Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Roman
Nicht nur für andere leben. Sich trauen. Unverkrampft atmen, wie es im Yoga immer heißt ...Als Sunna Nönnudóttir an einem frostigen, finsteren Dezembermorgen in aller Früh aufsteht, ihren Laptop anwirft und die Nachrichten im Internet liest, ist sie wie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt “
Nicht nur für andere leben. Sich trauen. Unverkrampft atmen, wie es im Yoga immer heißt ...Als Sunna Nönnudóttir an einem frostigen, finsteren Dezembermorgen in aller Früh aufsteht, ihren Laptop anwirft und die Nachrichten im Internet liest, ist sie wie gelähmt vor Schock. Dort steht eine Suchmeldung der Polizei von Reykjavík: Arndis Theodorsdóttir, Kunsthistorikerin und Galeriebesitzerin, wird seit drei Tagen vermisst. Es ist keine der üblichen Suchmeldungen, in denen nach dem Verbleib von Touristen geforscht wird, die sich irgendwo auf Island verirrt haben. Und die vermisste Person ist keine Unbekannte für Sunna. Arndis war früher einmal Sunnas beste Freundin. Vor zehn Jahren hatten die beiden jungen Frauen für ein paar Monate zusammen in Barcelona Spanisch studiert. Danach haben sie sich aus den Augen verloren und nie wieder etwas voneinander gehört. Ist Sunnas Freundin einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Ist sie tot? Sunna lässt der Gedanke nicht los, dass in ihrer gemeinsamen Vergangenheit eine Spur sein könnte, die zu ihrer verschwundenen Freundin führt. Sie nimmt die Suche nach ihr auf - wodurch ihr Leben, das bislang gekennzeichnet war durch vielfache Ängste und Abhängigkeiten, eine ganz neue Wendung nimmt ...
Lese-Probe zu „Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt “
Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt von Audur Jónsdóttir Aus dem Isländischen von Kristof Magnusson
1. Dezember
Gestern hat Axel mir aus Scherz einen Adventskalender geschenkt. Er sagte, man müsse mich vor Weihnachten ein bisschen mästen.
Diese Bemerkung amüsierte mich, schließlich war es noch keine drei Monate her, dass ich seinetwegen einen Yogakurs besucht hatte. Er hatte mir damals aus einem Wissenschaftsmagazin vorgelesen, in dem stand, dass viele Leute heutzutage unbewusst ein Gleichheitszeichen setzten zwischen der Kompetenz eines Menschen und seinem körperlichen Erscheinungsbild. Dicke wirkten demnach weniger erfolgreich als Schlanke; wer clever ist, schafft es auch, in Form zu bleiben.
Findest du mich dick?, fragte ich ihn daraufhin.
Du bist schlank, aber nach diesem Artikel sind Leute, die so leben wie wir, besonders gefährdet, antwortete er.
Wie leben wir denn?
Axel dachte einen Moment nach und sagte dann:
Gedankenlos, würde ich sagen.
Noch am selben Tag meldete ich mich für einen Anfängerkurs im Yogazentrum an, der speziell auf gestresste Frauen zugeschnitten war, und rannte dort gewissenhaft drei Monate lang vier Mal wöchentlich hin - bis zur letzten Unterrichtsstunde vorige Woche. Mit zweiunddreißig Jahren muss man schließlich etwas tun, um in Form zu bleiben, auch wenn meine Mutter immer noch Bohnenstange zu mir sagt.
Yoga stärkt aber nicht nur den Körper, sondern auch die Seele, weshalb uns verboten wurde, ein schlechtes Gewissen mit uns herumzuschleppen. Denn allein dieses Gefühl, das wie ein rabenschwarzer Stahlklumpen in mir hin und her rutschte, wog schwerer als die Fettpolster aller Teilnehmerinnen zusammen. Es saugte die Lethargie geradezu an. Also lernten wir, damit umzugehen:
... mehr
Damit dein Bewusstsein sich erweitern kann, musst du alle Schuldgefühle loslassen. Du darfst ganz du selbst sein, atme diese Erkenntnis ein, tief tief tief, spüre, wie dein Bauch sich wölbt und dein Atem das Schambein berührt. Dann atmest du alle Angst aus aus aus, bis der Atem deine Schädeldecke berührt und du bereit bist, ein neuer Mensch zu sein - und dann, genau dann, atmest du dich selbst wieder ein.
So unterwies meine Yogalehrerin Ágústa mich in beschwörendem Ton. Ihre Worte hatten eine derart einschläfernde Wirkung auf mich, dass ich am Ende jeder Stunde ganz benommen war.
Ich hatte mich für diesen Yogakurs entschieden, nachdem ich auf der Homepage von Ágústa gelesen hatte, dass die Teilnehmerinnen unter ihrer Anleitung ein besseres Körpergefühl und mehr Energie bekämen. Und ich fühlte mich wirklich wie ein neuer Mensch, während ich stresszerfleddert auf der Yogamatte lag und der Kerzenschein tanzende Sonnenblumen auf meine Augenlider warf - nur verflüchtigte sich der Effekt zu Hause allzu schnell.
Das schlechte Gewissen ist wieder da, als ich den Adventskalender öffne. Ich sperre den ersten Dezember so weit auf, dass ein Bommel von der Mütze eines kleinen Mädchens abreißt. Vor einem himmelblauen Hintergrund flitzen dick eingemümmelte Kinder auf einen Weihnachtsmann zu, während Schneeflocken zur Erde fallen. Unter der Bommelmütze des Mädchens verbirgt sich ein Schokoladenelefant, dessen Geschmack mich an vergangene Zeiten erinnert, als Mama ihre letzten Kronen zusammenkratzte, um mir einen Adventskalender zu kaufen. Die Schokolade passt gut zu meinem Morgenkaffee im tiefsten Winter; wenn draußen Schnee liegen würde, würde er im Mondschein schimmern wie das Meer im Sonnenschein. Doch heute liegt kein Schnee, und der Mond lässt sich nicht blicken. Finsternis liegt über der Welt und verschluckt dieses Land, in dem man sich sieben Monate des Jahres am liebsten von Schokolade ernähren würde, um das Hirn in Endorphinen zu ertränken.
Aber eine erwachsene Frau erlaubt sich so was natürlich nicht. Wenn sie nicht den Anschluss verlieren will, muss sie ganz unverkrampft atmen, wie die Yogalehrerin es ihr beigebracht hat, und ihre Mitte finden. Also versuche ich, langsam ein-aus-ein-aus-ein-ausatmend, die Dunkelheit als leuchtende Farbe wahrzunehmen. Was spielt es denn auch für eine Rolle, ob das Dasein gelb ist oder schwarz?
Doch offensichtlich ist es in meinem Innersten eher schwarz als gelb, ja, meine Welt ist finster, und ich stehe eine Viertelstunde vor Axel auf, nur um sie zu genießen: schlüpfe in meine Wollsocken, schleiche mich in die Küche, zünde die orangefarbenen Kerzen auf dem Esstisch an und koche Kaffee in dem flackernden Licht. Genieße es, einen siedend heißen Schluck zu nehmen, während der Kerzenschein in meinem Geist zu Sonnenlicht wird und das Koffein gute Laune in meine Adern spült. Dann mache ich den Laptop an, verbinde mich mit der Welt und warte auf die Startseite mit den Nachrichten. Ich bin auf alles gefasst, denn während man schläft, kann allerhand passieren. Irgendwo in Island hat womöglich eine Lawine ein Dorf unter sich begraben, oder bei einem Terroranschlag in Sydney ist eine ganze Wohnstraße verwüstet worden.
Doch damit hätte ich nie im Leben gerechnet!
Frau vermisst
Seit vergangenen Freitag wird die Kunsthistorikerin Arndís Theódórsdóttir vermisst. Sie wurde zuletzt in ihrer Galerie »Össa« gesehen. Arndís hat braune Augen, dunkelblonde Haare und war zuletzt mit einer zweifarbigen Jacke (braun/grau), einer dunkelgrauen Hose und hellbraunen Lederstiefeln bekleidet. Um den Hals trug sie eine Kette mit grünen Halbedelsteinen. Wer Angaben über den Aufenthaltsort von Arndís Theódórsdóttir machen kann, wird gebeten, sich unter der Telefonnummer 444 1000 mit der Polizei Reykjavík in Verbindung zu setzen.
