Jahrmarkt der Eitelkeit
Ein Roman ohne Helden
Sie will sich damit nicht abfinden. Die Gouvernante Rebekka Sharp verlässt das Internat und strebt den Aufstieg in die höhere Gesellschaft an. Selbstsicher, intelligent, auch skrupellos bewegt sie sich, im Gegensatz zu ihrer naiven Freundin Amelia, auf...
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Produktinformationen zu „Jahrmarkt der Eitelkeit “
Klappentext zu „Jahrmarkt der Eitelkeit “
Sie will sich damit nicht abfinden. Die Gouvernante Rebekka Sharp verlässt das Internat und strebt den Aufstieg in die höhere Gesellschaft an. Selbstsicher, intelligent, auch skrupellos bewegt sie sich, im Gegensatz zu ihrer naiven Freundin Amelia, auf Empfängen und Diners. Schmeicheleien und Intrigen, wirtschaftlicher Bankrott ebenso wie das historische Großereignis der Schlacht von Waterloo bestimmen das Leben der beiden Frauen, ihren Aufstieg und Fall in der englischen Gesellschaft.Gemeinsam mit den Romanen von Charles Dickens und den Brontë-Schwestern zählt Thackerays satirisches Gesellschaftspanorama heute zu den wichtigsten und vergnüglichsten Werken des Viktorianismus.
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit Daten zu Leben und Werk.
Lese-Probe zu „Jahrmarkt der Eitelkeit “
Jahrmarkt der Eitelkeit von William Makepeace ThackerayVor dem Vorhang
Wie der Marionettentheaterdirektor so vor dem Vorhange auf seiner Bühne sitzt und sich das Leben und Treiben des Marktes anschaut, da überfällt ihn tiefe Melancholie. Da wird viel gegessen, getrunken, geliebt, kokettiert, gelacht, geweint, geraucht, betrogen, geprügelt, getanzt und gegeigt, Prahlhänse schieben sich durchs Gedränge, Stutzer sehen nach hübschen Frauen, Diebe machen die Taschen leer, Polizeibeamte passen auf, Quacksalber (andere Quacksalber, denen ich die Pest wünsche!) schreien vor ihren Buden, Bauernjungen starren auf die flitterbehangenen Tänzer und die armen, alten, geschminkten Seilspringer, während schnellfingrige Burschen sich an ihren Rocktaschen zu schaffen machen. Ja, so sieht es auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit aus; es ist sicher kein moralischer, auch kein lustiger Ort, wenn auch Lärm genug gemacht wird. Seht euch die Gesichter der Schauspieler und Hanswürste an, wenn sie von ihrer Arbeit kommen! Der Lustigmacher wäscht sich die Schminke vom Gesicht ab, ehe er sich mit seiner Frau und den kleinen Hanswürsten hinter dem Vorhang zu Tische setzt. Der Vorhang wird gleich wieder in die Höhe gehen, und dann wird er von neuem Purzelbäume schlagen und rufen: »Hallo! Wie geht es Ihnen?«
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Ein nachdenklicher Mensch, der durch eine solche Schaustellung wandert, wird er sich weder durch seine eigene noch durch anderer Leute Lustigkeit belästigt fühlen, meine ich. Ein humoristischer oder gemütvoller Zwischenfall vergnügt und rührt ihn hier und da: ein kleines Kind, das eine Pfefferkuchenbode mit den Augen verschlingt, ein hübsches Mädchen, das rot wird, wenn der Liebste mit ihr spricht und ihr etwas zum Geschenk aussucht, der arme Hausnarr hinter dem Wagen, der in Gesellschaft seiner ehrlichen Familie die Knochen abnagt, die er mit seinen Sprüngen erhält - aber der Gesamteindruck ist mehr melancholisch als heiter. Wenn ihr davon nach Hause kommt, so setzt ihr euch nüchtern, nachdenklich, mitleidig nieder und beschäftigt euch mit euern Büchern oder Geschäften.
Eine andere Moral habe ich an diese Geschichte vom Jahrmarkt der Eitelkeit nicht zu knüpfen. Manche Leute finden Jahrmärkte immer unmoralisch und gehen mit ihrer Familie und ihren Dienstboten nicht hin; vielleicht haben diese recht. Aber Leute, die anders denken, und träge oder wohlwollend oder sarkastisch gesonnen sind, mögen vielleicht eine halbe Stunde hingehen und sich die Sache ansehen. Da gibt es Szenen aller Art: schreckliche Kämpfe, große, halsbrecherische Wettrennen, Szenen aus der vornehmen Welt, manchmal auch aus der recht kleinen, für die Gefühlvollen Liebesgeschichten, für Andere Leichtes, Komisches - das Ganze mit entsprechender Szenerie und vom Verfasser mit seinen eigenen Lichtern glänzend beleuchtet.
Was soll der Puppenspieldirektor noch mehr sagen? - Er dankt noch für die Freundlichkeit, mit der er in all den bedeutendsten Städten Englands, durch die er mit seinem Theater zog, besonders von den geachteten Führern der öffentlichen Presse, dem Adel und der Bürgerschaft aufgenommen worden ist. Er ist stolz in dem Gedanken, daß seine Marionetten den Beifall der besten Gesellschaft dieses Reiches erlangt haben. Die berühmte kleine Becky ist als hervorragend gelenkig und munter auf dem Drahtseile anerkannt worden; aber auch die Puppe Amelia, die zwar einen kleineren Kreis von Bewunderern hat, ist vom Künstler mit der größten Sorgfalt geschnitzt und angezogen worden; die Marionette Dobbin ist nur dem Aussehen nach unbehilflich, sonst tanzt sie sehr lustig und natürlich. Manchem hat auch das Tanzen der kleinen Jungen gefallen. Ferner wird gebeten, die reichgekleidete Figur des schurkischen Edelmanns zu beachten, an der keine Kosten gespart worden sind, und die am Ende dieses merkwürdigen Stücks vom Teufel geholt werden wird.
