr Mülla is unser neuer Mathelehrer!«
»Iebergeil, sch'wöre!«
»Endlisch mal eine Mann!«
Ich freue mich zwar über die Begeisterung, aber einige Schüler scheinen jeden Moment auszuflippen - ich muss also eingreifen.
»Wer bei drei nicht sitzt ...«, fange ich an, frage mich aber bereits beim He run terzählen, wie ich den Satz vollenden würde, wenn ich müsste.
Glücklicherweise scheinen die Kids da rüber nicht nachzudenken, sondern drängeln sich zu ihren Plätzen durch. Als alle sitzen, stelle ich mich vor die Klasse und warte noch einen kleinen Moment, bis es wirklich leise ist.
»Guten Morgen, liebe Klasse 4e«, sage ich dann feierlich.
»Guten Morgen, Herr Mülla!«, antworten sie im Chor.
Das lief schon mal sehr gut. Doch eines stört mich: Ich heiße Möller und nicht Mülla, also schreibe ich meinen Namen in großen Druckbuchstaben an die Tafel und bitte ein Mädchen, den Namen vorzulesen.
»Herr Mülla«, sagt sie klar und deutlich.
Ich gehe zur Tafel, unterstreiche das Ö und fordere sie auf, es noch einmal zu probieren.
»Herr Mülla«, wiederholt sie unverändert.
»Ach so«, sage ich und deute auf das Ö. »Das hier ist also ein Ü?«
Die anderen fangen an zu kichern, aber weil ich die junge Dame nicht vorführen möchte, wende ich mich wieder der gesamten Klasse zu.
»Ihr seid doch schon in der vierten Klasse und kennt das Alphabet, oder?«
Eifriges Nicken.
»Also du«, ich zeige auf einen Jungen in der zweiten Reihe. »Wie heiße ich?«
Er zögert, sodass ich mich dazu entschließe, ihm eine Hilfestellung zu geben.
»Das hier ist ein Ö, wie in dem Wort Döner«, sage ich deutlich. Aber dieses Beispiel war wohl nicht so klug.
»Herr Mööö-ler?«, fragt er vorsichtig, wo rauf hin die ganze Klasse laut lacht.
»Nein«, sage ich mit fester Stimme, »mit kurzem Ö. Meinen Nachnamen spricht man: Möller!«
Dabei betone ich das kurze Ö. Eine Schülerin meldet sich.
»Können wir jetzt endlich Mathe machen, Herr Möller?«, fragt sie mit gelangweilter Stimme.
»Erst, wenn alle meinen Namen aussprechen können «, entgegne ich ruhig. »Also, jetzt sagen bitte alle gleichzeitig: Möller. Eins, zwei, drei ...«
»Möller!«, ruft die ganze Klasse, einige der Jungs brüllen sogar.
»Gut, dann kennt ihr ja jetzt meinen Namen. Damit ich eure Namen möglichst schnell lerne, basteln sich jetzt bitte alle ein Namensschild.«
Noch bevor ich ausgesprochen habe, springen die Kids auf und drängeln sich an ihre Fächer im hinteren Teil der Klasse. Meinen nachgeschobenen Satz »Ihr habt genau eine Minute Zeit!« hört fast niemand mehr.
Memo an mich: Keine Anweisungen geben, die Chaos verursachen könnten!
Ich nehme am Lehrertisch Platz und warte. Dabei kann ich beobachten, dass die Kids meine Anwesenheit ziemlich schnell zu vergessen scheinen. Sie fangen an, sich zu beschimpfen, sich gegenseitig die Stifte wegzunehmen und andere zu schubsen. Offensichtlich muss ich sie kurz an mich erinnern.
»Noch dreißig Sekunden«, rufe ich in die Menge, wo rauf hin sich das Arbeitstempo etwas erhöht. »Wer fertig ist, setzt sich bitte auf seinen Platz.«
Da ich keine Uhr trage, werfe ich heimlich einen Blick auf mein Handy und stelle fest, dass schon ein Drittel der ersten Stunde vergangen ist. Als alle mit den Namensschildern fertig sind, setze ich endlich den Unterricht fort.
»Nachdem wir nun unsere Namen kennen, können wir ja mit Mathe anfangen.«
Ich schaue das zickige Mädchen an, das vorhin so erpicht da rauf war, mit dem Unterricht zu beginnen. Auf dem Schild vor ihr prangt der Name Nina. Ihre blonden Haare sind zu einem strengen Zopf gebunden. Den Kopf hat sie leicht in den Nacken gelegt. Sie hat eine betont aufrechte Körperhaltung und drückt sich gewählt aus. Ihre Lippen presst sie, wenn sie nicht spricht, aufeinander. Ein ganz klarer Fall: Nina ist ein Alphatier. Ihr Outfit scheint den allgemeinen Kleidungsstil in der Klasse vorzugeben. Die mit Plastiksteinchen besetzten Blümchenmuster auf ihrer Jeans und ihrem Oberteil kann ich bei fast allen anderen Mädchen wiederfinden. Mal sehen, was von ihrem Arbeitseifer von eben noch übrig ist.
»Wollen wir dann anfangen, Nina?«
»Hä?« Meine Frage hat sie aus einem Gespräch mit ihrer Banknachbarin gerissen.
»Das heißt: Wie bitte?«, sage ich und ärgere mich noch im selben Moment über diesen Spießerspruch.