Da finde ich sie endlich wieder, und schon ist sie verschwunden. Die Polizei sucht nach ihr. Was, wenn sie tot ist?
Nach dem Foto zu urteilen, hat sie sich kaum verändert: ein gleichmäßiges, eher breites Gesicht mit einer Himmelfahrtsnase und etwas schräg stehenden Augen über den hohen Wangenknochen. Nur einen Kurzhaarschnitt hat sie nicht mehr, stattdessen trägt sie eine dieser Fönfrisuren aus den Achtzigerjahren, die seitdem in allen möglichen Varianten wieder auftauchen.
Alles okay, Sunna?
Alles bestens, murmele ich und sehe von dem Computer auf. Axel steht an den Türrahmen gelehnt, mit nichts als seiner blaukarierten Schlafanzughose bekleidet. Seine blonden Haare stehen in alle Richtungen ab wie erstarrte Kaulquappen. Du kuckst so ernst, sagt er. Was liest du denn da?
Nur die Nachrichten. Willst du Kaffee?
Ja, gern.
Ist in der Kanne. Ich muss ungeduldig klingen, denn er kommt zu mir herüber und fragt, was denn Besonderes in den Nachrichten stehe, reckt sein Kinn in Richtung Bildschirm und überfliegt einen Bericht über einen Stall in Nordisland, in dem Schafe verbrannt sind, sowie eine Nachricht von einem Bombenanschlag in Afghanistan. Die Suchmeldung der Polizei bemerkt er gar nicht, schließlich wird fast jeden Tag nach irgendwelchen Leuten gesucht, meistens nach Jugendlichen oder verirrten Touristen, er kommt nicht darauf, dass ich die vermisste Person kenne.
Weißt du etwas darüber?, fragt er.
Meinst du den Anschlag in Kabul?
Röte steigt in seinen Wangen auf. Nein, natürlich nicht. Ich meine den Bauern, dessen Schafe verbrannt sind. Vielleicht ist das ja ein Verwandter von dir, was weiß ich? Axel lächelt und meint nur, dass man mir mal wieder alles aus der Nase ziehen müsse.
Ich sehe ihn lange an: meinen schönen Mann mit dem Meeresblau in den Augen und der aristokratisch gebogenen Nase, den wohlgeformten Lippen, die seine geraden, weißen Zähne freigeben, wenn er lächelt; den Engelslocken, die ihm in die Stirn fallen, und dem Dreitagebart, der im Sonnenschein fast golden wirkt. Merkwürdig, dass ein vierzig jähriger Mann so jungenhaft wirken kann. Auf einmal erinnert er mich an Ari, der seine Mutter in dem guten alten Kinderreim fragt, warum der Himmel blau sei. Ich ziehe ihn an mich, schlinge die Hände um seinen Hals und sage: Du merkst auch alles. Dafür darfst du den zweiten Dezember essen, wenn du willst.
Nein, sagt Axel verschlafen. Alle Tage sollen dir gehören. Und lacht auf eine Art, dass die Frau auf dem Computerbildschirm in der Ferne verschwindet, während meine Hände über seinen Kopf, seine Haare und Schultern streichen. Dann fahre ich mit den Fingerkuppen über seine Wangen und unter sein Kinn, über seine Brust und seinen Bauch immer weiter nach unten. Reibe meine Nase an seiner Kehle. Überlege, wer von uns Yin ist und wer Yang, als er mich fragt, ob ich nichts unter dem Nachthemd anhabe. Na, na, flüstere ich.
So wird die Sonne schwarz So verbrenne ich Bis auf die Grundmauern
Dann liegen wir platt auf unseren Hintern auf den Fußbodenfliesen, leer wie Säuglinge am Morgen ihres ersten Tages, mit fast geschlossenen Augen, jeder mit seinen Wollsocken unter dem Kopf. Axel lächelt schläfrig, er ist inzwischen an diese Morgengymnastik gewöhnt, die ungefähr zur selben Zeit begann wie der Yogakurs. Die asiatischen Stellungen haben mein Blut in Wallung gebracht und lassen mich auf bisher ungekannte Art Initiative zeigen.
Wolltest du mir nicht einen Kaffee holen?, fragt er schließlich. Ich vermute, dass der inzwischen lauwarm ist, und rate ihm, neuen zu kochen. Dann drücke ich mein Nachthemd an mich, husche ins Badezimmer und stopfe es in die Waschmaschine. Im nächsten Moment läuft bereits Wasser in die Wanne.
*
Warum wird sie vermisst?
Plops, macht ein Tropfen, der aus dem Hahn fällt und die Wasseroberfläche kräuselt. Der Dampf macht meine Augenlider schwer, Seifenschaum bedeckt mein Gesicht, und Blumenduft lullt meine Sinne ein, während eine nervöse Neugier von mir Besitz ergreift. An Ágústas Worte denkend, stelle ich mir einen ruhigen Ort vor, um mich zu entspannen, und versuche für einen Augenblick, mich in ein brütend heißes Treibhaus voll blühender Rosenbüsche hineinzuatmen. Dann platsche ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht, sauge die Winterluft ein, die durch das Fenster hereinströmt, und halte Ausschau nach dem Mond.
Axel kramt währenddessen in der Küche herum: nimmt den brodelnden Kaffeekocher von der Gasflamme, schaltet das Küchenradio ein und wieder aus, schaufelt sich Cornflakes hinein, stürzt den Kaffee herunter und wäscht sich in unserem kleinen Gäste-Bad vorne am Eingang. Hoffentlich geht er bald zur Arbeit. Ich muss mir unbedingt in Ruhe die Vermisstenanzeige ansehen und im Internet nach weiteren Informationen suchen. Zum Glück ist heute Frisier- Tag. Im Verlag wissen alle, dass ich am ersten Montag jedes Monats meiner Mutter die Haare mache; bestimmt ist sie schon wach, hat sich die Haare nass gemacht und hält bereits am Fenster Ausschau nach mir. Trotzdem trödele ich weiter. Dies ist der Höhepunkt. Im Leben einer zweiunddreißigjährigen Frau, die es genießt, in heißem Wasser vor sich hin zu köcheln wie ein Stück Hammelfleisch. Eines Tages wird sie in der Erde vergraben werden, um zu verrotten wie ein Haifisch. Oder verbrannt werden wie eine Kartoffel in der Kohlenglut.
Derlei düstere Gedanken lassen mich aus dem Wasser hochfahren. Ich trockne meine Hände ab, strecke mich, um das schrottige Radio auf der Waschmaschine zu erreichen, und mache die Morgennachrichten lauter in der Hoffnung, mehr über Arndís zu erfahren. Dann tauche ich wieder bis zu den Nasenlöchern unter. Höre, wie die Leute in der Welt da draußen darüber spekulieren, ob eine der kleinen Parteien den Auftrag zur Regierungsbildung bekommt: Der Nachrichtensprecher räuspert sich, als ein Politiker sagt, dass er vor der Pressekonferenz keinen Kommentar abgeben werde.
Axel übertönt ihn, er ruft mich. Hastig stelle ich das Radio leiser und schätze mich glücklich, dabei keinen Stromschlag zu bekommen. Was?
Darf ich reinkommen?, fragt er. Ich muss mich beeilen und müsste dir noch etwas sagen.
Durch die feuchte Hitze rufe ich ihm zu, dass ich aus Versehen abgeschlossen habe und er mir dieses Etwas durch die Tür sagen müsse. Er zögert und rückt dann damit heraus, dass Helgi heute Abend zu uns kommt und vorerst auch hier bleiben wird; so lange jedenfalls, bis seine Mutter Weihnachtsurlaub hat.