Und hiermit und mit einem tiefen Bückling zieht sich der Direktor zurück und der Vorhang geht in die Höhe.
London, den 28. Juni 1848.
Erster Band
Erstes Kapitel
Chiswick Mall
Unser Jahrhundert war eben in sein zweites Jahrzehnt getreten, da fuhr an einem sonnigen Junimorgen am großen Eisengitter von Fräulein Pinkertons Pensionat für junge Damen zu Chiswick Mall recht gemächlich eine große Familienkutsche vor, deren zwei recht wohlgenährte, glänzend angeschirrte Pferde von einem gleichfalls recht wohlgenährten Kutscher mit dreieckigem Hute und Perücke gelenkt wurden. Ein schwarzer Diener, der auf dem Bocke neben dem wohlgenährten Kutscher thronte, sprang, als das Fuhrwerk vor Fräulein Pinkertons blankem Messingschild anhielt, sofort auf seine krummen Beine und zog die Glocke, was wenigstens zwanzig junge Köpfe veranlaßte, aus den schmalen Fenstern des stattlichen aus Ziegelsteinen aufgeführten Gebäudes herauszugucken. Ein scharfer Beobachter hätte sogar die kleine rote Nase des gutmütigen Fräuleins Jemima Pinkerton selbst über ein paar Geranientöpfen ihres guten Stübchens erspähen können.
»Es ist Frau Sedleys Kutsche, Schwester,« sagte Fräulein Jemima; »Sambo, der schwarze Diener, hat eben geläutet, und der Kutscher hat eine neue rote Weste an.«
»Ist alles Nötige für Fräulein Sedleys Abreise vorbereitet, Jemima?« fragte das majestätische Fräulein Pinkerton, die Semiramis von Hammersmith, die Freundin Doktor Johnsons, die Korrespondentin der Frau Chapone.
»Die Mädchen sind heute morgen um vier Uhr aufgestanden, um ihre Koffer zu packen, Schwester,« antwortete Fräulein Jemima; »wir haben ihr einen Blumenstrauß gepflückt.«
»Sage doch lieber, ein Bouquet, Schwester Jemima, das hört sich feiner an.«
»Meinetwegen, also ein Bouquet, und zwar eins, das fast so groß ist wie ein Heuschober; ich habe auch zwei Flaschen Levkojenwasser für Frau Sedley hinzugepackt, und das Rezept davon in Amelias Koffer gelegt.«
»Ich kann mich doch darauf verlassen, Jemima, daß du eine Abschrift von Fräulein Sedleys Rechnung gemacht hast? Dies hier, ja? Gut, gut - dreiundneunzig Pfund vier Schillinge. Bitte adressiere sie an Herrn John Sedley, Wohlgeboren, und versiegle dieses Billett, das ich an seine Frau geschrieben habe.«
In Fräulein Jemimas Augen war ein eigenhändiger Brief ihrer Schwester, des Fräuleins Pinkerton, ein Gegenstand tiefster Verehrung, wie es etwa ein Handschreiben eines Herrschers gewesen wäre. Nur wenn ihre Schülerinnen die Anstalt verließen, oder wenn sie heirateten, und einmal auch, als das arme Fräulein Birch am Scharlachfieber starb, hatte Fräulein Pinkerton persönlich an die Eltern ihrer Zöglinge geschrieben, und Fräulein Jemima meinte: wenn überhaupt etwas Frau Birch über den Verlust ihrer Tochter hätte trösten können, so wäre es jener mitleidige und beredte Brief gewesen, mit dem Fräulein Pinkerton das Ereignis ankündigte.
Fräulein Pinkertons »Billett«, um das es sich in diesem Augenblick handelte, hatte folgenden Inhalt:
The Mall, Chiswick, 15. Juni 18-.
Gnädige Frau, - nach ihrem sechsjährigen Aufenthalt in der Mall, habe ich die Ehre und das Vergnügen, Fräulein Amelia Sedley ihren Eltern als eine junge Dame vorzustellen, die nicht unwert ist, eine geziemende Stellung in deren gebildetem und feinem Kreise einzunehmen. Die Tugenden, die für die junge englische Dame charakteristisch sind, die Kenntnisse, die ihrer Geburt und ihrem Stande geziemen, fehlen dem liebenswürdigen Fräulein Sedley nicht, deren Fleiß und Gehorsam sie ihren Lehrern lieb gemacht haben und deren entzückende Sanftmut ihre älteren und jüngeren Gefährtinnen bezaubert hat.
In der Musik, im Tanzen, in der Orthographie, in jeder Art des Stickens und Nähens hat sie die sehnlichsten Wünsche ihrer Freunde verwirklicht. In der Geographie bleibt noch manches zu wünschen übrig, und auch ein sorgfältiger und beständiger Gebrauch eines während der nächsten drei Jahre täglich vier Stunden zu tragenden Rückenstützbrettes wird zur Erlangung der für jede junge Modedame so nötigen würdevollen Haltung sehr zu empfehlen sein.