Nina verdreht die Augen. »Ist ja gut!«
Hier wird wieder klar, was ich bereits in der Uni gelernt habe: Die Persönlichkeit eines Menschen bildet sich ziemlich früh aus. Mir schwant, dass das auch für die kleine Diva hier gilt - und das wird vermutlich anstrengend.
»Gut, dann holt mal bitte eure Bücher raus«, gebe ich die nächste Anweisung und verursache damit erneutes Chaos, denn die Bücher befinden sich auch in den Fächern am anderen Ende des Klassenraums.
»Okay, das hat jetzt wieder zwei Minuten gedauert «, sage ich, als alle wieder sitzen. »Damit das nicht jede Stunde passiert, erwarte ich, dass ihr beim nächsten Mal eure Bücher am Platz habt, bevor die Stunde losgeht. Können wir dann anfangen?«
Die kleine Fatima meldet sich. Sie trägt ein rosafarbenes Kinderkopftuch, und ihre Körpersprache lässt auf eine sehr aktive Persönlichkeit schließen. »Herr Mülla?«
»Möller! Ja, was gibt's denn?«
»Dieser Kevin, er hat misch Fotze gesagt«, sagt sie und zeigt auf ihren Sitznachbarn.
»Wie bitte? Stimmt das, Kevin?«, frage ich ihn streng.
Er schaut mich traurig an. »Ja, aber sie hat misch Wichser gesagt.«
»Ich möchte hier keine Schimpfworte hören! Von niemandem, klar?«
Die beiden nicken.
»Gut, dann können wir ja jetzt endlich ... «
»Noch nicht!«, ruft ein Schüler aus der letzten Reihe, den ich erst jetzt als den Jungen erkenne, der mir heute früh vor die Füße gespuckt hat. »Sie haben mich noch gar nicht richtig kennengelernt. Ich bin Raik, und ich bin der Schlimmste von allen.«
In der Tat: Raik sieht so frech aus, dass ich eine Steinschleuder in seiner hinteren Hosentasche vermute. Die blonden Haare über dem feisten Gesicht stehen zu Berge, er schaut mich grinsend an, und seine Beine bewegen sich unruhig unterm Tisch. Ich halte seinem Blick einen Moment stand und überlege, wie ich auf seine Provokation am besten reagiere.
»Das ist ja interessant«, stelle ich betont unbeeindruckt fest. »Was ist denn so schlimm an dir?«
»Also, ich stör immer den Unterricht, mache nie Hausaufgaben, ich verprügel andere Kinder - auch im Unterricht -, und ich verspreche dir, dass ich dich noch zum Ausrasten bringe!«
»Na, da bin ich aber mal gespannt«, sage ich und will mit dem Unterricht fortfahren.
»Kannst du auch, du Arschloch!«, meint er.
Ich halte inne.
Mit einer plötzlichen Handbewegung schiebt Raik all seine Sachen vom Tisch. Dann legt er die Füße auf seinen Tisch, verschränkt die Arme hinterm Kopf und lächelt mich entspannt an.
»Ist der immer so?«, frage ich in die Klasse.
Einige der Kids nicken so heftig, dass ich Angst habe, sie verrenken sich dabei die Halswirbelsäule.
»Ich hab Frau Dremel schon öfter zum Heulen gebracht. Cool, wa?« Freude macht sich auf Raiks Gesicht breit.
»Geht so«, sage ich, trete langsam zu ihm he ran, stütze mich auf seinen Tisch und beuge mich zu ihm herunter. »Was hältst du denn davon, wenn wir dich mal in eine andere Klasse setzen?«
Er erklärt mir, dass das nicht ginge, weil er bereits aus einer anderen Klasse komme. Auf meinen Vorschlag, ihn vom Unterricht auszuschließen, reagiert er ebenfalls lässig: Er freue sich jetzt schon aufs Computerspielen. Seine Mutter, erklärt er mir, würde ständig wegen ihm heulen, und seinen Vater kenne er nicht. Seine Tadel zählt er schon lange nicht mehr.
»Dann hilft vielleicht nur noch ein Schulwechsel«, greife ich zu meiner letzten Waffe.
Doch auf diese Aussage hat Raik offenbar nur gewartet. »Ich hab schon alle Grundschulen im Bezirk durch. Mich nimmt keiner mehr!«
Ich setze mich mit einer Pobacke auf seinen Tisch, verschränke die Arme und schaue ihn einen Moment lang an. Vielleicht drehe ich den Spieß einfach mal um?
»Weißt du was? Ich find dich eigentlich ganz cool. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen.«
»Ach ja?«
Seine Augen funkeln. Er kippelt mit seinem Stuhl, stößt sich ohne Vorwarnung vom Tisch ab, fällt rückwärts auf den Boden, springt auf und rennt zum Tafeleimer. Mit einem Fuß auf dem Rand des gefüllten Tafeleimers, in dem siffige, von der Tafelkreide verfärbte Schwämme treiben, sieht er mich mit blitzenden Augen an.
»Und?«, will er von mir wissen. »Findest du mich jetzt immer noch cool?«
»Nein«, brüllen einige der anderen, »nicht schon wieder, Raik!«
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Philipp Möller
- 2014, 15. Aufl. 2012., 364 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404606965
- ISBN-13: 9783404606962
- Erscheinungsdatum: 21.09.2012
Kommentare zu "Isch geh Schulhof"
Weitere Empfehlungen zu „Isch geh Schulhof “
0 Gebrauchte Artikel zu „Isch geh Schulhof“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 15Schreiben Sie einen Kommentar zu "Isch geh Schulhof".
Kommentar verfassen