Was!?! Wie ein aufgebrachtes Nilpferd schieße ich aus dem Wasser, schlage mir ein Handtuch um und reiße die Tür auf. Habe ich das richtig verstanden?
Ja. Axel lächelt sein unwiderstehliches Lächeln. Er sagt, dass Helgis Mutter bis Weihnachten in Kopenhagen sei. Sie müsse dort einen Gerichtstermin nach dem anderen wahrnehmen, sonst bekämen ihre Vorgesetzten Zweifel daran, dass sie ihren Job von hier aus genauso gut machen könne, nun gelte es, die Absprachen einzuhalten.
Na und?
Sunna, du weißt, wie viel mir daran liegt, dass die beiden in Island bleiben, sagt er in seinem typischen, halb beschuldigenden, halb entschuldigenden Tonfall. Er weiß, wie er seine Ziele erreicht. Sieben Jahre hatte seine Exfreundin in Kopenhagen-Frederiksberg gelebt, und die gemeinsamen Vater-Sohn-Wochenenden im Tivoli und Zoo waren mit jedem Jahr seltener geworden. Ich kenne den Jungen kaum noch, er kommt bald mehr nach dem dänischen Kronprinzen als nach mir. Aber eins ist sicher, seine Mutter würde eher wieder nach Kopenhagen zurückgehen als ihren Job aufgeben. Da lässt sie lieber ihre Mutter sterbenskrank im Pflegeheim zurück. Aber wenn alles klappt, könnte sie von hier aus arbeiten und in Island bleiben, auch wenn ihre Mutter einmal nicht mehr da sein sollte. Jetzt, wo Helgi hier zur Schule geht. Wir müssen ihr nur dabei helfen, dass alles glattgeht, mein Schatz.
Und warum erfahre ich das erst jetzt?
Du hast geschlafen, als Helgi gestern Abend angerufen hat. Das kam wohl alles ziemlich plötzlich.
Okay.
Okay ... was?, fragt er zögerlich, ohne dabei aufzuhören zu lächeln.
Das wird schon gehen, sage ich und erinnere ihn im selben Atemzug daran, dass bei mir bei der Arbeit in der Adventszeit der Teufel los sein wird. Diesmal muss er sich Zeit für seinen Sohn nehmen, er kann nicht so durch die Gegend hetzen wie den ganzen Herbst über. Die beiden sind jetzt schon seit Sommer hier, und er hat sich erst ein paar Tage Zeit für Helgi genommen.
Seine Stimme klingt fast panisch, als er mich darum bittet, ihm das jetzt nicht unter die Nase zu reiben, es passe nicht zu mir, mich so anzustellen, zumal ich doch wisse, dass er seit einigen Monaten vor lauter Arbeit kaum noch aus den Augen schauen könne, so sei das nun mal, wenn man ein neues Unternehmen auf die Beine stelle, erst recht in der Tourismusbranche, da müsse er alles geben, wenn wir irgendwann einmal aus den Schulden herauskommen wollten - aber klar, diesmal liege es an ihm, eine Lösung zu finden, allerdings erst heute Abend, da er gleich zu einer Besprechung nach Ísafjördur fliege und erst mit der letzten Maschine zurückkomme, so dass ich Helgi in Empfang nehmen müsse.
Moment mal, du fliegst nach ...
Er sieht mich mit flehenden Augen an, schon gestresst genug, auch ohne dass ich ihm jetzt eine Szene mache. Das bedeutet doch nur, dass ich etwas später heimkomme als sonst, die Wettervorhersage ist ganz in Ordnung. Keine Sorge! Nun müsse er aber los, er komme zu spät zu einem Termin.
In Ordnung, sage ich widerwillig. Aber pass auf, dass du den Rückflug nicht verpasst.
Seine Erleichterung wird zu einem Lächeln. Danke, Sunna, auf dich kann man sich echt verlassen. Kuss, Kuss, Kuss. Ich bin sicher, du wirst den Erben gut empfangen.
Dann ist er weg.
*
Tannengrüner Cordrock, apfelroter Pullover, ich sehe aus wie ein Weihnachtsbaum. Alle anderen Klamotten sind schmutzig, heute Abend muss einfach Zeit sein, eine Waschmaschine durchlaufen zu lassen, aber bis dahin muss das hier reichen. Immerhin ist es der erste Dezember, da kann man ruhig einmal aussehen wie ein Weihnachtsbaum. Warum ist Arndís verschwunden, und warum stresst mich das so? Wir haben uns seit zehn Jahren nicht gesehen.
Warum ist dieser Rock so weit?
Ich sehe aus wie ein Vogel Strauß, nackter Hals mit Vogelkopf. Grau gesprenkelte Krähensträhnen stehen in alle Richtungen ab, meine angepunkte Frisur ist viel zu weit herausgewachsen. Eigentlich sollte Mama mich frisieren, nicht umgekehrt. Und die Augenbrauen haben etwas Wolfsmäßiges, ich hätte mir längst angewöhnen müssen, sie gelegentlich mal zu zupfen. Was für ein Urwald! Sie sind fast schon zusammengewachsen und lassen meine herben Gesichtszüge noch deutlicher hervortreten, schief über der Adlernase und den Lippen, die man kaum sieht. Ich bräuchte eine Rundum-Botox-Behandlung, und zwar sofort, ich sehe aus wie, ich weiß nicht, wie ein Trollweib. Auf meinen Wangen sieht man immer mehr Äderchen! Ein Wunder, dass ich diesen attraktiven Ehemann habe. Ich sehe meinem sonderbaren Spiegelbild in die mausgrauen Augen. Lächele, so dass die vorstehenden Eckzähne aufblitzen. Wie wäre es, die mal aufhellen zu lassen?
Ich werde noch wahnsinnig.
Arndís muss wahnsinnig geworden sein. Man nimmt automatisch an, dass Leute, die einfach abhauen, wahnsinnig geworden sind. Hören sie auf, wahnsinnig zu sein, wenn man sie wiederfindet? Das hängt sicher davon ab, in welchem Zustand man sie wiederfindet. Doch daran mag ich gar nicht denken. Ich sollte lieber etwas suchen, womit ich meinen trostlosen Hals bedecken kann. Ich sehe in der chinesischen Schmuckschatulle nach, die ich auf dem Flohmarkt gekauft habe - zum Leidwesen meines Mannes. Mir gefallen alte, handgearbeitete Dinge, die etwas Geheimnisvolles an sich haben, und das sieht man der Wohnung auch an: Hier und dort habe ich Sachen eingeschmuggelt und sie auf die modernen, von Axel selbst gebauten Möbel gestellt, die stoisch meinen Nippes tragen wie Galeriewände Bilder. So funktionieren wir: Yin und Yang, zwei schwarze Sonnen.
Ich fische eine filigrane Kette aus Weißgold heraus, lege sie auf meinen linken Handrücken und erinnere mich daran, wie Axel sie mir an unserem ersten gemeinsamen Weihnachten geschenkt hat. Dann lege ich sie wieder in die Schatulle zurück. Krame in allen Fächern, finde nichts als Tand, rühre mit dem Mittelfinger darin herum und beschließe dann, die Schublade an der Vorderseite der Schatulle zu öffnen.
Sie klemmt, verklebter Staub hat sich in den Fugen festgesetzt. Ich rüttele an ihr, zuerst ohne Erfolg, doch beim dritten Versuch schießt die Schublade rumpelnd aus dem Gehäuse, so dass ich sie plötzlich in der Hand halte und auf die Halskette starre, die in ihr liegt wie eine zusammengerollte Schlange.
Ich musste sie finden.
Sie scheint alle Farben des Meeres und des Himmels in sich zu tragen. Je nachdem, wie man sie dreht, schimmern die Steine in immer neuen grünen, grauen und blauen Tönen, mit jedem Lichtstrahl wird eine neue Farbe geboren.