In den Grundsätzen der Religion und Moral wird man Fräulein Sedley ebenfalls einer Anstalt würdig finden, die durch die Anwesenheit des Großen Lexikographen und den wohlwollenden Schutz der bewunderungswürdigen Frau Chapone geehrt worden ist.
Beim Verlassen der Mall nimmt Fräulein Amelia nicht nur die Herzen ihrer Gefährtinnen mit sich, sondern auch die zärtliche Achtung ihrer Lehrerin, die die Ehre hat, gnädige Frau, sich selbst zu unterzeichnen als
Ihre ergebene gehorsamste Dienerin
Barbara Pinkerton.
P. S. - Fräulein Sharp begleitet Fräulein Sedley. Es ist durchaus notwendig, daß Fräulein Sharps Aufenthalt in Russell Square nicht zehn Tage übersteigt. Die vornehme Familie, bei der sie Stellung gefunden hat, wünscht, so schnell wie möglich selbst ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.
Als sie dies »Billett« beendet hatte, schrieb Fräulein Pinkerton ihren eigenen Namen und den Fräulein Sedleys auf das weiße Vorsatzblatt eines Johnsonschen Wörterbuches - dies interessante Werk überreichte sie nämlich ihren Schülerinnen stets beim Abgang aus der Mall. Die Innenseite des Einbandes trug eine Abschrift der »Zeilen an eine junge Dame beim Verlassen von Fräulein Pinkertons Schule in der Mall, vom seligen hochverehrten Doktor Samuel Johnson«. In der Tat schwebte der Name des Lexikographen stets auf den Lippen der majestätischen Dame, und ein Besuch, den er ihr einmal gemacht hatte, war auch wirklich die Ursache ihres Rufes und ihres Vermögens geworden.
Als ihr von ihrer älteren Schwester aufgetragen wurde, das »Wörterbuch« aus dem Schrank zu holen, hatte Fräulein Jemima zwei Exemplare des Buches aus dem erwähnten Verwahrungsorte genommen, und als Fräulein Pinkerton die Inschrift in das erste Wörterbuch gemacht hatte, händigte ihr Jemima mit etwas zweifelhafter und furchtsamer Miene das zweite ein.
»Für wen ist denn dies, Jemima?« fragte Fräulein Pinkerton mit schneidender Kälte.
»Für Becky Sharp,« antwortete Jemima, am ganzen Leibe zitternd und über ihr verblühtes Gesicht bis zu ihrem Hals hinunter errötend, obgleich sie ihrer Schwester den Rücken zugekehrt hatte, »für Becky Sharp; sie geht doch auch fort.«
»Jemima!« donnerte Fräulein Pinkerton, »bist du denn nicht bei Sinnen? Stelle das Wörterbuch sofort an seinen Ort, und wage es in Zukunft niemals mehr, dir eine solche Freiheit herauszunehmen. «
»Aber Schwester, es kostet ja nur zwei Schilling und neun Pence, und die arme Becky wird sich gekränkt fühlen, wenn sie keins bekommt.«
»Rufe Fräulein Sedley sofort zu mir,« befahl Fräulein Pinkerton; die arme Jemima wagte kein Wort mehr zu sagen und trottete ganz ängstlich und betrübt ab.
Fräulein Sedleys Papa war ein Londoner Kaufmann und ziemlich reich dazu, wogegen Fräulein Sharp eine Freischülerin war, für die Fräulein Pinkerton, wie sie meinte, auch ohne die hohe Ehre des Wörterbuches beim Abgang, schon gerade genug getan hatte.
Man kann zwar den Briefen von Schulvorstehern nicht mehr und nicht weniger trauen als Grabschriften; aber es kommt doch wohl manchmal vor, daß jemand stirbt, der wirklich all das Lob verdient, das der Steinmetz über seinen Gebeinen einhaut: der ein guter Christ, ein guter Vater, Kind, Weib oder Gatte war, dessen Verlust wirklich eine trostlose Familie nachweint. Ebenso geschieht es in Erziehungsanstalten des männlichen und weiblichen Geschlechts wohl dann und wann einmal, daß der Schüler das Lob, das ihm der uneigennützige Erzieher spendet, wohl verdient. Fräulein Amelia Sedley nun war eine junge Dame dieser besonderen Art, und sie verdiente nicht nur alles, was Fräulein Pinkerton zu ihrem Lobe sagte, sondern hatte noch viele andere reizende Eigenschaften, die diese pompöse alte Minerva nicht sehen konnte, da zwischen ihrer Schülerin und ihr selbst eine zu große Verschiedenheit an Rang und Alter bestand.