Arndís hatte zwei solcher Ketten gekauft, eine für mich und eine für sich. Das war an unserem letzten gemeinsamen Tag in Barcelona, als das Thermometer auf über vierzig Grad stieg und es in der Uni einfach nicht auszuhalten war. Im Raval-Viertel war es besonders stickig. Uringestank stieg von den Bürgersteigen auf, und siedend heiße Hunde- scheiße schmolz sich einen Weg durch die Sandalensohlen. Die Huren grinsten spöttisch, als wir uns schweißnass durch ihre Straße schleppten. Manche waren so dunkel wie Tang, andere so weiß wie Heilbutte, manche androgyn, doch die meisten ziemlich eindeutig weiblich. Sie waren dick, dünn, groß und klein; manche schwanger, andere noch halbe Kinder, manche beides. Manche waren zweiundzwanzig so wie wir, andere älter als unsere Großmütter. Es umgab sie ein Geruch von billigem Parfüm, Blut und Pisse. Einige waren zu dick oder dünn für Miniröcke und Leoparden-Tops. Manche wiegten sich auf Pfennigabsätzen, andere überragten auf Plateausohlen die Menge; diejenigen, die außerdem noch einen Schwanz in ihrem G-String verbargen, wirkten wie auf Stelzen, und zwischen alldem watschelte ein Zwerg herum und hielt seine hormonvergrößerte Brust so hoch, wie er nur konnte. Sie waren bezaubernd. Die Huren von El Raval. Fanden jedenfalls die Männer, die dort herumschlichen, mit Stielaugen und offenen Mündern. Wer kein Geld hatte, musste sich an den Huren sattsehen, die wiederum nach den Reichen Ausschau hielten. Auch uns hatten sie in ihren Bann geschlagen, bis wir uns eine Ecke weiter vor ein Café setzten und eine Sektflasche in einem Eiswürfeleimer bestellten. Prost!, sagten wir wie aus einem Mund, tranken den sonnenglitzernden Sekt und lachten. Dann zog sie plötzlich ein silberfarbenes Päckchen aus ihrer Tasche und gab es mir. Das Lachen verstummte, als ich es verwundert ansah. Dann öffnete ich es und erblickte die Kette.
Ich habe zwei Ketten für uns gekauft, sagte sie und lachte wieder. Sie zauberte eine zweite, identische hervor, die sie um ihren Hals legte. Wortlos legte ich auch meine um.
So wie jetzt.
*
Es ist kaum Zeit, noch einmal ins Internet zu gehen. Mama macht sich bestimmt schon Sorgen, dass ich sie vergessen habe. Ich zwänge mich in meine Jacke, stürze in den kalten Nordwind hinaus und laufe einem verschwindenden Bus hinterher. Dann taste ich nach dem Handy in meiner Jackentasche und bestelle keuchend ein Taxi.
Zehn Minuten später hält vor der Bushaltestelle ein schwarzer Mercedes, der im Schein der Straßenlaternen glänzt wie ein Blauwal im Mondlicht.
Du fährst ja hier in einer Luxuskarre vor, sagt Mama von ganz oben im Treppenhaus, während ich zu ihr hochstapfe. Ich habe mich nicht geirrt, sie muss bereits eine Weile oben am Fenster gewartet haben. Aus der Wohnung kommt Musik: La Traviata ist in dem DVD-Spieler, den ich ihr letzte Weihnachten geschenkt habe. Kaum etwas bringt ihr mehr Spaß, als mit einer Oper im Ohr aus dem Wohnzimmerfenster zu schauen. Stundenlang kann sie dabei zusehen, wie Jugendliche sich auf der Straße herumtreiben, Leute zwischen den Geschäften hin und her hetzen und Frauen mit Kinderwagen den Laugavegur heruntersegeln, während sich Opernstars in bunten Kostümen in ihrem Fernseher die Hand aufs Herz legen.
Ich habe den Bus verpasst, pruste ich.
Na, nun bist du ja da. Mama betrachtet mich von oben bis unten, bevor sie aus der Tür tritt und mich hereinlässt. Du bist ja nur noch Haut und Knochen, mein Spatz. Hast du überhaupt gefrühstückt?
Einen ganzen Elefanten. Ich bücke mich, um meine Schuhe aufzumachen, und spüre ihre Augen auf meinem Scheitel, während ich frage, ob sie sich schon die Haare gewaschen hat.
Schon längst, sagt Mama. Die sind schon fast wieder trocken. Ich denke, wir sollten den Kamm nass machen.
Sag nicht immer wir, wenn du mich meinst, bitte ich sie.
Wie du willst, mein Kleines. Sie schlappt in die Küche und füllt eine Schüssel mit Wasser. Aber denk dran, Sunna, dass wir uns jetzt gleich ans Werk machen müssen, damit wir pünktlich zur Arbeit kommen.
Ich rappele mich hoch, sehe ihr mit resigniertem Blick hinterher und schaue mich in der Wohnung um. Sie ist kaum größer als fünfzig Quadratmeter. Schon vom Eingang hat man alles im Blick: das winzige Schlafzimmer und das etwas größere Wohnzimmer, von dem aus Mama die Passanten beobachten kann, das Bad, so eng, dass sie sich an der Badewanne vorbeizwängen muss, um aufs Klo zu gehen, und die Küchenzeile, die zum dunklen Hinterhof hinausliegt. Sie hat wenige, aber schöne Möbel, die sie sich im Laufe der Zeit zusammengespart hat, einige sind aus Kirschbaum- holz, weil der Name sie amüsiert. Ihre Patchwork-Decke schmückt das Bett, und über die Sessel sind Häkeldecken gebreitet. In den Regalen stehen Gurkengläser, die sie ausgewaschen, angemalt und mit Blumen oder Steinen gefüllt hat. An den Wänden hängt eine wahllos wirkende Ansammlung von Fotos, gerahmten Zeitungsausschnitten und naiven Gemälden unbekannter Künstler: die Ausbeute eines zweiundsiebzigjährigen Lebens. Die wenigsten Bilder zeigen Familienmitglieder. Nur ein rotstichiges Foto von ihren verstorbenen Eltern ist darunter, von dem Fischer mit seiner strenggesichtigen Ehefrau; einige Fotos sind auch von mir - aufgenommen in verschiedenen Altersstufen in dieser Wohnung. Hier bin ich aufgewachsen.
Am Anfang hatten wir uns das Schlafzimmer geteilt, dann überließ Mama es mir allein und zog ins Wohnzimmer. Noch vor wenigen Jahren sah das Schlafzimmer so aus, als wäre es mein Zimmer, bis ich nach all der Zeit im Ausland wieder nach Island zog und ihr klarmachte, dass wir nie wieder zusammenwohnen würden.
Bin ich dann jetzt für immer allein? Lächelnd rang ich mir das Versprechen ab, sie regelmäßig zu besuchen, jetzt sei ich ja wieder in Island, so dass wir tolle Sachen unternehmen könnten, zwei alleinstehende Frauen. Während ich ihr diese goldene Zukunft ausmalte, spürte ich etwas Kaltes, Schweres in meinem Magen, das, was meine Yogalehrerin rabenschwarzen Stahlklumpen nennt. Aber Mama sagte nur: Du bleibst nicht lange allein, du wirst einen Mann kennenlernen, so bist du nun mal.
Sie war anders.
Sagte sie, die allein gewohnt hatte, seit sie ihr Elternhaus in einem Fischerdorf in den Westfjorden verlassen hatte, wo sie als kaum konfirmiertes Mädchen schon wie eine Erwachsene arbeitete - schließlich musste sie vier Brüder ernähren und für die Ausbildung des Ältesten aufkommen. Mit sechzehn bekam sie eine feste Stelle in einer Fischfabrik und arbeitete sich in den nächsten Jahren zur Vorarbeiterin hoch. Als ihre Eltern dann beide tot waren, zog sie nach Reykjavík, wo ihr eine ähnliche Stellung angeboten worden war.
Gelegentlich hatte sie Liebhaber, aber nie für längere Zeit. Sie war auf ihre Art durchaus attraktiv: muskulös, aber leichtfüßig, mit mildem Lächeln und einem Mandarinenton im blonden, widerspenstigen Haar.
Vielleicht war der Blick ihrer grauen Möwenaugen zu stechend für die Männer, die sie traf. Oder ihre Nase zu markant. Es kann natürlich auch sein, dass es den Männern unangenehm war zu sehen, dass sie arbeiten konnte wie einer von ihnen. Vielleicht war sie zu selbständig, sich auf einen Mann einzulassen, zu eigensinnig für die Schlichten, zu kräftig nach all den Jahren, in denen sie ihre Brüder versorgen musste. Wahrscheinlich hatte sie irgendwann einfach genug von ihnen. Auf jeden Fall hatten ihre Brüder kein Verständnis dafür, als sie mit vierzig schwanger wurde, eine alleinstehende Frau, die die schwere Arbeit um zehn Jahre älter erscheinen ließ: Die Jahre des Fischfiletierens hatten tiefe Falten um ihre Augen hinterlassen, ihre Hände waren rau und rot geschuftet, und sie bekam bereits einen Buckel. Was für ein Blödsinn, zischten sie einander zu und zogen über ihre Schwester her, die ihretwegen mit der Schule aufgehört hatte. Sie selbst war einfach nur erstaunt. Am Tag des Seemanns war sie mit Skafti Ólafsson auf einen Ball gegangen und tanzte mit einem katalanischen Seemann mit melancholischem Blick, der sich zwinkernd von ihr verabschiedet hatte, bevor er am Ende der weißen Sommernacht auf das offene Meer verschwand.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Damit dein Bewusstsein sich erweitern kann, musst du alle Schuldgefühle loslassen. Du darfst ganz du selbst sein, atme diese Erkenntnis ein, tief tief tief, spüre, wie dein Bauch sich wölbt und dein Atem das Schambein berührt. Dann atmest du alle Angst aus aus aus, bis der Atem deine Schädeldecke berührt und du bereit bist, ein neuer Mensch zu sein - und dann, genau dann, atmest du dich selbst wieder ein.
So unterwies meine Yogalehrerin Ágústa mich in beschwörendem Ton. Ihre Worte hatten eine derart einschläfernde Wirkung auf mich, dass ich am Ende jeder Stunde ganz benommen war.
Ich hatte mich für diesen Yogakurs entschieden, nachdem ich auf der Homepage von Ágústa gelesen hatte, dass die Teilnehmerinnen unter ihrer Anleitung ein besseres Körpergefühl und mehr Energie bekämen. Und ich fühlte mich wirklich wie ein neuer Mensch, während ich stresszerfleddert auf der Yogamatte lag und der Kerzenschein tanzende Sonnenblumen auf meine Augenlider warf - nur verflüchtigte sich der Effekt zu Hause allzu schnell.
Das schlechte Gewissen ist wieder da, als ich den Adventskalender öffne. Ich sperre den ersten Dezember so weit auf, dass ein Bommel von der Mütze eines kleinen Mädchens abreißt. Vor einem himmelblauen Hintergrund flitzen dick eingemümmelte Kinder auf einen Weihnachtsmann zu, während Schneeflocken zur Erde fallen. Unter der Bommelmütze des Mädchens verbirgt sich ein Schokoladenelefant, dessen Geschmack mich an vergangene Zeiten erinnert, als Mama ihre letzten Kronen zusammenkratzte, um mir einen Adventskalender zu kaufen. Die Schokolade passt gut zu meinem Morgenkaffee im tiefsten Winter; wenn draußen Schnee liegen würde, würde er im Mondschein schimmern wie das Meer im Sonnenschein. Doch heute liegt kein Schnee, und der Mond lässt sich nicht blicken. Finsternis liegt über der Welt und verschluckt dieses Land, in dem man sich sieben Monate des Jahres am liebsten von Schokolade ernähren würde, um das Hirn in Endorphinen zu ertränken.
Aber eine erwachsene Frau erlaubt sich so was natürlich nicht. Wenn sie nicht den Anschluss verlieren will, muss sie ganz unverkrampft atmen, wie die Yogalehrerin es ihr beigebracht hat, und ihre Mitte finden. Also versuche ich, langsam ein-aus-ein-aus-ein-ausatmend, die Dunkelheit als leuchtende Farbe wahrzunehmen. Was spielt es denn auch für eine Rolle, ob das Dasein gelb ist oder schwarz?
Doch offensichtlich ist es in meinem Innersten eher schwarz als gelb, ja, meine Welt ist finster, und ich stehe eine Viertelstunde vor Axel auf, nur um sie zu genießen: schlüpfe in meine Wollsocken, schleiche mich in die Küche, zünde die orangefarbenen Kerzen auf dem Esstisch an und koche Kaffee in dem flackernden Licht. Genieße es, einen siedend heißen Schluck zu nehmen, während der Kerzenschein in meinem Geist zu Sonnenlicht wird und das Koffein gute Laune in meine Adern spült. Dann mache ich den Laptop an, verbinde mich mit der Welt und warte auf die Startseite mit den Nachrichten. Ich bin auf alles gefasst, denn während man schläft, kann allerhand passieren. Irgendwo in Island hat womöglich eine Lawine ein Dorf unter sich begraben, oder bei einem Terroranschlag in Sydney ist eine ganze Wohnstraße verwüstet worden.
Doch damit hätte ich nie im Leben gerechnet!
Frau vermisst
Seit vergangenen Freitag wird die Kunsthistorikerin Arndís Theódórsdóttir vermisst. Sie wurde zuletzt in ihrer Galerie »Össa« gesehen. Arndís hat braune Augen, dunkelblonde Haare und war zuletzt mit einer zweifarbigen Jacke (braun/grau), einer dunkelgrauen Hose und hellbraunen Lederstiefeln bekleidet. Um den Hals trug sie eine Kette mit grünen Halbedelsteinen. Wer Angaben über den Aufenthaltsort von Arndís Theódórsdóttir machen kann, wird gebeten, sich unter der Telefonnummer 444 1000 mit der Polizei Reykjavík in Verbindung zu setzen.
Da finde ich sie endlich wieder, und schon ist sie verschwunden. Die Polizei sucht nach ihr. Was, wenn sie tot ist?
Nach dem Foto zu urteilen, hat sie sich kaum verändert: ein gleichmäßiges, eher breites Gesicht mit einer Himmelfahrtsnase und etwas schräg stehenden Augen über den hohen Wangenknochen. Nur einen Kurzhaarschnitt hat sie nicht mehr, stattdessen trägt sie eine dieser Fönfrisuren aus den Achtzigerjahren, die seitdem in allen möglichen Varianten wieder auftauchen.
Alles okay, Sunna?
Alles bestens, murmele ich und sehe von dem Computer auf. Axel steht an den Türrahmen gelehnt, mit nichts als seiner blaukarierten Schlafanzughose bekleidet. Seine blonden Haare stehen in alle Richtungen ab wie erstarrte Kaulquappen. Du kuckst so ernst, sagt er. Was liest du denn da?
Nur die Nachrichten. Willst du Kaffee?
Ja, gern.
Ist in der Kanne. Ich muss ungeduldig klingen, denn er kommt zu mir herüber und fragt, was denn Besonderes in den Nachrichten stehe, reckt sein Kinn in Richtung Bildschirm und überfliegt einen Bericht über einen Stall in Nordisland, in dem Schafe verbrannt sind, sowie eine Nachricht von einem Bombenanschlag in Afghanistan. Die Suchmeldung der Polizei bemerkt er gar nicht, schließlich wird fast jeden Tag nach irgendwelchen Leuten gesucht, meistens nach Jugendlichen oder verirrten Touristen, er kommt nicht darauf, dass ich die vermisste Person kenne.
Weißt du etwas darüber?, fragt er.
Meinst du den Anschlag in Kabul?
Röte steigt in seinen Wangen auf. Nein, natürlich nicht. Ich meine den Bauern, dessen Schafe verbrannt sind. Vielleicht ist das ja ein Verwandter von dir, was weiß ich? Axel lächelt und meint nur, dass man mir mal wieder alles aus der Nase ziehen müsse.