Denn sie konnte nicht nur singen wie eine Lerche, oder wie eine Billington, und tanzen wie Hillisberg oder Parisot, und prächtig sticken und so korrekt wie ein Wörterbuch schreiben, sondern sie hatte auch solch freundliches, heiteres, zärtliches, sanftes, edles Herz, daß jeder, der ihr nahe trat, sie lieben mußte, von Minerva selber bis herunter zum armen Aufwaschmädchen und zur Tochter der einäugigen Kuchenfrau, die einmal wöchentlich den jungen Damen in der Mall ihre Waren verkaufen durfte. Sie hatte zwölf intime Busenfreundinnen unter den vierundzwanzig jungen Damen. Sogar das neidische Fräulein Briggs sprach niemals schlecht von ihr, das hohe und mächtige Fräulein Saltire (Lord Dexters Enkelin) gab zu, daß ihre Gestalt fein sei, und Fräulein Swartz, eine reiche wollhaarige Mulattin von St. Christoph, bekam am Tage von Amelias Fortgang einen solchen Weinkrampf, daß man Dr. Floß rufen und sie mit Riechsalz halb betrunken machen mußte. Fräulein Pinkertons Zuneigung war, wie man sich denken kann, der hohen Stellung und den hervorragenden Tugenden dieser Dame entsprechend, eine ruhige und würdevolle; nur Fräulein Jemima hatte bei dem Gedanken an Amelias Abreise schon mehrere Male leise geschluchzt, und würde, wenn nicht die Furcht vor ihrer Schwester gewesen wäre, einen ebensolchen hysterischen Anfall wie die doppelt zahlende Erbin von St. Christoph bekommen haben. Aber solchen Luxus an Kummer können sich nur Salonpensionärinnen gestatten. Die ehrliche Jemima hatte an all die Rechnungen, das Waschen und Ausbessern, die Puddings, die Gerichte und Geschirre und an die Beaufsichtigung der Dienstboten zu denken. Aber warum überhaupt von ihr reden? Es ist leicht möglich, daß wir von diesem Augenblick an bis zum Ende nichts mehr von ihr hören, und daß, wenn sich einmal die großen Eisenpforten geschlossen haben, weder sie noch ihre ehrwürdige Schwester mehr in die kleine Welt unserer Geschichte hinaustreten.
Aber da wir viel von Amelia hören werden, so schadet es nichts, schon im Beginn unserer Bekanntschaft zu bemerken, daß sie ein liebes kleines Geschöpfchen war, und es ist, im Leben sowohl wie in Romanen, worin (besonders in Romanen) so viel Schurken der schlimmsten Art vorkommen, ein wahres Glück, eine so unschuldige und gutgeartete Person zur beständigen Gefährtin zu haben. Da sie keine Heldin war, so brauche ich auch ihre Persönlichkeit nicht zu beschreiben; ich habe auch wirklich fast Furcht zu sagen, daß ihre Nase eher kurz als majestätisch war, auch daß ihre Wangen viel zu rund und rot für eine Heldin aussahen. Aber ihr Gesicht blühte von rosiger Gesundheit, und ihre frischen Lippen lächelten, und sie hatte ein Paar Augen, die in hellster und ehrlichster Fröhlichkeit glänzten, ausgenommen natürlich, wenn sie mit Tränen gefüllt waren, was leider viel zu oft vorkam. Das törichte Ding konnte nämlich über einen toten Kanarienvogel schluchzen, oder über ein Mäuschen, das die Katze glücklich erwischt hatte, oder über das Ende eines Romans, wenn es auch noch so einfältig war. Und ihr ein unfreundliches Wort zu sagen - wenn wirklich jemand hartherzig genug war, das zu tun - nun, das war ganz zwecklos! Sogar Fräulein Pinkerton, diese erhabene und göttergleiche Dame, schalt sie nach dem ersten Male nie mehr aus; obgleich sie von Empfindlichkeit nicht mehr verstand als von Algebra, so gab sie allen Lehrern und Lehrerinnen besondere Anweisung, Fräulein Sedley äußerst sanft zu behandeln, da unsanfte Behandlung ihr schade.
Als der Tag der Abreise gekommen war, wußte Fräulein Sedley, die entweder immer lachte oder immer weinte, durchaus nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie freute sich auf Zuhaus, und doch tat es ihr auch bitterlich leid, die Schule zu verlassen. Schon seit drei Tagen folgte ihr die kleine Laura Martin, die Waise, überall hin, wie ein kleines Hündchen. Sie hatte wenigstens vierzehn Geschenke zu machen und zu bekommen, und vierzehn feierliche Versprechen zu geben, jede Woche zu schreiben. »Sende meine Briefe im Kuvert an meinen Großpapa, den Grafen von Dexter,« sagte Fräulein Saltire (die, nebenbei gesagt, etwas geizig war) - »Sieh nicht auf das Porto, sondern schreibe jeden Tag, süßes Herz,« sagte das stürmische, wollhaarige, aber großherzige und zärtliche Fräulein Swartz, und die kleine Waise Laura Martin (die eben erst die Buchstaben schreiben gelernt hatte) nahm ihrer Freundin Hand und sagte, ihr ernst ins Gesicht schauend: »Amelia, wenn ich dir schreibe, muß ich dich Mama nennen dürfen. « All dies wird Jones, der dies Buch in seinem Klub liest, natürlich äußerst närrisch, trivial, schwatzhaft und entsetzlich sentimental finden. Ich sehe schon in diesem Augenblick, wie Jones (von seinem Hammelbraten und seiner Flasche Wein etwas erhitzt) seinen Bleistift herauszieht und die Worte töricht, schwatzhaft usw. unterstreicht und ihnen die Bemerkung »sehr wahr« hinzufügt. Nun, er ist eben ein Genie und bewundert das Große und Heroische im Leben und in den Romanen, darum sollte er auf diese Warnung hören und sich anderswohin wenden.
Na, also. Die Blumen und die Geschenke und die Koffer und Hutschachteln des Fräuleins Sedley sind von Sambo auf das Fuhrwerk gepackt worden, dazu ein sehr kleiner und sehr abgenutzter alter Lederkoffer, der Fräulein Sharps Visitenkarte sauber aufgenagelt trägt und den Sambo grinsend hinaufreicht und der Kutscher mit ebensolchem Grinsen unterbringt - und nun geht's ans Abschiednehmen. Der Kummer dieses Augenblicks wurde beträchtlich durch die bewunderungswürdige Rede gemindert, die Fräulein Pinkerton an ihre Schülerin hielt. Die Abschiedsrede regte Amelia nicht zum Philosophieren an oder machte sie nicht etwa ruhiger, indem sie darüber nachdachte, aber sie war über alle Maßen stumpfsinnig, pompös und langweilig, und da Fräulein Sedley ihre Lehrerin sehr fürchtete, so wagte sie in ihrer Gegenwart nicht, sich irgend einem Ausbruch ihres inneren Kummers zu überlassen. Ein Topfkuchen und eine Flasche Wein standen im Empfangszimmer, wie es bei feierlichen Eltern- besuchen üblich war, und als Fräulein Sedley ihren Teil davon genossen hatte, konnte sie abfahren.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ein nachdenklicher Mensch, der durch eine solche Schaustellung wandert, wird er sich weder durch seine eigene noch durch anderer Leute Lustigkeit belästigt fühlen, meine ich. Ein humoristischer oder gemütvoller Zwischenfall vergnügt und rührt ihn hier und da: ein kleines Kind, das eine Pfefferkuchenbode mit den Augen verschlingt, ein hübsches Mädchen, das rot wird, wenn der Liebste mit ihr spricht und ihr etwas zum Geschenk aussucht, der arme Hausnarr hinter dem Wagen, der in Gesellschaft seiner ehrlichen Familie die Knochen abnagt, die er mit seinen Sprüngen erhält - aber der Gesamteindruck ist mehr melancholisch als heiter. Wenn ihr davon nach Hause kommt, so setzt ihr euch nüchtern, nachdenklich, mitleidig nieder und beschäftigt euch mit euern Büchern oder Geschäften.
Eine andere Moral habe ich an diese Geschichte vom Jahrmarkt der Eitelkeit nicht zu knüpfen. Manche Leute finden Jahrmärkte immer unmoralisch und gehen mit ihrer Familie und ihren Dienstboten nicht hin; vielleicht haben diese recht. Aber Leute, die anders denken, und träge oder wohlwollend oder sarkastisch gesonnen sind, mögen vielleicht eine halbe Stunde hingehen und sich die Sache ansehen. Da gibt es Szenen aller Art: schreckliche Kämpfe, große, halsbrecherische Wettrennen, Szenen aus der vornehmen Welt, manchmal auch aus der recht kleinen, für die Gefühlvollen Liebesgeschichten, für Andere Leichtes, Komisches - das Ganze mit entsprechender Szenerie und vom Verfasser mit seinen eigenen Lichtern glänzend beleuchtet.
Was soll der Puppenspieldirektor noch mehr sagen? - Er dankt noch für die Freundlichkeit, mit der er in all den bedeutendsten Städten Englands, durch die er mit seinem Theater zog, besonders von den geachteten Führern der öffentlichen Presse, dem Adel und der Bürgerschaft aufgenommen worden ist. Er ist stolz in dem Gedanken, daß seine Marionetten den Beifall der besten Gesellschaft dieses Reiches erlangt haben. Die berühmte kleine Becky ist als hervorragend gelenkig und munter auf dem Drahtseile anerkannt worden; aber auch die Puppe Amelia, die zwar einen kleineren Kreis von Bewunderern hat, ist vom Künstler mit der größten Sorgfalt geschnitzt und angezogen worden; die Marionette Dobbin ist nur dem Aussehen nach unbehilflich, sonst tanzt sie sehr lustig und natürlich. Manchem hat auch das Tanzen der kleinen Jungen gefallen. Ferner wird gebeten, die reichgekleidete Figur des schurkischen Edelmanns zu beachten, an der keine Kosten gespart worden sind, und die am Ende dieses merkwürdigen Stücks vom Teufel geholt werden wird.
Und hiermit und mit einem tiefen Bückling zieht sich der Direktor zurück und der Vorhang geht in die Höhe.
London, den 28. Juni 1848.
Erster Band
Erstes Kapitel
Chiswick Mall
Unser Jahrhundert war eben in sein zweites Jahrzehnt getreten, da fuhr an einem sonnigen Junimorgen am großen Eisengitter von Fräulein Pinkertons Pensionat für junge Damen zu Chiswick Mall recht gemächlich eine große Familienkutsche vor, deren zwei recht wohlgenährte, glänzend angeschirrte Pferde von einem gleichfalls recht wohlgenährten Kutscher mit dreieckigem Hute und Perücke gelenkt wurden. Ein schwarzer Diener, der auf dem Bocke neben dem wohlgenährten Kutscher thronte, sprang, als das Fuhrwerk vor Fräulein Pinkertons blankem Messingschild anhielt, sofort auf seine krummen Beine und zog die Glocke, was wenigstens zwanzig junge Köpfe veranlaßte, aus den schmalen Fenstern des stattlichen aus Ziegelsteinen aufgeführten Gebäudes herauszugucken. Ein scharfer Beobachter hätte sogar die kleine rote Nase des gutmütigen Fräuleins Jemima Pinkerton selbst über ein paar Geranientöpfen ihres guten Stübchens erspähen können.