Ich sehe ihn lange an: meinen schönen Mann mit dem Meeresblau in den Augen und der aristokratisch gebogenen Nase, den wohlgeformten Lippen, die seine geraden, weißen Zähne freigeben, wenn er lächelt; den Engelslocken, die ihm in die Stirn fallen, und dem Dreitagebart, der im Sonnenschein fast golden wirkt. Merkwürdig, dass ein vierzig jähriger Mann so jungenhaft wirken kann. Auf einmal erinnert er mich an Ari, der seine Mutter in dem guten alten Kinderreim fragt, warum der Himmel blau sei. Ich ziehe ihn an mich, schlinge die Hände um seinen Hals und sage: Du merkst auch alles. Dafür darfst du den zweiten Dezember essen, wenn du willst.
Nein, sagt Axel verschlafen. Alle Tage sollen dir gehören. Und lacht auf eine Art, dass die Frau auf dem Computerbildschirm in der Ferne verschwindet, während meine Hände über seinen Kopf, seine Haare und Schultern streichen. Dann fahre ich mit den Fingerkuppen über seine Wangen und unter sein Kinn, über seine Brust und seinen Bauch immer weiter nach unten. Reibe meine Nase an seiner Kehle. Überlege, wer von uns Yin ist und wer Yang, als er mich fragt, ob ich nichts unter dem Nachthemd anhabe. Na, na, flüstere ich.
So wird die Sonne schwarz So verbrenne ich Bis auf die Grundmauern
Dann liegen wir platt auf unseren Hintern auf den Fußbodenfliesen, leer wie Säuglinge am Morgen ihres ersten Tages, mit fast geschlossenen Augen, jeder mit seinen Wollsocken unter dem Kopf. Axel lächelt schläfrig, er ist inzwischen an diese Morgengymnastik gewöhnt, die ungefähr zur selben Zeit begann wie der Yogakurs. Die asiatischen Stellungen haben mein Blut in Wallung gebracht und lassen mich auf bisher ungekannte Art Initiative zeigen.
Wolltest du mir nicht einen Kaffee holen?, fragt er schließlich. Ich vermute, dass der inzwischen lauwarm ist, und rate ihm, neuen zu kochen. Dann drücke ich mein Nachthemd an mich, husche ins Badezimmer und stopfe es in die Waschmaschine. Im nächsten Moment läuft bereits Wasser in die Wanne.
*
Warum wird sie vermisst?
Plops, macht ein Tropfen, der aus dem Hahn fällt und die Wasseroberfläche kräuselt. Der Dampf macht meine Augenlider schwer, Seifenschaum bedeckt mein Gesicht, und Blumenduft lullt meine Sinne ein, während eine nervöse Neugier von mir Besitz ergreift. An Ágústas Worte denkend, stelle ich mir einen ruhigen Ort vor, um mich zu entspannen, und versuche für einen Augenblick, mich in ein brütend heißes Treibhaus voll blühender Rosenbüsche hineinzuatmen. Dann platsche ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht, sauge die Winterluft ein, die durch das Fenster hereinströmt, und halte Ausschau nach dem Mond.
Axel kramt währenddessen in der Küche herum: nimmt den brodelnden Kaffeekocher von der Gasflamme, schaltet das Küchenradio ein und wieder aus, schaufelt sich Cornflakes hinein, stürzt den Kaffee herunter und wäscht sich in unserem kleinen Gäste-Bad vorne am Eingang. Hoffentlich geht er bald zur Arbeit. Ich muss mir unbedingt in Ruhe die Vermisstenanzeige ansehen und im Internet nach weiteren Informationen suchen. Zum Glück ist heute Frisier- Tag. Im Verlag wissen alle, dass ich am ersten Montag jedes Monats meiner Mutter die Haare mache; bestimmt ist sie schon wach, hat sich die Haare nass gemacht und hält bereits am Fenster Ausschau nach mir. Trotzdem trödele ich weiter. Dies ist der Höhepunkt. Im Leben einer zweiunddreißigjährigen Frau, die es genießt, in heißem Wasser vor sich hin zu köcheln wie ein Stück Hammelfleisch. Eines Tages wird sie in der Erde vergraben werden, um zu verrotten wie ein Haifisch. Oder verbrannt werden wie eine Kartoffel in der Kohlenglut.
Derlei düstere Gedanken lassen mich aus dem Wasser hochfahren. Ich trockne meine Hände ab, strecke mich, um das schrottige Radio auf der Waschmaschine zu erreichen, und mache die Morgennachrichten lauter in der Hoffnung, mehr über Arndís zu erfahren. Dann tauche ich wieder bis zu den Nasenlöchern unter. Höre, wie die Leute in der Welt da draußen darüber spekulieren, ob eine der kleinen Parteien den Auftrag zur Regierungsbildung bekommt: Der Nachrichtensprecher räuspert sich, als ein Politiker sagt, dass er vor der Pressekonferenz keinen Kommentar abgeben werde.
Axel übertönt ihn, er ruft mich. Hastig stelle ich das Radio leiser und schätze mich glücklich, dabei keinen Stromschlag zu bekommen. Was?
Darf ich reinkommen?, fragt er. Ich muss mich beeilen und müsste dir noch etwas sagen.
Durch die feuchte Hitze rufe ich ihm zu, dass ich aus Versehen abgeschlossen habe und er mir dieses Etwas durch die Tür sagen müsse. Er zögert und rückt dann damit heraus, dass Helgi heute Abend zu uns kommt und vorerst auch hier bleiben wird; so lange jedenfalls, bis seine Mutter Weihnachtsurlaub hat.
Was!?! Wie ein aufgebrachtes Nilpferd schieße ich aus dem Wasser, schlage mir ein Handtuch um und reiße die Tür auf. Habe ich das richtig verstanden?
Ja. Axel lächelt sein unwiderstehliches Lächeln. Er sagt, dass Helgis Mutter bis Weihnachten in Kopenhagen sei. Sie müsse dort einen Gerichtstermin nach dem anderen wahrnehmen, sonst bekämen ihre Vorgesetzten Zweifel daran, dass sie ihren Job von hier aus genauso gut machen könne, nun gelte es, die Absprachen einzuhalten.
Na und?
Sunna, du weißt, wie viel mir daran liegt, dass die beiden in Island bleiben, sagt er in seinem typischen, halb beschuldigenden, halb entschuldigenden Tonfall. Er weiß, wie er seine Ziele erreicht. Sieben Jahre hatte seine Exfreundin in Kopenhagen-Frederiksberg gelebt, und die gemeinsamen Vater-Sohn-Wochenenden im Tivoli und Zoo waren mit jedem Jahr seltener geworden. Ich kenne den Jungen kaum noch, er kommt bald mehr nach dem dänischen Kronprinzen als nach mir. Aber eins ist sicher, seine Mutter würde eher wieder nach Kopenhagen zurückgehen als ihren Job aufgeben. Da lässt sie lieber ihre Mutter sterbenskrank im Pflegeheim zurück. Aber wenn alles klappt, könnte sie von hier aus arbeiten und in Island bleiben, auch wenn ihre Mutter einmal nicht mehr da sein sollte. Jetzt, wo Helgi hier zur Schule geht. Wir müssen ihr nur dabei helfen, dass alles glattgeht, mein Schatz.
Und warum erfahre ich das erst jetzt?
Du hast geschlafen, als Helgi gestern Abend angerufen hat. Das kam wohl alles ziemlich plötzlich.
Okay.
Okay ... was?, fragt er zögerlich, ohne dabei aufzuhören zu lächeln.
Das wird schon gehen, sage ich und erinnere ihn im selben Atemzug daran, dass bei mir bei der Arbeit in der Adventszeit der Teufel los sein wird. Diesmal muss er sich Zeit für seinen Sohn nehmen, er kann nicht so durch die Gegend hetzen wie den ganzen Herbst über. Die beiden sind jetzt schon seit Sommer hier, und er hat sich erst ein paar Tage Zeit für Helgi genommen.