»Es ist Frau Sedleys Kutsche, Schwester,« sagte Fräulein Jemima; »Sambo, der schwarze Diener, hat eben geläutet, und der Kutscher hat eine neue rote Weste an.«
»Ist alles Nötige für Fräulein Sedleys Abreise vorbereitet, Jemima?« fragte das majestätische Fräulein Pinkerton, die Semiramis von Hammersmith, die Freundin Doktor Johnsons, die Korrespondentin der Frau Chapone.
»Die Mädchen sind heute morgen um vier Uhr aufgestanden, um ihre Koffer zu packen, Schwester,« antwortete Fräulein Jemima; »wir haben ihr einen Blumenstrauß gepflückt.«
»Sage doch lieber, ein Bouquet, Schwester Jemima, das hört sich feiner an.«
»Meinetwegen, also ein Bouquet, und zwar eins, das fast so groß ist wie ein Heuschober; ich habe auch zwei Flaschen Levkojenwasser für Frau Sedley hinzugepackt, und das Rezept davon in Amelias Koffer gelegt.«
»Ich kann mich doch darauf verlassen, Jemima, daß du eine Abschrift von Fräulein Sedleys Rechnung gemacht hast? Dies hier, ja? Gut, gut - dreiundneunzig Pfund vier Schillinge. Bitte adressiere sie an Herrn John Sedley, Wohlgeboren, und versiegle dieses Billett, das ich an seine Frau geschrieben habe.«
In Fräulein Jemimas Augen war ein eigenhändiger Brief ihrer Schwester, des Fräuleins Pinkerton, ein Gegenstand tiefster Verehrung, wie es etwa ein Handschreiben eines Herrschers gewesen wäre. Nur wenn ihre Schülerinnen die Anstalt verließen, oder wenn sie heirateten, und einmal auch, als das arme Fräulein Birch am Scharlachfieber starb, hatte Fräulein Pinkerton persönlich an die Eltern ihrer Zöglinge geschrieben, und Fräulein Jemima meinte: wenn überhaupt etwas Frau Birch über den Verlust ihrer Tochter hätte trösten können, so wäre es jener mitleidige und beredte Brief gewesen, mit dem Fräulein Pinkerton das Ereignis ankündigte.
Fräulein Pinkertons »Billett«, um das es sich in diesem Augenblick handelte, hatte folgenden Inhalt:
The Mall, Chiswick, 15. Juni 18-.
Gnädige Frau, - nach ihrem sechsjährigen Aufenthalt in der Mall, habe ich die Ehre und das Vergnügen, Fräulein Amelia Sedley ihren Eltern als eine junge Dame vorzustellen, die nicht unwert ist, eine geziemende Stellung in deren gebildetem und feinem Kreise einzunehmen. Die Tugenden, die für die junge englische Dame charakteristisch sind, die Kenntnisse, die ihrer Geburt und ihrem Stande geziemen, fehlen dem liebenswürdigen Fräulein Sedley nicht, deren Fleiß und Gehorsam sie ihren Lehrern lieb gemacht haben und deren entzückende Sanftmut ihre älteren und jüngeren Gefährtinnen bezaubert hat.
In der Musik, im Tanzen, in der Orthographie, in jeder Art des Stickens und Nähens hat sie die sehnlichsten Wünsche ihrer Freunde verwirklicht. In der Geographie bleibt noch manches zu wünschen übrig, und auch ein sorgfältiger und beständiger Gebrauch eines während der nächsten drei Jahre täglich vier Stunden zu tragenden Rückenstützbrettes wird zur Erlangung der für jede junge Modedame so nötigen würdevollen Haltung sehr zu empfehlen sein.
In den Grundsätzen der Religion und Moral wird man Fräulein Sedley ebenfalls einer Anstalt würdig finden, die durch die Anwesenheit des Großen Lexikographen und den wohlwollenden Schutz der bewunderungswürdigen Frau Chapone geehrt worden ist.
Beim Verlassen der Mall nimmt Fräulein Amelia nicht nur die Herzen ihrer Gefährtinnen mit sich, sondern auch die zärtliche Achtung ihrer Lehrerin, die die Ehre hat, gnädige Frau, sich selbst zu unterzeichnen als
Ihre ergebene gehorsamste Dienerin
Barbara Pinkerton.
P. S. - Fräulein Sharp begleitet Fräulein Sedley. Es ist durchaus notwendig, daß Fräulein Sharps Aufenthalt in Russell Square nicht zehn Tage übersteigt. Die vornehme Familie, bei der sie Stellung gefunden hat, wünscht, so schnell wie möglich selbst ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.
Als sie dies »Billett« beendet hatte, schrieb Fräulein Pinkerton ihren eigenen Namen und den Fräulein Sedleys auf das weiße Vorsatzblatt eines Johnsonschen Wörterbuches - dies interessante Werk überreichte sie nämlich ihren Schülerinnen stets beim Abgang aus der Mall. Die Innenseite des Einbandes trug eine Abschrift der »Zeilen an eine junge Dame beim Verlassen von Fräulein Pinkertons Schule in der Mall, vom seligen hochverehrten Doktor Samuel Johnson«. In der Tat schwebte der Name des Lexikographen stets auf den Lippen der majestätischen Dame, und ein Besuch, den er ihr einmal gemacht hatte, war auch wirklich die Ursache ihres Rufes und ihres Vermögens geworden.