Seine Stimme klingt fast panisch, als er mich darum bittet, ihm das jetzt nicht unter die Nase zu reiben, es passe nicht zu mir, mich so anzustellen, zumal ich doch wisse, dass er seit einigen Monaten vor lauter Arbeit kaum noch aus den Augen schauen könne, so sei das nun mal, wenn man ein neues Unternehmen auf die Beine stelle, erst recht in der Tourismusbranche, da müsse er alles geben, wenn wir irgendwann einmal aus den Schulden herauskommen wollten - aber klar, diesmal liege es an ihm, eine Lösung zu finden, allerdings erst heute Abend, da er gleich zu einer Besprechung nach Ísafjördur fliege und erst mit der letzten Maschine zurückkomme, so dass ich Helgi in Empfang nehmen müsse.
Moment mal, du fliegst nach ...
Er sieht mich mit flehenden Augen an, schon gestresst genug, auch ohne dass ich ihm jetzt eine Szene mache. Das bedeutet doch nur, dass ich etwas später heimkomme als sonst, die Wettervorhersage ist ganz in Ordnung. Keine Sorge! Nun müsse er aber los, er komme zu spät zu einem Termin.
In Ordnung, sage ich widerwillig. Aber pass auf, dass du den Rückflug nicht verpasst.
Seine Erleichterung wird zu einem Lächeln. Danke, Sunna, auf dich kann man sich echt verlassen. Kuss, Kuss, Kuss. Ich bin sicher, du wirst den Erben gut empfangen.
Dann ist er weg.
*
Tannengrüner Cordrock, apfelroter Pullover, ich sehe aus wie ein Weihnachtsbaum. Alle anderen Klamotten sind schmutzig, heute Abend muss einfach Zeit sein, eine Waschmaschine durchlaufen zu lassen, aber bis dahin muss das hier reichen. Immerhin ist es der erste Dezember, da kann man ruhig einmal aussehen wie ein Weihnachtsbaum. Warum ist Arndís verschwunden, und warum stresst mich das so? Wir haben uns seit zehn Jahren nicht gesehen.
Warum ist dieser Rock so weit?
Ich sehe aus wie ein Vogel Strauß, nackter Hals mit Vogelkopf. Grau gesprenkelte Krähensträhnen stehen in alle Richtungen ab, meine angepunkte Frisur ist viel zu weit herausgewachsen. Eigentlich sollte Mama mich frisieren, nicht umgekehrt. Und die Augenbrauen haben etwas Wolfsmäßiges, ich hätte mir längst angewöhnen müssen, sie gelegentlich mal zu zupfen. Was für ein Urwald! Sie sind fast schon zusammengewachsen und lassen meine herben Gesichtszüge noch deutlicher hervortreten, schief über der Adlernase und den Lippen, die man kaum sieht. Ich bräuchte eine Rundum-Botox-Behandlung, und zwar sofort, ich sehe aus wie, ich weiß nicht, wie ein Trollweib. Auf meinen Wangen sieht man immer mehr Äderchen! Ein Wunder, dass ich diesen attraktiven Ehemann habe. Ich sehe meinem sonderbaren Spiegelbild in die mausgrauen Augen. Lächele, so dass die vorstehenden Eckzähne aufblitzen. Wie wäre es, die mal aufhellen zu lassen?
Ich werde noch wahnsinnig.
Arndís muss wahnsinnig geworden sein. Man nimmt automatisch an, dass Leute, die einfach abhauen, wahnsinnig geworden sind. Hören sie auf, wahnsinnig zu sein, wenn man sie wiederfindet? Das hängt sicher davon ab, in welchem Zustand man sie wiederfindet. Doch daran mag ich gar nicht denken. Ich sollte lieber etwas suchen, womit ich meinen trostlosen Hals bedecken kann. Ich sehe in der chinesischen Schmuckschatulle nach, die ich auf dem Flohmarkt gekauft habe - zum Leidwesen meines Mannes. Mir gefallen alte, handgearbeitete Dinge, die etwas Geheimnisvolles an sich haben, und das sieht man der Wohnung auch an: Hier und dort habe ich Sachen eingeschmuggelt und sie auf die modernen, von Axel selbst gebauten Möbel gestellt, die stoisch meinen Nippes tragen wie Galeriewände Bilder. So funktionieren wir: Yin und Yang, zwei schwarze Sonnen.
Ich fische eine filigrane Kette aus Weißgold heraus, lege sie auf meinen linken Handrücken und erinnere mich daran, wie Axel sie mir an unserem ersten gemeinsamen Weihnachten geschenkt hat. Dann lege ich sie wieder in die Schatulle zurück. Krame in allen Fächern, finde nichts als Tand, rühre mit dem Mittelfinger darin herum und beschließe dann, die Schublade an der Vorderseite der Schatulle zu öffnen.
Sie klemmt, verklebter Staub hat sich in den Fugen festgesetzt. Ich rüttele an ihr, zuerst ohne Erfolg, doch beim dritten Versuch schießt die Schublade rumpelnd aus dem Gehäuse, so dass ich sie plötzlich in der Hand halte und auf die Halskette starre, die in ihr liegt wie eine zusammengerollte Schlange.
Ich musste sie finden.
Sie scheint alle Farben des Meeres und des Himmels in sich zu tragen. Je nachdem, wie man sie dreht, schimmern die Steine in immer neuen grünen, grauen und blauen Tönen, mit jedem Lichtstrahl wird eine neue Farbe geboren.
Arndís hatte zwei solcher Ketten gekauft, eine für mich und eine für sich. Das war an unserem letzten gemeinsamen Tag in Barcelona, als das Thermometer auf über vierzig Grad stieg und es in der Uni einfach nicht auszuhalten war. Im Raval-Viertel war es besonders stickig. Uringestank stieg von den Bürgersteigen auf, und siedend heiße Hunde- scheiße schmolz sich einen Weg durch die Sandalensohlen. Die Huren grinsten spöttisch, als wir uns schweißnass durch ihre Straße schleppten. Manche waren so dunkel wie Tang, andere so weiß wie Heilbutte, manche androgyn, doch die meisten ziemlich eindeutig weiblich. Sie waren dick, dünn, groß und klein; manche schwanger, andere noch halbe Kinder, manche beides. Manche waren zweiundzwanzig so wie wir, andere älter als unsere Großmütter. Es umgab sie ein Geruch von billigem Parfüm, Blut und Pisse. Einige waren zu dick oder dünn für Miniröcke und Leoparden-Tops. Manche wiegten sich auf Pfennigabsätzen, andere überragten auf Plateausohlen die Menge; diejenigen, die außerdem noch einen Schwanz in ihrem G-String verbargen, wirkten wie auf Stelzen, und zwischen alldem watschelte ein Zwerg herum und hielt seine hormonvergrößerte Brust so hoch, wie er nur konnte. Sie waren bezaubernd. Die Huren von El Raval. Fanden jedenfalls die Männer, die dort herumschlichen, mit Stielaugen und offenen Mündern. Wer kein Geld hatte, musste sich an den Huren sattsehen, die wiederum nach den Reichen Ausschau hielten. Auch uns hatten sie in ihren Bann geschlagen, bis wir uns eine Ecke weiter vor ein Café setzten und eine Sektflasche in einem Eiswürfeleimer bestellten. Prost!, sagten wir wie aus einem Mund, tranken den sonnenglitzernden Sekt und lachten. Dann zog sie plötzlich ein silberfarbenes Päckchen aus ihrer Tasche und gab es mir. Das Lachen verstummte, als ich es verwundert ansah. Dann öffnete ich es und erblickte die Kette.
Ich habe zwei Ketten für uns gekauft, sagte sie und lachte wieder. Sie zauberte eine zweite, identische hervor, die sie um ihren Hals legte. Wortlos legte ich auch meine um.
So wie jetzt.
*
Es ist kaum Zeit, noch einmal ins Internet zu gehen. Mama macht sich bestimmt schon Sorgen, dass ich sie vergessen habe. Ich zwänge mich in meine Jacke, stürze in den kalten Nordwind hinaus und laufe einem verschwindenden Bus hinterher. Dann taste ich nach dem Handy in meiner Jackentasche und bestelle keuchend ein Taxi.
Zehn Minuten später hält vor der Bushaltestelle ein schwarzer Mercedes, der im Schein der Straßenlaternen glänzt wie ein Blauwal im Mondlicht.
Du fährst ja hier in einer Luxuskarre vor, sagt Mama von ganz oben im Treppenhaus, während ich zu ihr hochstapfe. Ich habe mich nicht geirrt, sie muss bereits eine Weile oben am Fenster gewartet haben. Aus der Wohnung kommt Musik: La Traviata ist in dem DVD-Spieler, den ich ihr letzte Weihnachten geschenkt habe. Kaum etwas bringt ihr mehr Spaß, als mit einer Oper im Ohr aus dem Wohnzimmerfenster zu schauen. Stundenlang kann sie dabei zusehen, wie Jugendliche sich auf der Straße herumtreiben, Leute zwischen den Geschäften hin und her hetzen und Frauen mit Kinderwagen den Laugavegur heruntersegeln, während sich Opernstars in bunten Kostümen in ihrem Fernseher die Hand aufs Herz legen.
Ich habe den Bus verpasst, pruste ich.
Na, nun bist du ja da. Mama betrachtet mich von oben bis unten, bevor sie aus der Tür tritt und mich hereinlässt. Du bist ja nur noch Haut und Knochen, mein Spatz. Hast du überhaupt gefrühstückt?
Einen ganzen Elefanten. Ich bücke mich, um meine Schuhe aufzumachen, und spüre ihre Augen auf meinem Scheitel, während ich frage, ob sie sich schon die Haare gewaschen hat.
Schon längst, sagt Mama. Die sind schon fast wieder trocken. Ich denke, wir sollten den Kamm nass machen.
Sag nicht immer wir, wenn du mich meinst, bitte ich sie.
Wie du willst, mein Kleines. Sie schlappt in die Küche und füllt eine Schüssel mit Wasser. Aber denk dran, Sunna, dass wir uns jetzt gleich ans Werk machen müssen, damit wir pünktlich zur Arbeit kommen.
Ich rappele mich hoch, sehe ihr mit resigniertem Blick hinterher und schaue mich in der Wohnung um. Sie ist kaum größer als fünfzig Quadratmeter. Schon vom Eingang hat man alles im Blick: das winzige Schlafzimmer und das etwas größere Wohnzimmer, von dem aus Mama die Passanten beobachten kann, das Bad, so eng, dass sie sich an der Badewanne vorbeizwängen muss, um aufs Klo zu gehen, und die Küchenzeile, die zum dunklen Hinterhof hinausliegt. Sie hat wenige, aber schöne Möbel, die sie sich im Laufe der Zeit zusammengespart hat, einige sind aus Kirschbaum- holz, weil der Name sie amüsiert. Ihre Patchwork-Decke schmückt das Bett, und über die Sessel sind Häkeldecken gebreitet. In den Regalen stehen Gurkengläser, die sie ausgewaschen, angemalt und mit Blumen oder Steinen gefüllt hat. An den Wänden hängt eine wahllos wirkende Ansammlung von Fotos, gerahmten Zeitungsausschnitten und naiven Gemälden unbekannter Künstler: die Ausbeute eines zweiundsiebzigjährigen Lebens. Die wenigsten Bilder zeigen Familienmitglieder. Nur ein rotstichiges Foto von ihren verstorbenen Eltern ist darunter, von dem Fischer mit seiner strenggesichtigen Ehefrau; einige Fotos sind auch von mir - aufgenommen in verschiedenen Altersstufen in dieser Wohnung. Hier bin ich aufgewachsen.
Am Anfang hatten wir uns das Schlafzimmer geteilt, dann überließ Mama es mir allein und zog ins Wohnzimmer. Noch vor wenigen Jahren sah das Schlafzimmer so aus, als wäre es mein Zimmer, bis ich nach all der Zeit im Ausland wieder nach Island zog und ihr klarmachte, dass wir nie wieder zusammenwohnen würden.
Bin ich dann jetzt für immer allein? Lächelnd rang ich mir das Versprechen ab, sie regelmäßig zu besuchen, jetzt sei ich ja wieder in Island, so dass wir tolle Sachen unternehmen könnten, zwei alleinstehende Frauen. Während ich ihr diese goldene Zukunft ausmalte, spürte ich etwas Kaltes, Schweres in meinem Magen, das, was meine Yogalehrerin rabenschwarzen Stahlklumpen nennt. Aber Mama sagte nur: Du bleibst nicht lange allein, du wirst einen Mann kennenlernen, so bist du nun mal.
Sie war anders.
Sagte sie, die allein gewohnt hatte, seit sie ihr Elternhaus in einem Fischerdorf in den Westfjorden verlassen hatte, wo sie als kaum konfirmiertes Mädchen schon wie eine Erwachsene arbeitete - schließlich musste sie vier Brüder ernähren und für die Ausbildung des Ältesten aufkommen. Mit sechzehn bekam sie eine feste Stelle in einer Fischfabrik und arbeitete sich in den nächsten Jahren zur Vorarbeiterin hoch. Als ihre Eltern dann beide tot waren, zog sie nach Reykjavík, wo ihr eine ähnliche Stellung angeboten worden war.
Gelegentlich hatte sie Liebhaber, aber nie für längere Zeit. Sie war auf ihre Art durchaus attraktiv: muskulös, aber leichtfüßig, mit mildem Lächeln und einem Mandarinenton im blonden, widerspenstigen Haar.
Vielleicht war der Blick ihrer grauen Möwenaugen zu stechend für die Männer, die sie traf. Oder ihre Nase zu markant. Es kann natürlich auch sein, dass es den Männern unangenehm war zu sehen, dass sie arbeiten konnte wie einer von ihnen. Vielleicht war sie zu selbständig, sich auf einen Mann einzulassen, zu eigensinnig für die Schlichten, zu kräftig nach all den Jahren, in denen sie ihre Brüder versorgen musste. Wahrscheinlich hatte sie irgendwann einfach genug von ihnen. Auf jeden Fall hatten ihre Brüder kein Verständnis dafür, als sie mit vierzig schwanger wurde, eine alleinstehende Frau, die die schwere Arbeit um zehn Jahre älter erscheinen ließ: Die Jahre des Fischfiletierens hatten tiefe Falten um ihre Augen hinterlassen, ihre Hände waren rau und rot geschuftet, und sie bekam bereits einen Buckel. Was für ein Blödsinn, zischten sie einander zu und zogen über ihre Schwester her, die ihretwegen mit der Schule aufgehört hatte. Sie selbst war einfach nur erstaunt. Am Tag des Seemanns war sie mit Skafti Ólafsson auf einen Ball gegangen und tanzte mit einem katalanischen Seemann mit melancholischem Blick, der sich zwinkernd von ihr verabschiedet hatte, bevor er am Ende der weißen Sommernacht auf das offene Meer verschwand.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Audur Jónsdóttir
Die Schriftstellerin und freie Journalistin Audur Jónsdóttir ist am 30. März 1973 in Reykjavík geboren, wo sie noch heute lebt. Neben Romanen widmet sie sich auch der Kinder- und Jugendliteratur.Kristof Magnusson, geboren 1976 in Hamburg, machte eine Ausbildung zum Kirchenmusiker, arbeitete in der Obdachlosenhilfe in New York, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und der Universität Reykjavik. Seine Komödien 'Der totale Kick' und 'Männerhort' wurden in Berlin, Dresden, Köln und Bonn mit Erfolg aufgeführt. Er wurde mit dem Literaturförderpreis der Freien und Hansestadt Hamburg ausgezeichnet und für seine Theaterstücke vom Deutschen Literaturfonds gefördert. Kristof Magnusson lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Audur Jónsdóttir
- 2011, 2, 283 Seiten, Maße: 13,8 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Magnusson, Kristof
- Übersetzer: Kristof Magnusson
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442752531
- ISBN-13: 9783442752539
Rezension zu „Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt “
»Ein überraschendes Buch, eine clevere Autorin.«
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