Als ihr von ihrer älteren Schwester aufgetragen wurde, das »Wörterbuch« aus dem Schrank zu holen, hatte Fräulein Jemima zwei Exemplare des Buches aus dem erwähnten Verwahrungsorte genommen, und als Fräulein Pinkerton die Inschrift in das erste Wörterbuch gemacht hatte, händigte ihr Jemima mit etwas zweifelhafter und furchtsamer Miene das zweite ein.
»Für wen ist denn dies, Jemima?« fragte Fräulein Pinkerton mit schneidender Kälte.
»Für Becky Sharp,« antwortete Jemima, am ganzen Leibe zitternd und über ihr verblühtes Gesicht bis zu ihrem Hals hinunter errötend, obgleich sie ihrer Schwester den Rücken zugekehrt hatte, »für Becky Sharp; sie geht doch auch fort.«
»Jemima!« donnerte Fräulein Pinkerton, »bist du denn nicht bei Sinnen? Stelle das Wörterbuch sofort an seinen Ort, und wage es in Zukunft niemals mehr, dir eine solche Freiheit herauszunehmen. «
»Aber Schwester, es kostet ja nur zwei Schilling und neun Pence, und die arme Becky wird sich gekränkt fühlen, wenn sie keins bekommt.«
»Rufe Fräulein Sedley sofort zu mir,« befahl Fräulein Pinkerton; die arme Jemima wagte kein Wort mehr zu sagen und trottete ganz ängstlich und betrübt ab.
Fräulein Sedleys Papa war ein Londoner Kaufmann und ziemlich reich dazu, wogegen Fräulein Sharp eine Freischülerin war, für die Fräulein Pinkerton, wie sie meinte, auch ohne die hohe Ehre des Wörterbuches beim Abgang, schon gerade genug getan hatte.
Man kann zwar den Briefen von Schulvorstehern nicht mehr und nicht weniger trauen als Grabschriften; aber es kommt doch wohl manchmal vor, daß jemand stirbt, der wirklich all das Lob verdient, das der Steinmetz über seinen Gebeinen einhaut: der ein guter Christ, ein guter Vater, Kind, Weib oder Gatte war, dessen Verlust wirklich eine trostlose Familie nachweint. Ebenso geschieht es in Erziehungsanstalten des männlichen und weiblichen Geschlechts wohl dann und wann einmal, daß der Schüler das Lob, das ihm der uneigennützige Erzieher spendet, wohl verdient. Fräulein Amelia Sedley nun war eine junge Dame dieser besonderen Art, und sie verdiente nicht nur alles, was Fräulein Pinkerton zu ihrem Lobe sagte, sondern hatte noch viele andere reizende Eigenschaften, die diese pompöse alte Minerva nicht sehen konnte, da zwischen ihrer Schülerin und ihr selbst eine zu große Verschiedenheit an Rang und Alter bestand.
Denn sie konnte nicht nur singen wie eine Lerche, oder wie eine Billington, und tanzen wie Hillisberg oder Parisot, und prächtig sticken und so korrekt wie ein Wörterbuch schreiben, sondern sie hatte auch solch freundliches, heiteres, zärtliches, sanftes, edles Herz, daß jeder, der ihr nahe trat, sie lieben mußte, von Minerva selber bis herunter zum armen Aufwaschmädchen und zur Tochter der einäugigen Kuchenfrau, die einmal wöchentlich den jungen Damen in der Mall ihre Waren verkaufen durfte. Sie hatte zwölf intime Busenfreundinnen unter den vierundzwanzig jungen Damen. Sogar das neidische Fräulein Briggs sprach niemals schlecht von ihr, das hohe und mächtige Fräulein Saltire (Lord Dexters Enkelin) gab zu, daß ihre Gestalt fein sei, und Fräulein Swartz, eine reiche wollhaarige Mulattin von St. Christoph, bekam am Tage von Amelias Fortgang einen solchen Weinkrampf, daß man Dr. Floß rufen und sie mit Riechsalz halb betrunken machen mußte. Fräulein Pinkertons Zuneigung war, wie man sich denken kann, der hohen Stellung und den hervorragenden Tugenden dieser Dame entsprechend, eine ruhige und würdevolle; nur Fräulein Jemima hatte bei dem Gedanken an Amelias Abreise schon mehrere Male leise geschluchzt, und würde, wenn nicht die Furcht vor ihrer Schwester gewesen wäre, einen ebensolchen hysterischen Anfall wie die doppelt zahlende Erbin von St. Christoph bekommen haben. Aber solchen Luxus an Kummer können sich nur Salonpensionärinnen gestatten. Die ehrliche Jemima hatte an all die Rechnungen, das Waschen und Ausbessern, die Puddings, die Gerichte und Geschirre und an die Beaufsichtigung der Dienstboten zu denken. Aber warum überhaupt von ihr reden? Es ist leicht möglich, daß wir von diesem Augenblick an bis zum Ende nichts mehr von ihr hören, und daß, wenn sich einmal die großen Eisenpforten geschlossen haben, weder sie noch ihre ehrwürdige Schwester mehr in die kleine Welt unserer Geschichte hinaustreten.
Aber da wir viel von Amelia hören werden, so schadet es nichts, schon im Beginn unserer Bekanntschaft zu bemerken, daß sie ein liebes kleines Geschöpfchen war, und es ist, im Leben sowohl wie in Romanen, worin (besonders in Romanen) so viel Schurken der schlimmsten Art vorkommen, ein wahres Glück, eine so unschuldige und gutgeartete Person zur beständigen Gefährtin zu haben. Da sie keine Heldin war, so brauche ich auch ihre Persönlichkeit nicht zu beschreiben; ich habe auch wirklich fast Furcht zu sagen, daß ihre Nase eher kurz als majestätisch war, auch daß ihre Wangen viel zu rund und rot für eine Heldin aussahen. Aber ihr Gesicht blühte von rosiger Gesundheit, und ihre frischen Lippen lächelten, und sie hatte ein Paar Augen, die in hellster und ehrlichster Fröhlichkeit glänzten, ausgenommen natürlich, wenn sie mit Tränen gefüllt waren, was leider viel zu oft vorkam. Das törichte Ding konnte nämlich über einen toten Kanarienvogel schluchzen, oder über ein Mäuschen, das die Katze glücklich erwischt hatte, oder über das Ende eines Romans, wenn es auch noch so einfältig war. Und ihr ein unfreundliches Wort zu sagen - wenn wirklich jemand hartherzig genug war, das zu tun - nun, das war ganz zwecklos! Sogar Fräulein Pinkerton, diese erhabene und göttergleiche Dame, schalt sie nach dem ersten Male nie mehr aus; obgleich sie von Empfindlichkeit nicht mehr verstand als von Algebra, so gab sie allen Lehrern und Lehrerinnen besondere Anweisung, Fräulein Sedley äußerst sanft zu behandeln, da unsanfte Behandlung ihr schade.
Als der Tag der Abreise gekommen war, wußte Fräulein Sedley, die entweder immer lachte oder immer weinte, durchaus nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie freute sich auf Zuhaus, und doch tat es ihr auch bitterlich leid, die Schule zu verlassen. Schon seit drei Tagen folgte ihr die kleine Laura Martin, die Waise, überall hin, wie ein kleines Hündchen. Sie hatte wenigstens vierzehn Geschenke zu machen und zu bekommen, und vierzehn feierliche Versprechen zu geben, jede Woche zu schreiben. »Sende meine Briefe im Kuvert an meinen Großpapa, den Grafen von Dexter,« sagte Fräulein Saltire (die, nebenbei gesagt, etwas geizig war) - »Sieh nicht auf das Porto, sondern schreibe jeden Tag, süßes Herz,« sagte das stürmische, wollhaarige, aber großherzige und zärtliche Fräulein Swartz, und die kleine Waise Laura Martin (die eben erst die Buchstaben schreiben gelernt hatte) nahm ihrer Freundin Hand und sagte, ihr ernst ins Gesicht schauend: »Amelia, wenn ich dir schreibe, muß ich dich Mama nennen dürfen. « All dies wird Jones, der dies Buch in seinem Klub liest, natürlich äußerst närrisch, trivial, schwatzhaft und entsetzlich sentimental finden. Ich sehe schon in diesem Augenblick, wie Jones (von seinem Hammelbraten und seiner Flasche Wein etwas erhitzt) seinen Bleistift herauszieht und die Worte töricht, schwatzhaft usw. unterstreicht und ihnen die Bemerkung »sehr wahr« hinzufügt. Nun, er ist eben ein Genie und bewundert das Große und Heroische im Leben und in den Romanen, darum sollte er auf diese Warnung hören und sich anderswohin wenden.
Na, also. Die Blumen und die Geschenke und die Koffer und Hutschachteln des Fräuleins Sedley sind von Sambo auf das Fuhrwerk gepackt worden, dazu ein sehr kleiner und sehr abgenutzter alter Lederkoffer, der Fräulein Sharps Visitenkarte sauber aufgenagelt trägt und den Sambo grinsend hinaufreicht und der Kutscher mit ebensolchem Grinsen unterbringt - und nun geht's ans Abschiednehmen. Der Kummer dieses Augenblicks wurde beträchtlich durch die bewunderungswürdige Rede gemindert, die Fräulein Pinkerton an ihre Schülerin hielt. Die Abschiedsrede regte Amelia nicht zum Philosophieren an oder machte sie nicht etwa ruhiger, indem sie darüber nachdachte, aber sie war über alle Maßen stumpfsinnig, pompös und langweilig, und da Fräulein Sedley ihre Lehrerin sehr fürchtete, so wagte sie in ihrer Gegenwart nicht, sich irgend einem Ausbruch ihres inneren Kummers zu überlassen. Ein Topfkuchen und eine Flasche Wein standen im Empfangszimmer, wie es bei feierlichen Eltern- besuchen üblich war, und als Fräulein Sedley ihren Teil davon genossen hatte, konnte sie abfahren.
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Autoren-Porträt von William Makepeace Thackeray
Thackeray, William MakepeaceWilliam Makepeace Thackeray wurde 1811 in Kalkutta geboren und starb 1863 in London. Neben Charles Dickens gilt er als der bedeutendste englische Autor des Viktorianismus. Sein berühmter Roman »Jahrmarkt der Eitelkeit« erschien 1847-1848 als Fortsetzungsgeschichte im Londoner Satire-Magazin »Punch«.
Bibliographische Angaben
- Autor: William Makepeace Thackeray
- 992 Seiten, Maße: 12,9 x 19,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Heinrich Conrad
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905303
- ISBN-13: 9783596905300
- Erscheinungsdatum: 14.05.2013
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